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D. Hunter ist in der verarmten britischen Unterklasse aufgewachsen. Die ersten 25 Jahre seines Lebens überlebte er als minderjähriger Sexarbeiter, mithilfe von Diebstählen und Drogenhandel. Auf der Straße, im Knast und durch seine eigene Familie erfuhr er Missbrauch und Gewalt ebenso wie überlebenswichtige Formen der Solidarität. In seinen späteren Jahren – als Teil der radikalen Linken in Nottingham und von den harschen Bedingungen seines Aufwachsens befreit – bemerkt er, dass Solidarität in diesen zwei Welten nicht das gleiche bedeutet. In 15 autobiografischen Essays beschreibt und reflektiert er die widersprüchlichen Erfahrungen seiner Klasse, die für viele Linke die Verkörperung eines falschen Bewusstseins und für Bürgerliche und Rechte nicht mehr als gesellschaftlicher Abschaum ist, den es zu bekämpfen gilt. Ein schonungsloser Einblick in eine brutalisierte Welt und ein überzeugendes Plädoyer dafür, die Erfahrungen und die Solidarität der untersten gesellschaftlichen Schicht zum Ausgangspunkt einer antikapitalistischen Politik zu machen. In "Solidarität der Straße" treten diejenigen in all ihrer Komplexität hervor, die die Brutalität unseres Wirtschaftssystems am stärksten spüren und die im alltäglichen Zusammenschluss dagegen die meiste Erfahrung haben. Aufrüttelnd und angesichts zunehmender Armut hochaktuell!
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2024
D. Hunter ist in Großbritannien in der Unterklasse aufgewachsen. Nach Kindheit und Jugend in kaputten Sozialwohnungen, auf der Straße und im Knast hat er den vermeintlichen ›Absprung‹ geschafft. Er organisiert sich in der radikalen Linken und promoviert an der Universität von Manchester. Solidarität der Straße ist sein erstes Buch, das in Großbritannien hohe Wellen geschlagen hat. Erreichbar auf Twitter unter @dtheclaretchav.
D. Hunter
Solidarität der Straße
Autobiografische Essays
mit einem Vorwort von Christopher Wimmeraus dem Englischen übersetzt von M. Lautréamont und Isabelle Suremann
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
D. Hunter::
Solidarität der Straße
1. Auflage, März 2024
eBook UNRAST Verlag, April 2024
ISBN 978-3-95405-190-8
Titel der Originalausgabe:
Chav Solidarity
© D. Hunter 2018
Deutsche Übersetzung auf Grundlage der 2020 bei Lumpen erschienenen 3. Auflage
Fotografien: © Kelly O’Brien
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Dieses Buch ist Dank derjenigen Menschen entstanden, die mich in den ersten 25 Jahren meines Lebens begleitet haben. Die Toten, die Ausgegrenzten und Verachteten. Für immer in meinem Herzen, stets auf meinen Armen.
Vorwort zur deutschen Ausgabe: Die Widersprüche ›ganz unten‹ (Christopher Wimmer)
Einleitende Anmerkungen zur 3. Auflage (2020)
Einleitung
Chav Solidarity
Komfort und Wahnsinn
Gebrochene Körper, wütende Jungs
Wo finden wir Halt? Vom Überlebenskampf zum Widerstand
Unbändige Liebe
Hunde, die bellen, beißen nicht
Warum ich zuschlug
Maskeraden
Ich, der Rassist
Ausgeliefert
Alte Wege
Brot und Rosen für alle Kämpfer:innen
Aufruhr
Abschied
P.S.
Danksagung
Dieses Buch thematisiert sexuelle Gewalt, zwischenmenschlichen wie auch institutionellen Rassismus, genderspezifische Gewalt physischer, psychischer und verbaler Art, verschiedene Formen physischer Gewalt, Suizid, Drogenkonsum, Transphobie, Mord und Polizeigewalt.
Solidarität der Straße ist keine leichte oder einfache Lektüre. Und das ist auch gut so. Die Sammlung von Essays, die bereits 2018 auf Englisch erschienen ist und hier nun erstmalig auf Deutsch vorliegt, basiert auf den persönlichen Erfahrungen des Autors D. Hunter. Er wurde 1979 oder 1980 in eine Familie von ›Irish Travellers‹, einer fahrenden Volksgruppe, geboren. Hunter nimmt seine Geschichte(n) als kindlicher Sexarbeiter, als jugendlicher Drogensüchtiger, Wohnungs- und Obdachloser, als Insasse in mehreren Gefängnissen und Psychiatrien sowie als politischer Aktivist zum Ausgangspunkt, um die bestehende Klassengesellschaft radikal anzuklagen. Ebenso will er zeigen, wie unsere soziale Position die Art und Weise prägt, wie wir denken, handeln und Politik machen.
Im vorliegenden Buch wird soziale Klasse nicht als trockene Theorie oder als rein analytischer Begriff verstanden. Vielmehr ist sie etwas, das in Fleisch und Blut der Menschen übergegangen ist und somit konkret erfahrbar wird – und verdammt wehtun kann: körperlich und seelisch; sie ist erbarmungslos und manchmal sogar lebensgefährlich. Solidarität der Straße handelt von diesem klassenspezifischen Leid. Hunter schreibt voller Trauer, aber zugleich wütend und anklagend. Seine ehrlichen und schonungslosen Erinnerungen an das Aufwachsen in prekären und zutiefst brutalen Verhältnissen zeigen die Vielzahl von Ungerechtigkeiten, denen Menschen in der Klassengesellschaft alltäglich ausgesetzt sind. Das Leben der underclass[1] ist geprägt von Erwerbslosigkeit, Bezug von Sozialleistungen und Armut. Einen Ausweg aus dieser schrecklichen sozialen Notlage suchen viele in Gewalt, Kriminalität, Suchtmittelkonsum oder auch Suizid. Von der Mehrheitsgesellschaft werden die betroffenen Menschen ausgegrenzt, sozial abgewertet und stigmatisiert.[2]
An dieser Stelle treffen Hunters Erfahrungen im britischen Kontext auf die deutschen Verhältnisse. Auch hierzulande wirken die gleichen Mechanismen. Denn auch in Deutschland werden Menschen gesellschaftlich marginalisiert und entwürdigt.[3] Gerade im Zuge der sogenannten »Unterschichtendebatte«[4] der frühen 2000er-Jahre verbreitete sich der moralisch aufgeladene und medial vermittelte Typus des ›faulen Arbeitslosen‹, der bis heute vorherrscht. Erwerbslose bzw. Bezieher:innen von Sozialleistungen seien von Arbeitsunwilligkeit, Gewaltneigung, Verwahrlosung, Kinderreichtum und Promiskuität geprägt. Hinzu kämen schlechte Wohnverhältnisse, familiäre Probleme und ein fehlendes soziales Netz. Ihre Armut und Erwerbslosigkeit wurde jedoch von der herrschenden Meinung nicht als Folge ihrer Klassenposition verstanden, sondern auf ihr individuelles (Fehl-)Verhalten zurückgeführt. Dies zeige sich beispielsweise in ihrer ungesunden Ernährung (Alkohol, Nikotin etc.), fehlenden gesellschaftlichen Teilhabe oder allgemeinen Apathie.
Es gibt bereits viele Bücher, die sich mit dem Aufwachsen in Armut beschäftigt haben, über brutale Kindheiten oder über Menschen, die in der Fürsorge, in der Psychiatrie oder im Strafvollzug gelandet sind.[5] Meist sind dies jedoch Geschichten, in denen die Protagonist:innen diese Verhältnisse ›überwunden‹ bzw. hinter sich gelassen und nun in einer vermeintlichen Mittelklasse-Idylle ihr Heil gefunden haben. Hunter lehnt eine solche (Aufstiegs-)Erzählung ab. Sein Interesse gilt weiterhin dem Schmerz, der Ausgrenzung und der Wut all jener Erniedrigten, Geknechteten, Verlassenen und verächtlich Gemachten, von denen bereits Karl Marx gesprochen hat.[6]
Was das vorliegende Buch darüber hinaus so bedeutend macht, ist seine Konzentration auf die Komplexität der konkreten Lebensrealitäten. Hunter stellt all die sozialen Orte der Marginalisierung, der Exklusion und der Gewalt als Orte des Widerspruchs dar. Denn diese verweigern sich einer einfachen Erzählung. Ohne Beschönigung schreibt Hunter einerseits davon, wie Missbrauch, Gewalt, Rassismus und Sexismus zum Alltag der underclass gehören, berichtet andererseits aber auch von jenen Momenten, in denen Menschen in seinem Umfeld füreinander einstehen. Wir begegnen seinem missbräuchlichen Großvater, der den Staat ablehnt und gleichzeitig die Menschen, die ihm am nächsten sind, auf grausame Weise quält. Wir sehen Solidarität innerhalb seiner Familie, auf der Straße oder im Gefängnis, wenn es darum geht, sich gegen Sozialarbeiter:innen, die Polizei, die Justiz oder andere staatliche Eingriffe zu wehren. Die underclass weiß aus eigener Erfahrung, dass der Staat nur weitere Gewalt bedeutet. Das Buch ist in vielerlei Hinsicht ein Protest gegen die Stigmata, die armen und marginalisierten Menschen angeheftet werden, gegen Entwürdigungen, die sie ertragen müssen. Sie sind nicht nur ›Kriminelle‹ oder ›Opfer‹ des Systems, denen man mit einem Mehr an Bestrafung oder an Wohltätigkeit beikommen könnte. Hunter schreibt auf jeder Seite des Buches gegen solche Stereotypen an und weist vielfältig auf die Handlungsfähigkeit der Betroffenen hin. Ganz am Anfang beschreibt er etwa, wie seine Familie außerhalb des kapitalistischen Systems Geld verdiente, indem sie Diebstähle beging oder illegale Hunde- oder Boxkämpfe organisierte. Dabei wurde das Geld, obwohl der Großvater den größten Teil des Erlöses für sich reservierte, unter den Familienmitgliedern nach Bedarf verteilt. Die Bedürfnisse der Kinder wurden berücksichtigt oder ein Onkel in einer erstklassigen Pflegeeinrichtung untergebracht. Im Kern geht es also darum, wie die Armen und Marginalisierten trotz all der Gewalt, die sie erleiden und sich auch selbst antun, zusammenhalten und sich gegenseitig etwa gegen Leistungskürzungen oder allgemeine Strafen unterstützen: Jugendliche Sexarbeiter:innen auf der Straße, Kinder, die in größter Armut leben und von ihren überforderten Eltern kaum erzogen werden können, wohnungs- und obdachlose Menschen auf der Suche nach einem Schlafplatz oder nach etwas Nahrung, Gefängnisinsass:innen, die der Gewalt der Wärter:innen ausgesetzt sind. Sie alle überleben auf die einzige Art und Weise, die sie kennen: Indem sie sich zusammentun und jeden gewalttätigen Freier verprügeln, gemeinsam im Supermarkt Lebensmittel klauen oder jene Aufseher:innen in Anstalten kollektiv in Schach halten, die sich an schwächeren Insass:innen vergreifen. Diese und zahlreiche weitere Szenen verdeutlichen die Widersprüche zwischen Gewalt und Liebe, Ungerechtigkeit und Solidarität. Gerade dadurch, dass er sie benennt, stellt sich Hunter der gesellschaftlichen Entwürdigung und Entmenschlichung entgegen, denen die underclass ausgesetzt ist – indem er sie als komplexe und widersprüchliche Realität präsentiert. »Meine Leute«, schreibt er, »sind fürsorglich und kämpferisch, sie sind zornig und zärtlich zugleich, sie werden ausgebeutet und ignoriert, sie werden als primitive Arschlöcher und arbeitsloser Abschaum bezeichnet. […] Jede:r einzelne von ihnen würde die Menschen, die ihre Liebsten verletzen, mit einem Baseballschläger erschlagen.«
Nicht nur aus diesem Zitat wird jedoch auch deutlich, dass rohe Gewalt hinter jeder Ecke lauert. Hunter beschreibt, wie sein Leben seit frühester Kindheit durch fehlende Sicherheit, Fatalismus und Gewalt geprägt ist, die seine gesamte Geschichte und seinen Alltag bis heute bestimmen. Sein Großvater vergewaltigt seine eigene Tochter, Hunters Mutter, und dann auch ihn selbst, als er noch ein Kleinkind ist. Manchmal allein, manchmal mit anderen Männern, die zuschauen oder auch mitmachen. Immer und immer wieder, über Jahre. Diese vollständige Objektivierung gehört zu den ersten Erfahrungen Hunters, die seinen weiteren Lebensweg beeinflussen. Von den physischen Folgen, aber auch den psychosozialen Konsequenzen – Isolation, Beziehungsprobleme, Gefühle der Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit – berichtet er ausführlich.
Bei alledem kommen die beteiligten Menschen selbst zu Wort und ihre Handlungen und Erfahrungen werden ernst genommen. Somit gelingt es Hunter, einen lebensweltlichen und vorurteilsfreien Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse innerhalb der underclass zu eröffnen. Dies ist eine wichtige Erweiterung soziologischer Theorien, die sich immer wieder mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. Hunter macht unmittelbar fassbar, was an anderer Stelle als »soziale Vererbung«[7] oder »Inkorporierung«[8] von Armut beschrieben wurde. Nach der Lektüre versteht man, was es konkret heißt, dass Armut und Marginalisierung von Generation zu Generation weitergegeben werden und sich (unbewusst) in den Körpern der Menschen festsetzen und zu einem Teil ihres Habitus werden, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnet hat.[9] Mit dem Habitus meint er die Gesamtheit des Denkens, Fühlens und Handelns eines Menschen, die klassenmäßig geprägt ist. Durch dieses Set an Dispositionen sind Menschen so stark von der Geschichte und ihrer Vergangenheit beeinflusst, dass sie vor-reflexiv und unbewusst eine spezifische Grundhaltung gegenüber der Welt entwickeln – die auch ihr künftiges Handeln anleitet.
Auch dies wird in Hunters Erzählungen deutlich. Der underclass fehlt es schlicht an Ressourcen, um an eine langfristige Planung oder Vorwegnahme der Zukunft überhaupt nur denken zu können. Vielmehr bestimmen die Erfahrungen von Gewalt, Erwerbslosigkeit und Armut den Alltag zu sehr, sodass lediglich eine Gegenwartsorientierung vorherrscht. Das Leben spielt sich ausschließlich im Hier und Jetzt ab, die unmittelbaren Bedürfnisse können nicht aufgeschoben werden. Die Notwendigkeit, an Essen zu kommen oder einen passenden Schlafplatz zu finden, stellt sich mit absoluter Priorität, sodass Pläne und Wünsche für die nächsten Tage oder gar die fernere Zukunft undenkbar werden. Aspekte wie Sparsamkeit und Planungssicherheit spielen keine Rolle, häufig bleibt lediglich das kurzfristige Entfliehen in Alkohol, Drogen oder Sex. Somit ist die underclass eine »Klasse ohne objektive Zukunft«, wie es Bourdieu so meisterhaft herausgearbeitet hat.[10]
Daraus haben auch viele (radikale) Linke die These abgeleitet, Mitglieder der underclass seien allgemein unwissend, uniformiert und nicht fähig, auf ihr Leben gestaltend Einfluss zu nehmen oder gar selbstständig Politik zu machen.[11] Diese häufig akademische und durchweg ignorante Sicht auf Klassenkämpfe fordert Hunter heraus. Er kritisiert den Umgang vieler linker Aktivist:innen mit den Themenbereichen Armut, Gewalt und Ausgrenzung. Zwar würden sich viele radikale Linke durchaus für soziale Gerechtigkeit einsetzen, dabei jedoch persönlich kaum etwas investieren und meist achtlos von einem politischen Projekt ins nächste wechseln, sobald es zu Widerständen komme. Diese Anklage an die radikale Linke hat Hunter in Großbritannien viel Kritik eingebracht. Sie ist jedoch unbedingt notwendig und kann auch auf die deutschen Verhältnisse übertragen werden. Auch hier muss sich ein Großteil der Linken zumindest die Frage gefallen lassen, ob überhaupt oder mit wem sie Klassenkämpfe führt, wen sie durch ihre Ansprache und ihren Ausdruck bereits vorab ausschließt und ob ihre Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit nicht häufig aus einer bequemen Position heraus geführt wird, die dabei Gefahr läuft, reine Stellvertreterpolitik zu werden.
Solidarität der Straße ist zum Teil Autobiografie, zum Teil eine Überlegung über Trauma, Klasse und Identität, zum Teil eine (solidarische und wohlwollende) Anklage gegen linke Aktivist:innen. Vor allem ist es aber eine Artikulation und eine Sichtbarmachung der widersprüchlichen Realität der britischen underclass, die auch für andere nationale Kontexte relevant ist. In der Schilderung dessen ist Hunter besonders stark und eindrücklich, schwächer wird er dort, wo er sich an einer Sozialstrukturanalyse der – wie er es nennt – »patriarchalen, kapitalistischen Gesellschaft der weißen Vorherrschaft« versucht. Zwar wird aus seinen Schilderungen deutlich, dass die underclass gesellschaftlich sowohl für die Produktion als auch für die Konsumption und Zirkulation ökonomisch nutzlos ist. Über ihre geschichtliche Herkunft und ihre gesellschaftliche Bedeutung sagt er jedoch wenig. Hunter folgt der These des US-amerikanischen Historikers Mike Davis, wonach die underclass in erster Linie eine Folge neoliberaler Politik sei.[12] Demgegenüber sollte sie jedoch als genuiner Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden. Wer also von Armut und Marginalisierung redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen. Gleichwohl ist die underclass mehr als eine ›Reservearmee‹ im marxistischen Sinne. Ihre notwendige Existenz bezieht sich nicht nur auf den Bereich der Ökonomie, vielmehr hat sie eine symbolisch-gesellschaftliche Bedeutung. Für die Produktion ist sie schlicht überflüssig, jedoch stellt ihr Dasein eine doppelt wirksame Disziplinierung dar. Zum einen ist die underclass eine Drohkulisse und ein abschreckendes Beispiel für all jene, die selbst von Prekarität und Abstieg gefährdet sind, zum anderen bringt sie die Marginalisierung der bereits Betroffenen mit sich. Die underclass ist – es mag paradox klingen – im Modus ihres Ausschlusses gesellschaftlich inkludiert. Dabei bedeutet ihre Exklusion jedoch nicht, außerhalb der Gesellschaft zu stehen, sondern gleichsam negativ als Warnung, Gefahr und Bedrohung integriert zu sein. Wie sich all dies konkret darstellt, zeigt Solidarität der Straße eindrücklich auf.
Ich habe den überwiegenden Teil der Essays in diesem Buch im Spätherbst und zum Winteranfang 2016 geschrieben. Zu jener Zeit trennte ich mich von dem Ort, der fast ein Jahrzehnt lang im Guten wie im Schlechten mein politisches Zuhause gewesen war. In vielerlei Hinsicht sind diese Essays sowohl ein Abschiedskuss als auch ein Mittelfinger an dieses alte Zuhause. Beim erneuten Durchlesen zur Vorbereitung der neusten Auflage des Buches konnte ich mich selbst dabei beobachten, wie ich mich damals zwischen verschiedenen Stadien der Trauer hin- und herbewegte. Ein Absatz kennzeichnet sich durch Wut, ein anderer durch Akzeptanz, bevor es wieder zur Wut zurückgeht. Gelegentlich fokussiert sich ein Essay aufs Verhandeln, nur um dann am Ende abrupt wieder davon abzukommen. Die Gefühle der Trauer, in die ich damals versunken war, wurden nicht nur durch die Trennung von meiner politischen Heimat hervorgerufen, sondern auch durch die Trennung von anderen Orten, die mein Zuhause gewesen waren. Die Wohnmobile meiner Irish-Traveller-Familie, das Zuhause, das sie in Lancashire aufzubauen versuchten und das Zuhause in Nottingham, das meine Mutter mir und meinen Schwestern zu bieten versuchte. Das Zuhause ohne Wände, das ich als Teenager und in meinen frühen 20ern auf den Straßen fand. Und ja, das Zuhause, das ich bei der antiautoritären Linken in Nottingham gefunden zu haben glaubte. Die Verluste dieser Orte sind ebenso miteinander verwoben wie meine Gefühle der Trauer.
Es wäre falsch zu behaupten, dass es in Solidarität der Straße (Originaltitel: Chav Solidarity) nur um Trauer geht, aber sie bildet sicherlich einen der Hintergründe. Im Mittelpunkt stehen die Enteigneten und die Toten, Menschen, mit denen ich zusammenlebte, als die neoliberale Politik auf nationaler und lokaler Ebene langsam unsere Gemeinschaften auseinanderriss. Ich versuche in diesen Essays kleine Momente des Widerstands festzuhalten, in denen Menschen einander liebten, unterstützten und sich gegenseitig auf die Beine halfen, trotz einer vorherrschenden Kultur, die von uns verlangte, dass wir aufeinander herumtrampeln. Es gibt Menschen wie ›Samantha‹ und ›MD‹, die bei ihrem Versuch zu überleben durch Transphobie, Rassismus und Armut geliebte Menschen und Teile ihrer Identität verloren haben. Und es gibt Menschen wie ›Valerie‹ und meinen Vater, die das Gaspedal durchtraten, überzeugt, dass der einzige Weg zu überleben darin bestand, ziel- und rücksichtslos zu beschleunigen, ohne darüber nachzudenken, wohin dieser Weg sie führte.
Und im Mittelpunkt des Ganzen, das kommentierend, was ich erlebt habe, stehe ich. 2018 wurde mir gesagt, dass Solidarität der Straße ein autoethnografisches Werk sei, also die Studie einer Gemeinschaft, durchgeführt von einem Menschen, der aus dieser Gemeinschaft kommt und sich reflexiv mit seiner Rolle als Teilnehmer und Forscher auseinandersetzt. Als sich die in diesem Buch besprochenen Geschehnisse abspielten, hatte ich natürlich keine Ahnung, dass ich darüber schreiben würde. Ich konnte nicht schreiben, also machte ich mir auch keine Notizen. Als diese Dinge passierten, verfügte ich nicht über die Sprache, um sie zu kontextualisieren, so wie ich das 20 Jahre später getan habe.
Daher basiert Solidarität der Straße auf Erinnerungen. Meine Perspektive ist gefärbt und geprägt von meiner Positionalität zu dem Zeitpunkt, als ich die Essays schrieb. Das Buch ist weniger aus einer Innenperspektive verfasst, sondern aus der Perspektive, diese Gemeinschaft verlassen zu haben und darüber zu trauern. Die Zahl der Toten bleibt dieselbe, die Armut bleibt dieselbe, aber als mein Freund ›MD‹, der in dem Essay »Ausgeliefert« vorkommt, das Buch las, kritisierte er mich, weil das Buch dem Ausmaß der Wut, die wir und unsere Freund:innen damals verspürten, nicht gerecht wurde. Er sagte mir, dass ich die Traurigkeit und die Erschöpfung hervorgehoben hatte, nicht aber das Feuer und die Wut. Natürlich hat er recht. Und er hätte immer noch recht, auch wenn ›Samantha‹ mir sagen würde, dass ich zu lustig, zu unbeschwert geschrieben hätte. Oder wenn ›Valerie‹ das Buch zu wütend und zu wenig lustig finden würde. Die Stimmung der Essays ist durch die Umstände zu einem sehr spezifischen Zeitpunkt meines Lebens geprägt. Heute, 2020, sind fast vier Jahre vergangen, seit ich den Großteil der Essays geschrieben habe. Das Buch wurde weitaus öfter verkauft, als ich erwartet hatte, und war schon mehrfach vergriffen. Es wurde inzwischen ins Italienische und Spanische übersetzt [und jetzt auch ins Deutsche]. Die italienische Version wurde im Frühjahr 2020, inmitten der COVID-19-Pandemie, veröffentlicht und bekam dort mehr Beachtung und Lob von der Presse als im Vereinigten Königreich. Dies ist zum Teil der Arbeit des Verlags Alegre und des Übersetzers Alberto Prunetti zu verdanken, denen ich zu großem Dank verpflichtet bin. Zweifelsohne sind die unterschiedlichen Reaktionen auf das Buch in Italien und im Vereinigten Königreich auf die unterschiedlichen Veröffentlichungsmethoden zurückzuführen.[13] Ich vermute jedoch, dass darüber hinaus meine Kritik an der Linken im Vereinigten Königreich in Italien auf weniger feindselige Ohren stößt als hierzulande.
Diese Anmerkungen zur neuen Ausgabe verfasse ich zu einem Zeitpunkt, an dem sowohl in den USA als auch im Vereinigten Königreich der Kampf gegen die weiße Vorherrschaft in all ihren Formen in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gerückt ist. Hunderttausende gehen auf die Straße und setzen alle Mittel ein, die sie in diesem Kampf für angemessen halten. Manchmal scheint es, als reagierten diejenigen von uns, die von der weißen Vorherrschaft profitiert haben, mit größerer Solidarität als je zuvor. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Solidarität von Dauer sein wird. Oder ob unsere Angst vor dem Verlust der unverdienten Vorteile, die uns ein genozidales Sozial- und Wirtschaftssystem gewährt, letztendlich dazu führt, dass wir es verteidigen und aufrechterhalten wollen. Ich werde keine Voraussagen treffen und kann keine Versprechungen machen. Ich weiß, dass Anti-Blackness und Rassismus tief verwurzelt und in allen Bereichen unseres Lebens zu finden sind. Ihre Überwindung und Zerstörung wird nicht innerhalb von Wochen oder Monaten stattfinden, noch wird es dafür ausreichen, eine Nachricht in den Sozialen Medien zu teilen, ein paar Bücher zu lesen oder an einigen Demonstrationen teilzunehmen. Schwarze und andere rassifizierte Menschen haben über Generationen hinweg erklärt, was es dazu braucht. Es gibt seit jeher die Möglichkeit zuzuhören und zu reagieren.
Einer der Hauptgründe, warum ich all das hier schreibe, ist, dass die Art und Weise, wie die Klassengesellschaft funktioniert, am deutlichsten in alltäglichen Situationen erkennbar ist. In diesen entfaltet sich das gesellschaftliche Ganze.
Ich bin es leid, von den Gegenden, die ich am besten kenne, nichts zu hören und wenn, dann nur in Form von Verallgemeinerungen. Ich bin es leid, dass die Gegenden und die Menschen, die dort leben, verteufelt oder bevormundet werden und dass die Komplexität ihrer Lebensrealitäten vereinfacht wiedergegeben wird, um leicht konsumierbare Mythen von Verbrechen und Wohltätigkeit zu erschaffen. Ich kenne mich selbst als widersprüchlichen Menschen und meine Viertel als widersprüchliche Orte. Stark benachteiligte Gebiete im Vereinigten Königreich sind Orte des Widerspruchs. Im internationalen Vergleich mag die Benachteiligung minimal erscheinen: Es gibt sowohl fließend Wasser als auch Elektrizität und auch einen gewissen Zugang zu Bildung und moderner Technologie. Gegenüber großen Teilen der Welt handelt es sich um relativ reiche Orte. Doch ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen auf der Straße erfrieren oder wegen kleinster Geldsummen getötet werden. Und ich habe die Verzweiflung jener gesehen, denen es nicht möglich ist, sich selbst oder ihre Kinder auf eine Weise zu ernähren, die der Staat als legitim erachtet.
Ich möchte auf diesen Seiten einen Teil dieser Komplexität und der Widersprüche darlegen, um aufzuzeigen, dass die Orte, an denen ich aufgewachsen bin, und die Menschen, die dort leben, komplizierter sind als die Stereotype von Kriminellen und Opfern und dass sie etwas anderes verdienen als Wohltätigkeit oder Bestrafung. Ich möchte dabei ehrlich sein, was für mich bedeutet, über meine Familie und über die Missbräuche zu sprechen, die sie sich und mir angetan haben. Und darüber, wie selbst etwas so Persönliches wie Kindesmissbrauch in einen politischen Kontext einzubetten ist. Es geht mir nicht darum, die Erfahrungen aller Kinder, die sexuell, physisch oder emotional missbraucht wurden, zu verallgemeinern, sondern darum, aufzuzeigen, dass die Kinder der Arbeiter:innenklasse Missbrauch ausgesetzt sind, eben weil sie in der Arbeiter:innenklasse und in armen Verhältnissen aufwachsen. Es geht mir ebenfalls darum, aufzuzeigen, dass diese Missbräuche nur eine der Erscheinungsformen von Armut und Benachteiligung sind, die durch die Klassengesellschaft hierzulande und weltweit verursacht werden.
Ich werde von Menschen erzählen, die mich geschlagen, vergewaltigt und gefoltert haben und davon, wie ihre eigene Psyche und ihr eigener Körper durch den wirtschaftlichen und sozialen Kontext, in den sie hineingeboren wurden, geschädigt wurden. Ich werde von gewalttätigen gequälten Männern erzählen und von gequälten gewalttätigen Frauen, deren Leben bereits vor dem Erwachsenenalter schwer beschädigt wurden. Sie waren nicht in der Lage, den Kreislauf zu durchbrechen und ihre Armutserfahrungen belasten sie daher viel stärker als meine mich. Ich werde davon erzählen, wie mir meine Männlichkeit und mein Weißsein geholfen haben, am Leben zu bleiben, und wie diese Aspekte meiner Identität mir ermöglichten, meinen Willen gewaltsam gegenüber anderen durchzusetzen.
Meine Klassenzugehörigkeit bestimmt, wie ich die Welt sehe und wie ich mit ihr interagiere. Wie ich mit den Strukturen und Institutionen, die dieses Land prägen, interagiere und wie ich ihnen unterworfen bin. Auf welchem Weg ich mich durch sie durchgeschlagen habe und wie dieser Weg durch meine Identität als queer und cis-männlich geprägt wurde. Ich werde von meiner Zeit in Jugendstrafanstalten und Gefängnissen erzählen und von den Menschen, mit denen ich meine Zeit dort verbracht habe. Ich werde über meine Beziehung zur informellen Wirtschaft sprechen, über die Entwicklung meiner Gedankenwelt und über die Leidenschaft und das Zuvertrauen, die ich für die Gedankenwelten all jener empfinde, die am unteren Ende der wirtschaftlichen Nahrungskette stehen. Ich werde von meinen Erfahrungen mit Obdachlosigkeit erzählen und davon, wie es sich anfühlt, nun mit Menschen zusammenzuleben, die sich noch nie fragen mussten, wo sie ihre nächste Mahlzeit herbekommen. Ich werde schildern, wie ich verschiedene Verhaltensweisen der Mittelschicht angenommen und dadurch Teile meiner Identität so gründlich ausradiert habe, dass es mir unmöglich ist, sie wiederherzustellen und wieder ich selbst zu sein.
Ich werde davon erzählen, wie ich mit 23 Jahren lesen gelernt habe und wie innerhalb eines Jahres mein Leben durch die Schriften von Antonio Gramsci, Angela Davis, C. Wright Mills, George Jackson und Dorothy Allison von Grund auf verändert wurde. Ich werde darüber schreiben, wie klein und unterlegen ich mich in der Gegenwart jener fühle, die in finanzieller Sicherheit aufgewachsen sind. Denn so sehr ich mich auch bemüht habe, die kapitalistischen Denkweisen zu verlernen, glaubt ein kleiner Teil von mir immer noch, dass der Wert einer Person mit ihrer wirtschaftlichen Position verbunden sei.
Es ist unmöglich, über meinen andauernden Kampf um meine psychische Gesundheit zu schreiben, ohne die Klassenposition zu berücksichtigen, in die ich hineingeboren wurde, und die Schwierigkeiten, die damit zusammenhängen. Mein veränderter Zugang zu sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital hat auch meinen Umgang mit diesen Schwierigkeiten verändert.
Ich glaube, dass Klasse in Fleisch und Blut übergeht. Ich bin überzeugt, dass die Lebensrealität der Unterschicht oder der von Erwerbsarmut betroffenen Menschen im Körper nachhallt, selbst wenn man in der Lage ist, diese Schichten zu verlassen und in einer sichereren Umgebung zu leben. Diese Erfahrungen haben einen sehr realen und physiologischen Einfluss. Ich werde darüber schreiben, wie es ist, Schwänze zu lutschen, um genug Geld aufzutreiben, damit deine Schwester essen kann. Wie es ist, einer Person für Geld ins Gesicht zu schlagen, um genug Geld für Crack zu haben, das dabei hilft, für den Rest des Tages alles zu vergessen.
Ich werde versuchen, über die sozialen Bewegungen zu schreiben, von denen ich ein Teil war und über jene, zu denen ich mich jetzt zugehörig fühle. Ich werde erzählen, weshalb ich denke, dass wenn wir die patriarchale, kapitalistische Gesellschaft der weißen Vorherrschaft überwinden wollen, wir über Klasse sprechen und uns damit auseinandersetzen sollten, wie Klasse soziale Bewegungen prägt. Ich werde darüber schreiben, wie es heutzutage den Bewegungen im Vereinigten Königreich, die gegen Unterdrückung und Kapitalismus kämpfen, nicht gelingt, einen Raum für die Ideen und Erfahrungen von Menschen aus der Unterschicht oder von armen Arbeiter:innen zu schaffen. Darüber, wie diese Menschen zwar als Symbol für die Gewalt von Staat und Kapital genutzt werden, aber gleichzeitig als unartikuliert, ungebildet und minderwertig abgetan werden. Eines der Ziele dieses kleinen Buches ist es, die Gedankenwelten derer zu beleuchten, die in Armut leben.