Staatschef a.D. - Thomas Kunze - E-Book

Staatschef a.D. E-Book

Thomas Kunze

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Beschreibung

Im Oktober 1989 wurde Erich Honecker gestürzt. Drei Wochen später fiel die Mauer und mit ihr wenig später die DDR. Der einst mächtigste Mann des »ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden« erlebte einen tiefen Fall. Die folgenden Lebensjahre verbrachte er in einem Pfarrhaus, in Botschaften, Krankenhäusern und Gefängnissen. Schließlich suchte er Asyl in Moskau und Santiago de Chile, wo er 1994 auch starb.
Thomas Kunze schildert Erich Honeckers dramatischen Lebensweg zwischen Sturz und Tod, die Konflikte mit seinen früheren Weggefährten und die Auseinandersetzungen mit der bundesdeutschen Justiz. Es entsteht ein lebendiges Bild der stürmischen Jahre des Umbruchs nach der friedlichen Revolution.

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Seitenzahl: 324

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Thomas Kunze

Staatschef a. D.

Thomas Kunze

Staatschef a.D.

Die letzten Jahre des Erich Honecker

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 2. Druck-Auflage von August 2012)

© Christoph Links Verlag GmbH, 2001

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos, das Margot und Erich Honecker bei einem Spaziergang auf dem Gelände der chilenischen Botschaft in Moskau am 17. April 1992 zeigt (dpa/Picture Alliance/698367)

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Inhalt

Vorwort

Prolog

»Ein schändliches Spiel!«

Das Ende einer Karriere – Erich Honeckers letzte Arbeitstage (Oktober 1989)

Das Politbüro als Verschwörerrunde

Die Tage und Stunden zuvor

Die entscheidende Sitzung

Eine kommunistische Musterkarriere

Nach der Politbürositzung

Rückblicke: Vorboten des Sturzes

Die 9. ZK-Tagung

Der Fluch des Pharao?

Ein Abschied für immer

Erinnerungen an das Jahr 1971

Die »Wende«

Die Demonstrationen gehen weiter

Honecker offiziell außer Amt und Würden

Vom Volk getrieben

Der Rücktritt von Margot Honecker

Die alte Garde gibt auf

Honeckers Staat zerfällt

Honeckers Haltung zum Mauerfall

»Ich besaß ein Konto auf der Stadtsparkasse.«

Der alte Mann in Wandlitz – Kriminelle Machenschaften und verlorene Freunde (Oktober 1989 – Januar 1990)

Die Revolution tritt in ihre zweite Phase

Wandlitz und kein Ende

Honecker wird einsam

Umzugsgedanken

Parteiverfahren und Parteiausschluß

Ermittlungen gegen Honecker

Hausdurchsuchung bei Honecker

»Kübel von Schmutz«

»Ich bitte darum, die Vernehmung zu beenden. Mein Blutdruck steigt.«

Nierenkrebs und Hochverrat – Ein kranker Honecker und ein Staatsanwalt auf Jagd (Januar 1990)

Jahreswechsel

In der Charitß

DDR-Justiz contra Honecker

In Rummelsburg

»Unsere sozialistische Gesellschaft bietet jedem Bürger, unabhängig von … religiösem Bekenntnis, Sicherheit und Geborgenheit.«

Kirchenasyl für einen Kommunisten – Der obdachlose Honecker und sein geistlicher Beistand (Februar – April 1990)

Ehemaliger SED-Chef unter dem Dach der Kirche

Leben im Pfarrhaus

Alte Freunde und altes Denken

Honeckers Familie

Neue Vorwürfe

Die Wahl am 18. März

»Honecker muß weg, wir wollen keinen Dreck!«

»Wir stehen im Durchschnitt zwischen sieben und halb acht auf.«

Sowjetisches Militärasyl für einen Feind der Perestroika – Der gejagte Honecker und seine alten Waffenbrüder (April 1990 – März 1991)

Die Sowjets greifen ein

Lebensumstände in Beelitz

Ein Wiedersehen der besonderen Art

Aufkeimende Hoffnungen

Ministerbesuch

Die RAF und die DDR

Der Schießbefehl

Die Erweiterung des Ermittlungsverfahrens

Wiedervereinigung mit Folgen

Strafverfolgung unter neuem Vorzeichen

Der Haftbefehl

Honeckers antifaschistische Vergangenheit auf dem Prüfstand

Das große Interview

Flucht nach Moskau

»Ich war im Land meiner Träume.«

Zuflucht ins Moskauer Chaos – Der ungeliebte Gast und das Ende der Sowjetunion (März 1991 – Juli 1992)

Gespielte Empörung und ehrliche Wut

Ankunft in Moskau

»Es ist mir egal, ob Honecker in Feuerland oder in Moskau ist!«

Honecker in deutschen Wohnstuben

Ein Putsch mit Folgen

Asylland Chile?

Honeckers letzte Rettungsversuche

Die Ausweisung

Der letzte Botschaftsflüchtling aus der DDR

KPD mit Honecker-Profil

Eine neue Diagnose

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«

Untersuchungshäftling Honecker – Ein 80jähriger vor Gericht (Juli 1992 – Januar 1993)

Ein Medienstar landet

Erste Reaktionen

Die Verkündung des Haftbefehls

Über Sinn und Unsinn der Anklage

Solidaritätskomitee Honecker

80. Geburtstag, Weinbrandbohnen und viel Post

Öffentliches Sterben

Die ersten Verhandlungstage

Honeckers großer Auftritt

»Der öffentliche Leberkrebs«

Peinlichkeiten

Prozeßende

»Für die ›Trotz alledem‹-Grüße … möchte ich herzlich danken.«

Honecker auf dem Abstellgleis – Der Lebensabend in Chile (Januar 1993 – Mai 1994)

Auf dem Weg nach Südamerika

Ankunft in der Sonne

Die deutsche Justiz gibt nicht auf

Die Krankheit schreitet fort

Moabiter Notizen aus Chile

Das Ende

Weder Neunkirchen noch Berlin

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Abbildungsnachweis

Bibliographie

Personenregister

Zum Autor

Vorwort

Ich bekomme Post aus Santiago de Chile. Margot Honecker wünscht mir für mein Vorhaben, ein Buch über die letzten Lebensjahre ihres Mannes zu schreiben, »gutes Gelingen«. »Sie wissen ja am besten als Historiker, wie schwer es ist, mit nur geringe(m) historischen Abstand, zu objektiven Schilderungen oder gar Wertungen zu kommen«, ergänzt sie. Zu einem Gespräch ist sie leider nicht bereit. Margot Honecker hat eigene Pläne. Wenige Wochen später erscheint ihr Interviewband mit Luis Corvalán, dem früheren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles.

Die Unterstützung von Margot Honecker wäre mir wichtig gewesen. Schließlich verbrachte sie die Zeit nach dem Sturz von Erich Honekker mit Ausnahme eines halben Jahres beinahe täglich an dessen Seite. Nach der Lektüre ihres Buches war ich ernüchtert. Margot Honecker wollte nach eigenem Bekunden »einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, historische Wahrheiten gerade jetzt in Erinnerung zu rufen«. Aber die »Wahrheiten«, die sie verkündet, sind oft nur Stereotype aus der Zeit des Klassenkampfes. Ihr Interviewband erinnert in vielen Passagen an Honeckers »politisches Testament«, die »Moabiter Notizen« aus dem Jahre 1994. Kein Wunder – schließlich war sie wesentlich am Entstehen dieses Buches beteiligt. Margot Honecker sagt in dem Interview nichts Neues. Meine Absicht, die letzten Lebensjahre des einstigen Staats- und Parteichefs der DDR auch ohne ihre Hilfe sachlich und unvoreingenommen zu schildern, wurde bestätigt. Methodisch bediente ich mich des Handwerkszeugs des Historikers und Journalisten. Ich recherchierte in Archiven, befragte Zeitzeugen und wertete die Presse, Memoirenliteratur sowie wissenschaftliche Publikationen aus.

Zum einen möchte ich die Lebensgeschichte Honeckers nach 1989 als zusammenfassende Chronik der Ereignisse schreiben und damit einen Beitrag für eine Honecker-Biographie leisten. Zum anderen will ich darstellen, welche Wirkungsmechanismen sich entfalten, wenn Macht von einem Tage zum anderen verlorengeht und nahezu offen auf der Straße liegt.

Die DDR zerfiel 1989 trotz der Mauer, die Honecker um sie gebaut hatte. Ihr einstiger Staatschef erlebte nach seinem Sturz einen nicht enden wollenden Fall. Die meisten seiner Freunde und Genossen wandten sich von ihm ab. Erich Honecker zog, vom »Volkszorn« getrieben, mehr oder weniger obdachlos, umher. Krank und verfolgt verbrachte er seine letzten Lebensjahre in Krankenhäusern, Gefängnissen oder in einem Pfarrhaus. Honecker suchte Asyl im Ausland, aber Deutschland ließ ihn nicht los. Immer wieder meldete er sich zu Wort, obwohl immer weniger ihn hören wollten. Die Geschichte seiner Flucht gleicht einer Odyssee. Der Flüchtling ist ein alter, weißhaariger Mann, der aussieht wie der liebenswerte Opa von nebenan. Der Umgang mit ihm erscheint gefühllos. Doch Erich Honecker war vor allem moralisch und politisch der Hauptverantwortliche für ein System, das Menschen entmündigt und eingesperrt hat und dessen Repressionsorgane über 40 Jahre den Freiheitsdrang seiner Bürger mit vielen Mitteln, die einer Diktatur, gleich, welcher Prägung, zur Verfügung stehen, unterdrückte. In jenem Spannungsfeld bewegte ich mich bei meiner Recherche.

Ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich für die freundliche Kooperation des Bundesarchivs »Stiftung der Parteien und Massenorganisationen der DDR« bedanken. Ebenso war mir die Unterstützung von Karin Göpel (Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik) eine wertvolle Hilfe. Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz vom Kriminalgericht Berlin-Moabit war so freundlich, mir nicht nur seine Sicht auf den 1992er Prozeß gegen Erich Honecker zu erläutern, sondern stand mir außerdem unbürokratisch bei der Einsichtnahme in die Gerichtsakten zur Seite. Zeitungsdurchsichten wurden mir dank der Mithilfe von Dr. Anita Kecke und Dr. Claus Baumgart (beide »Leipziger Volkszeitung«) erleichtert. Dr. Ursula Ueberschär half mir bei vielen Recherchen. Der Historiker Gerd-Rüdiger Stephan, ein ausgewiesener Fachmann für die Geschichte der »Wende« in der DDR, stellte mir freundlicherweise sein »Adreßbuch« zur Verfügung und erleichterte mir damit die Kontaktaufnahme zu einigen Zeitzeugen.

Bei der Arbeit an diesem Buch bin ich jedoch auch auf zahlreiche Widerstände gestoßen. Die Wirkung der ehemaligen Staatspartei SED ist auch viele Jahre nach »Wende« noch spürbar. Viele der »führenden Genossen« von damals wollen nicht an die eigene Vergangenheit erinnert werden. Andere wiederum schämen sich heute dafür, ihren einstigen Generalsekretär verraten zu haben, nachdem sie ihn nicht mehr für ihr eigenes Fortkommen benötigten. Und es gibt nicht wenige, die heute noch der DDR nachtrauern und deshalb an einem unparteiischen Aufarbeiten der Geschichte kein Interesse haben.

Um so dankbarer war ich für die Bereitschaft von ehemaligen hochrangigen SED-Funktionären, die meine Fragen offen beantworteten oder mir bei der Vermittlung weiterer Kontakte behilflich waren. Ich darf an dieser Stelle stellvertretend den letzten Generalsekretär des ZK der SED, Egon Krenz, das ehemalige Politbüromitglied Günter Schabowski, den früheren Leiter des Büros des Politbüros, Edwin Schwertner, den damaligen Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, Dr. Gerhard Schürer (†), den einstigen Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED, Dr. Wolfgang Herger, den letzten im Jahre 1989 gewählten Leipziger SED-Bezirkschef Dr. Roland Wötzel sowie den ehemaligen Sekretär des Nationalrates der Nationalen Front, Dr. Norbert Podewin, nennen.

Prof. Dr. med. Peter Althaus, der Honecker im Januar 1990 operierte, berichtete mir über diese Tage. Honeckers Rechtsanwalt Dr. Friedrich Wolff schilderte mir seine Sicht der Ereignisse. Honeckers Tochter Erika Wildau war mir mit einigen Informationen behilflich und außerdem so freundlich, Teile des Buchmanuskriptes gegenzulesen. Der Liedermacher Reinhold Andert, der Honecker im Frühjahr 1990 interviewte, vermittelte mir wichtige Innenansichten. Mein Dank für ihre Kooperation gilt auch den Vertretern der ehemaligen Strafverfolgungsbehörden der DDR, dem früheren Vize-Generalstaatsanwalt Prof. Dr. Lothar Reuter, dem damaligen Leiter der Abteilung Wirtschaftsstrafsachen beim Generalstaatsanwalt der DDR, Dr. Adolf Buske, sowie dem Kriminalisten Ralf Romahn.

Wichtig war auch, daß ich Hans Wauer (†) kennenlernte. Er war der stellvertretende Vorsitzende der 1990 in der DDR gegründeten KPD. Seit 1992 engagierte er sich im »Solidaritätskomitee Erich Honecker«. Unter den Bildern von Stalin und Kim Il Sung erzählte er mir von seinen Begegnungen mit Honecker. Hans Wauer stellte mir umfangreiches Schriftmaterial aus seinem Privatarchiv zur Verfügung.

Ich hatte außerdem die Gelegenheit, mit vielen politischen Akteuren sprechen zu können, die nach dem Oktober 1989 mittelbar oder unmittelbar mit Erich Honecker zu tun hatten. Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl stellte sich meinen Fragen genauso geduldig wie der Bundesminister a.D. Dr. Norbert Blüm sowie die letzten beiden Ministerpräsidenten der DDR, Dr. Hans Modrow und Lothar de Maizière. Dem ehemaligen Konsistorialpräsidenten der evangelischen Kirche und heutigen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe danke ich für seine Kontaktvermittlungen zu Kirchenvertretern. Die Auskünfte von Oberkirchenrat a.D. Martin Ziegler, einem der ehemaligen »Moderatoren« am »Zentralen Runden Tisch« der DDR, flossen in meine Arbeit ebenso ein wie die Informationen von Pastor Uwe Holmer, der Honecker 1990 in seinem Pfarrhaus Asyl gewährte. Der letzte Innenminister der DDR, Dr. Peter-Michael Diestel, traf Erich Honecker im Sommer 1990 zweimal im sowjetischen Militärhospital Beelitz. Er berichtete mir ausführlich über seine Eindrücke. Mit Michail Gorbatschow, seinen Beratern Georgi Schachnasarow (†), Karen Karagesian und Anatoli Tschernajew sowie mit Wladislaw Terechow, dem letzten sowjetischen Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, konnte ich über die Zeit sprechen, die Honecker nach 1989 unter sowjetischer Obhut verbrachte. Mit Abdallah Frangi, dem Leiter der Generaldelegation Palästinas in der Bundesrepublik Deutschland, und Abdallah Hijazi, dem früheren Kulturattaché der Botschaft Palästinas in der DDR, unterhielt ich mich über die Unterstützung, die Honecker noch nach seinem Sturz seitens der PLO erhielt.

Wo nötig, wird aus bestimmten Gesprächen zitiert, ohne Interviews jedoch vollständig wiederzugeben.

Ich freue mich, daß diese Biographie in neuer Auflage erscheint.

Dr. Thomas Kunze, 2012

Prolog

»30. Mai 1994/Berlin/Neues Deutschland:

Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik teilen tiefbewegt mit, daß der hervorragende Funktionär der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung, das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, unser Genosse Erich Honecker, für immer die Augen geschlossen hat. Wir trauern um einen Genossen, der sich als hervorragender Kommunist, als glühender Patriot, kämpferischer Internationalist und hochgeschätzter Staatsmann unermüdlich und mit ganzer Kraft für das Wohl und das Glück des Volkes unserer Deutschen Demokratischen Republik eingesetzt hat. Die großartigen Leistungen des Genossen Erich Honecker für unsere edlen sozialistischen Ziele, seine Treue zur Partei der Arbeiterklasse und zum Sozialismus und seine revolutionäre Gesinnung werden der ganzen Partei und dem Volke der Deutschen Demokratischen Republik unvergessen bleiben. Es wird Staatstrauer angeordnet.«

So oder ähnlich hätte die Parteizeitung, das Zentralorgan der SED »Neues Deutschland«, wohl über den am 29. Mai 1994 verstorbenen Erich Honecker berichtet, wenn im Herbst 1989 nicht Hunderttausende Demonstranten überall in der DDR dem sozialistischen Experiment auf deutschem Boden ein Ende bereitet hätten.

Der schon geplante XII. Parteitag der SED sollte den 77jährigen Erich Honecker im Frühjahr 1990 erneut zum Generalsekretär der SED wählen. Das belegen die Aussagen hochrangiger ehemaliger Parteifunktionäre. Dieses Amt hätte Honecker aufgrund seiner fortschreitenden Krebserkrankung sicher nicht bis zu seinem Tode ausgeübt, doch den Staatsratsvorsitz hätte man ihm möglicherweise belassen, so wie ehedem Walter Ulbricht.

Erich Honecker stirbt am 29. Mai 1994 nicht in Berlin, sondern in Santiago de Chile. Die DDR existiert nicht mehr. Das nun als »sozialistische Tageszeitung« erscheinende »Neue Deutschland« meldet in dürren Zeilen: »Der ehemalige DDR-Staatschef, Erich Honecker, ist am Sonntag in Santiago de Chile seinem schweren Krebsleiden erlegen.«1

Einst hatte Erich Honecker den DDR-Personalausweis mit der Nummer A 000 000 1. Zum Zeitpunkt seines Todes besaß er einen bundesdeutschen Reisepaß mit einem Touristenvisum für Chile. Honecker fand aus der Sicht vieler ehemaliger DDR-Bürger ein tragisches, aber gerechtes Ende. Der Mann, dessen Politik immer mehr DDR-Bürger dazu trieb, ihrem Land den Rücken zu kehren, war die letzten Jahre seines Lebens selbst auf der Flucht. Diese Flucht begann am Tag seines Sturzes.

»Ein schändliches Spiel!«

Das Ende einer Karriere – Erich Honeckers letzte Arbeitstage (Oktober 1989)

Das Politbüro als Verschwörerrunde

17. Oktober 1989, 10 Uhr, Haus des Zentralkomitees der SED, Ostberlin. Nur Verteidigungsminister Heinz Keßler fehlt, er ist auf Dienstreise in der Karibik. Alle anderen Mitglieder und Kandidaten des 26 Personen umfassenden SED-Politbüros sind versammelt: Willi Stoph, Egon Krenz, Günter Mittag, Hermann Axen, Joachim Herrmann, Erich Mielke, Werner Eberlein, Kurt Hager etc. Auf den ersten Blick unterscheidet diesen Dienstag nichts von den sonstigen Sitzungstagen des obersten Machtgremiums der DDR. Aber nur auf den ersten Blick, denn die Atmosphäre im Saal ist aufs höchste angespannt. Die versammelte Runde plant nichts Geringeres als den Sturz ihres Chefs. Erich Honecker, der Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Vorsitzender des Staatsrates sowie des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik, soll abgesetzt werden.

Die Hauptdrahtzieher des geplanten Coups sind Egon Krenz, Honeckers Kronprinz, Siegfried Lorenz, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, und Günter Schabowski, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Auch Gerhard Schürer, der Vorsitzende der DDR-Planungskommission, und Harry Tisch, der Chef des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, gehören zu den Verschwörern. Die fünf haben sich der Unterstützung anderer Politbüromitglieder versichert, und noch am vorangegangenen Nachmittag hat sich Tisch in Moskau bei Gorbatschow »grünes Licht« geben lassen. Der Kreml-Chef wünschte »viel Erfolg bei (dem) Vorhaben«2. Dennoch ist man sich des Gelingens der Sache nicht sicher. Wer von den anwesenden Genossen wird schließlich doch für Honecker Partei ergreifen?

Gerhard Schürer hat einen handgeschriebenen Zettel vor sich liegen. Darauf steht unter der Überschrift »Plan und Ablauf«: »Generalsekretär E. H. offensichtlich nicht mehr in der Lage, Führung auszuüben, Gefahr der Spaltung.«3 Außerdem hat sich Schürer notiert, mit wessen Stimme für Honeckers Absetzung fest gerechnet werden kann. Neben ihm selbst sind das Harry Tisch, Kurt Hager und Alfred Neumann. Selbstverständlich gehören auch Krenz, Schabowski und Lorenz dazu, obwohl er das nicht gesondert vermerkt hat. Als »eventuell schwankend« schätzt der DDR-Planungschef seinen Kollegen Horst Dohlus sowie die beiden »Quotenfrauen« des Politbüros, Inge Lange und Margarete Müller, ein. Gleichfalls unsicher ist sich Schürer bei dem heute ohnehin abwesenden Heinz Keßler und bei Erich Mielke: »Keßler und Mielke muß Egon klären«, heißt es in seinem konspirativen Plan. Als »eventuell gegen uns« betrachtet Schürer den DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph, den Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann, den Chef der SED-Parteikontrollkommission und Vorsitzenden der SED-Fraktion in der Volkskammer, Erich Mückenberger, den Außenpolitiker Hermann Axen wie auch die Politbüromitglieder Günter Mittag und Joachim Herrmann, die als enge Vertraute Honeckers gelten. Im Ergebnis stellt Gerhard Schürer fest: »11 sicher, 3 gegen, 5 schwankend … Mittag (und) Herrmann müssen so früh als möglich weg.«4

Die Tage und Stunden zuvor

Doch taufrisch ist dieser Plan nicht mehr. »Zwei Formulierungen lassen darauf schließen, daß (er) nicht unmittelbar vor jenem Dienstag niedergeschrieben wurde«,5 sagt Günter Schabowski. Egon Krenz hat nämlich mittlerweile seine Hausaufgaben gemacht und den gefürchteten Erich Mielke eingeweiht. Und, wie sich gleich zeigen wird, auch Willi Stoph. Krenz hatte am Wochenende mit ihm gesprochen. Stoph ist sogar bereit, die Rolle des Brutus zu übernehmen und auf der heutigen Sitzung persönlich die Absetzung Erich Honeckers zu fordern.

Zwei Abende vorher hatten sich die Hauptverschwörer in ihrer Funktionärs-Wohnsiedlung Wandlitz getroffen. In der Dämmerung waren Schabowski und Krenz in Trainingsanzügen und auf Nebenwegen zum Haus von Harry Tisch geschlichen. Sie hatten Angst, daß Honecker ihnen unverhofft über den Weg laufen könnte. »Das wäre nicht sehr angenehm gewesen«, erinnert sich Günter Schabowski. »Vielleicht hätte ihn eine solche Begegnung zu einer Kurzschlußhandlung veranlaßt, weil es nicht üblich war, daß Krenz und Schabowski gemeinsam durch die Wälder trabten.«6

Alle Unwägbarkeiten sollten so gut wie möglich ausgeschlossen werden. Der Ablauf der entscheidenden Sitzung ist beinahe general-stabsmäßig geplant. Ungefähr eine Hälfte der Politbüromitglieder weiß von dem Vorhaben, die andere ahnt wohl, was heute passieren soll. Der Siedepunkt ist erreicht.

Staatssicherheitsminister Erich Mielke telefoniert kurz vor der Sitzung noch mit dem im ZK für Sicherheitsfragen zuständigen Wolfgang Herger, einem Vertrauten von Egon Krenz, und fordert ihn auf, sich mit ein paar zuverlässigen Mitarbeitern während der Politbürositzung vor dem Beratungsraum aufzuhalten. Herger ist an der Vorbereitung des Sturzes beteiligt. Er gilt in Parteikreisen »als einer der Klügsten dort oben«7. Egon Krenz beordert seinerseits den amtierenden Verteidigungsminister, Generaloberst Fritz Streletz, ins ZK-Gebäude. Man hat Angst vor Honeckers Widerstand. In kommunistischen Parteien gibt es kein schlimmeres Verbrechen als Fraktionsbildung. »Du konntest eher Sodomie betreiben, als daß du versucht hättest, eine Fraktion hochzuziehen«,8 meint Günter Schabowski. Ein gescheiterter Umsturzversuch könnte für die Verschwörer existenzbedrohend sein. Und so ist es nur verständlich, daß sich einige der Politbüromitglieder davor fürchten, Honecker könne sie mit Hilfe seines Personenschutzes verhaften lassen.

Die entscheidende Sitzung

10.05 Uhr. Die Anwesenden werden unruhig. Erich Honecker legt stets Wert auf Pünktlichkeit, und die Sitzung hätte schon vor fünf Minuten beginnen sollen. Wo bleibt der Generalsekretär? Was ist passiert? Warum kommt er nicht? Die Politbüromitglieder sprechen leise miteinander, immer wieder richten sich die Blicke zur Tür. Endlich, zehn Minuten nach zehn, geht sie auf, und Erich Honecker betritt den Saal. Er scheint gutgelaunt zu sein. Wie gewohnt, gibt er jedem die Hand und bedauert die Verspätung: »Entschuldigt, Genossen, Hans Modrow hat gerade angerufen. Er will auf mich zukommen. Wir wollen miteinander reden.«9 Egon Krenz erschrickt. Warum ruft gerade jetzt der Dresdner SED-Chef Modrow bei Honecker an? Er ist eine der wenigen Personen außerhalb des Politbüros, die wissen, was heute passieren soll. In der Öffentlichkeit eilt Modrow der Ruf eines Reformers voraus. Unter den hohen SED-Funktionären macht er in den letzten angespannten Monaten die beste Figur. Modrow gilt als Sympathieträger. Die Westmedien haben ihn dazu gemacht, und der sowjetische Geheimdienst KGB war, nach Überzeugung von Günter Schabowski, dabei nicht untätig. Doch weder Egon Krenz noch seine Mitverschwörer haben Zeit, über das mysteriöse Telefonat nachzudenken. Sie sind hochkonzentriert und richten ihre Aufmerksamkeit auf das, was gleich passieren soll.

Erich Honecker setzt sich an seinen angestammten Platz am Kopfende des Beratungstisches und eröffnet die Tagung. Zunächst verliest Edwin Schwertner, der Leiter des Büros des Politbüros, das Beschlußprotokoll der vorangegangenen Sitzung. Es ist das letzte Politbüroprotokoll der Honecker-Ära, das ins Archiv gelangt.10 Auf Honeckers heutigem Plan steht nichts wirklich Wichtiges. Nicht einmal die vor fünf Tagen durchgeführte Beratung mit den SED-Bezirkssekretären, bei der deutliche Worte gegen seine Politik fielen, will er auswerten. Und das, obwohl Hunderttausende Demonstranten in der DDR seit Wochen politische Veränderungen von ihrer Führung einfordern und Zehntausende das Land bereits verlassen haben. Honecker selbst hatte erst am gestrigen Abend im Büro von Innenminister Friedrich Dickel die eingehenden Lageberichte aus Leipzig zur Kenntnis genommen. Die Stadt war hermetisch abgeriegelt, als sich gegen 17 Uhr, nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche, wie schon so viele Montage zuvor ein Demonstrationszug um den Leipziger Ring in Bewegung setzte. Diesmal hatten sich trotz der bestehenden Angst vor einer »chinesischen Lösung«11 über 150 000 Menschen an dem Protest beteiligt. So viele waren es noch nie gewesen.

Aber jetzt endlich stellt Honecker die Frage, auf die man im Sitzungssaal gewartet hat: »Gibt es noch Vorschläge zur Tagesordnung?«12 Er schaut in die Runde. Der entscheidende Moment ist gekommen. Willi Stoph meldet sich zu Wort. »Erich, gestatte.« Honecker erwidert überrascht: »Ja.« In seinem üblichen, etwas leiernden Tonfall läßt Stoph nun die Bombe platzen: »Ich schlage vor: Erster Punkt der Tagesordnung, Entbindung des Genossen Erich Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär und Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär.«

Einen Augenblick lang herrscht in dem Raum Grabesstille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Stoph redet weiter. Er begründet seinen ungeheuerlich anmutenden Vorstoß mit der außerordentlich schweren Lage in der Republik, die mit Honeckers Amtsführung zusammenhänge. Er erwähnt auch den angeschlagenen Gesundheitszustand des Generalsekretärs, der diesem eine Veränderung des Arbeitsstils und das Einschlagen neuer Wege erschwerte.13

Erich Honecker reagiert mit steinernem Gesicht und mit eisigem Schweigen auf Stophs Vortrag. Beide verbindet eine lange gemeinsame Wegstrecke. Hatte er Stoph nicht im Jahre 1976 den Posten des Vorsitzenden des Ministerrates verschafft und sich damit Horst Sindermann, der dieses Amt bis dahin innehatte, zu seinem Feind gemacht? Hatte er nicht Stoph, den wegen seines »sauertöpfischen Ausdrucks«14, seines unfreundlichen Wesens und seiner Eigenbrötelei15 keiner so richtig mochte, immer wieder in Schutz genommen? Und jetzt fällt ihm dieser Mann in den Rücken? Darüber ist Honecker augenscheinlich tief betroffen. Für ihn ist das Ganze »ein schändliches Spiel«16. Doch er gewinnt rasch wieder die Kontrolle über seine Gefühle, und auch später gibt er nicht zu, wie sehr ihn Stophs Attacke verletzt hat: »Ich war selbstverständlich sehr überrascht von diesem Antrag Willi Stophs, habe mich aber, wie so oft in meinem Leben, sehr rasch gefaßt«,17 wiegelt er ab. In der Tat zeigt sich Honecker wenige Sekunden nach dem Vorschlag wieder als taktierender Machtmensch. Er will nicht klein beigeben. »Na bitte«, sagt er, »diskutieren wir darüber!«18

Die Fäden dieser Diskussion will Honecker selbst in der Hand behalten. Zuerst sollen die Politbüromitglieder sprechen, deren Unterstützung er sich sicher ist. Ein geschickter Schachzug, der dazu führen könnte, der Palastrevolte den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch was nun folgt, kommt für Honecker einem Desaster gleich. Gleichgültig, wem er das Wort erteilt, es gibt in der Runde nicht einen einzigen, der sich gegen Stophs Vorschlag stellt. Selbst der ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag, der als Honeckers engster Vertrauter gilt, spricht sich für dessen Ablösung aus. Sie sei schon lange fällig gewesen, läßt er kurz und stammelnd wissen. Dabei gibt sich der Aufseher über 224 Kombinate und 3 526 Industriebetriebe sehr besorgt. Das verlorengegangene Vertrauen in die Partei müsse wiedergewonnen werden, doziert er.19

Ein weiterer Spitzenfunktionär, den Honecker als einen sicheren Trumpf wähnt, fällt ihm gleichfalls in den Rücken – Pressezensor Joachim Herrmann. Ihm unterstehen die Nachrichtenagentur ADN, Rundfunk, Fernsehen sowie alle in der DDR erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften. Eigentlich gilt er als williges »Sprachrohr Honeckers«20. Heute aber findet Herrmann keine unterstützenden Worte für den Generalsekretär, den dessen Beitrag »sehr überrascht«21.

Äußerlich regungslos hört sich Honecker nun eine aggressive Rede von Landwirtschaftssekretär Werner Krolikowski an. Dieser läßt »einen wütenden, mit Injurien gespickten Beitrag los, der verblüffte, weil der Mann bis dato als ein absolut angepaßter Mensch galt, selbst in Fragen, bei denen es nicht unbedingt nötig war, Ergebenheit zu demonstrieren«22.

Dann meldet sich der für Propagandafragen zuständige Kurt Hager zu Wort, der im In- wie Ausland durch seinen »Tapetenvergleich«23 zu ungewollter Berühmtheit gelangt war. Der oberste Kulturhüter der DDR wechselt nun doch die Tapete: »Unter Berufung auf die äußerst kritische Stimmung unter den Kulturschaffenden und den Vertrauensverlust, den die Parteiführung, insbesondere der Generalsekretär, erlitten hatte, unterstützte ich den Antrag Stophs … Eine andere Entscheidung war nicht möglich.«24

Erich Honecker zeigt während der Wortmeldungen nur ein einziges Mal seine starke innere Erregung. Das geschieht während des Redebeitrages des Mannes, mit dem ihn seit seinem Amtsantritt ein »besonderes Vertrauensverhältnis«25 verbindet: Erich Mielke. Der Minister für Staatssicherheit ergeht sich in Entrüstungstiraden gegen Honecker und empfindet den Vorschlag, ihn abzulösen, richtig. Die Lage, so Mielke, sei sehr ernst, denn schließlich gehe es um die Macht. An diesem Punkt reicht es Erich Honecker, und er gibt dem Staatssicherheitsminister zu verstehen, »er solle die Klappe nicht so weit aufreißen«26. Doch Mielke ist nicht zu bremsen und droht, er werde noch mal auspacken, da werden sich alle noch wundern.

Es gibt nur drei Personen aus dieser Dienstagsrunde, die Honecker später noch einigermaßen positiv erwähnt: Siegfried Lorenz, Inge Lange und Margarete Müller. Obwohl Lorenz zu den Initiatoren des Sturzes von Erich Honecker zählt, erinnert er zumindest an die gute Zusammenarbeit, die ihn mit dem Generalsekretär verband. Die beiden Frauen im Politbüro verlangen, daß Honecker mit Würde aus der Funktion scheide.

Über drei Stunden sind vergangen. Die Uhr zeigt 13.20. Während der Debatte unterbreitet Alfred Neumann unmittelbar nach den Redebeiträgen von Mittag und Herrmann den Vorschlag, auch diese ehemaligen Vertrauten Honeckers zu entlassen. Erich Honecker, der nur mühsam seinen Gemütszustand verbergen kann, ist sich mittlerweile darüber im klaren, daß er verloren hat. Sein Bericht über das nun Folgende hört sich so an: »Weitere Anträge gab es nicht. Zuerst habe ich darüber abstimmen lassen, wer dafür ist, … mich von meinen drei Funktionen zu entbinden, und ich bat um das Handzeichen. Daraufhin haben alle Mitglieder des Politbüros und alle Kandidaten27 zugestimmt. Ich selbst habe dem Beschluß ebenfalls durch die Hebung meiner Hand die Zustimmung gegeben. Dann fuhr ich fort und sagte: ›Wer dafür ist, Günter Mittag von seinen Funktionen zu entbinden, den bitte ich ebenfalls um das Handzeichen.‹ Da haben alle zugestimmt, und ich auch. Und das gleiche geschah bei Joachim Herrmann.«28

Erich Honecker ist ein geschlagener Mann. Niemand hat gegen seine Ablösung gestimmt. Offiziell ist er auch jetzt noch Generalsekretär der Partei, denn nur das Zentralkomitee29 kann ihn abberufen. Als Honecker soeben für seinen eigenen Sturz die Hand hob, ergänzte er, daß er nur zum Rücktritt bereit sei, wenn das ZK zustimme. Morgen soll es tagen.

Obwohl man Honecker ansieht, daß er kaum noch Kraft hat, spricht er noch einmal vor dem Politbüro, dem er 18 Jahre lang vorstand. Er spricht von »Genossen, von denen (er) das nie erwartet habe«30, und beschwört die Runde, die »Errungenschaften der DDR nicht an(zu) tasten«. Der Sozialismus darf nicht zur Disposition stehen, mahnt er. Doch als alter Klassenkämpfer sieht er den Verlauf der Ereignisse voraus. »In (der) Ungarischen Volksrepublik hat (der) erste Schritt auch nicht geholfen«,31 warnt er. Honecker hat recht. In Ungarn, der »fröhlichsten Baracke im Ostblock«32, war Honeckers langjähriger Amtskollege Janos Kádár bereits im Mai 1988 als Generalsekretär der USAP zurückgetreten.33 Sein Rücktritt läutete das Ende des dortigen »Gulasch-Kommunismus«34 ein. Am 10. September 1989 öffnete Ungarn schließlich als erstes Land den Eisernen Vorhang und beging damit nach Ansicht Honeckers »Verrat«35.

Und so ist sich Erich Honecker sicher: Durch seine Ablösung wird nichts beruhigt, denn »der Feind wird weiter heftig arbeiten«36. Am Schluß bemerkt er wörtlich: »Ich sage das hier nicht als geschlagener Mann, sondern als Genosse, der bei voller Gesundheit ist.«37 Dann erhebt er sich. Kalkweiß verläßt er den Raum. Die Tür schließt sich hinter ihm. Es ist 13.50 Uhr. Eine Ära ist zu Ende gegangen.

Eine kommunistische Musterkarriere

Erich Honecker wurde am 25. August 1912 als Sohn eines Bergmanns im saarländischen Wiebelskirchen geboren. Sein Vater meldete den Zehnjährigen in der Kommunistischen Kindergruppe an. Mit 14 Jahren trat Erich Honecker, der Dachdeckerlehrling war, dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) und mit 18 Jahren der KPD bei. Honecker galt als durchsetzungsfähig und – man wollte es später gar nicht mehr glauben – als guter Rhetoriker. Er erhielt erste Parteifunktionen. 1930/1931 besuchte Erich Honecker die Lenin-Schule in Moskau, eine stalinistische Kaderschmiede. Nach seiner Rückkehr leitete der 19jährige Jungfunktionär den saarländischen Verband des KJVD. Der nationalsozialistische Volksgerichtshof verurteilte ihn 1937 wegen illegaler Arbeit für die KPD zu zehn Jahren Zuchthaus, erst 1945 kam er aus dem Zuchthaus Brandenburg frei. Unmittelbar nach Kriegsende begann das »Spitzenprodukt des kommunistischen Nachwuchses«38 seine Musterkarriere. Er wurde Jugendsekretär des ZK der KPD und Vorsitzender des Zentralen Antifaschistischen Jugendausschusses, ein Jahr später, 1946, Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend (FDJ). 1950 wählte man ihn zum Kandidaten des Politbüros des ZK der SED. 1956 absolvierte er einen Lehrgang an der Moskauer Hochschule des ZK der KPdSU. Über eine weitergehende Ausbildung verfügte Erich Honecker nicht, ein Mangel, den er mit anderen kommunistischen Führern in der DDR sowie in ganz Osteuropa teilte. Er kompensierte fehlende Bildung mit unerschütterlicher kommunistischer Überzeugung, einem feinen Instinkt für die Macht und dem unbedingten Willen, die Karriereleiter zu erklimmen. Sein Aufstieg vollzog sich an der Seite von Walter Ulbricht. 1956 wurde Erich Honecker ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, 1958 Vollmitglied des Politbüros und 1960 Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates. Mit der logistischen Vorbereitung und Durchführung des Mauerbaus empfahl er sich im August 1961 für die Nachfolge Ulbrichts. Ende der 60er Jahre war seine Stellung in der Partei gefestigt genug, um zum Sprung auf den Thron anzusetzen. Honecker intrigierte mit Unterstützung Leonid Breschnews gegen Walter Ulbricht und erreichte 1971 dessen Entmachtung als Erster Sekretär des ZK der SED. Er wurde sein Nachfolger als SED-Chef, übernahm außerdem das Amt des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates und krönte 1976 seine politische Karriere durch die Wahl zum Staatsratsvorsitzenden und damit zum Staatsoberhaupt der DDR. Er vereinte jetzt die machtentscheidenden Staats- und Parteiämter der DDR in seiner Person.

Am Anfang der Ära Honecker stand eine liberalere Haltung der SED gegenüber Künstlern und Intellektuellen sowie eine verbesserte Sozialpolitik. Der VIII. SED-Parteitag markierte den Beginn dieser Politik. Gleichzeitig aber sollte die »führende Rolle« der SED im Zuge der »Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft«39 weiter ausgebaut werden. Das Ende der »Liberalisierung« kam bald. Die Kulturpolitik wurde seit 1976 wieder repressiver, die Wirtschaft stagnierte. Zu Beginn der 80er Jahre breitete sich Erstarrung auf ganzer Linie aus. Neben ökonomischen Schwierigkeiten mußte sich Honeckers Regime mit aufkommenden oppositionellen Strömungen aus den Reihen der evangelischen Kirche und der Friedensbewegung auseinandersetzen. Doch Erich Honecker gab sich unbeeindruckt von der wachsenden Opposition im Lande. In ihm wuchs die Überzeugung, für die DDR der bestmögliche Landesvater zu sein. Sein Realitätsverlust steigerte sich zunehmend. Bis Mitte der 80er Jahre war Honecker im Gegensatz zu seinem Vorgänger Walter Ulbricht stets darauf bedacht, die »Führungsrolle« der KPdSU nicht in Frage zu stellen und nationale Alleingänge zu vermeiden. Das änderte sich mit dem Machtantritt Michail Gorbatschows. Die sich in der Sowjetunion abzeichnenden neuen Entwicklungen widersprachen zutiefst den orthodox-kommunistischen Vorstellungen des SED-Chefs. In Gorbatschow sah Honecker eine ernste Gefahr für die Existenz des »real existierenden Sozialismus«. Nach den einsetzenden Reformen in Polen und Ungarn demonstrierte er daher seine Ablehnung des Perestroika-Kurses relativ offen. Damit nahm er den DDR-Bürgern jede Hoffnung auf innere Reformen und provozierte die »Abstimmung mit den Füßen«40. Dies beschwor auf der Basis einer profunden Wirtschaftskrise den revolutionären Herbst von 1989.

Nach der Politbürositzung

Als Honecker unmittelbar nach der Politbürositzung am 17. Oktober 1989 seine Diensträume im Haus des Zentralkomitees betritt, bemerkt seine langjährige Sekretärin Elli Kelm instinktiv, daß etwas passiert sein muß. Die Vorzimmerdame kennt ihn gut. Schon seit Honeckers Zeiten in der FDJ hat sie seine Termine koordiniert. Honecker wirkt am heutigen Dienstag anders als sonst. Seine Gesichtszüge sind wie versteinert. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, verschwindet er in seinem Arbeitszimmer.

Zu diesem Zeitpunkt mutmaßt Elli Kelm noch, daß ihr Chef auf der Politbürositzung in »das ungewohnte Wildwasser der Kritik«41 geraten sei. Auch die anderen fünf Genossen im Büro Honecker42 ahnen nichts. Erich Honecker beweist an diesem Nachmittag eine ungeheure Selbstdisziplin, die sich in der eigenen Nachbetrachtung so anhört: »Nun, ich ging zurück in mein Arbeitszimmer, habe die erforderlichen Aufräumungsarbeiten durchgeführt und alles zur Übergabe an meinen Nachfolger geordnet. Ich habe mit meiner Sekretärin gesprochen, mit meinen persönlichen Mitarbeitern … und habe mich von ihnen verabschiedet. Das heißt, ich war vollkommen gefaßt, als die Entscheidung gefallen war.«43

Doch es müßte wohl besser heißen, daß er sich vollkommen gefaßt gab. Honecker will Contenance bewahren, auch wenn ihn diese Anstrengung an den Rand der physischen Erschöpfung führt. Zunächst ruft er im Ministerium für Volksbildung an. Der Noch-SED-Chef informiert seine Frau, Volksbildungsministerin Margot Honecker, über das soeben Geschehene. »Es ist passiert«,44 sagt er. Dann räumt er seinen Schreibtisch auf. Das einzige Foto darauf nimmt er mit. Es ist ein Bild seines Enkelsohnes Roberto. Der Junge trägt auf der Aufnahme eine Budjonny-Mütze, die er ihm einmal von einer Auslandsreise mitgebracht hatte. Für Besucher war das Bild nicht sichtbar, man hätte schon um den Schreibtisch herumlaufen müssen, um es zu sehen. Auch einige Vorgänge bearbeitet Honecker noch. Einer Freundin, der Schriftstellerin Wera Küchenmeister, die an diesem Tag ihren 60. Geburtstag feiert, läßt er eine persönliche Widmung zukommen: »Als letzten Gruß.«45 Eine Information über die aktuelle Lage in der DDR von Horst Dohlus, dem für die SED-Kaderpolitik46 zuständigen Politbüromitglied, versieht er mit dem Vermerk: »Gen. E. Krenz, EH«47. Die meisten Unterschriftsmappen bleiben allerdings unerledigt liegen. Dann ruft er Krenz an und bittet ihn zu sich. Ahnt Honecker, daß sein politischer Ziehsohn zu den Hauptdrahtziehern des Komplotts gegen ihn gehört? Beide einigen sich jedenfalls in bewährter stalinistischer Tradition darauf, Honeckers Sturz als »Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen« darzustellen.48 »Du wirst verstehen, daß mich dies alles bewegt …«, sagt Honecker, »kannst Du mir eine kurze Erklärung vorbereiten, die ich auf dem ZK-Plenum abgeben kann?«49 Krenz verspricht es. Dann ändert Erich Honecker die Einladung an die Mitglieder des Zentralkomitees der SED. Ursprünglich sollte die nächste Tagung vom 15.–17. November 1989 stattfinden. Honecker wollte über die Aufgaben der Partei in Vorbereitung auf den für das Frühjahr 1990 geplanten XII. Parteitag der SED referieren sowie Thesen zur Gesellschaftsstrategie der SED für die 90er Jahre beraten. Der neue Text ist kurz und bündig und geht als Blitztelegramm an alle Mitglieder des ZK: »Werte Genossen! Die 9. Tagung des Zentralkomitees der SED ist auf Beschluß des Politbüros für Mittwoch, den 18. Oktober 1989, 14.00 Uhr im Hause des ZK einberufen. Tagesordnung: Zur politischen Lage. Mit sozialistischem Gruß E. Honecker.«50

Meistens findet man den Generalsekretär, der seinen Arbeitstag in der Regel um 8.30 Uhr beginnt, noch um 19 Uhr in seinem Büro. Heute will er früher nach Hause. Sichtbar gezeichnet von den Ereignissen des Tages läßt er seinen Chauffeur rufen. Im Konvoi geht es zurück in die Funktionärssiedlung Wandlitz. Als Erich Honecker am frühen Abend des 17. Oktober dort ankommt, hat er den schwärzesten Tag seines Lebens hinter sich. Margot Honecker ist zu Hause. Unmittelbar nachdem sie die Nachricht vom Sturz ihres Mannes erreicht hatte, war sie nach Wandlitz zurückgefahren. Honeckers Frau beschreibt sein Verhalten an jenem Abend als gefaßt und entlastet. »Weißt Du, ich bin regelrecht erleichtert, ich könnte es nicht mehr«,51 hätte er zu ihr gesagt. Vielleicht war es auch nur die erschöpfte und schönfärbende Aussage eines tief gekränkten Mannes, der keine Alternative mehr hatte.

Rückblicke: Vorboten des Sturzes

Erich Honecker behauptete später immer wieder, nichts von der Konspiration geahnt zu haben und sehr überrascht gewesen zu sein: »Ich muß ganz offen sagen, daß ich von der ganzen Soße nichts gewußt habe.«52 Doch das dürfte kaum der Wahrheit entsprechen. Es hatte in den vorhergegangenen Tagen und Wochen zu deutliche Anzeichen dafür gegeben, daß die Ära Honecker dem Ende entgegenging. Das konnte auch der machtverliebte und von schmeichelnden Schönrednern umgebene 77jährige Honecker nicht übersehen haben. Spätestens nachdem Gorbatschow anläßlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR mit seinem Satz »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben« demonstrativ gegen die Reformverweigerer in der SED Stellung bezogen hatte, wendete sich das Blatt gegen Honecker. Sollte er nicht bemerkt haben, daß sich Gorbatschows Besuch in der DDR unmittelbar gegen ihn gerichtet hatte, oder verhinderte der mit den Jahren gewachsene Realitätsverlust diese Erkenntnis?

Einen Tag nach Gorbatschows Abreise verärgerte Egon Krenz Honecker mit dem Vorschlag, das Politbüro müsse eine Erklärung veröffentlichen und darin bekunden, »alle erforderliche(n) Formen und Foren der Demokratie«53 umfassender nutzen zu wollen. Er schickte einen entsprechenden Entwurf zu Honecker nach Wandlitz. Aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes arbeitete der Staats- und Parteichef in den letzten Wochen oft zu Hause. Er teilte Krenz telefonisch mit, daß er nicht zustimmen könne und die Erklärung als gegen seine Person gerichtet betrachte. Auf die schriftlich vorgetragene Bitte von Krenz, das Material wenigstens dem Politbüro übergeben zu dürfen, vermerkte Honecker doppelt unterstrichen »Nein«54. Egon Krenz reichte die Vorlage daraufhin ohne Zustimmung Honeckers ein. Die Politbüromitglieder hatten sie einen Tag vorher auf ihren Tischen. Normalerweise durften keine Unterlagen ohne Zustimmung Honeckers verschickt werden. Doch Büroleiter Edwin Schwertner setzte sich darüber hinweg.55 Sollte Honecker nicht erkannt haben, daß seine Macht nicht mehr ausreichte, um einen solchen Affront zu verhindern?

Sogar die allzeit regimetreue Jugendorganisation der SED, die Freie Deutsche Jugend (FDJ), deren Vorsitzender Honecker ja früher selbst war, wagte sich hervor. Am 9. Oktober wandten sich der Erste Sekretär des Zentralrates der FDJ, Eberhard Aurich, gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Pionierorganisation, Wilfried Poßner, und dem Leiter der Abteilung Jugend beim ZK der SED, Gerd Schulz, »in großer Sorge« an Erich Honecker und verlangten: »Änderungen in der Politik und der sie in Partei und Regierung repräsentierenden Personen«.56 Honecker unterstrich diese Stelle und versah sie mit einem Ausrufezeichen. Niemand hatte bisher gewagt, dem Generalsekretär so etwas vorzulegen. Undenkbar, daß die berufsjugendlichen Funktionäre das Schreiben ohne Rückendeckung aus dem Politbüro verfaßt hatten.

Sollte Honecker nicht klar gewesen sein, daß er selbst mit dieser Rücktrittsforderung gemeint war?

Genau eine Woche vor der letzten Sitzung, am 10./11. Oktober, war es dann im SED-Politbüro erstmals zu einer offenen Konfrontation gekommen. Erst nach längerem Zögern hatte sich Erich Honecker bereit erklärt, über die Lage im Land zu debattieren. Egon Krenz forderte daraufhin einen Dialog innerhalb der Parteiführung, Kurt Hager äußerte Besorgnis über die gegenwärtige Linie, Horst Dohlus vermerkte »Unsicherheit bis in den Parteiapparat«, Werner Walde schimpfte, daß zu viel geredet und zu wenig agiert würde, Harry Tisch sprach von einer »tiefen inneren Unruhe«, und selbst Erich Mielke sah sich im Politbüro erstmals zu einem offenen Auftreten veranlaßt. Die Lage sei zugespitzt und die Machtfrage stelle sich, konstatierte der Staatssicherheits-Minister.57 Erich Honecker galt weder als launisch noch kannte man von ihm Wutausbrüche. Ihm nahestehende Mitarbeiter bewunderten seine »unerhörte Selbstdisziplin«58. Doch auf dieser Tagung des Politbüros konnte er nicht mehr an sich halten. Papiere seien über den Tisch geflogen, berichtet Günter Schabowski. Gegen Honeckers Widerstand setzte die Runde eine Erklärung »an alle Bürger« durch, die am darauffolgenden Tag in der parteieigenen Tageszeitung »Neues Deutschland« veröffentlicht wurde. Darin hieß es: »Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle.«59

Eigentlich wirkt diese Formulierung banal. Doch sie war alles andere als unbedeutend. Ohnehin verstanden sich die DDR-Bürger darauf, in dem Einheitsbrei der sozialistischen Presse zwischen den Zeilen zu lesen. In den brisanten Herbsttagen des Jahres 1989, in denen das politische Geschehen wie nie zuvor die Atmosphäre in der DDR beherrschte, begriff man sehr gut, daß das SED-Politbüro mit dieser Erklärung den Rückzug angetreten hatte. Sie bezog sich auf den andauernden Flüchtlingsstrom von DDR-Bürgern in den Westen. Erst am 2. Oktober hatte das »Neue Deutschland« dazu kommentiert: »Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.«60