SOKO Dreisam - Anne Grießer - E-Book + Hörbuch

SOKO Dreisam Hörbuch

Anne Grießer

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Beschreibung

Am Morgen des 16. Oktober 2016 wird am Ufer der Dreisam in Freiburg eine Medizinstudentin ermordet aufgefunden. Der Täter, der durch akribische Polizeiarbeit bald ermittelt wird: ein unbegleiteter, jugendlicher Flüchtling aus Afghanistan. In der Stadt kocht die Stimmung über. Sämtliche politischen Lager wollen den Mord für sich instrumentalisieren. Und vor Gericht entspinnt sich ein Prozess, bei dem es auch um Fragen zur Betreuung von Flüchtlingen, um Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Gutachten, um die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen und um die Rolle eines Pflichtverteidigers geht. Anne Grießer, Krimiautorin, Ethnologin, Dozentin und Reisejournalistin hat den Prozess von Anfang bis Ende verfolgt und ihre ganz persönlichen Schlüsse daraus gezogen. "Ich verstehe den ganzen Aufwand nicht. Es war doch nur eine Frau." (Hussein K. bei seinem ersten Prozess in Griechenland)

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Zeit:9 Std. 8 min

Sprecher:Heidi Jürgens

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Anne Grießer

SOKO Dreisam

Der Mordfall, die Hintergründe und der Prozess gegen Hussein K.

 

über die Autorin

Anne Grießer ist im badischen Odenwald aufgewachsen und lebt heute in Freiburg. 
Sie studierte Ethnologie und Germanistik und arbeitete u.a. als Lektorin, Reiseleiterin, Redakteurin und Dozentin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. 
Neben Krimis und historischen Romanen schreibt sie Reiseführer und Sachbücher zu kulturgeschichtlichen Themen.
Durch die Recherche für ihre Kriminalgeschichten erwachte das Interesse an der realen Arbeit von Polizei und Justiz.

 

IMPRESSUM

1. Auflage 2023

© 2023 by hansanord Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN Print 978-3-947145-69-0

ISBN E-Book 978-3-947145-70-6

Cover | Umschlag: Tobias Prießner

Lektorat: Ursula Schötzig

Satz: Christiane Schuster | www.kapazunder.de

Für Fragen und Anregungen: [email protected]

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hansanord Verlag

Johann-Biersack-Str. 9

D 82340 Feldafing

Tel. +49 (0) 8157 9266 280

FAX +49 (0) 8157 9266 282

[email protected]

www.hansanord-verlag.de

 

Inhalt

Vorwort
1. Die Tat
2. Vor dem Landgericht
3. Der Täter
4. Das Geständnis
5. Ermittlungen, Teil 1
6. In der Sonderbar
7. Freunde und Feinde
8. Sprachbarrieren
9. Alkohol und Drogen
10. Unterbringung
11. Der Pflichtverteidiger
12. Wissenschaft vor Gericht: Die Altersbestimmung
13. Ermittlungen, Teil 2
14. Was geschah wirklich am 16. Oktober?
15. Griechenland
16. Forensische Psychologie
17. Letzte Worte
18. Sie sind uns ein Rätsel geblieben

Vorwort

Gerichtsverhandlungen sind in aller Regel öffentlich. Jede Bürgerin, jeder Bürger kann daran teilnehmen, kann die Arbeit der Justiz kontrollieren, sich einen persönlichen Eindruck über das Rechtssystem verschaffen. Aber während sich realitätsferne Gerichtsshows im Fernsehen einer gewissen Beliebtheit erfreuen, nehmen im Alltag nur wenige Menschen dieses Recht wahr.Beim Prozess gegen Hussein K., der im Oktober 2016 in Freiburg eine Studentin tötete, war das anders. Zumindest zu Beginn der Verhandlung zog sich die Warteschlange schon in den frühen Morgenstunden fünfzig Meter lang durch die Salzstraße. Grund dafür war nicht etwa ein plötzlich erwachtes Interesse am Gerichtsalltag, sondern vielmehr die Tatsache, dass es sich bei dem Täter um einen jungen Afghanen handelte, der als (vermeintlich) jugendlicher unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland eingereist war. Presse und Öffentlichkeit stürzten sich auf den Fall, Hussein K. stand plötzlich stellvertretend für die gesamte Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. Und obwohl das Interesse an der eigentlichen Verhandlung schnell wieder erlahmte, hielten sich die Parolen vom »bösen Ende der Willkommenskultur«, vom »Versagen der Jugendämter und Behörden« und von den »zu milden Urteilen der deutschen Justiz« bis zum Schluss. Inzwischen sind sechs Jahre seit dem Prozessauftakt vergangen. Warum schreibe ich erst jetzt ein Buch darüber?
Ich habe den Prozess damals lückenlos verfolgt und in dieser Zeit viel über das deutsche Rechtssystem gelernt. Während der Hauptverhandlung wurde in der Presse viel über den Fall berichtet. So viel, dass bald eine gewisse Sättigung eintrat. Und die meisten Artikel waren politisch gefärbt. 
Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt, andere Fälle haben die Öffentlichkeit erregt. Wie Pflichtverteidiger Sebastian Glathe in seinem Schlussplädoyer sagte: »Da der Fall keine politische Dimension hat, schrumpft er auf ein normales Strafverfahren.« 
Mich hat von Beginn an der Einzelfall interessiert. 
Ich richte mich daher an alle Leserinnen und Leser, die erfahren wollen, wie der Prozess abgelaufen ist, was das Gericht unternommen hat, um die Tat lückenlos aufzuklären und ein angemessenes Strafmaß für den Täter zu finden. Ich beschäftige mich ferner mit allgemeinen Fragen rund um den Strafprozess und mit speziellen Fragen, die im Fall Hussein K. zum Tragen kamen – zum Beispiel die Betreuungssituation von jugendlichen Flüchtlingen. 
Bei den Namen von Zeuginnen und Zeugen habe ich mich zur Wahrung der Anonymität auf Vornamen und Abkürzungen beschränkt. Lediglich die Namen von Gutachterinnen und Gutachtern, die ohnehin von der Presse erwähnt wurden, habe ich ungekürzt übernommen. 
Normalerweise wird auch der Name des Opfers nicht erwähnt. Maria Ladenburger bildet hier eine Ausnahme, denn die Eltern der jungen Frau haben im Gedenken an ihre Tochter eine Stiftung ins Leben gerufen. Die Maria-Ladenburger-Stiftung unterstützt Studierende mit Behinderung, plötzlichen Erkrankungen oder in schwierigen Lebenssituationen sowie ausländische Studierende bei deren Integration in das universitäre Umfeld. Sie fördert auch Projekte der Entwicklungshilfe, etwa durch Praktika im Medizinstudium. 
Nun wünsche ich Ihnen eine interessante Lektüre – und wenn Sie mögen, dürfen Sie mir gerne Ihre Anregungen, Fragen oder Eindrücke zum Buch schicken!

1. Die Tat

Es sei ein wunderschöner Sonntagmorgen gewesen, erzählt später die Frau, die Maria Ladenburgers Leiche fand. Knackig kalt, der Vollmond stand noch am Himmel und zarte Nebelschwaden stiegen aus der Dreisam auf. Links der Fluss, rechts die Schrebergärten, es gab Eisvögel, Wasseramseln und Rotkehlchen. Ein Idyll.Dann sah die Frau etwas im Wasser schaukeln. Im ersten Moment hielt sie es für das Bein einer Schaufensterpuppe. Aber das war es nicht. Beim Näherkommen wuchs ihre Beklemmung und eine grausige Vorahnung machte sich breit. Im Niedrigwasser wogte, mit dem Gesicht nach unten, ein nackter, schmaler Körper, ganz still, ohne auffällige Spuren am Rücken.
Die Spaziergängerin rief sofort die Polizei. Und kurz darauf war im sonst so beschaulichen Freiburg nichts mehr so wie zuvor. 
Der Abend davor 
Maria Ladenburger ist Medizinstudentin im dritten Semester. Am letzten Tag ihres Lebens besucht sie eine Party. Die Big MediNight ist ein Großereignis, Freiburgs bekannteste Semestereröffnungsfeier, ein echtes Riesenevent, das in der Mensa im Institutsviertel stattfindet. Maria hat sich lange auf das Fest gefreut. Sie tanzt gern und da sie in ihrem ersten Jahr in Freiburg schon viele Freunde gefunden hat, ist ihre Stimmung fantastisch. 
Aufgewachsen ist Maria in Brüssel, wo ihre Eltern als Juristen im Dienst der Europäischen Union tätig sind. Aber im Breisgau gibt es Verwandte, zu denen ein regelmäßiger Kontakt besteht. Nach dem Abitur, das sie an einer internationalen Schule in Brüssel abgelegt hat, will Maria weg aus dem Moloch der Großstadt. Freiburg scheint genau das Richtige für sie – überschaubar, dennoch mit internationalem Flair, kulturell und politisch interessant. Das ist ihr wichtig. Schnell fühlt sie sich heimisch, findet Anschluss und engagiert sich in ihrer Freizeit für Entwicklungsinitiativen in der Dritten Welt. Religion spielt in ihrer Familie und in ihrem Leben eine wichtige Rolle. Ein gelebter Glaube, gepaart mit Verantwortungsbewusstsein und Gewissenhaftigkeit. Am 15. Oktober hat sie vor der großen Party noch die Messe im Freiburger Münster besucht. 
»Maria war lebensfroh und warmherzig«, erzählen Eltern und Freunde. »Sie hat gern gesungen und getanzt. Und sie war immer für andere da.« 
Getanzt und gesungen hat sie auch auf der Big MediNight. Zum letzten Mal in ihrem Leben. 
Gegen zwei Uhr in der Frühe ist die Party noch in vollem Gange. Kaum jemand denkt jetzt schon ans Nachhausegehen. Aber Maria hat am nächsten Morgen etwas vor, eine Wanderung für Erstsemester, die sie selbst organisiert hat. Da will sie nicht unausgeschlafen sein. Deshalb hat sie auf der Big MediNight auch kaum Alkohol getrunken. 
Ihre Freunde wollen noch bleiben, wofür Maria volles Verständnis hat. Kein Problem, sie bricht einfach alleine auf. Bereits im Vorfeld hat sie angekündigt, die Party spätestens um zwei Uhr verlassen zu wollen, um am folgenden Tag fit zu sein. Aber an der Garderobe herrscht Chaos. Etwa 2.500 Menschen besuchen die Feier, da verwundert es nicht, dass es ganze vierzig Minuten dauert, bis Maria endlich an der Reihe ist. Um 2.37 Uhr verschickt sie eine WhatsApp-Nachricht: »Jetzt habe ich die Jacke!« Dann holt sie ihr Fahrrad. 
Maria ist ein Gewohnheitstier, sie nimmt immer den gleichen Weg nach Hause. Sie braucht etwa fünfzehn Minuten vom Institutsviertel bis zur Thomas-Morus-Burse, dem christlichen Studentenwohnheim in Littenweiler, in dem sie lebt. Die Polizei kann später genau rekonstruieren, welchen Weg sie genommen hat: Zunächst fährt sie durch die Albertstraße auf die Habsburger Straße, dann Auf den Zinnen, durch die Erasmusstraße, den Schlossbergring entlang bis zur Kartäuserstraße, von dort biegt sie schließlich über die Oberau auf Höhe der Fabrikstraße auf den Dreisamradweg ein. So lässt sich ziemlich genau berechnen, dass sie gegen 2.55 Uhr am späteren Tatort ankommt. 
»Sie hätte eben die Straße nehmen sollen!«, werden nach dem Mord Stimmen laut. »Nachts an der Dreisam, das ist doch naiv und leichtsinnig! « 
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass die Leute nach einer solchen Tat dem Opfer unbedingt eine Mitschuld geben wollen. Vielleicht brauchen sie das, um ihre eigene Angst in den Griff zu bekommen. Denn wenn das Opfer sich falsch verhalten hat, bedeutet das ja gleichzeitig: Mir kann so etwas nicht passieren, denn ich wäre nicht so leichtsinnig. 
Tatsache ist, dass der Freiburger Dreisamradweg bei Nacht bis zu jenem Verbrechen nicht als sonderlich gefährlich galt. Natürlich ist er nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr so stark befahren wie tagsüber, aber wirklich einsam ist er nicht. Nicht einmal sonderlich schummrig, sondern gut beleuchtet. Besonders in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 2016. Da war nämlich Vollmond und die Luft war besonders klar. Ein Mensch mit gesunden Augen konnte bis zu vierhundert Meter weit sehen. Das weiß man so genau, weil es hinterher von Experten untersucht wurde. Die Sichtweite in jener Nacht sollte im Prozess noch eine große Rolle spielen. 
Auf der Höhe des Schwarzwaldstadions, zu jener Zeit noch die Heimspielstätte des SC Freiburg, begegnet Maria ihrem Mörder. Er greift ihr blitzschnell in den Lenker, zerrt sie vom Rad, würgt sie mit einem Schal, um sie am Schreien zu hindern, schleift sie eine Böschung hinab durch ein Gebüsch zum Wasser, wo beide vor den Blicken möglicher Passanten verborgen sind. Dort vergeht er sich an ihr und lässt sie schließlich bewusstlos mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegen. Maria ertrinkt, ohne noch einmal zu sich zu kommen. 
Es ist für die Polizei am Morgen des 16. Oktober nicht allzu schwer, den Tatverlauf in groben Zügen zu rekonstruieren. Aber vom Täter fehlt jede Spur. 
Nicht weit vom Ort des Verbrechens entfernt liegt ein herrenloses, auffälliges lila-türkisfarbenes Fahrrad der Marke Schauff. Gehört es dem Mörder? Ist er in Panik geflohen und hat es zurückgelassen? Am Lenker werden im Laufe der Ermittlungen DNA-Spuren gefunden, die mit den an der Leiche sichergestellten übereinstimmen. Damit steht fest, dass der Täter dieses Rad benutzt hat. Aber warum hat er es zurückgelassen? Ist er der Eigentümer, oder hat er es gestohlen? 
Eine Zeitlang konzentrieren sich die Ermittlungsarbeiten der 69-köpfigen Sonderkommission Dreisam auf dieses Fahrrad, aber alle Aufrufe in der lokalen Presse, der Besitzer möge sich melden, bleiben erfolglos. 
Die Polizei verteilt Flugzettel, Personenspürhunde werden eingesetzt, sogenannte Mantrailer, die auch noch nach langer Zeit kleinste Duftmoleküle wahrnehmen können. Sie sind in der Lage, ihren hervorragenden Geruchssinn auf eine einzelne Person zu konzentrieren – selbst wenn diese sich in einer Menschenmenge bewegt oder eine Strecke im Auto zurückgelegt hat. Einer der Hunde führt die Polizei direkt bis zum Institutsviertel zu einem Hörsaal der Biochemie in der Hermann-Herder-Straße. Aber es ist nicht der Weg des Täters, sondern der Weg, den Maria oft eingeschlagen hat. Dennoch werden von allen fast hundert anwesenden Männern Speichelproben genommen. Niemand weigert sich, alle sind kooperativ und hilfsbereit. Die Maßnahme führt jedoch zu keinem Ergebnis. 
Die schreckliche Tat hat Auswirkungen auf die Stimmung in Freiburg. Obwohl die Stadt seit vielen Jahren die höchste Kriminalitätsrate in ganz Baden-Württemberg aufweist, hielt man bislang etwas darauf, in einer freundlichen Umgebung zu leben. Die Delikte waren Fahrraddiebstählen und Raufereien unter Betrunkenen und jugendlichen Partygängern geschuldet. Von Gewaltzentren wie Berlin oder Frankfurt wähnte man sich meilenweit entfernt. 
Mit dem trügerischen Sicherheitsgefühl ist es nun allerdings vorbei. Die Angst geht um. Und sie steigert sich ins Uferlose, als am 6. November 2016, nur drei Wochen nach dem Mord an Maria, im nahen Endingen am Kaiserstuhl eine Joggerin verschwindet. Vier quälende Tage lang herrscht Ungewissheit über ihr Schicksal, dann wird Carolin G. in einem nahen Waldstück tot aufgefunden. Auch sie wurde ermordet und sexuell missbraucht. 
Frauen, die sich jetzt noch nachts allein auf die Straße trauen, gelten als lebensmüde. Geht in der Region ein Serienkiller um? Als ich zu jener Zeit am hellen Tag am Schlossberg jogge, bleibt ein Mann stehen und betrachtet mich fast bewundernd. »Sie sind aber mutig!«, ruft er mir hinterher. Ich sehe das anders, glaube nicht, dass die Gefahr an diesem Tag größer ist als an jedem anderen. Dennoch beschleicht auch mich ein mulmiges Gefühl. 
Pfeffersprays sind bald ausverkauft und überall herrscht eine gedämpfte Atmosphäre. Es kursieren jede Menge Gerüchte. Sind vielleicht mehrere Männer über Maria hergefallen? Oder lernte sie ihren Mörder schon während der Big MediNight kennen? 
Für keine dieser Mutmaßungen findet die Polizei Anhaltspunkte, aber je länger der Täter frei herumläuft, desto wilder werden die Theorien. 
Die Anteilnahme an Marias Schicksal ist groß. Schon bald brennen unzählige Kerzen am Dreisamufer, auf der Höhe des Ottilienstegs liegt ein Meer aus Blumen, Herzen, Grußkarten, Steinen mit Segenssprüchen und Gebeten. Niemand geht achtlos an der Stelle vorüber, viele Freiburger kommen extra hierher, sei es aus Neugierde oder aus echter Anteilnahme. Der Sportclub legt beim nächsten Heimspiel am 22. Oktober gemeinsam mit seinen Fans eine Trauerminute für Maria ein – der Tatort liegt ja in unmittelbarer Nähe. In der St.-Barbara-Kirche in Littenweiler hält der Hochschulseelsorger einen Gedenkgottesdienst ab. Es scheint eine dunkle Wolke über der Stadt zu schweben. 
Die Zeit vergeht schleppend langsam. In den Wochen nach den beiden Morden ermitteln die Sokos Dreisam (Maria) und Erle (Carolin G.) getrennt voneinander, tauschen sich jedoch regelmäßig aus. Auch die Polizei kann einen Serientäter nicht gänzlich ausschließen. 
Die Bevölkerung wartet auf Ergebnisse. Von der akribischen Arbeit der Kriminaltechnik, der Rechtsmedizin und der Ermittler bekommt sie nur wenig mit. Die männlichen DNA Spuren, die an der Leiche festgestellt werden, ergeben keinen Treffer in der bundesweiten Datenbank. Es werden über 1.400 Menschen befragt und etwa 1.600 Hinweise verfolgt. Die meisten laufen ins Leere. 
Bis der 3. Dezember anbricht. 
Es ist ein Samstag. Wie ein Paukenschlag rüttelt eine Nachricht die gesamte Stadt auf: Am Vortag wurde der Täter gefasst! Maria Ladenburgers Mörder konnte ermittelt und festgenommen werden! 
Doch in die spontane Erleichterung mischt sich bald Entsetzen: Die Polizei erklärt, der Täter sei erst siebzehn Jahre alt! Ein Jugendlicher mit afghanischen Wurzeln soll das schreckliche Verbrechen begangen haben! Ein junger Mann, der als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Freiburg gekommen ist. 
Die Stimmung in der Stadt kocht erneut über. Diesmal vor Entsetzen und vor Empörung. Kein Wunder, schließlich schreiben wir das Jahr 2016. Angela Merkels legendärer »Wir schaffen das«-Satz zur Flüchtlingspolitik hallt noch in allen Ohren nach. Und ebenso laut tönen nun die Stimmen der Gegner jener Willkommenskultur, die seither offizielles Programm ist. 
Obwohl Oberbürgermeister Dieter Salomon sofort zur Besonnenheit aufruft und vor Pauschalurteilen über jugendliche Flüchtlinge warnt, werden bald selbstgerechte Rufe laut: »Das habt ihr nun davon! «, verkünden sie. »Wer sich Kriminelle ins Land holt, muss sich nicht wundern, wenn so etwas passiert.« 
Es ist bundesweit bislang der tragischste Vorfall dieser Art und genau deshalb wird der Mord an Maria von einem Tag auf den anderen zu einem Politikum. Die Tat ist plötzlich im Bewusstsein der Massen nicht mehr das schreckliche Verbrechen eines Einzelnen, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, die nicht allen Bürgern gefällt. Salomon erhält wegen seiner Äußerung Hassmails mit Beleidigungen und Drohungen. (Zwei Verfasser können ermittelt werden, sie erhalten im Sommer 2017 hohe Bußgeldstrafen.) In den sogenannten sozialen Medien tobt der Mob. Die Tagesschau wird heftigst kritisiert – sie hatte die Festnahme des mutmaßlichen Täters nicht gemeldet – und gerät dadurch in den Verdacht, etwas beschönigen oder verschweigen zu wollen. »Wir berichten äußerst selten über einzelne Kriminalfälle«, verteidigt sich der Sender. »Warum hätten wir hier eine Ausnahme machen sollen?« 
Anderswo sind die Medien weniger zimperlich, da steht das Wort Flüchtling in den Schlagzeilen gleich an erster Stelle. Sogar im Ausland wird darüber berichtet, zum Beispiel in New York und Washington. 
Das Opfer tritt dabei mehr und mehr in den Hintergrund und kaum jemand stellt sich die Frage, was Maria selbst wohl von dieser Entwicklung gehalten hätte. Eine junge Frau, die sich sozial und karitativ engagiert hat, deren Herz für Schutzbedürftige schlug. 
Die Situation jugendlicher Flüchtlinge in den Jahren 2015 und 2016 wird auch im späteren Strafverfahren eine Rolle spielen. Und schon im Dezember 2016 steht fest: Der Prozess wird eine Herausforderung für alle Beteiligten. Eine Gratwanderung zwischen öffentlicher Stimmung und juristischer Gründlichkeit. Die zuständigen Richter, der Staatsanwalt, der Pflichtverteidiger und nicht zuletzt der Angeklagte selbst werden deutlich mehr im Rampenlicht stehen, als es bei einem Strafprozess sonst üblich ist. Jede Verteidigungsstrategie, jede Zeugenaussage wird von den Medien und der Öffentlichkeit mit Argusaugen überwacht. Die Richter müssen sich im Klaren darüber sein, dass sie sich keinerlei Fehler erlauben dürfen. Der Pflichtverteidiger, der sich um die Interessen des jungen Mannes kümmert, was in Deutschland jedem Angeklagten unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildung oder Herkunft zusteht, muss mit Anfeindungen rechnen. 
 Und immer wieder wird es Zuschauer geben, die das Verbrechen instrumentalisieren wollen, die mehr darin sehen möchten, als nur die Tat eines Mörders.

2. Vor dem Landgericht

Fast elf Monate sind seit der Tat vergangen, als am 5. September 2017 der Prozess gegen den Angeklagten Hussein K. vor der Jugendkammer des Freiburger Landgerichts beginnt. Im Sommer ist auch der Mörder von Carolin G. in Endingen gefasst worden. Die Angst vor einem Serientäter war unbegründet, mit dem Fall am Kaiserstuhl hat Hussein K. nichts zu tun. Aber die Gemüter haben sich in Freiburg keineswegs beruhigt.
Es ist noch dunkel, als ich in die Salzstraße einbiege. Auf meinem Weg hierher sind mir kaum Menschen begegnet. Das Bild ändert sich schlagartig, als ich mich dem Gebäude des Landgerichts nähere. Auf dem schmalen Gehweg drängeln sich etwa fünfzig Menschen, sie stehen brav in Reih und Glied, als gäbe es hier etwas umsonst. Es ist nicht einmal halb sieben. Einlass ist erst um neun.
Neugierig betrachte ich die Menschen, die sich mit mir hier eingefunden haben. Ganz vorne sitzen ein paar junge Leute auf dem Boden. Sie wirken etwas aus der Zeit gefallen, wie Hippies aus den 70er-Jahren, bunt gekleidet, langhaarig. Es wird gelacht, geraucht und sogar ein bisschen getrommelt. Ob sie sich wirklich für das Gerichtsverfahren interessieren? Viel wahrscheinlicher ist es, dass sie eine Botschaft verkünden wollen. Im Laufe des Morgens erfahre ich, dass sie schon seit vier Uhr in der Frühe vor dem Gebäude ausharren – trotz des kühlen und regnerischen Wetters.
Dahinter ein paar ältere Leute. Einige von ihnen werde ich im Laufe der kommenden Monate noch näher kennenlernen und sie scherzhaft die »Rentnergang« nennen. Sie gehören, genau wie ich, zu den wenigen Menschen, die den gesamten Prozess durchhalten und an jedem Verhandlungstag da sind. Für manche von ihnen ist es nicht das erste Verfahren, das sie verfolgen. Sie haben die Leidenschaft für Gerichtsverhandlungen nach der Pensionierung entdeckt und kommen regelmäßig. Die Rentnergang wird auch in den folgenden Wochen immer vor mir da sein, immer schon vor der verschlossenen Tür stehen, wenn ich vor dem Landgericht erscheine. Hannelore (Namen geändert) erklärt mir irgendwann warum: Sie hört und sieht nicht mehr so gut. Auf den hinteren Plätzen bekäme sie nur die Hälfte mit.
Ich trete von einem Bein auf das andere, um mich warm zu halten. Die Zeit schleicht dahin. Einige Leute haben Kaffee in Thermoskannen mitgebracht. »Können Sie mir den Platz freihalten?«, fragt mich der junge Mann vor mir in der Schlange, als die Bäckerei am Bertoldsbrunnen endlich öffnet. Er bietet mir an, mir einen Kaffee mitzubringen, aber ich lehne ab. Hier draußen gibt es keine Toiletten und wir haben noch eine lange Wartezeit vor uns.
Langsam wird es hell und die Stadt belebt sich. Straßenbahnen rauschen vorbei, die Leute, die zur Arbeit eilen, werfen uns neugierige Blicke zu.
Ich komme mir ein wenig seltsam vor. Was mache ich hier? Warum stehe ich stundenlang in der klammen Morgenkühle, statt im warmen Bett zu liegen? Was interessiert mich an diesem Prozess?
Dieselbe Frage stellt mir etwa eine Stunde später eine junge Frau mit Mikro in der Hand, die von einem riesigen Kerl mit ebenso riesiger Kamera begleitet wird. ZDF steht darauf geschrieben.
Was ich hier will?
Gar nicht so einfach zu erklären. Als Krimiautorin möchte ich wissen, wie ein solcher Prozess in Deutschland abläuft. Das Verfahren unterscheidet sich hierzulande in vielen Punkten von dem in den USA, das man aus Gerichtsthrillern kennt. Ein Autorenkollege, der zugleich ein echter Mordermittler ist, hat vor einiger Zeit seinen Unmut über manche True-Crime-Schreiberlinge geäußert, in deren Texten es gar nicht blutig, heimtückisch und bestialisch genug zugehen kann. Diese Gefühlskälte widere ihn an: »Da fehlt einfach der Respekt vor den Opfern und den Hinterbliebenen.«
Sich ein reales Bild machen. Eines, das nicht aus zweiter Hand stammt – das geht nur im Gerichtssaal. Und selbst hier bleibt es ein Fragment, denn das Opfer kann nicht mehr zu Wort kommen, der Prozess konzentriert sich bei der Wahrheitsfindung auf den Täter.
Bin ich deshalb hier? Aus beruflichem Interesse?
Vor allem will ich wissen, was aus einem so jungen Menschen wie dem Angeklagten einen Mörder gemacht hat. Und natürlich ist auch ein wenig Voyeurismus dabei, das kann ich nicht leugnen.
Erwartungsvoll wedelt die Frau vom ZDF mit dem Mikro. Ich wende mich kopfschüttelnd ab, will meine persönlichen Motive keinem Millionenpublikum kundtun.
Andere Wartende sind weniger zurückhaltend: »Ich will den Kerl mit eigenen Augen sehen! Will wissen, wie so ein Monster aussieht!«
»Ich habe selbst eine Tochter in Marias Alter. Sie hätte auch das 
Opfer sein können. Deshalb bin ich hier.«
»Ich hoffe, er bekommt die Höchststrafe! Aber unsere Justiz ist ja viel zu lasch. Eigentlich sollte so einer gar kein Verfahren bekommen. Den sollte man genauso unter Wasser drücken, wie er es mit dem Mädchen gemacht hat!«
»Warum ich hier bin? Na, wir Steuerzahler finanzieren doch das Ganze, den Prozess, den Pflichtverteidiger. Da will ich auch wissen, was mit meinem Geld passiert! Für so jemanden gibt es nur eines: die Todesstrafe!«
Mich fröstelt. Der Mord war grausam, ohne Zweifel. Dennoch fühle ich mich ein wenig an eine mittelalterliche Hexenjagd erinnert. Die Hex muss brennen, lese ich in vielen Gesichtern.
Natürlich gibt es auch andere, besonnene Stimmen. Die jungen Leute vor mir studieren Jura, ihr Professor hat ihnen den Besuch des Prozesses empfohlen. Ein junges Mädchen sagt leise, sie habe Maria Ladenburger flüchtig gekannt. »Die Tat ging mir deshalb sehr nahe.«
Und natürlich die Rentnergang. Sie diskutiert recht sachlich über die mutmaßliche Verteidigungsstrategie des Anwalts: »Er wird vermutlich auf verminderte Schuldfähigkeit wegen Alkoholmissbrauchs plädieren«, vermutet Herbert. Er hat dazu eine klare Meinung: »Hoffentlich schafft er es nicht.«
Die Schlange vor dem Landgericht hat sich mittlerweile vervierfacht und reicht jetzt schon fast bis nach Oberlinden. Die Leute ganz hinten haben kaum noch eine Chance, in den Verhandlungssaal zu gelangen.Trotzdem strömen weiter Neugierige herbei. Ich zähle die Menschen vor mir: Es sind siebenundvierzig. Hundertfünfzig Plätze hat der große Saal, fünfzig davon sind für die Presse reserviert. Ich werde also im Gegensatz zu vielen anderen reinkommen.
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, drängt sich inzwischen die Presse. Nicht nur das ZDF ist angereist, auch die anderen großen Sender sind da, außerdem die wichtigsten Zeitungen. Natürlich ist auch Polizei vor Ort. Schließlich ist mit Kundgebungen, Demonstrationen und Gegendemonstrationen zu rechnen.
Langsam bekomme ich kalte Füße. Mein Rücken schmerzt. Das lange Herumstehen macht sich bemerkbar, aber die Tür zum Landgericht ist noch immer fest verschlossen. Warum lässt man uns nicht hinein? Es liegt auf der Hand, dass es eine Weile dauern wird, bis wir alle überprüft, durchsucht und auf unsere Plätze verwiesen sind. In der Zeitung stand, man müsse einen Personalausweis mitführen und es gälten verschärfte Sicherheitsmaßnahmen. Meinen Rucksack habe ich deshalb zu Hause gelassen, in der Jackentasche stecken neben dem Ausweis und dem Haustürschlüssel nur ein Notizbuch, ein Stift, ein paar Euro Münzgeld und ein in Alufolie gewickeltes Pausenbrot. Man weiß ja nie, wie lange sich das Ganze hinzieht!
Acht Uhr ist vorbei, in der Warteschlange breitet sich eine fiebrige Spannung aus, der ich mich nicht entziehen kann. Das Gefühl, an einem wichtigen Ereignis teilzuhaben, lässt sich nicht unterdrücken.
Aber warum ist das so?
Weil ich zum ersten Mal in meinem Leben ganz bewusst einen Mörder aus der Nähe sehen werde? Weil die gesamte Republik an diesem Tag auf Freiburg zu schauen scheint? Weil ich live dabei bin, wenn in meiner Wahlheimat Rechtsgeschichte geschrieben wird? Oder einfach nur, weil eine aufgeregte, wogende Menschenmenge eine Sogwirkung ausübt, der man sich nur schwer entziehen kann, selbst wenn man von sich glaubt, unempfänglich dafür zu sein?
»Er ist noch nicht da«, zischt jemand vor mir. »Deshalb dauert das so lange.«
»Sie führen ihn durch einen Hintereingang«, erwidert ein Mann. 
»Sie haben Angst, dass die Menge ihn lyncht.« 
»Zu Recht!« Eine Frau lacht boshaft.
Noch immer strömen Neugierige herbei. Die Zeiger sind noch nicht auf neun Uhr gerückt, als sich endlich etwas bewegt. Zwei Justizbeamte öffnen die Pforten und ein Ruck geht durch die Schlange. 
Schlagartig ist es mit der Disziplin vorbei und ein Gedrängel und Geschiebe beginnt. An meiner Position verändert sich zunächst nichts, denn die Presse hat Vorfahrt.
Es dauert. Nur schrittweise geht es dem Gebäude entgegen. Als ich endlich das Portal erreiche, kommt eine Frau wütend herausgestürzt. »Seit sechs Uhr!«, schimpft sie verbittert. »Seit sechs Uhr warte ich! Und jetzt lassen sie mich nicht rein, weil ich eine Thermoskanne dabei habe!«
Die paar Schließfächer im Erdgeschoss sind längst belegt. Erfahrene Prozessbesucher wie die Rentnergang haben sich gleich nach Öffnung der Türen ein Fach gesichert und sich dann wieder brav an ihrer Position in die Schlange eingereiht. Ich bin froh, dass ich die Zeitung aufmerksam gelesen habe und keine verbotenen Gegenstände mit mir herumschleppe.
Die Kontrolle ist streng. Selbst am Flughafen bin ich erst einmal so gründlich durchsucht worden! Das war kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, als ich über Kanada in die USA eingereist bin und sogar die Wanderschuhe ausziehen musste, die ich während der vergangenen zwei Tage getragen hatte. Den stoischen Geschichtsausdruck des Flughafenmitarbeiters, der sie allen Aromen zum Trotz untersuchen musste, habe ich in lebhafter Erinnerung behalten.
Als ich endlich an der Reihe bin, lege ich den Inhalt meiner Taschen und alles, was piepsen könnte, in eine Plastikwanne.
»Den Gürtel auch«, sagt ein Sicherheitsbeamter. »Falls Sie einen tragen.«
Ich lüpfe den Pulli und zeige ihm einen Plastikverschluss. »Mein Gerichtsgürtel«, erkläre ich feierlich.
Er grinst und winkt mich zum Durchleuchten in die Sicherheitsschleuse.
Es piept. Allerdings nicht des Gürtels wegen. Eine Beamtin tastet mich ab, zuckt die Schultern und deutet auf meine Stiefel. »Vermutlich Stahlkappen«, sagt sie.
Dann bin ich drin.
Es ist mein erster Besuch im Landgericht. Ein Gefühl von Ehrfurcht beschleicht mich, als ich die Treppe hinaufsteige. Auch wenn das Palais Sickingen, in dem sich das Gericht heute befindet, im November 1944 bis auf die Fassade abgebrannt und erst in den Jahren 1962–1965 wieder aufgebaut wurde, verströmt es großherzogliche Atmosphäre. Seit den 60er-Jahren wird hier Recht gesprochen, über das Schicksal von Mördern, Räubern und Vergewaltigern entschieden.
Im zweiten Stock verweist man mich noch eine Etage höher, auf die Tribüne, weil im eigentlichen Gerichtssaal schon alles voll ist. Aber oben habe ich Glück, ich ergattere einen freien Platz ganz vorne in der ersten Reihe, von wo ich einen perfekten Blick auf das Geschehen habe.
Neugierig schaue ich mich im Raum um. Er ist genauso nüchtern wie erwartet. Nur größer. Für diesen Prozess musste natürlich der Verhandlungsraum mit den meisten Zuschauerplätzen ausgewählt werden.
Um die Wartezeit zu überbrücken, fertige ich eine Skizze des Saales an. Linkerhand (von meinem Platz aus betrachtet) steht ein Tisch quer, an dem ein Mann mit Brille und Halbglatze seine Unterlagen ordnet und sich von dem Gedränge und Gemurmel des Publikums unbeeindruckt zeigt.
»Das ist der forensische Psychiater«, schnappe ich ein Gespräch hinter mir auf. »Dr. Hartmut Pleines. Er hat auch im Fall Kachelmann die Schuldfähigkeit des Angeklagten beurteilt.« 
Ein bewährter Experte also.
Pleines wird allerdings erst ganz am Ende des Prozesses sein Gutachten vortragen. Er ist bei der Verhandlung anwesend, um die Beobachtungen zum Auftreten Hussein K.s in die Bewertung seiner Person einfließen zu lassen. Der Psychiater wird jede Regung des Angeklagten unter die Lupe nehmen, analysieren und Rückschlüsse daraus ziehen.
Nach und nach füllen sich nicht nur die Ränge, sondern auch der Verhandlungssaal. In der Mitte des Raumes, rund um einen kleinen Tisch mit Stuhl, welcher für die Zeugen vorgesehen ist, formiert sich jetzt das Fernsehen. Großgewachsene, schmal gebaute Männer mit schweren Kameras auf den Schultern. Ich beneide sie nicht um ihren Job. Vermutlich sind nach ein paar Jahren in diesem Metier Nacken und Rücken unheilbar verspannt.
Auf der Fensterseite nimmt ein älterer Herr mit grauem Haar und Brille Platz. Er wirkt ernst, ruhig und konzentriert. Ein Mann, dem man auf Anhieb Vertrauen entgegenbringen möchte. Sein Name ist Prof. Dr. Bernhard Kramer. Er ist Anwalt und vertritt als Nebenkläger die Eltern von Maria Ladenburger, die nicht beim Prozess anwesend sind.
Eine Frau, die zwischen Pleines und Kramer sitzt, entpuppt sich später als Vertreterin der Jugendgerichtshilfe. Bereits im Vorfeld sind zwar berechtigte Zweifel am jugendlichen Alter Hussein K.s aufgetaucht, dennoch wird die Strafsache vor der Jugendstrafkammer verhandelt. Für den Fall, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt tatsächlich das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte und während des Prozesses deshalb als Heranwachsender gilt, ist die Anwesenheit einer Fachperson von der Jugendgerichtshilfe gesetzlich vorgesehen. Diese hat »die Persönlichkeit, die Entwicklung und die Umwelt des Beschuldigten zu erforschen und sich zu den Maßnahmen, die zu ergreifen sind, zu äußern«, wie auf der Website des Amtsgerichts Freiburg zu lesen ist.
Obwohl sich nun auch die Plätze auf der Tribüne füllen, fehlt von den Hauptakteuren nach wie vor jede Spur. Richter, Staatsanwalt und vor allem der Angeklagte sind nirgends zu sehen.
Dafür wird es vor dem Gericht laut.
»Macht Deutschland wieder sicher!«, fordert eine Handvoll AfDAnhänger. Doch sie sind in der Unterzahl. Ihnen gegenüber stehen etwa fünfzig Mitglieder der linken Antifa-Bewegung und rufen: 
»Flüchtlinge bleiben, Rassisten vertreiben!«
Die Polizei, zum Teil schwer bewaffnet, beobachtet zunächst abwartend, ob sich die Lage zuspitzt. Doch die AfD-Anhänger beugen sich der Übermacht und verschwinden bald, auch der Protest der Linken eskaliert nicht. Nur die Straßenbahnen geraten ein wenig ins Stocken.
Dann betritt Oberstaatsanwalt Berger den Raum. Trotz seines weißen Haares wirkt alles an ihm schnittig: sein entschlossener Blick, der Gang, die wehende Robe. Im Gegensatz zum Psychologen Pleines und dem Anwalt Kramer, die den Rummel im Saal kaum wahrzunehmen scheinen, ist sich Berger der Anwesenheit des Publikums sichtlich bewusst. Gelegentlich gestattet er sich einen Rundumblick. Er weiß die große Mehrheit der Anwesenden hinter sich.
Mangels Alternativen stürzt sich die Presse zunächst auf ihn.
Staatsanwalt, Nebenkläger und Jugendgerichtshilfe sitzen bei Strafprozessen grundsätzlich auf der Fensterseite im Verhandlungssaal, wie ich bei der Recherche zu diesem Buch lerne. Der Angeklagte und sein Rechtsbeistand nehmen auf der Türseite Platz. Ob dies tatsächlich mit der potentiellen Fluchtgefahr durch das Fenster zu begründen ist, wie wiederholt zu lesen ist, sei dahingestellt. Gerichtsverfahren sind streng strukturiert, viele Rituale gehen auf uralte Traditionen zurück, die heutzutage sinnentleert sind, aber dennoch beibehalten werden. Es ist kaum anzunehmen, dass jemand im zweiten Stock des Palais Sickingen aus dem Fenster springt um zu fliehen.
Am Rande der Anklagebank (die eigentlich ein Stuhl ist) nimmt derweil ein nicht sonderlich groß gewachsener Mann im Anzug Platz. Er hat einen traurigen Gesichtsausdruck, zumindest wirkt es von der Tribüne aus so. Aber vielleicht ist er auch nur konzentriert und bereitet sich auf seine nicht ganz einfache Aufgabe vor. In dem auf sechzehn Prozesstage angesetzten Verfahren fungiert Herr N. als Dolmetscher des Angeklagten und einiger Zeugen. Wir werden alles, was Hussein K. zu sagen hat, aus dem Mund von Herrn N. hören.
Als ich mich gerade frage, ob ich noch Zeit habe, mir am Automaten im Erdgeschoss eine Flasche Wasser zu ziehen, entsteht unter den Presseleuten Aufruhr. Sie erfahren es immer zuerst, wenn sich etwas tut. Nun ballen sie sich zu einer Traube um eine Seitentür und formieren sich aufgeregt.
Und dann ist er endlich da. Der Angeklagte. Der Mörder.
Hussein K. trägt Fußfesseln und Handschellen, Jeans und ein bordeauxrotes Sweatshirt. Sein Gang ist schlurfend wie der eines alten Mannes. Das liegt nicht nur an den Fußfesseln. Den Kopf hält er gesenkt, man sieht nur sein kurzes schwarzes Haar. Viele Angeklagte halten sich im Gerichtssaal einen Ordner oder eine Mappe vors Gesicht, wenn das Blitzlichtgewitter der Presse losgeht. Hussein K. nicht. Er wird von zwei kräftigen, bewaffneten Justizbeamten begleitet, beide kahl rasiert mit üppig wucherndem Vollbart, die Hosenbeine stecken in schweren Stiefeln. In der entsprechenden Kleidung würden sie locker als Mitglieder einer Rockergruppe durchgehen. Bewachen sie den Angeklagten, um ihn an der Flucht zu hindern? Oder beschützen sie ihn vor dem Publikum?
Hussein K. sinkt schicksalsergeben auf seinen Platz auf der Anklagebank. Der Blick bleibt gesenkt, auch als ein Dutzend Pressevertreter direkt vor ihm niederkniet und ohne Scheu Kameras auf ihn richtet. Seine Fesseln werden nicht gelöst.
Selbstverständlich habe ich schon vor der Verhandlung Bilder von ihm gesehen. Nicht nur die Zeitung war voll davon, auch der Angeklagte selbst hat auf seiner Facebookseite jede Menge Fotos von sich gepostet und niemand hat sich nach seiner Festnahme die Mühe gemacht, diese zu löschen. Die Bilder zeigen allesamt einen schmalen Jungen mit modischen Frisuren, coolen Sonnenbrillen, trendigem Outfit und einem Gesichtsausdruck, den man wahlweise selbstgefällig, verschlagen oder traurig-melancholisch nennen könnte. Nur auf einem einzigen dieser Bilder deutet er ein Lächeln an.
Der Mann im Gerichtssaal scheint ein gänzlich anderer zu sein. Er hat deutlich an Gewicht zugelegt, sein Gesicht ist ein wenig aufgedunsen, es trägt asiatisch-mongolische Züge. Nur der melancholische, vielleicht auch verschlagene Ausdruck seiner Augen ist derselbe geblieben.
Hussein K. hält den Blick weiterhin gesenkt, schaut nicht ins Publikum. Unmöglich zu sagen, was in ihm vorgeht. Vielleicht taut er im Laufe der Verhandlung etwas auf.
An seiner rechten Seite nimmt ein schmaler, dynamischer Mann mit Brille und schwarzer Robe Platz. Sebastian Glathe, sein Anwalt. 
Ein Pflichtverteidiger. Die Brille trägt er nicht immer, wie ich später herausfinde. Aber an diesem Tag verleiht sie ihm Ernsthaftigkeit und Respektabilität. Anwälte – und Strafverteidiger im Besonderen – müssen neben ihrer fachlichen Kompetenz stets auch ein wenig Schauspieltalent und ein Bewusstsein für ihren Auftritt mitbringen. Das gehört zu ihrem Job, obwohl es in deutschen Gerichtssälen selten zu derart dramatischen Verhören kommt, wie man es aus US-amerikanischen Filmen kennt.
Die beiden tuscheln kurz miteinander, vermutlich gibt der Anwalt seinem Schützling Anweisungen. Glathe ist Hussein K.s einzige Bezugsperson. Der Angeklagte weiß genau, dass die große Mehrheit der hundertfünfzig Prozessbeobachter gegen ihn ist. 
Während die Presse sich weiter um Hussein K. drängelt, macht Glathe etwas Seltsames: Er zückt sein Handy und fotografiert damit seinerseits die Kameraleute und Reporter. Was bezweckt er damit? Will er ihnen einen Spiegel vorhalten, ihnen zeigen, wie es sich anfühlt, ungefragt zum Bildobjekt zu werden? Oder braucht er die Fotos nur, um hinterher zu wissen, wer da war?
Nach geraumer Zeit werden die Pressevertreter von den anwesenden Sicherheitsbeamten aus dem Verhandlungsbereich vertrieben und hinter die Absperrung auf ihre Plätze verwiesen. Kurz darauf öffnet sich an der holzvertäfelten Wand gegenüber der Zuschauerränge eine unscheinbare Tür. Es wird ernst: Das Hohe Gericht tritt ein. Die vorsitzende Richterin Kathrin Schenk, gefolgt von zwei Beisitzenden (an den Roben als Richter erkennbar) und zwei Schöffen (in Privatkleidung).
In Deutschland gibt es keine Geschworenenjury, die über das Schicksal der Angeklagten entscheidet. Das Urteil obliegt den Richtern und zwei Schöffen. Nicht nur die vorsitzende Richterin, sondern auch die vier Laien- und Berufsrichter haben das Recht, den Zeugen und dem Angeklagten während der Verhandlung Fragen zu stellen.
Am 5. September 2017 dauert es einige Zeit, bis auch der letzte Besucher begriffen hat, dass es zum festen Ritual einer Hauptverhandlung gehört, sich vom Platz zu erheben, wenn das Gericht den Saal betritt. Erst als alle stehen und eine fast feierliche Ruhe eingetreten ist, fordert uns Kathrin Schenk auf, uns wieder zu setzen.
Jetzt ist es also so weit. Der Prozess kann beginnen.

3. Der Täter

Ein Strafverfahren folgt in Deutschland ganz bestimmten, gesetzlich geregelten Mustern. Dem Hauptverfahren, dem wir hier beiwohnen, sind bereits ein Ermittlungsverfahren und ein sogenanntes Zwischenverfahren vorausgegangen. Die Ermittlungen werden naturgemäß von Polizei und Staatsanwaltschaft durchgeführt. Erst nach diversen Zeugenvernehmungen und dem Sammeln von Beweisen wird entschieden, ob das Verfahren eingestellt oder ob Anklage erhoben wird. Wenn Letzteres der Fall ist, reicht die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift ein, die vom Gericht noch einmal sorgfältig geprüft wird. Erst danach kommt es zur Eröffnung der Hauptverhandlung.
Auch sie unterliegt einem strengen Ablauf. Das Verfahren beginnt immer mit dem Vorlesen der Anklageschrift, dann folgen die Fragen zur Person des Angeklagten. Im dritten Schritt bekommt dieser die Möglichkeit, eine Stellungnahme zu den Beschuldigungen abzugeben. In der Regel ist dies der Moment, in dem ein Angeklagter die Tat entweder gesteht oder leugnet. Erst danach werden Zeugen und Sachverständige aufgerufen. Ihre Anzahl schwankt von Prozess zu Prozess gewaltig. Die Dauer einer Verhandlung ist mitunter im Vorfeld schwer einzuschätzen, da die Befragung vom kurzem Nachhaken bis hin zu mehrstündigen Verhören eine große Spannweite ermöglicht. Natürlich gibt es Erfahrungswerte, doch wenn neue Aspekte auftauchen oder strittige Fragen geklärt werden müssen, werden Zeitpläne oft über den Haufen geworfen. Das werden wir im Fall Hussein K. mehrfach erleben.
Sobald alle Zeugen und Sachverständigen vernommen sind, folgen die Schlussplädoyers von Staatsanwaltschaft, Nebenklagevertretung und Verteidigung. Das letzte Wort in der Hauptverhandlung hat stets der Angeklagte. Es ist sein verbrieftes Recht, dem Gericht zum Abschluss des Verfahrens die eigene Sicht der Dinge darzulegen und für sich selbst zu sprechen.
Bis es im Prozess gegen Hussein K. so weit ist, sollen aber noch mehrere Monate vergehen. Zu Verhandlungsbeginn ist der 8. Dezember 2017 als Termin für die Urteilsverkündigung vorgesehen. Tatsächlich wird es aber erst am 22. März 2018 so weit sein.
Auf dem Weg dorthin werde ich Einblicke in die Psyche und Gedankenwelt von Personen erhalten, die mir im normalen Alltagsleben nie begegnet wären. Ich werde viel über die Lebenswirklichkeit von unbegleiteten jugendlichen (männlichen) Flüchtlingen (sogenannten UmFs oder UmAs) erfahren, über die Art, wie sie untergebracht und betreut werden, welche Perspektiven sie in Deutschland haben. Ich werde wissenschaftliche Gutachten hören, die mir Methoden der Wahrheitsfindung näherbringen, von denen ich bislang nichts geahnt habe. Ich werde lernen, Zeugenaussagen zu interpretieren und einzuordnen.
Aber werde ich auch die Tat als solche begreifen? Werde ich eine Erklärung für das abscheuliche Verbrechen bekommen? Werden sich die Motive des Täters zumindest ansatzweise erahnen lassen?
* * *
Als wir uns alle wieder hingesetzt haben und Ruhe eingekehrt ist, vereidigt die Richterin zunächst den Dolmetscher. Er muss sich zur Verschwiegenheit verpflichten, muss schwören, alle Informationen vertraulich zu behandeln, und das Gesagte ohne eigene Wertung »treu und gewissenhaft« in die jeweils andere Sprache zu übertragen.
Ob er einen religiösen oder einen weltlichen Schwur bevorzuge, wird er gefragt. Es ist ihm egal.
Herr N. spricht Dari, eine Variante des Persischen, die vor allem in Afghanistan beheimatet ist. Sie unterscheidet sich nur geringfügig von der persischen Standardvarietät Farsi, die überwiegend im Iran gesprochen wird. Somit sind die Sprachen Persisch, Dari und Farsi fast identisch, vergleichbar mit regionalen Dialekten.
Im Saal ist Ruhe eingekehrt, alle warten gespannt auf den Beginn der Verhandlung. Endlich erhebt sich Oberstaatsanwalt Eckart Berger, um die Anklageschrift zu verlesen. Hussein K. wird darin schwere Vergewaltigung und besonders heimtückischer Mord vorgeworfen. Sofern das Gericht der Anklage folgt, wird der Sachverhalt der Heimtücke großen Einfluss auf das Strafmaß haben.
Die Anklage lautet: Hussein K. habe am 16. Oktober 2016 gegen drei Uhr morgens die damals 19-jährige Studentin Maria Ladenburger am Dreisamuferweg mit einem Griff in den Fahrradlenker zum Anhalten gebracht, sie vom Rad gezerrt, ihr den Mund zugehalten und sie gewürgt, um sie am Schreien zu hindern. Danach habe er die nun wehrlose junge Frau durch ein Gebüsch hinab ans Ufer der Dreisam verfrachtet, der Bewusstlosen die Kleider über den Kopf gezogen und sie auf schwerste Art missbraucht. Von Bissen in die Wange, die Brust und den Unterleib ist die Rede sowie von Verletzungen, die mit Gegenständen verursacht wurden. Nach der Vergewaltigung habe der Angeklagte sein noch immer bewusstloses Opfer mit Nase und Mund nach unten in den Fluss gelegt, um eine absichtliche Tötung herbeizuführen. 
Die junge Frau sei kurz darauf ertrunken, ohne zuvor das Bewusstsein wiederzuerlangen.
All das stand auch schon vorher in der Zeitung, dennoch hallen Bergers Worte im Gerichtssaal nach und hinterlassen Bestürzung. Es ist eine Sache, von einer solchen Tat zu lesen, und eine ganz andere, den Mann leibhaftig vor sich zu sehen, der all dies getan haben soll.
Hussein K. hat die Anklage mit teilnahmslosem Gesichtsausdruck über sich ergehen lassen. Seine Züge sind wie eingefroren. Weder das vorangegangene Blitzlichtgewitter noch die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft scheinen Eindruck auf ihn zu machen. Lasst mich in Ruhe damit, drückt sein Blick aus. 
Hat er überhaupt verstanden, was Berger verlesen hat? Natürlich liegt ihm die Anklage schriftlich vor, aber vermutlich hat er auch den Worten des Staatsanwaltes folgen können, denn er hat während der Untersuchungshaft im Gefängnis ein passables Deutsch gelernt. So kann er sich zumindest ohne Mittelsperson mit seinem Anwalt verständigen. Dass er sich dennoch der Dienste des Dolmetschers bedient, kann ich nachvollziehen. Schließlich geht es vor Gericht um präzise Formulierungen und Detailfragen – da können einzelne Worte großes Gewicht bekommen.
Berger schiebt der Anklage noch hinterher, dass er im Falle eines Schuldspruches die Sicherungsverwahrung für Hussein K. beantragen wird. Sie tritt dann in Kraft, wenn ein verurteilter Straftäter auch nach Verbüßen der Haftstrafe mutmaßlich noch ein hohes Risiko für die Bevölkerung darstellt. Ein Täter, der zu lebenslanger Gefängnisstrafe ohne Bewährung und mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt wird, wird nie wieder in Freiheit leben. Der Staatsanwalt lässt keinen Zweifel daran, dass genau dies sein Ziel ist.
Die vorsitzende Richterin erteilt dem Angeklagten das Wort.
»Ich habe nichts zu sagen«, übersetzt Herr N. Hussein K.s Antwort mit leiser Stimme.
Ein Raunen geht durch die Zuschauerränge. Er will schweigen? Sich überhaupt nicht äußern? Die Richterin blickt rügend auf die Besucher: »Ich verbitte mir jegliche emotionale Reaktion!«, stellt sie klar. 
Sofort verstummt das Getuschel. Niemand will jetzt des Saales verwiesen werden!
Hussein K.s Anwalt schaltet sich ein: Sein Mandant habe aufgrund der immensen psychischen Belastung, die das Verfahren für ihn bedeute, das Medikament Tavor eingenommen. Dabei handele es sich um ein Beruhigungsmittel mit dem Wirkstoff Lorazepam, das zur Behandlung von Panik- und Angstzuständen herangezogen wird. Da Hussein K. für den Transport vom Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg, in dem er derzeit untergebracht ist, bis zum Landgericht in Freiburg außerdem unverhältnismäßig früh habe aufstehen müssen, sei er sehr müde. Die Einnahme von Tavor könne eine verzögerte Wahrnehmung und Benommenheit zur Folge haben. Hussein K. sei daher nicht oder nur bedingt vernehmungsfähig.
Die Richterin wendet sich daraufhin an Dr. Pleines. Sie will wissen, wie dieser die Lage einschätzt. Ist eine Befragung des Angeklagten unter diesen Umständen sinnvoll?
Pleines zuckt die Schultern. Das will er so aus dem Stegreif nicht entscheiden. Die bloße Einnahme des Medikaments lasse keine Rückschlüsse auf die Verfassung des Patienten zu. Um diese beurteilen zu können, müsse man ihn genauer untersuchen, seine Reaktionsfähigkeit und sein Aufnahmevermögen testen.
Anwalt und Angeklagter flüstern kurz miteinander. Dann räuspert sich Sebastian Glathe: »Mein Mandant hat sich, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, kurzfristig entschieden, sich doch zur Sache und zu seiner Person zu äußern.«
»Ohne Untersuchung?«, hakt die Richterin nach.
»Ja, ohne Untersuchung.«
Ich lehne mich gespannt nach vorne. Geht es jetzt endlich los? Bekommen wir nun ein Geständnis zu hören? Oder wird er leugnen?
Aber nein. So weit sind wir immer noch nicht.
»Ich beantrage den partiellen Ausschluss der Öffentlichkeit«, fährt Glathe fort. »Bei Hussein K.s Einlassung kommen Dinge zur Sprache, die den Intimbereich der Sexualsphäre und religiöse Einstellungen betreffen und die nicht für die Ohren unbefugter Dritter bestimmt sind.« 
Er deutet Talibanangriffe auf den Angeklagten an sowie sexuelle Übergriffe, denen dieser in einer Koranschule ausgesetzt war.
»Und was ist mit dem Intimbereich des Opfers?«, zischt ein Frau hinter mir fassungslos.
Sie hat Glück, dass die vorsitzende Richterin ihre Äußerung nicht hört. Sonst wäre der Prozesstag für sie vermutlich beendet gewesen.
Es ist eine häufig beklagte Tatsache, dass vor Gericht in erster Linie der Täter im Fokus steht, nicht das Opfer. Oft wird dieser Umstand als ungerecht und unangemessen empfunden. Aber genau genommen kann es gar nicht anders sein. Vor Gericht geht es einzig darum, die Schuld des Täters zu beurteilen. Dazu ist es unabdingbar, Leben, Motive und Charakter des Angeklagten so genau wie möglich unter die Lupe zu nehmen.
Glathes Antrag muss rechtlich geprüft werden. Das Gericht zieht sich deshalb für vierzig Minuten zurück, die Verhandlung wird unterbrochen, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat.
Die Stimmung im Publikum ist aufgeladen. War alles umsonst? Das frühe Aufstehen, das stundenlange Warten vor dem Gericht? Werden wir alle wieder nach Hause geschickt?
In Deutschland hat die Öffentlichkeit das Recht, sich vor Ort über den korrekten Ablauf der juristischen Wahrheitsfindung zu informieren, Prozesse zu überwachen, zu prüfen, ob ein Verfahren ordnungsgemäß durchgeführt wird. Damit soll jegliche Willkür ausgeschlossen werden. Dennoch gibt es auch für Straftäter einen schutzwürdigen Privatbereich. Niemand, nicht einmal ein Schwerverbrecher, soll in der Öffentlichkeit bloßgestellt werden.
Als die vierzig Minuten um sind, sitzen alle wieder gespannt auf ihren Plätzen.
Das Gericht gibt Glathes Antrag nur teilweise statt. Der Rechtsanwalt hatte gefordert, die Öffentlichkeit bei allen Fragen zu Hussein K.s Person auszuschließen. Richterin Schenk erklärt, warum das nicht möglich ist: Zum einen wird sein Lebenslauf in großem Maße Bedeutung für den Fall haben, zum anderen sind die Tat und die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten in vielen Punkten gar nicht voneinander zu trennen. Der Ausschluss der Öffentlichkeit wird sich darum lediglich auf Fragen zu Hussein K.s Sexualbiografie beschränken und, damit verbunden, auf die Schlussplädoyers.
* * *
»Ich heiße Hussein, bin neunzehn Jahre alt und komme aus Afghanistan.«
Schon der erste Satz des Angeklagten legt die Stirn des Staatsanwaltes in Falten.
Neunzehn Jahre? Stimmt das?
Das Alter von Hussein K. ist von großer Bedeutung für das spätere Strafmaß – und es ist höchst umstritten. Auch wenn der Fall vor der Jugendkammer verhandelt wird, kann die Strafe wesentlich härter ausfallen, wenn das Gericht zu dem Schluss kommen sollte, dass der Angeklagte bezüglich seines Alters gelogen hat und zum Zeitpunkt der Tat schon erwachsen war.