Sowas wie dein Papa - Tobias Wilhelm - E-Book

Sowas wie dein Papa E-Book

Tobias Wilhelm

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Beschreibung

Was macht eigentlich einen guten Vater aus? Ein junger Mann hat sich als potentieller Pflegevater beim Jugendamt beworben. Dann zieht von einem Tag auf den anderen das lebhafte Kleinkind Noah bei ihm ein. Vom unerfüllten Kinderwunsch, über bürokratische Belange und das Einleben in den neuen Familienalltag - warm und authentisch erzählt Tobias Wilhelm von den Gefühlen und Unwägbarkeiten im Leben eines alleinerziehenden Pflegevaters, das sich am Ende doch kaum von dem eines „ganz normalen“ Vaters unterscheidet.

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Seitenzahl: 181

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Was macht eigentlich einen guten Vater aus?Ein junger Mann hat sich als potentieller Pflegevater beim Jugendamt beworben. Dann zieht von einem Tag auf den anderen das lebhafte Kleinkind Noah bei ihm ein.Vom unerfüllten Kinderwunsch, über bürokratische Belange und das Einleben in den neuen Familienalltag — warm und authentisch erzählt Tobias Wilhelm von den Gefühlen und Unwägbarkeiten im Leben eines alleinerziehenden Pflegevaters, das sich am Ende doch kaum von dem eines »ganz normalen« Vaters unterscheidet.

Tobias Wilhelm

Sowas wie dein Papa

Leben mit Pflegekind

hanserblau

»Ich sah, dass die Sonne herauskam«, sagte Frosch. »Ich sah Vögel im Baum, ich sah meine Mutter und meinen Vater imGarten arbeiten. Ich sah Blumen im Beet.«

»Das war der Frühling!«, rief Kröte.

»Richtig«, sagte Frosch. »Ich hatte ihn endlich gefunden.«

Arnold Lobel, Das große Buch von Frosch und Kröte

Vorwort

Seit einigen Jahren erscheinen vermehrt Bücher, Filme, Fernsehbeiträge und Artikel über Familienformen, die als »unkonventionell« bezeichnet werden. Es ist die Rede von »Regenbogenfamilien«, Co-Parenting und anderen Modellen abseits der gesellschaftlichen Norm einer biologischen Kernfamilie. Der öffentliche Diskurs schützt queere Familien oder alleinerziehende Eltern nicht vor Anfeindungen, Hass und Gewalt. Und doch glaube ich, dass mit dieser Aufmerksamkeit der Grundstein für eine breite Akzeptanz dieser Familienmodelle gelegt wird.

Den Beginn einer solchen Entwicklung wünsche ich mir ebenso für ein weiteres Familienmodell, das im öffentlichen Bewusstsein bisher kaum präsent ist, obwohl laut Statistischem Bundesamt mehr als 91.000 Kinder (Stand 2019) in ihm aufwachsen — die Pflegefamilie. Da mein Vater zeit seines Berufslebens beim Jugendamt tätig war, weiß ich schon recht lange, was man sich unter dem sperrigen Begriff »Pflegekinderwesen« vorstellen kann. Wie wenig der Allgemeinheit darüber bekannt ist, wurde mir erst bewusst, nachdem ich selbst ein Pflegekind aufgenommen hatte und mich unglaublich vielen, teils übergriffigen Fragen stellen musste. »Was ist ein Pflegekind?« »Ist das behindert?« »Nehmen sie ihn euch bald wieder weg?«

Dieses Buch soll das Modell der Pflegefamilie einer größeren Öffentlichkeit bekannt machen und dieses komplexe Thema differenziert darstellen. Es erzählt von weitgehend unbekannten Schicksalen, Problemen, aber auch Momenten des Glücks. Nicht zuletzt wünsche ich mir, dass Pflegefamilien in künftigen Diskursen über diverse Familienmodelle eine größere Rolle spielen. Und dass mehr wertgeschätzt wird, was sie leisten. Nur so kann es dringend nötige Reformen geben, die dieses Modell für mehr Menschen mit Kinderwunsch oder einem freien Zimmer im Haus attraktiv machen. Bisher braucht es — so viel kann ich hier schon vorwegnehmen — eine ordentliche Prise Idealismus und eine hohe Frustrationstoleranz, um alles auf sich zu nehmen, was mit dem Alltag von Pflegeeltern einhergeht. Verantwortlich ist dafür in erster Linie eine Gesetzeslage, die den Pflegeeltern nur wenige Rechte zuspricht. Die engsten Bezugspersonen des Kindes sind deshalb in vielen Fällen dem Wohlwollen des Jugendamtes und der Inhaber*innen der elterlichen Sorge überlassen. Es kann im Zweifel über ihren Kopf hinweg entschieden werden. Selbst ein Einklagen ihrer Ansprüche (z.B. Pflegegeld) gestaltet sich im Paragrafendschungel äußerst kompliziert. Das Jugendamt sitzt in dieser Machtdynamik nicht nur durchweg am längeren Hebel, sondern spart sich durch die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien auch viel Geld. Während für einen Heimplatz mehrere tausend Euro pro Monat fällig werden, kann man die Höhe des Erziehungsgeldes als gering bezeichnen. Auch der Unterhalt des Kindes ist in Zeiten steigender Mieten und Preise knapp bemessen. Dass Pflegepersonen keinen Anspruch auf Elterngeld haben und ihre Elternzeit mit finanziellen Rücklagen oder Grundsicherung bestreiten müssen, halte ich für unzumutbar.

Ich bin selbst Pflegevater, doch dieses Buch ist keine Autobiografie, sondern ein erzählendes Sachbuch. Die geschilderten Begebenheiten wurden mir von anderen Pflegeeltern oder Sozialarbeiter*innen berichtet, der Fachliteratur entnommen, teilweise sind sie mir selbst vertraut. Um alle Beteiligten zu schützen, wurden Verfremdungen vorgenommen. Ich werde auf den folgenden Seiten eine Geschichte erzählen, die wie ein Puzzle aus verschiedenen Erfahrungswerten zusammengesetzt wurde. Eine Geschichte, die fest in der Realität verwurzelt ist und einen Teilbereich des deutschen Pflegekinderwesens abbildet. Und doch ist es eine und nicht meine Geschichte.

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Tobias Wilhelm

Impressum

Inhalt

Vorwort

1

 (K)ein ganz »normales« Kind

2

 Vater auf Knopfdruck

3

 »Mama?!«

4

 »Kind ist Kind!«

5

 Wie schön, dass du geboren bist

6

 Klopf, klopf

7

 Komische Frisur

8

 Justitia

9

 Axolotl

10

 Im Namen des Volkes

11

 Linien

Glossar

Weiterführende Informationen zum Thema

Inhalt

1

(K)ein ganz»normales« Kind

Die Kriseneinrichtung liegt am Stadtrand, in der Nähe eines Sees. Überall stehen Gründerzeitvillen mit parkähnlichen Gärten, saubere Bürgersteige und Bäume, in denen Eichhörnchen herumklettern. Der graue Zweckbau, in dem verschiedene Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht sind, wirkt in dieser Umgebung recht deplatziert. Genauso wie die quietschbunten Bobbycars, Laufräder und Rollschuhe, die im Vorgarten verstreut herumliegen. Mir fällt sofort auf, dass der Eingangsbereich videoüberwacht wird. Auch in der Türsprechanlage ist eine schwarze Kameralinse versenkt. »Dritter Stock«, schnarrt eine Frauenstimme, nachdem ich geläutet habe.

Frau Seydel von der Familienberatungsstelle für Pflegefamilien holt mich oben an der Tür ab und ich folge ihr durch die Räumlichkeiten, die mich an eine Jugendherberge erinnern: Halboffene Türen geben den Blick auf Doppelstockbetten und robuste Holzmöbel frei. In der Luft hängt eine Mischung aus Citrus-Reiniger und Großküchenessen. Wir betreten ein großes Spielzimmer. Ich hatte erwartet, erst mit einer Erzieher*in oder der Leitung der Einrichtung sprechen zu können. Stattdessen werde ich jetzt von zwei kleinen, wachen Augen durchdringend gemustert. Das Mädchen hat braune, lockige Haare. Im Gesicht noch eine ordentliche Portion Babyspeck. »Das ist Leyla!«, sagt eine grauhaarige Frau, die ihr gerade aus einem Buch vorgelesen hat. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« Während sie in Richtung der Küche verschwindet, um eine Flasche Wasser und Gläser zu holen, fragt Frau Seydel Leyla, ob sie mir ihre Spielsachen zeigen möchte. Das Mädchen nickt, präsentiert brav eine Puppe und ihr Schnuffeltuch. Dann schnappt sie sich ein neues Buch, wedelt damit herum. »Lelen, lelen?«, zielstrebig bugsiert sie mich in Richtung eines Haufens aus Sitzkissen. Leyla hüpft auf meinen Schoß, zeigt auf die Bilder und ich lese die dazugehörigen Texte vor. Plötzlich breitet sich ein nasser Fleck auf Leylas Hose aus — das Mädchen quietscht laut auf. »Oh, ist die Windel geplatzt?«, meint eine junge Frau lachend, die neben uns Spielsachen in einen Schrank sortiert. Sie schnappt sich das Mädchen. »Ich geh sie mal kurz wickeln, ja?«

Im Vorgespräch mit dem Jugendamt konnte ich aus Gründen des Datenschutzes nur wenig über Leyla erfahren. Ich nutze deshalb die Unterbrechung, um mit der älteren Erzieherin ins Gespräch zu kommen, die inzwischen mit dem Wasser zurückgekommen ist. Sie erzählt mir, dass Leyla vor einem halben Jahr zusammen mit ihrem kleinen Bruder und ihrer Mutter in die Kriseneinrichtung gekommen sei. Mit dem Vater habe es »Probleme« gegeben. Nach einigen Wochen sei die Mutter dann aber — ohne Kinder — zu ihrem Lebensgefährten zurückgekehrt.

»Und das geht einfach so? Dass sie die Kinder hierlässt, meine ich?« Ganz habe ich die Funktion einer solchen Einrichtung noch nicht verstanden.

Die Erzieherin zuckt resigniert mit den Schultern. »Sie durfte die halt nicht mitnehmen. Vom Amt aus. Erst war eine Rückführung geplant, aber dann …« Wieder zuckt sie mit den Schultern und verstummt.

»Was dann? Wie ging es weiter?«

»Na ja …«, die Erzieherin schaut kurz zu Frau Seydel, die am anderen Ende des Raumes steht und etwas in ihr Handy tippt, und spricht mit gedämpfter Stimme weiter. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen darf. Wegen Datenschutz … Leyla ist nach einem Umgang mit einer Brandwunde am Arm zurückgekommen. Die Eltern haben sich widersprochen, wie das passiert ist. Das Amt hat die Rückführungspläne dann sofort gestoppt.«

»Ihr wurde Gewalt angetan!«, schießt es mir durch den Kopf. Frau Seydel hatte bisher nur von Überforderung und Vernachlässigung gesprochen. Ich nippe an meinem Wasser, als die Tür sich öffnet und Leyla zurück ins Zimmer geschoben wird. Lächelnd stürmt sie auf mich zu, umschlingt meine Beine. »Arm! Arm!« Ich stelle das Wasser ab, hebe sie hoch und gehe mit ihr zur Spielecke zurück. Plötzlich spüre ich einen stechenden Schmerz in meinem Oberarm. Mit voller Kraft kneift Leyla in die Haut unter meinem T-Shirt-Ärmel.

»Ey, das tut weh!«

Ich setze das Kind auf dem Boden ab, während die Erzieherin zu uns eilt.

»Nicht kneifen!« Sie packt Leyla an den Schultern, schaut sie streng an. Dann wirft sie mir einen entschuldigenden Blick zu: »Das macht sie leider ständig.«

»Ist ja auch eine überfordernde Situation!«, merkt Frau Seydel an und schlägt vor, runter in den Garten zu gehen. In einem Sandkasten backe ich mit Leyla Sandkuchen, doch irgendwie will der Funke nicht so richtig überspringen. Was andere wahrscheinlich als süß empfinden würden — Schmollmund, Augenaufschlag, gekünstelte Babysprache, viel Körperkontakt —, irritiert mich eher.

Bei der Verabschiedung hinterlässt Leyla auf meiner Haut ein zweites Fingernagel-Tattoo. »Aua«, sage ich laut, doch die Dreijährige lockert ihren Griff deshalb nicht, sondern lächelt mich stattdessen verbissen an. Macht es ihr Spaß, mir wehzutun?

Auf der Rückfahrt rufe ich meine Mutter an und erzähle ihr von dem Treffen. Sie spricht aus, was ich denke: »Sie kann nichts dafür, klar. Aber dieses Mädchen hat ein ernsthaftes Problem. Mich würde das komplett überfordern. Und vergiss nicht, dass du mit dem Kind allein sein wirst. Da ist sowieso alles doppelt anstrengend.«

Ich nicke unwillkürlich. »Ja, da ist was dran.«

Als ich das Auto zwanzig Minuten später vor meiner Wohnung parke, habe ich mich bereits entschieden: Ich möchte Leyla nicht bei mir aufnehmen.

Zu Hause sitze ich in der Küche und schaue aus dem Fenster. Vor ein paar Wochen hätte ich noch mit meinem Mitbewohner Ulrich über alles sprechen können, doch der ist inzwischen ausgezogen. Das direkte Zusammenleben mit einem Kind konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Allein hänge ich meinen Gedanken nach. Ist es richtig, sich so schnell gegen eine Aufnahme von Leyla zu entscheiden, oder soll ich noch eine Nacht über alles schlafen? Werden auch die anderen Kinder, die man mir vorschlagen wird, so verhaltensauffällig wie Leyla sein? Und sollte ich dann trotzdem eines aufnehmen, obwohl ich eigentlich ein Kind ohne schwerwiegende Traumata großziehen möchte?

Mit dreizehn Jahren hielt ich zum ersten Mal meinen jüngsten Cousin in den Armen, der damals erst ein paar Tage alt war. Ich umschloss seine winzige Hand mit meiner, schaute in schwarze, unruhig umherwandernde Knopfaugen. Ab diesem Zeitpunkt fühlte ich mich innerlich dazu bereit, Vater zu werden. Als eine Klassenkameradin mit fünfzehn — und nicht von mir — schwanger wurde, malte ich mir aus, wie ich das Kind mit ihr zusammen großziehen und wir das alles schon irgendwie schaffen würden. Später spielte das Thema »Kinder kriegen« in all meinen Langzeit-Beziehungen eine Rolle.

So auch bei meiner letzten Freundin Agnieszka. Nach vier Jahren Beziehung hörten wir auf zu verhüten. Wir hatten ausreichend Einkommen, unsere Wohnung war sowieso groß genug und wir trauten uns diesen nächsten Schritt zu — alles passte. Anfangs verspürten wir keinen Druck, achteten deshalb nicht auf Agnieszkas fruchtbare Tage, sondern schliefen so wie bisher miteinander — also immer, wenn wir Lust dazu hatten. Erst als es nach einem knappen Jahr noch nicht »geklappt« hatte, markierte meine damalige Freundin ihre fruchtbaren Tage im Wandkalender. Anfangs konnte ich diesem »Kalender-Sex« noch etwas abgewinnen. Sobald der Wecker morgens geklingelt hatte, begann die erste Runde. Abends, wenn wir von der Arbeit nach Hause gekommen waren, die zweite. Nachdem wir miteinander geschlafen hatten, lagen wir eng umschlungen da und dachten voller Vorfreude laut über unsere Zukunft als Familie nach. Wenig später bekam Agnieszka ihre Periode und wir wussten: Es hatte wieder nicht geklappt. Irgendwann kam ich mir beim Sex wie ein Roboter vor. Es ging nicht mehr um Leidenschaft, um Lust, sondern lediglich um die Befruchtung von Eizellen. Ob wir Spaß hatten, war egal, allein das Ergebnis zählte. Und das lautete jeden Monat weiterhin: nicht schwanger.

Wie die meisten Männer ging ich immer davon aus, dass mit mir — beziehungsweise meinen Spermien — schon alles in Ordnung sei. Erst als Agnieszka von ihrer Frauenärztin uneingeschränkte Empfängnisbereitschaft bescheinigt worden war, vereinbarte ich einen Termin beim Urologen. Kalte Hände in Einweghandschuhen tasteten gründlich meine Hoden ab. Auch die kleine Kammer mit Porno-Heften, Fernseher und DVD-Player hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Der Laborbefund fiel niederschmetternd aus. Zu wenige Spermien waren normal geformt und gut beweglich. Streng genommen war es für mich zwar möglich, auf natürlichem Weg ein Kind zu zeugen, die Wahrscheinlichkeit glich jedoch der eines Lottogewinns.

Monatelang bedeutete jede Konfrontation mit dem Thema für mich eine Konfrontation mit meinem Versagen. Warum bekam ich nicht mal so etwas Simples hin, wie eine Frau zu schwängern? Teenager, Rentner, Männer mit nur einem Hoden — sie und viele andere Personen konnten Kinder zeugen. Warum ich nicht? Seit ich die Pubertät hinter mir gelassen hatte, war ich mit meinem Körper größtenteils im Reinen gewesen. Jetzt empfand ich ihn als mangelhaft und hasste ihn in meinen dunkelsten Stunden sogar. Was war man als Mann überhaupt noch wert, wenn man sich nicht mal fortpflanzen, keine eigene Familie gründen konnte? Und warum identifizierte ich mich überhaupt mit einem so konservativen Männerbild?

Am Ende verkraftete unsere Beziehung die Hiobsbotschaft meiner Zeugungsunfähigkeit nicht. Agnieszka wollte unbedingt leibliche Kinder. Mit meinen Werten waren jedoch selbst die Erfolgsaussichten einer künstlichen Befruchtung gering. Ein Beratungsgespräch und meine Internetrecherchen ergaben zudem, dass viele Frauen durch die Hormonbehandlung in schwere Depressionen stürzen würden. In Foren tauschten sich Betroffene miteinander aus, die ihre gesamten Ersparnisse und ihre psychische Gesundheit geopfert, aber noch immer kein eigenes Kind hatten. Das Ganze wirkte wie ein riesiges Geschäft mit der Hoffnung — Kollateralschäden wurden dabei scheinbar billigend in Kauf genommen.

Nach einem halben Jahr voller gegenseitiger Schuldzuweisungen gingen meine Freundin und ich schließlich getrennte Wege. Auch wenn es keine schöne Zeit war, glich die Trennung einem Befreiungsschlag — endlich musste ich mich aufgrund meiner Zeugungsunfähigkeit nicht mehr wie ein Versager fühlen.

Ich begann mir einzureden, dass ich keine Kinder mehr wollte. »Was ist das nur, dass alle Menschen Mitte dreißig plötzlich Kinder bekommen müssen?«, pflichtete mir Ulrich — überzeugter Single — bei. »Warum kann man nicht andere Ziele haben? Chinesisch lernen zum Beispiel, eine Niere spenden. Oder den Motorradführerschein machen.« Wenn ich in dieser Phase Väter oder Mütter mit ihren Kindern im Supermarkt oder auf der Straße sah, kamen sie mir nicht mehr glücklich, sondern gereizt, übermüdet und abgekämpft vor. Warum sollte man sich diesen ganzen Stress überhaupt antun? Das Leben ohne Kinder hatte schließlich auch seine Vorteile.

Aller Selbstüberredungsversuche zum Trotz holten mich meine wahren Gefühle während eines Besuchs bei meinen Eltern ein. Ein altes Fotoalbum war mir zufällig in die Hände gefallen. Auf den Bildern strahlte ich als Baby mit ihnen, meinen Großeltern, Onkeln und Tanten um die Wette. Wenige Seiten später spielte ich schon mit Autos, baute Sandburgen, verkleidete mich als Hexe oder ließ Drachen steigen. In diesem Moment wehrte ich mich nicht länger gegen meinen Schmerz. Mit über den Kopf gezogener Bettdecke heulte ich mir die Seele aus dem Leib. Obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, würde ich niemals leibliche Kinder haben. Zu relativieren gab es da nichts. Es war einfach scheiße. Wahrscheinlich war ich ab diesem Zeitpunkt für andere Lösungen bereit.

Zurück in Berlin saß ich eines Abends nach einem Geschäftsessen in der U-Bahn. Der Akku meines Handys war leer und ich ließ meinen Blick schweifen, statt wie gewohnt auf den Bildschirm zu starren. Über den Haltestangen fiel mir eine Werbung auf: »Pflegeeltern dringend gesucht!« Zu Hause rief ich die angegebene Website auf. Auch gleichgeschlechtliche und queere Paare, Alleinerziehende oder Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft konnten ein Pflegekind bei sich aufnehmen, wenn sie individuell dafür geeignet waren. In meinem Kopf begann ein Plan zu reifen.

Gegen Nachmittag rufe ich Frau Seydel an und informiere sie darüber, dass ich Leyla nicht aufnehmen werde. Obwohl sie freundlich und verständnisvoll reagiert, plagen mich im Anschluss an das Gespräch starke Zweifel. Kann man bei einem knapp einstündigen Treffen mit einem völlig fremden Kind überhaupt erwarten, dass »der Funke« überspringt? Hat nicht jedes Kind, egal ob es mir auf Anhieb sympathisch ist oder nicht, ein richtiges Zuhause verdient? Gibt es überhaupt Pflegekinder, die nicht stark belastet sind?

Ich gehe in mein Arbeitszimmer und hole den Fragebogen aus dem Schrank, den ich während des langwierigen Überprüfungsprozesses ausfüllen musste und in dem meine Eignung als Pflegeperson ermittelt wurde. Er beginnt ziemlich harmlos:

In welcher Lebenssituation befinden Sie sich aktuell (z.B. Berufswechsel, Trennung, Kinder erwachsen, Hausbau)?

Wie ist Ihr Wunsch entstanden, ein Kind aufzunehmen?

Warum ein Pflegekind? Warum kein Adoptivkind?

Warum gerade zum jetzigen Zeitpunkt? Warum wollen Sie in Ihrem jetzigen Lebensabschnitt diese Veränderung eingehen?

Nach ein paar Seiten werden die Fragen schon expliziter:

Wie stehen Sie zur Aufnahme eines Kindes, über dessen Herkunft und/oder Geschichte wir nur wenig sagen können? Oder, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es eine sehr schwierige Herkunftsgeschichte gibt, das Kind z.B. aus einer Inzestbeziehung (Vater- Tochter) stammt?

Können Sie sich die Aufnahme eines verhaltensgestörten oder verhaltensauffälligen Kindes vorstellen, das aufgrund seiner bisherigen Entwicklung mit Verhaltensauffälligkeiten wie z.B. Einnässen, Einkoten, Aggressionen, Lügen oder Stehlen reagiert?

Können Sie sich die Aufnahme eines misshandelten oder sexuell missbrauchten Kindes vorstellen?

Ich hatte alle schwerwiegenden Erkrankungen, Behinderungen und Vorbelastungen ausgeschlossen. Von jungen Eltern aus meinem Bekanntenkreis wusste ich schließlich, dass bereits das Leben mit einem physisch wie psychisch gesunden Kind herausfordernd genug sein kann. Bei der gemeinsamen Auswertung des Fragebogens wies Frau Seydel mich darauf hin, dass es nicht viele zu vermittelnde Kinder mit geringen Vorbelastungen gebe — ich müsste mit einer längeren Wartezeit rechnen. Außerdem hätten alle Pflegekinder traumatische Erfahrungen gemacht, brächten ihre Themen mit. Nach dem Treffen mit Leyla zweifle ich jedoch daran, ob das Jugendamt und ich dasselbe unter einer »geringen Vorbelastung« verstehen.

Mitten in meine Zweifel platzt das nächste Vermittlungsangebot. Eine knappe Woche nach dem Treffen mit Leyla ruft Frau Seydel bei mir an. Dieses Mal soll ich als Erstes nicht das Kind — einen zweijährigen Jungen namens Noah —, sondern seine Mutter kennenlernen. Die leiblichen Eltern spielen im Konstrukt Pflegefamilie auch noch eine Rolle, wenn ihr Kind nicht mehr bei ihnen lebt. Meistens in Form von regelmäßigen Besuchskontakten. Viele »Herkunftseltern« behalten sogar das Sorgerecht für ihr Kind und stellen den Pflegeeltern eine Vollmacht für die »Angelegenheiten des täglichen Lebens« aus. Alles, was darüber hinausgeht (z.B. schwerwiegende Operationen, religiöse Belange), kann nur von ihnen entschieden werden.

Um herauszufinden, ob ich mir eine solch langfristige »Zusammenarbeit« mit Noahs Mutter vorstellen kann, treffe ich mich wenige Tage später mit Frau Seydel vor einem Verwaltungsgebäude, in dem sich auch das Jugendamt befindet. Durch ein Labyrinth aus engen Fluren gehen wir zum Büro von Frau Müller, der für mich zuständigen Mitarbeiterin des Pflegekinderdienstes beim Jugendamt. Bisher hatte ich ausschließlich mit Frau Seydel zu tun, die jedoch nicht beim Jugendamt, sondern bei einer Familienberatungsstelle arbeitet. Das Amt in meinem Bezirk hat gewisse Aufgaben an diese Familienberatungsstelle abgegeben. Darunter fallen beispielsweise die Überprüfung angehender Pflegeeltern, die Vermittlung von Kindern, die Betreuung der Pflegefamilien. Frau Seydel und ihre Kolleg*innen üben dabei eine rein beratende Funktion aus — alle Entscheidungen werden letztlich vom Jugendamt getroffen.

Obwohl das Fenster weit offensteht, ist es in Frau Müllers kleinem Büro stickig und überheizt. Die Möbel könnten mal erneuert, die Wände gestrichen werden. Nur die durchgesessenen Kunstlederstühle, die sie uns anbietet, strahlen so etwas wie Gemütlichkeit aus. Frau Seydel und ich nehmen Platz und schon klopft es an der Tür. Eine junge Frau betritt den Raum. Pink gefärbte Haare, Nasen-Piercing, eingefallene Wangen. »Hallo«, murmelt sie, ohne jemanden anzuschauen, setzt sich dann auf den letzten freien Stuhl.

»Ja … Wie wollen wir anfangen? Vielleicht erzählen Sie kurz von sich?« Frau Müller schaut fragend in meine Richtung.

»So viel gibt es da gar nicht zu erzählen. Eigentlich führe ich ein ziemlich langweiliges Leben. Ich bin Journalist, schreibe für ein Nachrichtenportal. In meiner Freizeit gehe ich spazieren oder treffe Freunde. Bis vor Kurzem hatte ich eine Katze, aber die wurde vom Hausmeister überfahren. Eigentlich hätte ich gerne wieder eine. Aber ich warte damit lieber, bis der Hausmeister gewechselt hat. Rückwärts ausparken ist einfach nicht seine Stärke.«

Frau Seydel, Noahs Mutter, Frau Müller — alle müssen lachen. Ich bin froh, dass sich die verkrampfte Gesprächssituation aufzulockern beginnt. Nun stellt Frau Müller eine Frage, auf die mich Frau Seydel bereits vorbereitet hat.

»Es ist ja etwas ungewöhnlich, dass alleinstehende Männer ein Kind aufnehmen wollen. Können Sie uns vielleicht sagen, was Ihr Beweggrund ist?«

Ich erzähle den drei Frauen, dass ich keine eigenen Kinder bekommen kann und meine letzte Beziehung deshalb in die Brüche gegangen ist. »Mir geht es nicht darum, ein eigenes Kind haben zu müssen. Ich mag Kinder einfach, möchte gerne Erziehungsverantwortung übernehmen. Und ich bin nicht mehr der Jüngste. Wenn ich jetzt erst mal auf die richtige Frau warte, gehen sicher noch mal fünf bis zehn Jahre ins Land. Dann bin ich über vierzig, habe vielleicht weniger Energie … Ich denke, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um ein Kind aufzunehmen.«

»Und können Sie etwas von sich und Noah erzählen?« Frau Müllers Blick ruht jetzt auf Noahs Mutter.

Die junge Frau schluckt. Während sie mit leiser Stimme spricht, starrt sie auf die Tischplatte.

»Ich bin Hanna. Vor zwei Wochen bin ich zwanzig geworden. Nee, vor dreieinhalb jetzt schon.«

Sie stockt, schaut zu Frau Müller.

»Und Noah? Wie würden Sie Noah beschreiben?«

Hanna steigen Tränen in die Augen. Schnell zieht Frau Müller eine Box mit Taschentüchern unter dem Tisch hervor, reicht sie ihr — weinen scheint in diesen Räumlichkeiten Routine zu sein.

»Er ist total lieb irgendwie. Kann noch nicht richtig sprechen, aber sagt immer schon ›bitte‹ und ›danke‹. Und wenn er sich über was freut, strahlen seine Augen ganz doll.« Hanna tupft sich vorsichtig die Augen trocken, um ihr Make-up nicht zu verschmieren. »Er ist auch sehr lustig, macht viel Quatsch. Ich muss immer viel lachen mit ihm.«

»Und warum haben Sie sich dazu entschieden, Noah in eine Pflegefamilie zu geben?«

Mir fällt ein, dass Frau Seydel am Telefon von Vernachlässigung sprach. Es sei auch nicht auszuschließen, dass Noah Gewalt erlebt habe. Sicher wisse man dies jedoch nicht.