Single & Single - John le Carré - E-Book

Single & Single E-Book

John Le Carré

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Beschreibung

Alle Romane von John le Carré jetzt als E-Book! - Die Küste des Bosporus, das Londoner Westend und der hohe Kaukasus sind die Schauplätze dieses Romans. Tiger Single, Patriarch der Londoner Firma Single & Single, betreibt dubiose internationale Geschäfte und Finanztransaktionen. Doch dann durchschaut ihn Oliver, sein Sohn und Partner, der von ihm nur benutzt wurde. Ein spannender Roman über Liebe, Loyalität und Verrat. Große TV-Doku "Der Taubentunnel" ab 20. Oktober 2023 auf Apple TV+

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Das Buch

Tiger Single, Patriarch der Londoner Firma Single & Single, hat ein stabiles Netz aus lukrativen Geschäften und Finanztransaktionen aufgebaut, als der Tod eines Mannes dieses Gebäude zum Einsturz bringt. In diesem Moment durchschaut sein Sohn Oliver das Spiel und begreift, daß auch er nur eine Figur auf dem Schachbrett des Vaters ist. Er steigt aus und sagt gegen den Vater aus, nicht ahnend, daß dieser ihm längst wieder eine Falle gestellt hat. Diesmal nimmt der Kampf zwischen den beiden Männern eine tödliche Dimension an.

Der Autor

John le Carré, am 19. Oktober 1931 in Poole, Dorset, geboren, war nach seinem Studium in Bern und Oxford in den sechziger Jahren in diplomatischen Diensten u.a. in Bonn und Hamburg tätig. Sein Roman Der Spion, der aus der Kälte kam machte ihn 1963 weltbekannt. Zahlreiche seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall und London.

Von John le Carré sind in unserem Hause bereits erschienen:

Absolute Freunde · Agent in eigener Sache · Dame, König, As, Spion · Das Rußlandhaus · Der ewige Gärtner · Der heimliche Gefährte · Der Nachtmanager · Der Spion, der aus der Kälte kam · Der Schneider von Panama · Der wachsame Träumer · Die Libelle · Ein blendender Spion · Ein guter Soldat · Ein Mord erster Klasse · Eine Art Held · Eine kleine Stadt in Deutschland · Empfindliche Wahrheit · Geheime Melodie · Krieg im Spiegel · Marionetten · Schatten von gestern · Single & Single · Unser Spiel · Verräter wie wir

John le Carré

Single & Single

Roman

Aus dem Englischenvon Werner Schmitz

List Taschenbuch

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www.ullstein-buchverlage.de

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ISBN 978-3-8437-0849-14

1. Auflage Februar 2010

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,

Berlin 2009/List Verlag

© 1999 by David Cornwell

Übersetzung von Werner Schmitz mit freundlicher Genehmigung des

Verlags Kiepenheuer & Witsch, Köln

Titel der englischen Originalausgabe: Single and Single

(Hodder and Stoughton, London)

Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

1

Diese Pistole ist keine Pistole.

Davon jedenfalls war Mr. Winser fest überzeugt, als Alix Hoban, der junge Gebietsleiter Europa und Vorstandsmitglied der Trans-Finanz Wien, Petersburg und Istanbul, eine blasse Hand in die Brusttasche seines italienischen Blazers schob und daraus weder ein Zigarettenetui aus Platin noch eine geprägte Visitenkarte hervorzog, sondern eine schlanke blauschwarze, wie neu aussehende Automatikpistole, und diese aus fünfzehn Zentimetern Entfernung auf Mr. Winsers krumme, aber völlig gewaltlose Nase richtete. Diese Waffe existiert nicht. Sie ist als Beweismittel nicht zugelassen. Sie ist überhaupt kein Beweismittel. Das ist eine Nicht-Waffe.

Mr. Alfred Winser war Anwalt, und für einen Anwalt sind Fakten dazu da, angefochten zu werden. Alle Fakten. Je selbstverständlicher eine Tatsache dem Laien erscheinen mag, desto energischer muß der gewissenhafte Anwalt sie anfechten. Und Winser war in diesem Augenblick so gewissenhaft wie die Besten seines Fachs. Gleichwohl, er ließ verblüfft die Aktenmappe fallen. Er hörte sie auf den Boden schlagen, er spürte noch den zurückbleibenden Druck auf seiner Handfläche, sah am unteren Augenrand den Schatten zu seinen Füßen: meine Aktenmappe, mein Füller, mein Paß, meine Flugtickets und Reiseschecks. Meine Kreditkarten, meine Legalität. Dennoch bückte er sich nicht, um die Mappe aufzuheben, obwohl sie ein Vermögen gekostet hatte. Er hielt den Blick starr und stumm auf die Nicht-Waffe gerichtet.

Diese Pistole ist keine Pistole. Dieser Apfel ist kein Apfel. Winser rief sich die weisen Worte ins Gedächtnis, die jener große Mann, sein Juratutor, vor vierzig Jahren gesprochen hatte, als er aus den Tiefen seines abgewetzten Sportsakkos einen grünen Apfel hervorzauberte und der hauptsächlich weiblichen Hörerschaft zur näheren Betrachtung vor die Augen hielt: »Das hier mag aussehen wie ein Apfel, meine Damen, es mag riechen wie ein Apfel, sich anfühlen wie ein Apfel« – bedeutsam – »aber rasselt es auch wie ein Apfel?« – schüttelt – »Läßt es sich schneiden wie ein Apfel?« – nimmt ein uraltes Brotmesser aus einer Schublade seines Schreibtischs und schlägt zu. Der Apfel offenbart sich in einem Hagel von Gipsbrocken. Jubelndes Gelächter, als der große Mann die Scherben mit der Sandalenspitze beiseite tritt.

Doch Winsers leichtfertige Flucht in die Erinnerung hörte hier noch nicht auf. Vom Apfel seines Tutors war es nur ein grell aufblitzender Sonnenstrahl bis zu seinem Gemüsehändler in Hampstead, wo Winser wohnte und wohin er sich jetzt sehnlichst wünschte: ein heiterer, unbewaffneter Apfellieferant »in lustiger Schürze und Strohhut, ein Mann, der außer Äpfeln auch erstklassigen frischen Spargel verkaufte, den Winsers Frau Bunny so gerne aß, auch wenn ihr sonst kaum etwas gefiel, was ihr Mann ihr mitbrachte. Nicht vergessen, Alfred, grün und über der Erde gewachsen, niemals die weißen – und schob ihm den Einkaufskorb hin. Und nur in der Saison, Alfred, die anderen schmecken nicht. Warum habe ich das getan? Warum muß ich Leute erst heiraten, um dahinterzukommen, daß ich sie nicht mag? Warum kann ich erst nach vollbrachter Tat zu einer Entscheidung kommen und nicht schon vorher? Wozu ist die Juristenausbildung gut, wenn nicht dazu, uns vor uns selbst zu schützen? Während sein verängstigtes Gehirn panisch nach einem möglichen Fluchtweg suchte, tröstete Winser sich mit diesen Ausflügen in seine innere Wirklichkeit. Sie wappneten ihn, wenn auch nur für Bruchteile von Sekunden, gegen die Unwirklichkeit der Pistole.

Diese Pistole existiert immer noch nicht.

Aber Winser konnte nicht den Blick davon wenden. Er hatte noch nie eine Pistole aus solcher Nähe gesehen, noch nie den Zwang verspürt, Farbe, Umriß, Markierungen, Politur und Bauart einer Waffe so genau in Augenschein zu nehmen, wie sie ihm jetzt im gleißenden Sonnenlicht vor die Nase gehalten wurde. Feuert sie wie eine Pistole? Tötet sie wie eine Pistole, vernichtet sie wie eine Pistole, zertrümmert sie Gesicht und Züge zu einem Hagel von Gipsbrocken? Tapfer sträubte er sich gegen diese absurde Möglichkeit. Diese Pistole existiert nicht, absolut nicht! Sie ist ein Trugbild, eine Sinnestäuschung aus weißem Himmel, Hitze und Sonnenstich. Eine Fieberpistole, verursacht von schlechtem Essen, schlechten Ehen und zwei strapaziösen Tagen in verräucherten Sitzungssälen und beängstigenden Autofahrten durch das schwüle staubige Verkehrschaos von Istanbul, verursacht von einem schwindelerregenden frühmorgendlichen Flug im Firmenjet der Trans-Finanz über die braunen Gebirgsmassive der Zentraltürkei, von einer selbstmörderischen Dreistundenfahrt über die gewundene Küstenstraße und die Haarnadelkurven unter roten Felsvorsprüngen bis ans äußerste Ende der Welt, bis zu diesem zweihundert Meter über dem östlichen Mittelmeer gelegenen knochentrockenen Vorgebirge, auf dem es nur Geröll und Kreuzdorn und kaputte Bienenkörbe zu sehen gab und auf das die Morgensonne bereits mit voller Kraft herabschien, und von Hobans ungerührter Pistole – noch immer da und noch immer ein Phantom –, die mir ins Gehirn späht wie ein Chirurg.

Er schloß die Augen. Siehst du? sagte er zu Bunny. Keine Pistole. Doch Bunny war wie üblich gelangweilt, drängte ihn, sich allein zu vergnügen und sie in Ruhe zu lassen; also wandte er sich statt dessen an den Richter, was er seit dreißig Jahren nicht mehr getan hatte:

Mylord, ich habe die angenehme Pflicht, dem Gericht mitzuteilen, daß die Sache Winser gegen Hoban gütlich beigelegt wurde. Winser gibt zu, daß seine Behauptung, Hoban habe ihn während einer Konferenz in den Bergen der Südtürkei mit einer Waffe bedroht, auf einem Irrtum beruht. Hoban seinerseits hat eine eingehende und befriedigende Erklärung für sein Verhalten abgegeben …

Und dann wandte er sich, aus Gewohnheit oder Respekt, an seinen Präsidenten, den Generaldirektor und Tyrannen der letzten zwanzig Jahre, den Gründer und Schöpfer des auch nach ihm benannten Hauses Single, den unvergleichlichen Tiger Single höchstpersönlich:

Winser am Apparat, Tiger. O ja, sehr gut, danke, Sir, und Ihnen, wenn ich fragen darf? Freut mich sehr zu hören. Ja, ich denke, ich kann sagen, daß alles genau so gekommen ist, wie Sie es weise prophezeit haben; die Reaktion war bisher außerordentlich zufriedenstellend. Nur eine Kleinigkeit – schon längst gegessen – nichts Weltbewegendes – Hoban, der Vertreter unseres Kunden, hat den Eindruck erweckt, als richte er eine Pistole auf mich. War aber nichts, pure Einbildung, aber man wäre natürlich gern vorgewarnt …

Auch als er die Augen aufschlug und die Pistole genau da sah, wo sie vorher gewesen war, und Hobans kindliche Augen sah, die ihn über den Lauf betrachteten, und den kindlich unbehaarten Zeigefinger sah, der sich um den Abzug krümmte, gab Winser den kläglichen Rest seiner juristischen Position nicht auf. Nun gut, diese Pistole existiert als Gegenstand, aber nicht als Pistole. Es ist eine Scherzpistole. Das Ganze ist ein lustiger, harmloser Streich. Hoban hat das Ding für seinen kleinen Sohn gekauft. Die Waffe ist nicht echt, und um diese für einen jungen Menschen zweifellos viel zu lange und langweilige Verhandlung ein wenig aufzulockern, hält Hoban sie mir zum Spaß vors Gesicht. Mit tauben Lippen brachte Winser ein unbeschwertes Lächeln zustande, das seiner neuesten Theorie entsprach.

»Ein überzeugendes Argument, das muß ich schon sagen, Mr. Hoban«, erklärte er tapfer. »Was verlangen Sie von mir? Daß wir aufs Honorar verzichten?«

Statt einer Antwort vernahm er jedoch nur die Hammerschläge von Sargtischlern, meinte sofort den Lärm der Bauarbeiter im kleinen Touristenhafen jenseits der Bucht zu hören, wo sie jetzt, nachdem sie den ganzen Winter Backgammon gespielt hatten, in letzter Minute Fensterläden, Dächer und Wasserleitungen reparierten, um den Ort für die Saison startklar zu machen. In seinem Verlangen nach Normalität fand Winser plötzlich Gefallen an den Gerüchen von Abbeizmitteln, Lötlampen, auf Holzkohlenfeuer gegrilltem Fisch, den Gewürzen der Straßenhändler und all den mehr oder weniger köstlichen Düften der Türkei am Mittelmeer. Hoban bellte seinen Kollegen etwas auf russisch zu. Winser hörte hinter sich Füße scharren, wagte aber nicht, den Kopf zu wenden. Hände rissen ihm das Jackett vom Rücken, andere tasteten seinen Körper ab – Achselhöhlen, Rippen, Rückgrat, Leisten. Erinnerungen an willkommenere Hände ließen ihn vorübergehend die seiner Angreifer vergessen, gewährten aber keinen Trost, als sie sich auf der Suche nach einer versteckten Waffe bis zu seinen Waden und Knöcheln heruntertasteten. Winser hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine Waffe getragen, weder versteckt noch sonstwie, abgesehen von dem Spazierstock aus Kirschholz zur Abwehr tollwütiger Hunde und Sexualverbrecher, wenn er in Hampstead Heath spazierenging, um die Joggerinnen zu bewundern.

Widerstrebend erinnerte er sich an Hobans allzu zahlreiches Gefolge. Von der Pistole verführt, hatte er sich kurz eingebildet, Hoban und er seien allein hier oben auf dem Hügel, unter vier Augen und niemand in Hörweite, eine Situation, die jeder Anwalt zu seinem Vorteil zu nutzen versucht. Nun gestand er sich ein, daß Hoban, seit sie Istanbul verlassen hatten, ständig von einer Schar unappetitlicher Berater umgeben gewesen war. Ein Signor d’Emilio und ein Monsieur François, beide hatten die Mäntel über die Schultern gehängt, so daß man die Arme nicht sehen konnte, waren beim Abflug in Istanbul zu ihnen gestoßen. Winser hatte sie nicht beachtet. In Dalaman warteten zwei weitere unangenehme Personen mit einem leichenwagenschwarzen Landrover samt Fahrer auf sie. Aus Deutschland, stellte Hoban die beiden vor, nannte jedoch nicht ihre Namen. Aus Deutschland mochten sie ja sein, aber in Winsers Hörweite sprachen sie nur türkisch; bekleidet waren sie mit den Bestatteranzügen, wie Türken vom Lande sie zu tragen pflegen, wenn sie Geschäfte machen.

Erneut packten Hände Winser an Haaren und Schultern und drückten ihn auf dem Sandweg in die Knie. Er hörte Ziegenglöckchen bimmeln und meinte, es seien die Glocken von St. John in Hampstead, die zu seinem Begräbnis läuteten. Andere Hände nahmen ihm sein Kleingeld, die Brille und das Taschentuch ab. Wieder andere hoben seine geliebte Aktenmappe auf, und wie in einem bösen Traum sah er seine Identität, seine Sicherheit von einem Händepaar zum andern schweben, eine Mappe aus exquisitem schwarzen Leder im Wert von sechshundert Pfund, leichtfertig am Zürcher Flughafen gekauft und bar bezahlt, mit Schwarzgeld, das er von seinem auf Tigers Rat dafür eröffneten Konto abgehoben hatte. Wenn du das nächste Mal so großzügig gestimmt bist, kannst du mir mal eine anständige Handtasche kaufen, nörgelt Bunny näselnd und hebt schon die Stimme, um weitere Meckereien abzulassen. Ich setze mich ab, dachte er. Bunny bekommt Hampstead, und ich kaufe mir eine Wohnung in Zürich, in einem dieser neuen Terrassenhäuser am Hang. Tiger wird Verständnis dafür haben.

Als wabernde gelbe Schlieren über Winsers Bildschirm rauschten, stieß er einen Schmerzensschrei aus. Schwielige Hände hatten seine Handgelenke gepackt, zerrten sie ihm auf den Rücken und verdrehten sie in entgegengesetzte Richtungen. Sein Schrei hallte langsam verstummend von einem Hügel zum nächsten. Anfangs noch freundlich, etwa wie beim Zahnarzt, hoben andere Hände seinen Kopf, rissen ihn dann aber an den Haaren herum, so daß er genau in die Sonne blickte.

»Haltet ihn so«, befahl eine Stimme auf englisch, und plötzlich blinzelte Winser in das besorgte Gesicht von Signor d’Emilio, einem weißhaarigen Mann in Winsers Alter. Signor d’Emilio ist unser Berater aus Neapel, hatte Hoban mit seinem abscheulichen russisch-amerikanischen Akzent gesagt, den er weiß der Himmel wo aufgeschnappt hatte. Wie schön, hatte Winser mit lahmem Grinsen geantwortet und mit Tigers Akzent, den er immer einsetzte, wenn er sich nicht beeindrucken lassen wollte. Als Winser nun in den Sand gedrückt wurde und seine Arme und Schultern schmerzhaft knirschten, empfand er den heftigen Wunsch, er hätte Signor d’Emilio mehr Respekt bekundet, als er noch die Gelegenheit dazu hatte.

D’Emilio schritt den Hügel hinauf, und Winser wünschte, er könnte, Arm in Arm wie mit einem Freund, neben ihm herschreiten und den falschen Eindruck, den er womöglich gemacht hatte, wieder zurechtrücken. Aber er mußte, das Gesicht in die sengende Sonne gedreht, weiter auf den Knien bleiben. Er kniff die Augen fest zu, aber die Sonne drang immer noch durch und färbte alles gelb. Er kniete, seitlich verkrümmt und zugleich aufrecht, und der gleiche stechende Schmerz wie in seinem Knie schoß ihm in unregelmäßigen Abständen durch die Schultern. Sein Haar machte ihm Sorgen. Er hatte es nie färben wollen, er verachtete jeden, der so etwas tat. Aber als sein Friseur ihn einmal überredet hatte, es mit einer Tönung zu versuchen, hatte Bunny darauf bestanden, daß er damit weitermachte. Was glaubst du, wie mir zumute ist, Alfred, wenn ich mit so einem Weißhaarigen als Ehemann durch die Gegend laufe? – Aber meine Liebe, so war mein Haar doch schon, als ich dich geheiratet habe! – Um so schlimmer für mich, hatte sie geantwortet.

Ich hätte Tigers Rat befolgen und ihr irgendwo eine Wohnung einrichten sollen, in The Barbican, am Dolphin Square. Ich hätte sie als meine Sekretärin rausschmeißen und als Freundin behalten sollen, ohne die Demütigung, ihr Mann zu sein. Heirate sie nicht, Winser, kauf sie! Das ist auf die Dauer billiger, in jedem Fall, hatte Tiger ihm zugeredet – und ihnen dann eine Flitterwoche auf Barbados geschenkt. Winser machte die Augen auf. Er fragte sich, wo sein Hut geblieben war, ein flotter Panama, den er für sechzig Dollar in Istanbul erstanden hatte, und mußte feststellen, daß sein Freund d’Emilio ihn trug, zur Belustigung der beiden Türken in den dunklen Anzügen. Erst lachten die zwei. Dann drehten sie sich um und sahen von ihrem Standort auf halber Höhe des Hügels zu Winser hinunter, als spiele er auf einer Bühne. Verdrossen. Fragend. Zuschauer, nicht Teilnehmer. Bunny, wie sie zusieht, wenn ich Sex mit ihr habe. Na, amüsierst du dich gut da unten? Mach schon weiter, ich bin müde. Er sah kurz nach dem Fahrer des Jeeps, der ihn das letzte Stück vom Fuß des Berges hierhergebracht hatte. Der Mann hat ein freundliches Gesicht, der wird mich retten. Und eine verheiratete Tochter in Izmir.

Freundliches Gesicht oder nicht, der Fahrer war eingeschlafen. Weiter unten am Weg, in dem leichenwagenschwarzen Landrover der Türken, hockte ein zweiter Fahrer, der mit offenem Mund vor sich hin starrte und auch nichts mitbekam.

»Hoban«, sagte Winser.

Ein Schatten fiel über seine Augen, und die Sonne stand inzwischen so hoch, daß, wer auch immer ihn warf, sehr dicht neben ihm stehen mußte. Jetzt etwas schlafen! Gute Idee. Und woanders wieder aufwachen. Als er durch schweißverklebte Lider nach unten blinzelte, sah er ein Paar Krokolederschuhe und darüber die Aufschläge einer eleganten weißen Segeltuchhose. Er blinzelte weiter nach oben und erblickte die schwarzen forschenden Züge von Monsieur François, einem anderen Vasallen Hobans. Monsieur François ist unser Vermessungsingenieur. Er wird das avisierte Grundstück vermessen, hatte Hoban am Istanbuler Flughafen erklärt, und Winser, dumm wie er war, hatte dem Ingenieur dasselbe lahme Grinsen geschenkt wie Signor d’Emilio.

Einer der Krokoschuhe bewegte sich, und Winser rätselte in seinem benommenen Zustand, ob Monsieur François etwa vorhabe, ihm einen Tritt zu versetzen, aber dem war offenbar nicht so. Vielmehr schob er von der Seite her etwas in Winsers Blickfeld. Ein Kassettenrecorder, befand Winser. Der Schweiß schärfte seine Augen. Ich soll für meine Lieben daheim ein paar beruhigende Worte sprechen, wenn diese Leute hier ihre Lösegeldforderungen stellen: Tiger, Sir, hier spricht Alfred Winser, der letzte der Winsers, wie Sie mich zu nennen pflegten; ich kann Ihnen mitteilen, daß es mir ausgezeichnet geht, kein Grund zur Sorge, alles bestens. Die Leute hier sind nett zu mir und kümmern sich großartig um mich. Ich habe ihre Sache, was auch immer die ist, respektieren gelernt, und wenn sie mich, was sie mir für die nächste Zukunft versprochen haben, freilassen, werde ich mich vor der Weltöffentlichkeit unerschrocken zu ihrem Fürsprecher machen. Ach, und hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, aber ich habe diesen Leuten gesagt, daß auch Sie das tun werden, denn man ist nun einmal sehr daran interessiert, von Ihren Überredungskünsten zu profitieren …

Er hält mir das Ding an die andere Wange. Er sieht es finster an. Das ist überhaupt kein Kassettenrecorder, das ist ein Thermometer. Nein, ist es nicht, er will mir den Puls damit messen, um sicherzugehen, daß ich nicht ohnmächtig werde. Er steckt es wieder in die Tasche. Er marschiert den Hügel hinauf zu den beiden deutsch-türkischen Bestattern, zu Signor d’Emilio, der meinen Panama aufhat.

Winser bemerkte jetzt, daß er sich bei dem angestrengten Versuch, das Unannehmbare von sich zu weisen, in die Hose gemacht hatte. Am linken Hosenbein seines Tropenanzugs hatte sich ein feuchter Fleck ausgebreitet, und er hatte keine Möglichkeit, das zu verbergen. Er war in der Hölle, in einem Alptraum. Er versetzte sich an andere Orte. Er saß spätabends an seinem Schreibtisch im Büro, weil er es nicht ertragen konnte, wieder eine Nacht aufzubleiben und auf Bunny zu warten, bis sie schlecht gelaunt und mit erhitztem Gesicht von ihrer Mutter nach Hause kam. Er war bei einer pummligen Freundin, einer früheren Geliebten, in Chiswick, und mit Morgenrockgürteln, die sie in einer Schublade aufbewahrte, fesselte sie ihn ans Kopfende des Bettgestells. Er war überall, absolut überall, nur nicht auf diesem Hügel in der Hölle. Er schlief, blieb aber weiter auf den Knien, aufrecht, verkrümmt, von Schmerzen gepeinigt. Im Sand mußten Splitter von Muscheln oder Kieseln sein, er spürte die Stiche in den Kniescheiben. Antike Tonscherben, erinnerte er sich. Jede Menge römische Keramik hier auf den Hügeln, in deren Boden sich angeblich Gold befindet. Erst gestern, bei seiner wortgewandten Präsentation des Investitionsplans der Firma Single in Dr. Mirskys Büro in Istanbul, hatte er Hobans Gefolge dieses verlockende Verkaufsargument vorgetragen. Solche Farbtupfer wirkten anziehend auf ahnungslose Investoren, insbesondere auf unbedarfte Russen. Gold, Hoban! Schätze, Hoban! Antike Kultur, bedenken Sie, welche Zugkraft das hat! Er hatte brillant argumentiert, herausfordernd, eine virtuose Darbietung geliefert. Sogar Mirsky, den Winser insgeheim für einen Emporkömmling und unsicheren Kantonisten hielt, hatte es über sich gebracht, ihm zu applaudieren: »Ihr Plan ist so legal, Alfred, daß man ihn verbieten sollte«, hatte er gejubelt und ihm mit seinem dröhnenden polnischen Lachen so heftig auf den Rücken geklopft, daß Winser beinahe in die Knie gegangen wäre.

»Bitte. Bevor ich Sie erschieße, Mr. Winser, habe ich Auftrag, Ihnen ein paar Fragen zu stellen.«

Winser verstand kein Wort. Er hörte nichts. Er war tot.

»Sie sind mit Mr. Randy Massingham befreundet?« fragte Hoban.

»Ich kenne ihn.«

»Wie gut befreundet?«

Was wollen sie hören? schrie Winser innerlich. Sehr gut befreundet? So gut wie gar nicht? Mittelmäßig befreundet? Hoban wiederholte seine Frage, scharf und nachdrücklich.

»Beschreiben Sie die Art Ihrer Freundschaft mit Mr. Randy Massingham so genau wie möglich. Ganz deutlich, bitte. Richtig laut.«

»Ich kenne ihn. Er ist ein Kollege von mir. Ich bin juristisch für ihn tätig. Unser Verhältnis ist denkbar gut, aber rein beruflicher Natur, nicht vertraulich«, murmelte Winser, um sich nach allen Seiten hin offenzuhalten.

»Lauter, bitte.«

Winser wiederholte das Ganze etwas lauter.

»Sie tragen eine modische Cricket-Krawatte, Mr. Winser. Erklären Sie uns bitte, was es mit dieser Krawatte auf sich hat.«

»Das ist keine Cricket-Krawatte!« Unverhofft hatte Winser seinen Mut wiedergefunden. »Tiger ist der Cricketspieler, nicht ich! Sie haben den Falschen erwischt, Sie Idiot!«

»Testfragen«, sagte Hoban zu einem der Leute oben auf dem Hügel.

»Testfragen wozu?« fragte Winser aufsässig.

Hoban las aus einem Gucci-Gebetbuch aus kastanienbraunem Leder vor, das er sich aufgeschlagen so vors Gesicht hielt, daß es dem Lauf der Automatik nicht im Weg war.

»Frage«, deklamierte er festlich wie ein Ausrufer. »Wer bitte war verantwortlich für die Aufbringung der SS Free Tallinn vorige Woche auf der Fahrt von Odessa nach Liverpool?«

»Was weiß ich von Schiffahrtsangelegenheiten?« fragte Winser trotzig, mit noch ungebrochenem Mut. »Wir sind Finanzberater, keine Schiffsagenten. Zu Single kommen Leute, die Geld haben und Rat brauchen. Woher sie das Geld haben, ist ihre Sache. Solange sie sich dabei wie Erwachsene anstellen.«

Erwachsen, bis es weh tut. Erwachsen, weil Hoban ein rosa Schweinchen war, noch kaum geboren. Erwachsen, weil Mirsky ein aufgeblasener polnischer Wichtigtuer war, mit egal wie vielen Doktortiteln vor dem Namen. Doktor von wo? Von was? Wieder sah Hoban am Hang hinauf, leckte an einem Finger und blätterte zur nächsten Seite seines Gebetbuchs um.

»Frage. Wer bitte hat die italienische Polizei von einem speziellen Lastwagenkonvol informiert, der am 30. März dieses Jahres aus Bosnien nach Italien zurückgekehrt ist?«

»Lastwagen? Was weiß ich von speziellen Lastwagen? Genausoviel, wie Sie von Cricket wissen! Wenn Sie mich bitten würden, die Namen und Lebensdaten der schwedischen Könige aufzuzählen, könnte ich Ihnen eher eine Antwort geben.«

Wieso Schweden? fragte er sich. Wie kam er jetzt auf Schweden? Warum dachte er plötzlich an schwedische Blondinen, üppige weiße Schenkel, schwedisches Knäckebrot, Pornofilme? Warum lebte er in Schweden, wenn er in der Türkei starb? Was soll’s. Noch hatte ihn sein Mut nicht verlassen. Dieser Zwerg kann mich mal, Pistole oder nicht. Hoban blätterte wieder eine Seite in seinem Gebetbuch um, aber Winser kam ihm zuvor. Wie Hoban schrie er aus Leibeskräften: »Ich weiß es nicht, Sie blöder Idiot! Fragen Sie mich nicht, kapiert? –« bis ihn ein wuchtiger Tritt Hobans an die linke Halsseite zu Boden schleuderte. Nicht das Gefühl zu reisen, sondern anzukommen. Die Sonne ging aus, er sah die Nacht, fühlte, wie sein Kopf an einen freundlichen Felsen gekuschelt war, und wußte, daß ein Stück Zeit aus seinem Bewußtsein verschwunden war und daß er dieses Stück nicht wiederhaben wollte.

Hoban hatte unterdessen die nächste Frage vorgelesen. »Wer hat die in sechs Ländern gleichzeitig erfolgte Beschlagnahmung von Vermögenswerten und Schiffen veranlaßt, die sich direkt oder indirekt in Besitz der First Flag Baugesellschaft Andorra und ihrer Tochtergesellschaften befinden? Wer bitte hat die internationalen Polizeibehörden informiert?«

»Was für eine Beschlagnahmung? Wo? Wann? Nichts ist beschlagnahmt worden! Niemand hat irgendwen informiert. Sie sind ja verrückt, Hoban! Vollkommen verrückt. Haben Sie gehört? Sie sind verrückt!«

Winser lag noch immer am Boden, bot aber in seiner Wut alle Kräfte auf, wieder auf die Knie zu kommen, er strampelte und wand sich wie ein angeschossenes Tier, versuchte die Fersen irgendwie unter sich zu zwängen, stemmte sich halbwegs hoch und kippte gleich wieder auf die Seite. Hoban verlas weitere Fragen, aber Winser wollte sie gar nicht mehr hören – Fragen über umsonst gezahlte Provisionen, über angeblich wohlwollende Hafenbeamte, die sich als keineswegs wohlwollend erwiesen hatten, über Geldbeträge, die auf Bankkonten überwiesen und wenige Tage später konfisziert worden waren. Aber Winser wußte nichts von all dem.

»Lügen!« schrie er. »Das Haus Single ist ehrlich und zuverlässig. Die Interessen unserer Kunden haben bei uns höchste Priorität.«

»Auf die Knie und zuhören«, befahl Hoban.

Und irgendwie gelang es Winser mit seiner neugefundenen Würde, auf die Knie zu kommen und zuzuhören. Aufmerksam. Und noch aufmerksamer. So aufmerksam, als ob Tiger selbst ihn darum gebeten hätte. Noch nie in seinem Leben hatte er so eifrig, so gewissenhaft der lieblichen Hintergrundmusik des Universums zugehört wie in diesem Augenblick, freilich nur, um das einzige Geräusch auszublenden, das er auf gar keinen Fall hören wollte, nämlich Hobans schnurrenden russisch-amerikanischen Baß. Freudig lauschte er dem Gekreisch der Möwen, die mit den fernen Rufen eines Muezzin wetteiferten, dem Rauschen des Meeres, über das eine Brise wehte, dem Gebimmel der Vergnügungsboote in der Bucht, die sich auf die Saison vorbereiteten. Er sah ein Mädchen aus seiner Jugendzeit nackt in einem Meer von Mohnblumen knien und war damals wie heute zu zaghaft, die Hand nach ihr auszustrecken. Mit der verängstigten Liebe, die in ihm aufwallte, nahm er bewundernd all die Gerüche und Geräusche und Empfindungen von Himmel und Erde in sich auf, um nur ja nicht Hobans abscheuliche Stimme zu hören, die ihm sein Todesurteil verkündete.

»Wir bezeichnen das als exemplarische Strafe«, las Hoban die vorbereitete Erklärung aus seinem Gebetbuch vor.

»Lauter«, befahl Monsieur François lakonisch von oben, und Hoban wiederholte den Satz.

»Natürlich ist es auch ein Racheakt. Bitte. Wir wären keine Menschen, wenn wir keine Rachegelüste hätten. Aber wir möchten diese Geste auch als förmliches Ersuchen um Wiedergutmachung interpretiert wissen.« Noch lauter. Und deutlicher. »Und wir hoffen aufrichtig, Mr. Winser, daß Ihr Freund Tiger Single und die internationale Polizei die Botschaft verstehen und den richtigen Schluß daraus ziehen.«

Dann kläffte er etwas Unverständliches, offenbar das gleiche noch einmal auf russisch, für diejenigen seiner Zuhörer, die des Englischen nicht mächtig waren. Oder war es Polnisch, zur höheren Erbauung des Dr. Mirsky?

*

Winser, dem es vorübergehend die Sprache verschlagen hatte, erlangte sie jetzt allmählich wieder zurück, auch wenn er zunächst nur Bruchstücke wie »Verstand verloren«, »Richter und Geschworene in einer Person« oder »mit Single nicht anlegen« herausbrachte. Er war völlig verschmutzt, er klebte von Schweiß und Pisse und Dreck. Nichtssagende erotische Visionen, die zu irgendeinem unerlebbaren Unterleben gehörten, bedrängten ihn mitten im Kampf ums Überleben seiner Spezies, und er war vom Sturz auf den Boden mit rötlichem Staub bedeckt. Seine gefesselten Arme schmerzten furchtbar, und um überhaupt sprechen zu können, mußte er den Kopf weit nach hinten biegen. Aber es gelang ihm. Er hielt die Stellung.

Er argumentierte, daß er, wie schon zuvor gesagt, de facto und de jure Immunität genieße. Er sei Anwalt, und das Gesetz schütze sich selbst. Er wirke nicht destruktiv, sondern konstruktiv, er sei ein diskreter Förderer von grenzenloser Gefälligkeit, der Leiter der Rechtsabteilung und Vorstandsmitglied des Hauses Single mit Büros im Londoner West End, er sei Ehemann und Vater und habe sich trotz einer Schwäche für Frauen und zwei unglücklichen Scheidungen die Liebe seiner Kinder bewahrt. Er habe eine Tochter, die eben jetzt am Beginn einer vielversprechenden Bühnenkarriere stehe. Bei Erwähnung seiner Tochter schluchzte er auf, aber niemand teilte seinen Kummer.

»Reden Sie lauter!« drängte von oben Monsieur François, der Vermessungsingenieur.

Winsers Tränen hinterließen Spuren im Staub auf seinen Wangen, es sah aus wie verschmiertes Make-up, aber er machte weiter, er hielt noch immer die Stellung. Er sei Experte für Investitions- und Steuervorausplanung, sagte er, den Kopf weit zurückgelegt und den weißen Himmel anschreiend. Seine Spezialgebiete seien Off-shore- und Treuhand-Gesellschaften, Briefkästen und die Steueroasen in aller Welt. Er sei kein Seerechtsanwalt, als welcher Dr. Mirsky sich ausgebe, kein waghalsiger Unternehmer wie Mirsky, kein Gangster. Er handle nur im Rahmen der Legalität, er befasse sich mit der Verlagerung inoffizieller Vermögenswerte auf sicheren Boden. Dann äußerte er sich ungestüm über legale Zweitpässe, wechselnde Staatsangehörigkeiten und nicht-obligatorische Wohnsitze in über einem Dutzend klimatisch und fiskalisch attraktiver Länder. Jedoch habe er nichts – ich wiederhole: nichts, erklärte er tapfer – mit dem zu schaffen, was er die Methodik des Anhäufens primärer Reichtümer nennen würde. Er erinnere sich, daß Hoban früher bei der Armee gewesen sei – oder war es die Marine?

»Wir sind Stubenhocker, Hoban, begreifen Sie das nicht? Schreibtischmenschen! Planer! Strategen! Sie sind die Männer der Tat, nicht wir! Sie und Mirsky, wenn Sie so wollen, da Sie ja anscheinend mit dem unter einer Decke stecken!«

Niemand applaudierte. Niemand sagte amen. Aber es unterbrach ihn auch niemand, und das Schweigen dieser Leute überzeugte ihn davon, daß sie ihm zuhörten. Die Möwen hatten aufgehört zu kreischen. Auf der anderen Seite der Bucht schien man Siesta zu machen. Hoban sah wieder einmal auf seine Uhr. Ziemlich umständlich: Während er beide Hände an der Pistole hielt, drehte er das linke Handgelenk nach innen, bis er das Zifferblatt sehen konnte. Drehte es wieder zurück. Eine goldene Rolex. Wonach sie alle streben. Mirsky trägt auch eine. Das beherzte Reden hatte Winsers Kräfte wiederbelebt. Er holte Luft und setzte ein Lächeln auf, mit dem er Einsicht zu signalisieren glaubte. In einem Anfall von Leutseligkeit zählte er noch einmal die Leckerbissen seiner Präsentation vom Vortag in Istanbul auf.

»Das ist Ihr Land, Hoban! Es gehört Ihnen. Sechs Millionen Dollar haben Sie gezahlt, in bar – in Dollar, Pfund, Deutsche Mark, Yen, Franc und einem Sammelsurium anderer Währungen – Körbe, Koffer, Kisten voll Banknoten, und niemand hat Fragen gestellt! Erinnern Sie sich? Und wer hat das arrangiert? Wir! Verständnisvolle Beamte, tolerante Politiker, einflußreiche Leute – erinnern Sie sich? Das alles hat Single für Sie eingefädelt, persilweiß haben wir Ihr schmutziges Geld gewaschen! Über Nacht, erinnern Sie sich? Sie haben doch gehört, was Mirsky gesagt hat – so legal, daß man es verbieten sollte. Nun, es ist nicht verboten. Es ist legal!«

Niemand sagte, daß er sich daran erinnere.

Winser geriet außer Atem und drehte allmählich durch. »Angesehene Privatbank, Hoban – wir – erinnern Sie sich? Eingetragen in Monaco, macht Ihnen das Angebot, Ihr Land mit allem Drum und Dran zu kaufen. Akzeptieren Sie? Nein! Sie nehmen nur Papier, niemals Bargeld! Und unsere Bank erklärt sich damit einverstanden. Ist mit allem einverstanden, natürlich ist sie das. Weil wir für Sie agieren, erinnern Sie sich? Wir haben uns Ihre Sache zu eigen gemacht! Wir sind eine Bank, aber wir verwenden Ihr Geld zum Ankauf Ihres Landes! Sie können doch nicht sich selbst erschießen! Wir sind Sie – wir sind ein und dasselbe.«

Zu schrill. Er riß sich zusammen. Sachlich sein ist die Devise. Gelassen. Reserviert. Nur kein übertriebenes Eigenlob. Das soll Mirskys Problem bleiben. Zehn Minuten von Mirskys Geschwätz, und jeder Kaufmann, der noch etwas auf sich hält, ist schon halb zur Tür heraus.

»Sehen Sie sich die Zahlen an, Hoban! Wie schön sie sind! Ihr florierendes Feriendorf – Schätzwert, so hoch Sie wollen! Welch eine Waschkraft entfaltet sich, wenn man erst mal anfängt zu investieren! Zwölf Millionen für Straßen, Kanalisation, Strandbad, Swimmingpool, zehn für Ferienhäuser, Hotels, Kasinos, Restaurants und zusätzliche Infrastruktur – jedes Kind könnte die Summe auf dreißig steigern!«

Er wollte noch hinzufügen: »Sogar Sie, Hoban«, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück. Hörten Sie ihn überhaupt? Vielleicht sollte er lauter sprechen. Er brüllte. D’Emilio schmunzelte. Natürlich! Lautstärke, das gefällt d’Emilio! Na, und mir auch! Lautstärke bedeutet Offenheit, Legalität, Transparenz! Lautstärke bedeutet: Wir sind Freunde, wir sind Partner! Lautstärke bedeutet: Wir gehören zusammen!

»Sie brauchen für Ihre Ferienhäuser nicht einmal Mieter, Hoban – jedenfalls nicht im ersten Jahr! Keine richtigen Mieter – allenfalls Scheinmieter, zwölf volle Monate lang, stellen Sie sich das mal vor! Imaginäre Mieter, die Woche für Woche zwei Millionen in Ihren Geschäften, Hotels, Discos, Restaurants und Mietobjekten lassen! Das Geld wandert direkt aus Ihrem Koffer durch die Bücher der Gesellschaft auf einwandfreie europäische Bankkonten! Und damit können Sie jedem künftigen Aktienkäufer stets tadellose Bilanzen vorlegen – und wer ist der Käufer? Sie selbst! Und wer ist der Verkäufer? Sie selbst! Sie verkaufen an sich selbst, Sie kaufen von sich selbst, und immer so weiter! Und Single ist der ehrliche Makler, wir achten auf die Einhaltung der Regeln, wir sorgen dafür, daß alles mit rechten Dingen zugeht. Wir sind Ihre Freunde, Hoban! Wir sind keine Windhunde wie Mirsky. Wir sind Waffenbrüder. Gute Freunde! Wir sind immer da, wenn Sie uns brauchen. Selbst wenn Ihnen der Wind ins Gesicht bläst, sind wir für Sie da –«, zitierte er verzweifelt Tiger.

Ein Regenguß stürzte vom heiteren Himmel und löschte den roten Staub, ließ Gerüche aufsteigen und zog noch mehr Linien in Winsers verklebtes Gesicht. Als er d’Emilio, der nach wie vor den Panamahut aufhatte, auf sich zukommen sah, nahm Winser an, er habe seinen Prozeß gewonnen, man werde ihn nun wieder auf die Füße stellen, ihm auf die Schulter klopfen und die Glückwünsche des Gerichts aussprechen.

Aber d’Emilio hatte anderes im Sinn. Er legte Hoban einen weißen Regenmantel um die Schultern. Winser versuchte, in Ohnmacht zu fallen, aber das gelang ihm nicht. Er schrie Warum? Freunde! Nein! Er faselte, von der Free Tallinn habe er nie etwas gehört, er habe nie etwas mit irgendwelchen Vertretern der internationalen Polizeibehörden zu tun gehabt, solchen Leuten sei er sein Leben lang aus dem Weg gegangen. D’Emilio setzte etwas Rundes auf Hobans Kopf. Heilige Mutter Gottes, eine schwarze Mütze. Nein, ein schwarzes Stirnband. Nein, das war ein Strumpf, ein schwarzer Strumpf. O Gott im Himmel, Mutter des Himmels und der Erde, ein schwarzer Strumpf, der die Züge meines Henkers entstellen soll!

»Hoban. Tiger. Hoban. Hören Sie mich an. Sehen Sie nicht dauernd auf die Uhr. Bunny. Halt! Mirsky! Warten Sie! Was habe ich Ihnen getan? Nur Gutes, ich schwör’s! Tiger! Mein ganzes Leben lang! Warten Sie! Halt!«

Er stieß diese Worte so mühsam hervor, als könne er kein Englisch mehr, als müsse er das erst aus anderen Sprachen übersetzen. Aber er konnte keine andere Sprache, weder Russisch noch Polnisch noch Türkisch noch Französisch. Er starrte um sich und erblickte oben am Hang Monsieur François, den Vermessungsingenieur; er trug Kopfhörer und spähte durchs Visier einer Filmkamera, an der ein schaumstoffumhülltes Mikrofon befestigt war. Er sah die schwarz maskierte und weiß verhüllte Gestalt Hobans in eindeutiger Schußposition, ein Bein theatralisch nach hinten gestellt, eine Hand um die Pistole gekrümmt, die auf Winsers linke Schläfe gerichtet war, die andere Hand mit einem Handy am Ohr, während er Winser nicht aus den Augen ließ und süße Nichtigkeiten auf russisch in die aufgeklappte Sprechmuschel flüsterte. Er sah Hoban ein letztes Mal auf die Uhr blicken, während Monsieur François sich in bester Fotografentradition bereitmachte, diesen einzigartigen Moment für immer festzuhalten. Und er sah einen Jungen mit schmutzigem Gesicht, der aus einem Spalt zwischen zwei Felsen zu ihm hinabblickte. Er hatte große braune, ungläubige Augen, wie Winser, als der in seinem Alter gewesen war, und lag auf dem Bauch und hatte das Kinn auf beide Hände wie auf ein Stützkissen gelegt.

2

»Oliver Hawthorne. Kommen Sie bitte sofort hierher. Und zwar schleunigst. Jemand möchte Sie sprechen.«

In der Kleinstadt Abbots Quay, in den Hügeln Südenglands an der Küste von Devon, stand eines funkelnden, vom Duft der Kirschblüten durchwehten Morgens Mrs.Elsie Watmore vor ihrer viktorianischen Pension und rief gut gelaunt nach ihrem Mieter Oliver, der auf dem Gehsteig zwölf Stufen unter ihr mit Hilfe ihres zehnjährigen Sohnes Sammy mehrere ramponierte schwarze Koffer in seinen japanischen Lieferwagen lud. Mrs.Watmore hatte es aus dem eleganten Badeort Buxton im Norden nach Abbots Quay verschlagen, und auch hier verzichtete sie nicht auf die dort erworbenen anspruchsvollen Umgangsformen. Ihre Pension war eine viktorianische Sinfonie aus Spitzenvolants, vergoldeten Spiegeln und Glasvitrinen voller winziger Schnapsflaschen. Das Haus hieß Mariners’ Rest, und sie hatte dort glücklich mit Sammy und ihrem Mann Jack gelebt, bis dieser, den verdienten Ruhestand vor Augen, auf See ums Leben gekommen war. Sie war eine füllige Frau, klug, attraktiv und einfühlsam. Ihr Derbyshire-Akzent, den sie der komischen Wirkung halber angenommen hatte, schallte wie eine Bandsäge über die steil abfallenden Küstenterrassen. Sie trug ein verwegenes malvenfarbenes Seidenkopftuch, denn es war Freitag, der Tag, an dem sie ihre Haare zu waschen pflegte. Von der See her wehte eine linde Brise.

»Sammy, Lieber, stoß Ollie mal in die Rippen, und sag ihm, jemand ist für ihn am Telefon, bitte – er schläft wie üblich – im Flur! Mr. Toogood von der Bank. Irgendwelche Routinesachen zu unterschreiben, sagt er, aber dringend – und da er zur Abwechslung mal sehr höflich und gentlemanlike ist, beeil dich, damit er mir nicht wieder den Überziehungskredit kürzt.« Sie wartete, sie übte Nachsicht; das war bei Ollie so ziemlich das einzige, was man tun konnte. Nichts bringt ihn aus der Ruhe, dachte sie. Nicht, wenn er in sich gekehrt ist. Er würde mich nicht mal hören, wenn ich ein Luftangriff wäre. »Sammy lädt die Koffer für Sie ein, stimmt’s, Samuel, das tust du doch«, fügte sie als weiteren Anreiz hinzu.

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