Steirerpakt - Claudia Rossbacher - E-Book

Steirerpakt E-Book

Claudia Rossbacher

4,6

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Ein skurriler Leichenfund lässt die LKA-Ermittler Sandra Mohr und Sascha Bergmann zur Eisenstraße aufbrechen. Vom historischen Einser-Sessellift, der seit fast 70 Jahren vom Präbichl auf den Polster schaukelt, wurde eine nackte Leiche geborgen. Bald schon wird der tote Mann als Einheimischer identifiziert, der vor 15 Jahren nach Kanada auswanderte. Erst vor wenigen Tagen reiste der Arzt aus seiner Wahlheimat an, um dem Begräbnis seiner Mutter beizuwohnen. Sandra Mohr stößt auf so manche alte Wunde, die er dabei aufgerissen hat. Und auf weitere Leichen …

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Seitenzahl: 310

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Claudia Rossbacher

Steirerpakt

Sandra Mohrs siebter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag: Steirernacht (2016), Steirerland (2015), Steirerkreuz (2014), Steirerkind (2013), Steirerherz (2012), Steirerblut (2011), Enter ermittelt in Wien (Band 2) (2016), Enter ermittelt (2013), Wer mordet schon in der Steiermark? (2015), Steiermark – 66 Lieblingsplätze und 11 Erlebnisstraßen (2013), Hillarys Blut (E-Book Only, 2016)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher

ISBN 978-3-8392-5330-4

Vorbemerkung

Der historische Einser-Sessellift vom Präbichl auf den Polster ist seit seiner Stilllegung im April 2016 endgültig Geschichte. Dieses Buch widme ich all jenen, die sich für seine Erhaltung eingesetzt haben, wenn auch leider vergeblich. Aber wer weiß? Vielleicht ist ja doch noch nicht aller Tage Abend …

Der Vollständigkeit halber: Der Museumsbetrieb der Erzbergbahn wurde nach zwei Jahren Ruhepause, die in den Handlungszeitraum dieses Buches fällt, wieder aufgenommen.

Ein Glossar der steirischen beziehungsweise österreichischen Ausdrücke und Abkürzungen befindet sich am Ende des Buches.

Prolog

Geschundene Seelen

im Pakt vereint.

Die Tage gezählt,

das Schicksal besiegelt.

Im Antlitz des Todes

entblößt und verhöhnt.

Dämon der Lust –

dem Teufel geweiht.

Kapitel 1

Samstag, 17. Mai 2014, Graz

1.

Mit den wuchtigen Orgelklängen verstummten auch die Kirchenglocken. Oder schwiegen diese schon länger? Sandra Mohr war sich nicht sicher. Im bombastischen Hochzeitsmarsch von Mendelssohn-Bartholdy, der die Braut am Arm ihres Vaters zum Altar begleitet hatte, waren alle anderen Geräusche untergegangen. Nun richtete der Pfarrer das Wort an das Brautpaar und die versammelte Festgemeinde.

Ein kurzer Blick über ihre rechte Schulter ließ Sandra erahnen, dass die Mariahilferkirche inzwischen bis auf den letzten Platz besetzt war, wenngleich sie die linke Seite hinter ihrem Rücken nicht überblicken konnte. Umso genauer nahm sie den Weihrauchgeruch wahr, der nicht gerade zu ihren Lieblingsdüften zählte. Einmal mehr zupfte sie fröstelnd an ihrem Kleid herum. Hätte sie bei der Anprobe bloß nicht auf ihre Freundin gehört, bereute sie die Wahl, obwohl ihr das korallenrote Etuikleid mit den Organza-Ärmeln, das nicht ganz bis zu den Knien reichte, besonders gut stand. Das hatten ihr vorhin auch die Blicke ihres Begleiters bestätigt, mit denen er sie sprichwörtlich ausgezogen hatte. An einem Tag wie diesem solle sie ausnahmsweise einmal nicht mit ihren Reizen geizen und bloß nicht zum biederen Kostüm greifen, hatte ihr Andrea geraten. Schließlich war Sandra nicht als Abteilungsinspektorin des LKA Steiermark zur Hochzeit geladen, sondern als Exfreundin des Bräutigams, der an diesem Tag ihre Nachfolgerin heiratete. Julius sollte sehen, was er an Sandra verloren hatte. Am besten es auch noch bitter bereuen. Typisch Andrea. Wer in ihren Augen einen Fehler beging, musste dafür büßen. Rache war Blutwurst. Und Blunzen mit Sauerkraut zählte nun einmal zu den Leibspeisen der Freundin.

In Gedanken versunken stand Sandra auf – wie all die anderen Gäste, die sich aufs Stichwort des Pfarrers nahezu synchron von den Kirchenbänken erhoben. Wenn sie schon frieren musste, so würde sie in diesem Kleid wenigstens gute Figur auf den Hochzeitsfotos und -filmen machen, versuchte sie sich mit einem weiteren Argument ihrer Freundin zu trösten. Schließlich war damit zu rechnen, dass auch die Medien über die Hochzeit des stadtbekannten Radioreporters berichten würden, der die große Liebe in seiner Physiotherapeutin gefunden zu haben glaubte. Dass er Sandra wegen ihr verlassen hatte, stand auf einem anderen Blatt Papier. Der Trennungsschmerz hielt sich freilich längst in Grenzen. Sie gönnte Julius, der nach einem Skiunfall querschnittgelähmt im Rollstuhl saß, alles Glück dieser Welt.

Während der nächste kalte Luftzug die feinen Härchen in ihrem Nacken und auf den Unterarmen zu Berge stehen ließ, bereute Sandra einmal mehr, dass sie sich den Überredungskünsten ihrer Freundin geschlagen gegeben hatte. Und dass der eigens für die Hochzeit zurechtgelegte Paschminaschal zu Hause geblieben war. Von den sommerlichen 29 Grad Celsius, die an diesem Maitag für die steirische Landeshauptstadt prognostiziert waren, spürte man im Hause Gottes leider gar nichts. Weder die hauchdünnen Strümpfe noch die hochhackigen Slingpumps vermochten die Kälte abzuhalten, die vom schachbrettgemusterten Marmorboden über ihre Füße die Beine hochkroch. Fehlte nur noch, dass sie sich eine Blasenentzündung holte.

Ohnehin hielt Sandra es inzwischen für eine Schnapsidee, die Einladung ihres Verflossenen überhaupt angenommen zu haben. Als sie zugesagt hatte, war sie noch mit seinem Nachfolger liiert gewesen. Auch Paul Stadler hatte sich inzwischen von ihr getrennt. Mit ihm hätte sie die Trauung besuchen wollen. Nicht zuletzt, um ihn bei dieser Gelegenheit vielleicht auf den Geschmack zu bringen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Sandra seufzte. Ihre Zukunftspläne waren leider gründlich gescheitert. Die eigene Hochzeit konnte sie vorerst ebenso vergessen wie ihren Kinderwunsch. Als alleinerziehende Kriminalbeamtin bei der Mordgruppe des LKA Steiermark zu arbeiten, strebte sie jedenfalls nicht an. Dabei wäre vermutlich genau das eingetreten, hätte sie das Baby, das sie damals von Julius erwartet hatte, nicht verloren. Selbst mit einem gemeinsamen Kind wäre aus ihr und dem fünf Jahre jüngeren Mann bestimmt kein glückliches Paar geworden, grübelte sie weiter. Dafür waren sie einfach zu verschieden, wusste sie heute. Wiewohl der Sex mit ihm fantastisch gewesen war. Doch das war schließlich nur ein Punkt von vielen, der in einer Partnerschaft passen musste. Wenn auch in ihren Augen ein ganz wesentlicher.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, folgte sie weiterhin dem Gottesdienstritual und ließ sich wieder auf der Kirchenbank nieder. Ebenso wenig fiel ihr auf, dass sie sich wie die meisten anderen Kirchenbesucher bekreuzigte. Zwar hatte sie die ererbte Konfession längst abgelegt und betrat Gotteshäuser nur noch in Ausnahmefällen wie diesem, jedoch war ihr die katholische Liturgie schon während der Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen. Die frühzeitig eingeübten, sich ständig wiederholenden Gebete und Kirchengesänge würde sie wohl bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr vergessen, so sehr hatten sich diese in ihrem Gedächtnis eingebrannt.

Ihr Begleiter wandte sich ihr zu. »Du zitterst ja. Ist dir kalt?«, flüsterte Sascha Bergmann und rückte noch näher an sie heran. Wenigstens strahlte eine gewisse Körperwärme von ihm ab.

Sandra kam es nun selbst absurd vor, dass sie ausgerechnet den Chefinspektor gebeten hatte, sie zur Trauung zu begleiten. Wo er doch lieber zum Zahnarzt ging als in die Kirche. Aber an wen hätte sie sich sonst wenden sollen? Andrea weilte just an diesem Wochenende in Paris. Und außer ihr war Bergmann der Einzige, der vom Beziehungsaus mit Paul wusste. Wenngleich sie ihm den wahren Grund dafür wohlweislich verschwiegen hatte. Paul musste selbst entscheiden, wann er sich outete und zu seiner sexuellen Neuorientierung stand. Nur Andrea war eingeweiht. Aber die konnte schweigen wie ein Grab, wusste Sandra aus langjähriger Erfahrung.

Mit einem Nicken bestätigte sie Bergmann, dass sie fror, ohne ihn anzuschauen. Dabei sah er in seinem hellen Anzug gar nicht mal so übel aus. Hätte er dazu noch eine Krawatte oder Fliege getragen, wäre er glatt als Bräutigam durchgegangen. Anstatt der üblichen Sneakers hatte er beige Mokassins aus Sämischleder an. Sogar seine Haare, die sonst wirr in alle Himmelsrichtungen standen, hatte er irgendwie gebändigt. Nur sein Dreitagebart war stehengeblieben. Aber der gehörte nun einmal zu Bergmann wie das Amen zum Gebet. Ohne die teilweise ergrauten Stoppeln im Gesicht fühlte er sich nackt, hatte er Sandra kürzlich verraten, als sie sich für ihren Geschmack viel zu nahe gekommen waren. Beim bloßen Gedanken daran wurde ihr heiß. Im nächsten Augenblick lief es ihr leider schon wieder kalt über den Rücken. In einem schwachen Moment hatte sie sich nach der schmerzlichen Trennung von Paul ausgerechnet bei Bergmann ausgeheult. Stundenlang hatte er sie getröstet, bis sie schließlich betrunken und erschöpft in seinem Bett gelandet war. Wohlgemerkt ohne ihn. Dass der Chefinspektor diese Situation wider Erwarten nicht ausgenutzt hatte, rechnete sie ihm insgeheim hoch an. In jener Nacht wäre sie womöglich verzweifelt und alkoholisiert genug gewesen, um mit ihm zu schlafen. Eine Vorstellung, die ihr, in nüchternem Zustand betrachtet, schier unerträglich erschien.

»Julius Matthias Czerny«, drang die Stimme des Pfarrers an ihre Ohren, »so frage ich dich nun vor Gottes Angesicht …«

Bloß jetzt nicht wieder heulen, betete Sandra und schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Die Gesamtsituation machte ihr nun doch deutlich mehr zu schaffen, als sie befürchtet hatte. Hochzeiten waren ja an sich schon eine hochemotionale Angelegenheit, die sie leicht zu Tränen rührte, umso mehr diese hier. Noch dazu, wo die schmerzliche Trennung von Paul keine vier Wochen zurücklag.

»Willst du die anwesende Elisabeth Maria Schöffmann zu deiner Ehefrau nehmen?«, fuhr der Pfarrer fort. »Willst du sie lieben, achten und ehren, ihr die Treue halten in guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit, bis dass der Tod euch scheidet?«

»Ja«, hallte Julius’ sonore Stimme, in die sich Sandra damals auf Anhieb verliebt hatte, durch das blumengeschmückte Kirchenschiff.

Verstohlen wischte sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie hätte schwören können, dass nicht einmal Bergmann es bemerkt hatte, als er ihr plötzlich ein Taschentuch reichte.

2.

Draußen hatte die Temperatur weiter zugelegt. Noch ehe Sandra an der Reihe war, dem Brautpaar vor dem Kirchenportal zu gratulieren, hatte sich ihre Gänsehaut verflüchtigt. Die offiziellen Fotos der Hochzeitsgesellschaft waren inzwischen im Kasten. Wie erwartet schwirrten auch einige Societyreporter auf dem Mariahilferplatz herum, die in ihren Klatsch- und Tratschbeiträgen über die sogenannte Promihochzeit berichten würden.

Erst vor wenigen Wochen hatte Julius ein Buch über seinen Skiunfall, die langwierigen Therapien in der Rehaklinik Tobelbad und sein neues Leben als Querschnittgelähmter veröffentlicht und damit einige mediale Aufmerksamkeit geerntet. Immerhin hatte er es sogar in die Top Ten der Sachbuch-Bestellerliste geschafft. Unter anderem war er als Stargast im Frühstücksfernsehen und in Talkshows aufgetreten, um seine Biografie und sich selbst zu promoten. Aber auch, um sich als Rollstuhlfahrer für Barrierefreiheit im öffentlichen Raum einzusetzen und bestehende Missstände anzuprangern.

Sandra freute sich von Herzen, dass Julius die schwierigste Zeit überstanden hatte und trotz des Schicksalsschlags wieder zuversichtlich in die Zukunft blickte. Was für eine schöne Kulisse zum Heiraten, dachte sie, die Augen auf den Grazer Uhrturm gerichtet, der sich hoch oben auf dem Schloßberg über der Altstadt vor makellos blauem Himmel präsentierte, während unten die Schreie der Mauersegler durch die Gassen hallten. Sandra liebte die schrillen lang gezogenen Töne, die von den Hausmauern reflektiert wurden, waren sie doch ein untrügliches Zeichen, dass der Sommer endgültig in der Murmetropole eingezogen war. Dabei hatte man in den ersten beiden Aprilwochen noch bezweifeln dürfen, dass der Frühling jemals wiederkehren würde, so bitterkalt war es gewesen. Doch dann war der Winter von einem Tag auf den anderen in den Frühsommer übergegangen. Nahezu alle Blüten waren gleichzeitig explodiert und nicht wie gewöhnlich nach und nach.

Einem der umstehenden Fotografen fiel ihr glückseliges Lächeln auf. Schwups, war seine Kamera auf sie und ihren Begleiter gerichtet, der neben ihr in der Schlange der Gratulanten wartete. Prompt fühlte sich Bergmann bemüßigt, ihre Taille zu umfassen und in die Kamera zu grinsen, bis sie endlich an der Reihe waren, das Brautpaar zu beglückwünschen.

Julius musterte Sandra eindringlich, als sie sich zu ihm herabbeugte, um ihn auf die Wangen zu küssen. »Schön, dass du es zu unserer Hochzeit geschafft hast«, sagte er mit einem herzlichen Lächeln.

Dass sie an seinem Festtag Bereitschaftsdienst hatte, wollte sie ihm lieber nicht auf die Nase binden und damit womöglich seine Freude trüben. Viel zu oft hatte sie die gemeinsamen Freizeitpläne dem Beruf geopfert, was immer wieder zu Streitereien zwischen ihnen geführt hatte. »Alles Gute, mein Lieber! Ich freu mich ja so für dich«, antwortete sie ebenso strahlend. »Was für ein schönes, glückliches Paar ihr zwei doch abgebt …«

»Ihr beiden aber auch«, schmunzelte Julius, der einige Querelen zwischen ihr und Bergmann mitbekommen hatte. Wie oft hatte sie sich bei ihrem Freund über den ungehobelten, arroganten Chefinspektor und seine sexistischen Witze beschwert. Jetzt hielt Julius sie und Bergmann offenbar auch privat für ein Paar. Oder versuchte er, durch seine Provokation nur herauszufinden, ob sie eines waren? Dass sich der Reporter stets von seiner Neugierde leiten ließ und nichts, aber auch rein gar nichts für sich behalten konnte, hatte Sandra einmal fast ein Disziplinarverfahren beschert und ihre Liebesbeziehung von Anfang an belastet.

Noch ehe sie gegen Julius’ Anspielung protestieren konnte, bedankte sich Bergmann für das Kompliment und gratulierte ihm zu seiner jungen hübschen Braut, der sich Sandra nunmehr zuwandte, um auch sie zu beglückwünschen.

Der Klingelton irritierte Sandra. Eindeutig war es Bergmanns Handy, das da hinter ihrem Rücken läutete.

Kurz angebunden schüttelte auch er der Frischvermählten die Hand. »Glückwunsch! Entschuldigung, ein Notfall«, sagte er und wandte sich ab, um einige Schritte abseits den Anruf entgegenzunehmen.

Die Braut sah dem ihr unbekannten Mann verdutzt hinterher. »Ist Ihr Mann Arzt?«, fragte Elisabeth Maria Schöffmann-Czerny vulgo Lisa.

Julius kam Sandras Antwort zuvor. »Aber nein, Lisa. Er ist Chefinspektor beim Landeskriminalamt Steiermark, genauer gesagt, bei der Mordgruppe«, erklärte er seiner Holden, die prompt bestürzt reagierte.

»Mord? Um Gottes willen … Doch nicht an unserem Hochzeitstag!«, beschwerte sich Lisa mit spitzer Stimme, was die Aufmerksamkeit einiger Gäste auf sich zog.

»Hoffentlich nicht«, entgegnete Sandra und verabschiedete sich. »Tut mir leid«, fügte sie in Richtung Julius hinzu, ehe sie sich nach Bergmann umwandte. Was ihr Exfreund zu ihrem frühzeitigen Aufbruch sagte, nahm sie nicht mehr wahr. Höchstwahrscheinlich war das auch besser so. Ohnehin glaubte sie, seine anklagenden Blicke auf ihrem Rücken zu spüren, auch wenn sie sich das vor lauter schlechtem Gewissen nur einbildete. Es geht doch nichts über eingefahrene Beziehungsmuster, dachte sie, während sie Bergmann auf ihren hohen Absätzen mühsam hinterherstöckelte. Erst an der nächsten Kreuzung holte sie ihn ein.

»Wie? Eisenstraße, na gut … Aber Polster? Was denn für ein Polster?«, fragte er den Anrufer. »Geht’s auch ein bissl konkreter, Lubensky? Oder meinst du gar den Toni?« Bergmann lachte über seine Assoziation mit dem ehemaligen österreichischen Fußballspieler, während Sandra das eigentliche Missverständnis viel witziger fand. Im Gegensatz zum Chefinspektor aus Wien war der gebürtigen Obersteirerin nämlich auf Anhieb klar, was der Anrufer aus der Einsatzzentrale mit dem »Polster« meinte. Angesichts der mutmaßlichen Todesmeldung verkniff sie sich jedoch das Lachen.

»Ein Berg, ach so … Warum sagst du denn das nicht gleich? … Ja, jetzt hab ich es verstanden, Einser-Sessellift vom Präbichl auf den Polster«, wiederholte Bergmann Lubenskys Erläuterungen und sah Sandra fragend an.

Die nickte wissend und konnte ein Schmunzeln nicht länger unterdrücken.

Bergmann beendete das Telefongespräch und hielt inne. »Du weißt, wo wir hinmüssen?«, vergewisserte er sich.

»Ja sicher, ich kenn mich aus«, bestätigte Sandra.

»Eh klar. Wie immer … Der Dienstwagen steht in deiner Garage?«

Warum sonst war Bergmann schnurstracks in Richtung Lendplatz gehetzt, wenn er den Wagen woanders vermutete? »Eh klar. Wie immer …«, wiederholte Sandra seine letzte Bemerkung.

»Worauf wartest du noch?« Bergmann beschleunigte seine Schritte wieder.

»Hast du was dagegen, wenn ich einen Sprung in meine Wohnung mache und mich rasch umziehe?«

»Ja, das habe ich«, antwortete er mit ernster Miene.

»Haben wir es denn so eilig?«, wunderte sich Sandra.

»Das nicht. Tot ist tot. Aber du gefällst mir in diesem hinreißenden Kleid wesentlich besser als in deinem praktischen Alltagsgewand.«

Gewiss ließen sich die wenigen Male, die Bergmann sie in einem Rock oder Kleid, geschweige denn mit hohen Absätzen gesehen hatte, an einer Hand abzählen. Zwar verbarg die verspiegelte Sonnenbrille seine Augen, dennoch fühlte sich Sandra einmal mehr von seinen anzüglichen Blicken ausgezogen. »Deswegen fahre ich aber trotzdem nicht in diesem Aufzug zu einem Einsatz in die Berge. Schon gar nicht mit den Schuhen.« Just im selben Moment knickte sie um und konnte sich nur durch einen blitzschnellen Griff nach seinem Arm vor einem gröberen Missgeschick mit möglicherweise schmerzhaften Folgen retten.

»Na gut, meinetwegen zieh dich halt um. Aber beeil dich«, erwiderte Bergmann gnädig. »Ewig schade …«, murmelte er noch in seinen Dreitagebart, als Sandra seinen Arm wieder losließ.

»Willst du mir nicht erzählen, welcher Einsatz uns erwartet?«, kam sie zur Sache.

»Ein Fall für dich …«

»Für mich? Wieso das denn?«

»Eine unbekannte männliche Leiche, splitterfasernackt auf dem Polster-Sessellift.«

»Wie bitte?«

»Du hast richtig gehört. Mehr weiß ich auch noch nicht.«

»Kommst du mit hinauf oder wartest du vor der Garagenausfahrt?«, fragte Sandra, als sie die Haustür aufsperrte.

Bergmann rückte seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze und sah sie über den Metallrahmen hinweg an. »Wäre da nicht dieser neue Mordfall, würde ich dich liebend gern in deine Wohnung begleiten.« Sein Blick sollte ihr wohl verdeutlichen, dass es, ging es nach ihm, nicht bei der Begleitung allein bleiben würde.

Genervt verdrehte Sandra die Augen. »Bis gleich, Sascha«, sagte sie und warf ihm die Tür vor der Nase zu. Eine unbekannte männliche Leiche, splitterfasernackt auf dem Polster-Sessellift, wiederholte sie seine Worte in Gedanken, während sie auf den Aufzugknopf drückte. Wie kam Bergmann eigentlich auf die unverschämte Idee, dass dies ein Fall für sie war?

Kapitel 2

Immer noch Samstag, 17. Mai, Steirische Eisenstraße

1.

Sandra nahm die Autobahnausfahrt Traboch, um auf die Eisen-Bundesstraße zu gelangen, die sie wenig später an Trofaiach vorbeiführte.

»Sag mal, spürst du das auch?«, fragte Bergmann, kaum dass sie das neu erbaute Schubhaftzentrum Vordernberg hinter sich gelassen hatten.

Bislang war der Chefinspektor mit seinem Smartphone beschäftigt gewesen und hatte fast die ganze Fahrt über geschwiegen, was Sandra nur recht war. Wenigstens konnte sie den eigenen Gedanken nachhängen, die sich weniger um den toten Mann auf dem Sessellift als vielmehr um die lebenden Männer drehten, mit denen sie einfach kein Glück hatte. »Und was genau sollte ich bitte spüren?«, fragte sie zurück.

»Diese Gegend hat so etwas Beklemmendes, Morbides. Selbst bei einem solchen Kaiserwetter.« Im Vorbeifahren betrachtete Bergmann das halb verfallene Fabrikgebäude, auf dessen Dach neben einigem Unkraut eine junge Birke in den wolkenlosen Himmel ragte.

»Na ja, die Eisenstraße ist schon ganz besonders geschichts- und schicksalsträchtig. Vielleicht spürst du ja das harte, karge Leben deiner Namensvettern von anno dazumal«, witzelte Sandra.

»Du meinst die Bergmänner, die das Eisenerz abgebaut haben?«

Sandra nickte. Vor ihnen tauchte das Viadukt auf, auf dem dereinst die Erzbergbahn verkehrte, um das Erz vom Erzberg zu den Hochöfen nach Vordernberg und Donawitz bei Leoben zu transportieren. Dass der Betrieb der steilsten Normalspurbahn in Europa eingestellt worden war, hatte sie neulich in einem Fernsehbericht mitbekommen. Dem Verein ihrer Anhänger war es bislang nicht gelungen, das nötige Geld aufzubringen, um das Teilstück, das die ÖBB verkaufen wollte, zu erwerben und das historische Kleinod als Museumsbahn weiter zu betreiben.

»O ja, ich kann es fühlen.« Bergmann fasste sich an die Brust. »Den Schweiß, das Blut und die Tränen, die über die Jahrhunderte hinweg beim Erzabbau vergossen wurden«, meinte er theatralisch.

»Seit wann bist du so sensibel und nimmst derlei energetische Schwingungen wahr?«, fragte Sandra, als sie am menschenleeren Hauptplatz der Marktgemeinde Vordernberg vorbeifuhren. Nicht alle historischen Relikte der Eisenstraße waren so gut erhalten wie die schwarze Dampflok direkt vor dem Gasthof »Zum Radmeister«, die wie frisch poliert in der Sonne glänzte. Als eindrucksvolles Schaustück zeugte sie ebenso von der einstmals bedeutenden Vergangenheit dieses Ortes in der Roheisenproduktion wie die alten Radwerke, Hochöfen und andere längst stillgelegte Industriebauten.

»Ich bin nun mal ein hochsensibler Typ«, scherzte Bergmann.

Zumindest glaubte Sandra, dass es sich nur um einen Witz handeln konnte, und lachte hell auf.

»Liegt wohl an meinem Sternzeichen«, erklärte er ungerührt. »Wassermann, vom Geruch her aber schon Fisch.« Noch immer verzog er keine Miene.

Sandra musste neuerlich lachen. »Wenn du mir jetzt auch noch mit Horoskopen und Sterndeuterei kommst, kannst du dir eine neue Partnerin suchen«, drohte sie ihm nicht ganz ernst gemeint. »Oder spielst du etwa auf die Sage vom Wassermann an?«

»Hm?« Bergmann sah sie verständnislos an.

»Der Sage nach ist das Eisenerz im Erzberg einem Wassermann zu verdanken«, erklärte ihm Sandra, was in der Steiermark jeder Volksschüler wusste.

»Soso. Einem Wassermann.« Bergmann wischte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, um klarzustellen, was er von dieser Theorie hielt.

»Vor langer, langer Zeit sollen die Leute in der Nähe des Leopoldsteiner Sees einen Wassermann gefangen haben«, fuhr Sandra unbeirrt fort. »Für seine Freilassung hat er ihnen Gold für zehn Jahre, Silber für 100 Jahre oder Eisenerz für immerdar versprochen. Wofür sie sich entschieden haben, ist hinlänglich bekannt. Leider ist die steirische Erzindustrie trotz dieses Versprechens im Lauf der letzten Jahrzehnte den Bach runtergegangen.«

»Dann hat der alte Wassermann wohl zu einer Notlüge gegriffen, um freizukommen«, meinte Bergmann grinsend.

»Oder er hat nichts vom internationalen Rohstoffmarkt in einer globalisierten, technologisierten Welt geahnt, der dem steirischen Erz enorme Umsatzeinbußen bescheren und Tausende Arbeitsplätze vernichten würde. Die Region ist von massiver Abwanderung geprägt. Die meisten jungen Leute ziehen von hier weg und suchen ihr Glück woanders.«

»Wie man allerorts deutlich sehen kann«, kommentierte Bergmann ein weiteres leer stehendes Gasthaus, an dem sie eben vorbeifuhren.

»Eisenerz bietet ein ähnlich trauriges Bild. Dabei war das einmal eine stolze Industriestadt mit gut dreimal so vielen Einwohnern wie heute. Das Leben war wie in allen anderen einstmals florierenden Orten entlang der Eisenstraße über ein Jahrtausend lang vom Erzberg geprägt. Dass dieser so viele Leute in der Region, aber auch außerhalb ernährte, hat ihn im Volksmund den Namen ›steirischer Brotlaib‹ eingetragen. Heute leben überwiegend ältere Semester in Eisenerz. Nicht umsonst trägt die Stadt den Titel der ältesten in Österreich. Die meiste Zeit über ist sie wie ausgestorben. Viele Geschäfte und Lokale stehen leer und hinterlassen einen ziemlich trostlosen Eindruck, obwohl gerade der Stadtkern mit einigen Baujuwelen in tadellosem Zustand aufwarten kann. Nur ein paar Tage im Jahr kehrt Leben ein, und das Durchschnittsalter sinkt drastisch. Etwa, wenn die waghalsigsten Motorrad-Offroad-Fahrer aus aller Herren Länder zum Erzbergrodeo anreisen, um auf ihren Enduro-Maschinen die staubigen, bei Regenwetter gatschigen Stufen des Erzberges zu erklimmen, und Zigtausende Zuschauer anlocken. Dann ist hier die Hölle los. Oder auch beim alljährlichen Erzberglauf. Dort wollte ich eigentlich auch schon längst einmal mitlaufen. Vielleicht mache ich das ja im Sommer …«

»Und was ist sonst mit Tourismus?«

»Kaum vorhanden. Vorwiegend kommen Tagesgäste, die den Erzberg mit seinem Schaubergwerk, die historischen Relikte an der Eisenstraße oder den idyllischen Leopoldsteiner See besuchen.« Sandra kramte in ihrer Erinnerung, ehe sie fortfuhr. »Fährt man die Eisenstraße noch ein Stück weiter, befindet man sich mitten im Nationalpark Gesäuse. Der ist nicht nur bei Bergwanderern und Kletterern äußerst beliebt, sondern auch bei Wildwassersportlern, die sich in der Enns und der Salza austoben können. Am anderen Ende des Gesäuses, nur wenige Kilometer weiter, steht das Benediktinerstift Admont mit der weltgrößten Klosterbibliothek«, zählte Sandra jene Plätze auf, die sie selbst schon besucht hatte.

»Du solltest dich beim Tourismusverband bewerben.«

»Du hast mich doch gefragt …«

»Und was ist mit unserem Einsatzort, dem Präbichl? Ein bisschen was hab ich ja schon im Internet recherchiert.«

»Na, dann weißt du höchstwahrscheinlich, dass der Präbichl im Winter Skifahrer, im Sommer Wanderer und Bergsteiger anlockt, hauptsächlich welche aus der Umgebung. Es gibt nämlich viel zu wenig Gästebetten in der Region, auch wenn vor einigen Jahren ein größeres Spa-Hotel in Leoben eröffnet hat. Aber das ist ja auch eine Dreiviertelstunde weit weg.«

Bergmann streckte seinen Rücken durch. »Gegen Sauna mit anschließender Massage hätte ich jetzt nichts einzuwenden.«

»Träum weiter, Sascha.«

»Müssten wir nicht bald da sein?« Bergmann gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.

»In fünf Minuten, schätze ich.«

»Gut. Dann erzähle ich dir jetzt schnell mal, was ich unterwegs über den Präbichl und den Polster-Sessellift herausgefunden habe. Es hat in letzter Zeit nämlich einige Aufregung darum gegeben«, berichtete Bergmann.

»Warte mal, irgendetwas ist neulich über diesen Lift in der Zeitung gestanden …«, dämmerte es Sandra.

»Vermutlich hast du gelesen, dass der historische ›Polster Classic‹, so der offizielle Name des Einser-Sessellifts, in zwei Jahren womöglich endgültig Geschichte ist«, erzählte der Chefinspektor, was er während der Fahrt im Internet gelesen hatte. »Dann nämlich läuft die Konzession aus. Nur mit hohen Investitionen wäre es möglich, ihn technisch soweit aufzurüsten, dass er die erforderlichen Sicherheitsauflagen dann noch erfüllt und wie bisher weiterbetrieben werden kann.«

»Aber die finanziellen Mitteln sind nicht vorhanden«, erinnerte sich Sandra wieder an die Zeitungsreportage über den Präbichl.

»Du sagst es. Zwar hat das Land seine Bereitschaft signalisiert, die Sanierung zu fördern, verlangt dafür aber ein kostendeckendes Zukunftskonzept vom Seilbahnbetreiber, das es aus dessen kaufmännischer Sicht aufgrund der geringen Beförderungskapazität und der mangelnden Auslastung des Einser-Sessellifts jedoch nicht gibt. Auf der anderen Seite steht eine Bürgerini­tiative, die sich für die Erhaltung in seiner bisherigen Form starkmacht und ihn am liebsten unter Denkmalschutz stellen möchte. Für die zahlreichen Anhänger ist er nämlich mehr als nur irgendeine Aufstiegshilfe, zählt er doch zum historischen Baukulturerbe der Eisenstraße. Immerhin fährt dieser Lift schon seit 1948 vom rund 1.200 Meter hohen Präbichl in zwölf Minuten zur Polster-Bergstation auf etwa 1.800 Meter Seehöhe. Bis zum Gipfel sind es dann nur noch 100 Meter und ein paar Zerquetschte. Die würdest du locker auch in deinen High Heels bewältigen.«

Sandra spürte, dass Bergmann sie von der Seite angrinste. Sie zog ihre Mundwinkel hoch. »Und warum sollte ich das bitteschön tun?«, fragte sie schnippisch.

Bergmann klimperte mit den Augen. »Weil du mir mit hohen Absätzen viel besser gefällst, Liebling.«

Als ob sie es darauf angelegt hätte. Sandra seufzte, den Blick auf die Straße gerichtet. Den Gefallen, sich über den vermaledeiten Spitznamen aufzuregen, machte sie ihm nicht. »Das ist ja dann eher ein Grund, nie wieder in deiner Gegenwart Stöckelschuhe zu tragen«, konterte sie. »Könntest du bitte bei der Sache bleiben, Sascha? Und damit meine ich ganz bestimmt nicht deine privaten Vorlieben und Fetische, sondern unseren Mordfall.«

»Schade.« Jetzt war es Bergmann, der seufzte. »Sollte der Polster-Sessellift also stillgestellt werden, gäbe es keine einzige Anlage mehr, die bis zum Polster-Schutzhaus hinaufführt und den Skifahrern eine Abfahrt über die legendäre Polsterrinne ermöglicht. Auch die Paragleiter könnten ihren beliebten Startplatz nur noch zu Fuß erreichen. Das Schicksal der Polster-Schutzhütte wäre früher oder später wohl auch besiegelt, wenn kein anderer Lift oder Weg mehr dort hinaufführt als die Wanderroute«, fuhr Bergmann fort.

»Es wäre wirklich schade um diesen Lift«, sagte Sandra. »Ich bin vor ewigen Zeiten auf einer Landschulwoche damit gefahren, und mir ist nicht nur die spektakuläre Aussicht auf den Erzberg und die umliegende Berglandschaft in Erinnerung geblieben. Dieses Gefühl während der Fahrt war schon etwas ganz Besonderes. Die würzige Waldluft, das Vogelgezwitscher, der frische Wind, der dir spätestens nach der Waldgrenze um die Nase weht … Man fühlt sich eins mit der Natur, ohne jegliche Ablenkung durch jemanden, der neben dir sitzt und dir ständig die Ohren vollquatscht.«

Bergmann runzelte die Stirn. »Muss ich das jetzt persönlich nehmen?«

»Aber woher denn …« Sandra grinste in sich hinein.

»Rede ich dir zu viel?«

»Zu viel nicht, aber … na, egal. In einer Gondel oder auf einem anderen Lift ist ein solches Erlebnis wie auf dem Einser-Sessellift jedenfalls nicht möglich.«

Jetzt war es Bergmann, der grinste. »Du kannst ja der Facebook-Gruppe zur Rettung des Einser-Sessellifts beitreten, um seine Schließung vielleicht zu verhindern. Außerdem werden in der Region Unterschriften gesammelt.«

»Wäre ich auf Facebook, würde ich mich dieser Gruppe glatt anschließen.«

»Ob diese Aktivitäten schlussendlich etwas nützen, wird die Zukunft weisen«, meinte Bergmann.

»Schau! Dort vorne ist die Präbichl-Skiarena.« Sandra fuhr langsamer und zeigte zu den Gebäuden und Liftanlagen, die bestimmt keinen Preis für vorbildliche alpine Architektur verdienten. Bunte Transparente und Lettern warben für die Skischule, ein Sportgeschäft und ein Restaurant.

»Na endlich«, sagte Bergmann und hielt nach dem Einsatzort Ausschau.

»Nur nicht hudeln, Herr Kollege, wir müssen noch ein Stück weiter bis zur Polsterlift-Talstation hinauffahren«, erklärte Sandra mit suchendem Blick, um die Zufahrt nur ja nicht zu verpassen. Gut ausgeschildert war der Weg zum Polsterlift wahrlich nicht.

Bergmann schaute sich bange in der alpinen Landschaft um. Mit Bergen hatte der eingefleischte Städter rein gar nichts am Hut, wusste Sandra. Allerhöchstens konnte er noch den sanft-hügeligen Landschaften der südlicheren steirischen Regionen etwas abgewinnen. Vor allem, wenn der nächste Buschenschank ganz in der Nähe und geöffnet war. Den großen Parkplatz vor der Skiarena, der sich ihnen autolos und menschenleer präsentierte, hatten sie hinter sich gelassen. Das Windrad, das sich gemächlich vor ihren Augen drehte, war Sandra neu. Sie folgte dem verblassten Wegweiser zum Polsterlift, den sie fast übersehen hätte, und der Serpentine, die sie weiter bergan führte. »Die Skisaison ist längst vorbei«, sagte sie und rief sich neuerlich die Bilder ihrer Jugend ins Gedächtnis. Tatsächlich hätte sie es schade gefunden, wenn der Polsterlift eingestellt würde, der sich doch um vieles harmonischer in die Landschaft einfügte als die modernen Liftanlagen der Skiarena. Mit seinem Verschwinden wäre das letzte eigenständige Merkmal am Präbichl verloren gegangen. Warum setzten die Tourismusverbände der Eisenstraße nicht lieber auf ihre unverwechselbare historische Stärke, zu denen zweifelsohne auch der Polster-Sessellift zählte, als mehr schlecht als recht zu versuchen, die Region neu zu erfinden? Vielleicht wollte man in Wahrheit gar keine Fremden hier haben, überlegte Sandra weiter, sondern viel lieber unter sich bleiben. Immerhin war die Mentalität der Leute von über 1000 Jahren Bergbau geprägt. So schnell würde sich diese wohl nicht ändern, obgleich die guten alten Zeiten nie mehr wiederkehrten.

»Du musst links abbiegen«, riss Bergmann sie aus ihren Gedanken.

»Ich kann lesen, danke.« Sandra lenkte den Wagen in die Kurve.

»Der Polster-Sessellift ist übrigens der einzige Lift in diesem Gebiet, der auch während der Sommersaison betrieben wird. Und die beginnt am kommenden Wochenende«, dozierte Bergmann.

»Ach ja?«

»Steht zumindest so auf der Homepage der Seilbahnen.«

»Interessant.«

»Findest du?«

»Einmal abgesehen von der Motivation, einen nackten Mann, lebendig oder tot, auf einen Sessellift zu platzieren, stellt sich mir die Frage, wer außerhalb der Saison Zugang zur geschlossenen Liftanlage hatte. Der Verstorbene selbst? Sein Mörder? Oder beide?«

»Sich Zugang zum Lift zu verschaffen, ist eine Sache. Ihn bedienen zu können, eine andere«, erwiderte Bergmann. »Wer kennt sich denn schon mit einem Sessellift aus? Ein Mitarbeiter der Seilbahnen beziehungsweise ein ehemaliger vielleicht. Oder aber jemand, der diesen nahesteht? Ein Techniker, der mit der Wartung betraut ist, kommt natürlich auch in Betracht«, sinnierte Bergmann laut.

Sandra warf ihre Stirn in Falten. »Du solltest nicht von dir auf andere schließen. Ich glaube nicht, dass es besonders schwierig ist, den Polsterlift in Gang zu setzen«, widersprach sie dem Chefinspektor. »Jemand, der sich für eine solche Anlage begeistert und technisch einigermaßen versiert ist, sollte das auch hinbekommen. Komplizierten elektronischen Schnickschnack wird es bei einer Liftanlage aus den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts wohl kaum geben.«

»Willst du damit sagen, dass zum Beispiel einer von dieser Bürgerinitiative zur Rettung des Polster-Sessellifts diesen ebenso bedienen könnte?«

Sandra zuckte mit den Schultern. »Das kann ich mir gut vorstellen. Vielleicht sind sich die Seilbahnbetreiber und die Bürgerinitiative ja so sehr in die Haare geraten, dass einer sterben musste und seine Leiche demonstrativ auf dem Lift bloßgestellt wurde. Quasi als Warnung für die anderen«, spekulierte sie laut. Welchen Grund konnte es sonst geben, einen nackten Mann, lebendig oder tot, auf den Sessellift zu setzen, wenn man ihn auch mit wesentlich geringerem Aufwand im Wald oder sonst wo entsorgen konnte? Oder hatte jemand eine persönliche Rechnung mit dem Opfer offen gehabt, es ermordet und darüber hinaus noch postum demütigen wollen? Auch ein Ritualmord war freilich nicht auszuschließen. Wobei Sandra ein solches Ritual fremd war. Dennoch stand zu befürchten, dass es womöglich weitere Opfer geben könnte.

»Wenn der Tote bei den Seilbahnen beschäftigt oder einer von dieser Bürgerinitiative war, wäre er doch sicher schon identifiziert«, unterbrach Bergmann ihre Überlegungen. »Unsere Kollegen aus der Provinz kennen ganz gewiss jeden, der sich in ihrem Revier herumtreibt, sofern es sich nicht um einen Touristen von auswärts handelt. Aber was sollte der hier gewollt haben, wo doch gar keine Saison ist?« Einmal mehr warf Bergmann einen skeptischen Blick auf die umliegenden Berge, auf denen die letzten übriggebliebenen Schneefelder in der Sonne gleißten.

»Möglicherweise ist die Leiche ja inzwischen identifiziert«, meinte Sandra. Im Schritttempo näherten sie sich der Polster-Talstation.

»Das werden wir bestimmt gleich erfahren.« Bergmann löste seinen Sicherheitsgurt.

2.

Auf dem Parkplatz unterhalb des stillgelegten Gasthauses standen einige Einsatzfahrzeuge, darunter drei Funkstreifen der örtlichen Polizei, die als Erste am Leichenfundort eingetroffen war und diesen für die Öffentlichkeit abgesperrt hatte. Der weiße Mercedes mit dem Grazer Kennzeichen gehörte der Gerichtsmedizinerin, wusste Sandra, die Kastenwagen der Tatortgruppe. Der anthrazitfarbene Transporter eines Bestattungsunternehmens, der das Mordopfer zur Obduktion nach Graz überstellen würde, stand weiter hinten zum Abtransport der Leiche bereit.

Sandra hielt an, um einem uniformierten Kollegen, der ihnen den Weg versperrte, ihren Dienstausweis zu zeigen. Dann rollte sie weiter bis zum hinteren Parkplatz, auf dem weitere Funkstreifen abgestellt waren. Lediglich zwei zivile Autos mit Kennzeichen von Leoben Umgebung waren ihr fremd. Neben einem roten Skoda-Kombi älteren Baujahres parkte sie ihren Dienstwagen.

Bergmann stieg aus dem Wagen, kaum dass der Motor verstummt war. Sandra holte die Tasche mit der Schutzausrüstung aus dem Kofferraum und folgte ihm zur Talstation. Wie angekündigt, stand der Einser-Sessellift still. Das gelbe Schild bestätigte, dass am Polster-Classic zurzeit kein Betrieb war. Mehrere Polizisten in Uniform beziehungsweise weißen Einweg-Overalls tummelten sich rund um die Talstation, die sich nicht verändert hatte, seitdem Sandra zuletzt hier gewesen war. Außer, dass sie inzwischen noch um einiges schäbiger wirkte als damals. Sandra fielen zwei Männer in Zivilkleidung auf, die sich etwas abseits, außerhalb des mit Polizeibändern abgesperrten Bereichs, miteinander unterhielten. Neben einem von ihnen saß ein angeleinter Gebirgsschweißhund.

Sandra schlüpfte hinter Bergmann unter dem Flatterband hindurch, um zur steinernen Treppe zu gelangen, die zum Eingang der Talstation hinaufführte. Prompt stürmte ein uniformierter Kollege herbei.

»Halt! Stehengeblieben!«, rief er ihnen von oben zu.

»Sagt wer?« Bergmann stapfte unbeirrt die Stufen hinauf.

»Kontrollinspektor Schaunitzer, Polizeiinspektion Vordernberg«, erwiderte der etwas jüngere Mann skeptisch, und betrachtete den älteren nunmehr aus der Nähe. »Und Sie sind?«

Während Sandra längst ermittlungs- und bergtaugliche Zivilkleidung anhatte, trug der Chefinspektor noch immer seinen hellen Sommeranzug und die Mokassins mit den glatten Ledersohlen, die in den Bergen völlig fehl am Platz waren. Die Ansteckblumen, die ihn als Hochzeitsgast zu erkennen gegeben hätten, hatte er während der Fahrt vom Revers seines Jacketts entfernt und kurzerhand aus dem fahrenden Auto geworfen. »Ist doch eh alles bio«, hatte er gemeint, als Sandra ihn der Umweltverschmutzung bezichtigt hatte. Bei seinem Aufzug war es jedenfalls kein Wunder, dass der Landpolizist ihm den Ermittler vom LKA nicht so ohne Weiteres abnahm und seine Identität hinterfragte.

Sandra zückte noch einmal ihren Dienstausweis und nannte ihre Namen und Dienstränge.

Bergmanns suchender Blick folgte indessen den Seilen, die zur Bergstation führten. »Wo ist der Tote?«, fragte er.

Schaunitzer trat einen Schritt beiseite und zeigte nach unten. »Längst geborgen. Wir ham ihn ja schlecht dort oben sitzen lassen können, bis ihr aus Graz daherkommts.«

»Habt ihr befürchtet, dass er sich dort oben einen Sonnenbrand holt?«, fragte Bergmann mit steinerner Miene.

Schaunitzer beschloss, die Frage des Chefinspektors ernst zu nehmen. »Hätt ja sein können, dass der Mann noch lebt.«

»Und? Hat er noch gelebt?«

Schaunitzer zuckte mit den Schultern. »Da war leider nix mehr z’ machen. Der war schon ganz kalt und steif. Nach der Bergung ham wir die Leich in die Talstation g’schafft. Dort war sie dann aber der Tatortgruppe im Weg. Deswegen ham wir s’ nach unten ins Lager ’bracht. Die Gerichtsmedizinerin ist auch schon dort.«

»Konnte der Tote inzwischen identifiziert werden?«, fragte Sandra.

Der Landpolizist schüttelte den Kopf. »Von unseren Leuten kennt den keiner. Auch den Kollegen aus Trofaiach und Eisenerz is’ er fremd.«

»Demnach ist es niemand aus der Gegend«, meinte Sandra.

»Ganz ausschließen lässt sich das freilich nicht. Is’ aber eher unwahrscheinlich. Vielleicht is’ einer aus der Stadt Leoben oder ein Tourist von weiter weg. Obwohl ja grad keine Saison ist.«

»Ist uns nicht entgangen.« Bergmann rückte die Sonnenbrille auf seiner Nase zurecht.

»Könnte das Opfer einer von dieser Bürgerinitiative zur Rettung des Polster-Sessellifts gewesen sein?«, fragte Sandra.

»Glaub i ned. Die kennen wir eigentlich alle. Also die, die sich öfter hier umanandtreiben. Alle Mitläufer und Unterstützer freilich ned.«

»Wurde jemand vermisst gemeldet?«

»Bis jetz’ ned.«

»Sollte sich doch noch jemand bei euch melden, gebt uns bitte gleich Bescheid«, sagte Sandra.

»Jawohl.«

»Wer hat die Leiche denn gefunden? Und wo genau?«, wollte sie wissen.

»Unser Oberförster hat den Mann in der Nähe der 4er-Stütze aufm Sessel mit der Nummer 21 baumeln seh’n, gegen neun Uhr. Er hat sich noch g’wundert, wie der Mann aufn Lift auffikommen is’, noch dazu nackert. Z’erst hat er g’meint, dass er stockbesoffen is’. Auf seine Zurufe hat er aber ned reagiert. Auf das hinauf hat uns der Loisl dann verständigt.«

»Der Loisl?«, fragte Bergmann.

»Na der Oberförster«, erklärte Schaunitzer.

»Und hat der Herr Oberförster auch einen Nachnamen?«

»Ja sicher.«

Bergmann fixierte den Landpolizisten aus schmalen Augen.

Gleich würde er die Geduld verlieren, befürchtete Sandra.

»Seebacher Alois«, antwortete Schaunitzer doch noch.

»Und der Herr Seebacher Alois befindet sich jetzt wo?«, fragte Bergmann.

»Dort drüb’n. Der mi’m Hund. Neben dem Kolleger Mario, der is’ Liftler beim Anser«, erklärte Schaunitzer.

»Liftwart beim Einser-Sessellift«, übersetzte Sandra sicherheitshalber für den Chefinspektor.

»Ja eh … Von der Talstation«, fügte Schaunitzer hinzu.

»Aha. Mit den beiden Herren sprechen wir dann später«, sagte Bergmann. »Wurden die Auffindesituation der Leiche und die Bergung fotografisch dokumentiert?«, wollte er wissen.

»Freilich. Ich hab auch selber ein paar Fotos g’schossn.« Schaunitzer griff nach seinem Handy und öffnete die Galerie-App. »Bitteschön«, sagte er und reichte Bergmann das Gerät.

»Ein brandneues Samsung S5? Ihr seid ja ganz schön nobel ausgestattet hier oben.« Bergmann streckte das Smartphone weiter von sich, um die Bilder scharf sehen zu können. Allzu lange würde es wohl nicht mehr dauern, bis er eine Lesebrille brauchte.