Steirerstern - Claudia Rossbacher - E-Book

Steirerstern E-Book

Claudia Rossbacher

5,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In ihrem zehnten Fall werden die LKA-Ermittler Sandra Mohr und Sascha Bergmann ins Murtal gerufen, um den tödlichen Treppensturz eines Bassisten zu klären. Ist Luigi bei einem bedauerlichen Unfall ums Leben gekommen? War es Mord oder Totschlag? Die junge Sängerin, in deren Band er spielte, gerät im Fokus der Medien unter Tatverdacht und wird schließlich vermisst. Hat Jessica Wind ihren Freund im Streit getötet und ist nach dem »Volx Open Air« in Spielberg untergetaucht? Oder wurde sie Opfer eines Verbrechens? Neider und Feinde gibt es genug. Und einen besessenen Fan, der sie stalkt.

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Seitenzahl: 298

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Claudia Rossbacher

Steirerstern

Sandra Mohrs zehnter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Hillarys Blut (2019), Steirerrausch (2019), Steirerquell (2018), Steirerpakt (2017), Steirernacht (2016), Steirerland (2015), Steirerkreuz (2014), Steirerkind (2013), Steirerherz (2012), Steirerblut (2011), Steirermorde (E-Book Only, 2015), Enter ermittelt in Wien (2016), Enter ermittelt (2013), SOKO Graz – Steiermark (2017), Wer mordet schon in der Steiermark? (2015), GenussSpur Steiermark (2019), Griaß eich in der Steiermark (2013)

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6308-2

Haftungsausschluss

Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Ein Glossar der steirischen beziehungsweise österrei­chischen Ausdrücke und Abkürzungen befindet sich am Ende des Buchs.

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Mit »Steirerstern« halten Sie meinen zehnten Steirerkrimi in Händen, der Sie hoffentlich ebenso gut unterhalten wird wie seine Vorgänger. Sollten Sie noch keinen oder nicht alle Bände dieser Reihe gelesen haben, kommen Sie mit dem Jubiläumsfall für Sandra Mohr und Sascha Bergmann vielleicht auf den Geschmack, dies nachzuholen. Es würde mich sehr freuen!

Die Bücher lassen sich zwar in beliebiger Reihenfolge lesen, falls Sie es aber lieber chronologisch mögen, empfiehlt es sich, die Steirerkrimis in alphabetischer Reihenfolge zu lesen, beginnend mit »Steirerblut«. Einige Buchstaben nach »S« (wie in Steirerstern) bis zum »Z« sind noch offen, daher dürfen Sie sich auf weitere Mordfälle in der Steiermark freuen. Am »T« arbeite ich bereits.

Diese Titelordnung betrifft allerdings nur meine Romane, nicht die Verfilmungen, die kunterbunt und mit sogenannten Spin-off-Folgen gemischt werden. Zum TV-Film »Steirerwut« etwa werden Sie das Buch in Ihrer Buchhandlung vergeblich suchen. Es sei denn, ich schreibe es später noch, wenn ich beim Buchstaben »W« angelangt bin.

Auf die Drehbücher habe ich als Romanautorin übrigens keinen Einfluss. Inwieweit sie von meinen Vorlagen abweichen, entscheiden Regisseur, Drehbuchautoren und Redakteure der beteiligten TV-Sender ORF und ARD.

Besser ist es aber ohnehin, Filme als Filme zu betrachten, Romane als Romane zu lesen und beide möglichst nicht miteinander zu vergleichen.

So oder so wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung mit den LKA-Ermittlern Sandra Mohr und Sascha Bergmann und bedanke mich für Ihre Treue!

Herzlich

Ihre Claudia Rossbacher

PS.: Über Ihre Rezensionen im Internet oder persönlichen Zuschriften an [email protected] freue ich mich. Sollten Sie Fehler im Buch entdecken, können Sie mir diese gerne per E-Mail melden, damit sie in den nächsten Auflagen nicht wieder auftauchen. Vielen Dank!

Reinischkogel, im Dezember 2019 

Prolog

Waßt du, wos du für mi bist?

Waßt du, wen i nochts vermiss?

Du bist furt, und nimmer hier

bei mir.

Steirerstern, oho

Schau nach vurn, olle Tog

weil die Wöt si weiterdraht

so oder so.

Wann des Schicksal mi dawischt

Und nix mehr so wia vurher is

Werd i trotzdem weitergehn

für di.

Steirerstern, oho

Schau nach vurn, olle Tog

weil die Wöt si weiterdraht

so oder so.

Kapitel 1

Mittwoch, 14. August 2019

1.

»Jetzt reicht’s mir aber!« Abteilungsinspektorin Sandra Mohr sprang von ihrem Bürostuhl auf und stürmte auf den Schreibtisch des Kollegen zu. Der Chefinspektor des LKA Steiermark, Abteilung Leib und Leben, hatte seinen Arbeitsplatz verlassen, um sich einen weiteren Kaffee zu holen. Bestimmt die zehnte Tasse an diesem Tag. Oder war es schon seine elfte?

Wie viel Koffein Sascha Bergmann zu sich nahm, war wahrlich nicht ihr Problem. Aber dass er sein Handy wieder einmal liegen hatte lassen, das unentwegt klingelte, schon. Wie sollte sie sich auf den Bericht konzentrieren, den zu schreiben er ihr aufgetragen hatte, wenn sie andauernd aus ihren Gedanken gerissen wurde?

Sandras Blick streifte die Uhr an der Wand. 18.33 Uhr. Ihr Magen knurrte, aber der Abschlussbericht zum erweiterten Suizid in Mürzzuschlag war noch immer nicht abgeschlossen. Spätestens um 18 Uhr hatte sie heute mit der Arbeit fertig sein wollen, um wenigstens ein paar Bahnen im nahen Straßganger Bad ziehen zu können.

Zum Joggen war es in den letzten Tagen viel zu heiß gewesen. Die Grazer stöhnten bereits über die dritte Hitzewelle in diesem Sommer. Während die Stadt einem Backofen glich, häuften sich am Land die heftigsten Unwetter mit Starkregen, Sturm und Hagel, die massive Schäden an Hausdächern, Autos, Straßen und in der Landwirtschaft hinterließen. Die Hagelversicherung verzeichnete Ernteeinbußen in Millionenhöhe. Und es gab immer noch Leute, die den menschengemachten Klimawandel leugneten oder zumindest daran zweifelten. Auch der Chefinspektor der Mordgruppe zählte zu den Skeptikern. Die aktuelle Klimahysterie diene in erster Linie der Klimaindustrie, die CO2-Steuern, Verbote und eine Umerziehung der Bevölkerung bezwecke, um Profite aus neuen Einnahmequellen zu erwirtschaften, war er überzeugt.

Noch ehe Sandra sein Smartphone lautlos stellen konnte, verstummte es von allein. Vom Display las sie ab, dass zuletzt ein David fünfmal hintereinander vergeblich angerufen hatte. Einen Nachnamen zeigte es nicht an. Bergmanns Sohn, vermutete sie und schaltete vorsorglich den Klingelton ab. Für den Fall, dass David erneut versuchen würde, seinen Vater zu erreichen. Sie legte das Mobiltelefon auf den Schreibtisch ihres Vorgesetzten zurück, als ihr eigenes Handy aus der anderen Ecke des Büros ertönte.

»Geh bitte …« Genervt sprintete Sandra zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Ihr Smartphone zeigte denselben Anrufer wie eben an, dazu seinen Nachnamen.

Sandra nahm das Gespräch entgegen. »David, was gibt’s denn so Dringendes?«, fragte sie ruppiger als gewöhnlich und ließ sich auf ihren Drehstuhl fallen. »Dein Vater ist nicht im Büro. Kann er dich zurückrufen?« Sie rollte näher an den Schreibtisch heran.

»So ein verdammter Schas.« David klang ehrlich verzagt. »Wenn ich den Papa einmal brauch’, ist er nicht da. Hätt’ ich mir ja denken können«, beschwerte er sich.

»Kann ich dir helfen?«, bot sich Sandra an. Sie hatte Bergmanns erwachsenen Sohn, der einem One-Night-Stand entstammte, beinahe ebenso ins Herz geschlossen wie seine zwölfjährige Tochter, die bei seiner Ex-Frau und ihrem Stiefvater in Wien lebte. Seit die beiden verheiratet waren und einen gemeinsamen Sohn hatten, besuchte Sarah ihren Vater nicht mehr so häufig in Graz. Dafür verbrachten sie in den Sommerferien einige Wochen Urlaub miteinander. Erst vor wenigen Tagen waren die beiden vom Gardasee zurückgekehrt.

»Kannst du bitte so schnell wie möglich herkommen?«, flehte David sie an.

Im Hintergrund hörte Sandra jemanden schluchzen. Wie sie zu erkennen glaubte, eine Frau. Längst schwante ihr, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. »Wenn du mir sagst, wohin ich kommen soll … Was ist überhaupt los, David? Hattest du einen Unfall? Ist jemand verletzt?«, erkundigte sie sich, während sie das Dokument auf ihrem Bildschirm speicherte und alle Programme schloss.

»Nein, Sandra, verletzt ist niemand. Es ist … es ist viel schlimmer«, stammelte der junge Mann.

»David!«, fuhr sie eindringlicher fort und gleichzeitig ihren Computer hinunter. »Du atmest jetzt tief durch und erklärst mir bitteschön, was geschehen ist.«

»Der Luigi … er ist …« David stöhnte auf und setzte erneut zu einer Antwort an. »Er ist tot.«

Um Gottes willen! Sandra schluckte den ersten Schreck hinunter, ehe sie fortfuhr. »Luigi? Dein Freund? Der Bassist?«

»Ja, wer denn sonst? Kennst du noch einen Luigi? Scheiße, Sandra! Er ist tot! Ich pack’s nicht.« Davids Stimme kippte.

»Hast du die Rettung verständigt?«

»Wozu denn? Die sind doch nicht für Leichen zuständig. Der Luigi ist tot, Sandra!«, schrie David sie an, als ob sie ihn nicht längst verstanden hätte.

»Ganz ruhig, David. Hast du …«

»Ruhig? Er! Ist! Tot! Ich weiß doch ganz genau, wann wer tot ist«, unterbrach er Sandra. »Schließlich war ich beim Zivildienst Rettungssanitäter. Ich hab alles versucht, um ihn zurückzuholen: Herzmassage, Mund-zu-Mund-Beatmung, das volle Programm, mindestens eine halbe Stunde lang. Sinnlos.« David schnappte hörbar nach Luft.

Auf die nächstliegende Idee, die Rettung zu verständigen, war er aber nicht gekommen, wunderte sich Sandra. Und die Person, die fortwährend im Hintergrund heulte, höchstwahrscheinlich auch nicht.

»Jetzt halt’s endlich z’ammen, Jessie! Bitte!«, rief David sie schroff, dennoch einigermaßen höflich, zur Ordnung.

Mit »Jessie« konnte er nur Jessica Wind meinen, folgerte Sandra. Sowohl David als auch Luigi waren Musiker in der Band der jungen steirischen Sängerin, deren Stern vor zwei, drei Jahren am heimischen Musikhimmel aufgegangen war. Seither waren ihre Dialektpop-Lieder in den österreichischen Charts, sie selbst häufig in den Medien präsent. »Hast du die Polizei angerufen?«, fragte Sandra weiter.

»Ja, was tu ich denn gerade? Du und der Papa, ihr seid’s doch die Polizei … und für Mord zuständig, oder etwa nicht?«

»Moment einmal, du glaubst, dass Luigi ermordet worden ist?«

David lachte verzweifelt auf. »Warum sonst versuch’ ich schon die ganze Zeit den Chefinspektor der Mordgruppe zu erreichen?«

»Warst du dabei, als der Mord geschehen ist? Hast du den Täter gesehen?«

»Nein, ich hab ihn nicht gesehen. Aber gehört hab ich was …« Einmal mehr verstummte er mitten im Satz.

»Was denn, David? Hilfeschreie? Schüsse? Oder was sonst?«, versuchte Sandra, ihm eine konkrete Aussage zu entlocken.

»Weder noch. Der Luigi ist nicht erschossen worden, sondern die Stiege hinuntergefallen. Oder besser, gefallen worden. Kann bitte endlich wer von euch herkommen, Sandra? Wir sitzen neben seiner Leiche.«

Jessica schluchzte auf.

»Es ist gleich jemand da, David«, redete Sandra möglichst ruhig auf ihn ein. Der junge Mann hatte stets einen besonnenen Eindruck auf sie gemacht. Allerdings war er nicht der Erste, der in einer solchen Ausnahmesituation überfordert war und die Nerven verlor. »Bist du allein mit Jessica? Oder ist jemand bei euch?«

»Wir sind zu zweit hier. Die Jessica und ich. In ihrem Haus in der Gaal.«

Demnach bestand für die beiden keine akute Lebensgefahr, folgerte Sandra. Dennoch mussten die Kollegen der zuständigen Polizeiinspektion umgehend ausrücken. Und jemand vom Kriseninterventionsteam, der die jungen Leute psychologisch betreute. Außerdem ein Arzt, der den Toten beschaute und den Tod bescheinigte. Zuallererst aber war die Landesleitzentrale zu verständigen, die alle notwendigen Schritte koordinierte. »Ich bin schon auf dem Weg zu euch«, sagte Sandra. Was genau David gehört hatte, das ihn an einen gewaltsamen Tod glauben ließ, würde sie später an Ort und Stelle klären. »Ihr greift bitte nichts mehr an und wartet am besten draußen auf die Einsatzkräfte. Verletzt ist niemand, hast du gesagt?«

David blies Luft aus. »Nein Sandra, nur tot.«

Der sarkastische Ton, den er anschlug, erinnerte sie unweigerlich an Bergmann. Die gemeinsamen Gene ließen sich eben doch nicht verleugnen. Obwohl der junge Mann seinem leiblichen Vater erstmals vor vier Jahren begegnet war, hatten die beiden dasselbe Grinsen. Und eine ähnliche Statur. Ansonsten hätten sie unterschiedlicher kaum sein können. Sowohl von ihrem Naturell als auch vom Aussehen her.

Während der feinfühlige, zuvorkommende David seine blonden Locken fast kinnlang trug, standen die kürzer geschnittenen dunkleren Haare seines chauvinistischen Vaters, der stets einen unpassenden Spruch auf den Lippen hatte, meist wirr vom Kopf ab. Wobei seine Schläfen und der Dreitagebart allmählich ergrauten. Für Mitte 40 war der Chefinspektor aber recht gut in Schuss. Bis auf die Lesebrille, die er inzwischen benötigte. Die beachtlichen Zuckermengen, die der Kaffeejunkie mit seiner Lieblingsdroge zu sich nahm, schienen ihm nichts anhaben zu können. Wohl auch, weil er regelmäßig joggte und Taekwondo trainierte, hatte er sich seine drahtig-schlanke Figur bislang erhalten können. »Verrätst du mir bitte, wo genau ich euch finde?«, widmete sich Sandra seinem Sohn.

David nannte ihr die Adresse von Jessica Winds Domizil im Gaalgraben. Außerdem notierte sich Sandra den roten Postkasten, bei dem sie auf die Privatstraße abzweigen musste, um zum Einsatzort zu gelangen. Das Navi fand das Anwesen angeblich nicht. Zu gut versteckt lag es hinter einem Waldstück.

Genau deshalb war dieser Platz der ideale Rückzugsort für die Singer-Songwriterin, hatte Sandra kürzlich in einer Homestory über sie gelesen. Abseits der Öffentlichkeit ließ sich die Sängerin nämlich am liebsten von der Natur inspirieren und arbeitete an neuen Nummern. Im Sommer lud sie ihre Musikanten häufig zu sich ein, um mit Luigi, David und den anderen beiden jungen Männern, deren Namen sich Sandra nicht gemerkt hatte, gemeinsam an Kompositionen, Arrangements und Texten zu feilen beziehungsweise zu proben. Der ehemalige Heustadel war zu einem Probenraum umgebaut, ein eigenes Tonstudio eingerichtet worden. Wiewohl die nächsten Nachbarn so weit entfernt waren, dass es auch niemanden störte, wenn die jungen Leute bis spät nachts auf der Terrasse musizierten.

Aus dem Klatschmagazin, das Sandra im Wartezimmer ihres Zahnarztes in die Hände gefallen war, wusste sie auch, dass Jessica in bescheidenen Verhältnissen, jedoch von klein auf musizierend, in der Gaal aufgewachsen war. Und zwar auf dem Bauernhof ihrer Eltern, der nur wenige Kilometer entfernt lag. Die frühere Almhütte hatte sie stilvoll renoviert und um ein Gästehaus erweitert. Die Kühe ihrer Eltern grasten auf der angrenzenden Almwiese. Aus deren Milch produzierte ihre Schwester Käse und Butter in der nahen Sennerei. Die Frühstückseier lieferten die Hühner aus dem hauseigenen Stall, die im weitläufigen Freigehege ihr Leben genossen, bis sie an Altersschwäche starben.

Sandra fuhr mit ihrem Stuhl zurück und bückte sich nach ihrer Handtasche. »Kümmer du dich einstweilen um Jessica, bis jemand vom Kriseninterventionsteam bei euch ist«, sagte sie zu David.

»Mach ich«, versprach er ihr. »Danke, Sandra. Und beeil dich, bitte.«

Noch ehe sie etwas erwidern konnte, hatte David die Verbindung getrennt. Sandra stand auf, als Bergmann das Büro betrat.

2.

Seite an Seite eilten die Abteilungsinspektorin und der Chefinspektor über den Parkplatz der Landespolizeidirektion, schnurstracks auf eine Reihe ziviler Dienstwagen zu. Kurz vor 19 Uhr leistete die Augustsonne noch immer ganze Arbeit. Der Asphalt glühte. Kein Lüftchen regte sich, das ihnen wenigstens ein bisschen Abkühlung verschafft hätte.

»Warum sollte ich denn befangen sein?«, beantwortete der Chefinspektor die letzte Frage seiner Kollegin mit einer Gegenfrage.

Sandra öffnete die Türschlösser des schwarzen Skoda-Kombis mit dem Funkschlüssel. »Na, immerhin besteht die Möglichkeit, dass dein Sohn in einen Mordfall verwickelt ist.« Neben der Fahrertür hielt sie inne, den Blick über das Autodach hinweg auf Bergmann gerichtet, der an der Beifahrerseite stand.

»Lass uns erst einmal vor Ort abklären, was überhaupt passiert ist«, erwiderte er.

»Kannst du dich bitte um das Blaulicht kümmern?« Sandra deutete auf die Rückbank.

Dass der Freund seines Sohnes tot war, schien Bergmann kaum zu berühren. Nach fast 20 Jahren, die er mit Mord und Totschlag verbrachte, gelang es ihm zumeist besser als ihr, den nötigen emotionalen Abstand zu Tätern, Opfern und Angehörigen zu wahren. Kamen Kinder zu Schaden, fiel es dem Chefinspektor deutlich schwerer, sich abzugrenzen. Dann reagierte er oftmals viel impulsiver, als es in seiner Position angebracht war. Einmal hatte er sogar einen mutmaßlichen Kinderschänder vor Sandras Augen verprügelt. Zweifellos hätte ihm dieser Vorfall zumindest ein Disziplinarverfahren eingetragen, hätte sie damals nicht weggesehen und der Verdächtige ebenfalls geschwiegen.

»Was schaust du mich denn so an? Glaubst du etwa, dass David seinen besten Freund getötet hat?«, fragte Bergmann irritiert.

Natürlich glaubte sie das nicht. Wo doch noch gar nicht feststand, dass überhaupt ein Gewaltverbrechen vorlag. Andererseits war es viel zu früh, um irgendetwas ausschließen zu können. Kommentarlos stieg Sandra in den Wagen ein.

»Verfluchte Affenhitze«, schimpfte Bergmann hinter ihrem Rücken hantierend. »Und komm mir jetzt nicht wieder mit einer Klimawandelpredigt. Ich kann es nimmer hören.«

Das Thema zu ignorieren, war natürlich auch eine Möglichkeit, dachte Sandra. Jedoch ganz bestimmt keine, die die globale Erwärmung aufhalten konnte. Augenrollend schnallte sie sich an, startete den Motor und ließ alle Fenster hinunter, damit die größte Hitze aus dem Wagen entweichen konnte. Nachdem der Chefinspektor das Blaulicht auf dem Autodach fixiert und neben ihr Platz genommen hatte, schloss sie die Fenster und schaltete die Klimaanlage auf höchster Stufe ein. Lieber wäre sie mit geöffneten Fenstern gefahren, hätte sich den Fahrtwind um die Nase wehen lassen. Aber dafür war es dieser Tage zu heiß in der Stadt.

Bergmann griff über seine Schulter nach dem Sicherheitsgurt, als Sandra losfuhr.

Hinter dem Ausfahrtsschranken schaltete sie das Blaulicht ein, setzte den Blinker, um stadtauswärts in die Straßganger Straße abzubiegen.

»Was hat dir der Bub denn genau erzählt?«, wollte Bergmann wissen.

Sandra drehte das Gebläse der Klimaanlage hinunter und gab Davids Anruf noch einmal ausführlicher wieder. Vor der Kreuzung schaltete sie das Martinshorn ein, ehe sie die Fahrzeugkolonne, die auf die nächste grüne Ampelphase wartete, über den freien Linksabbiegerstreifen zügig überholte.

»Wo liegt Gaal überhaupt? Noch nie was gehört von diesem Kaff«, brummte der zugezogene Wiener, der sich in der Steiermark allerhöchstens im Grazer Stadtgebiet einigermaßen auskannte.

»Die Gaal ist kein Kaff, sondern eine Gemeinde am Südrand der Niederen Tauern, den Seckauer Tauern. Flächenmäßig ist sie sogar eine der größten Gemeinden in der Steiermark und reicht bis zu den Berggipfeln auf fast 2.500 Meter hinauf«, erklärte ihm Sandra.

»Noch schlimmer! Ein Kaff in den Bergen«, knurrte der bekennende Stadtmensch, der sich bestenfalls mit Weinhügeln anfreunden konnte, solange dort die Buschenschänken geöffnet waren.

Sandra musste grinsen. »Falls es dich beruhigt: Bergschuhe wirst du diesmal bestimmt keine brauchen«, spielte sie auf Bergmanns monotone Schuhwahl an, die ihm bei etlichen Einsätzen kalte beziehungsweise nasse Füße beschert hatte. Was jedoch nichts daran änderte, dass er weiterhin tagein, tagaus seine heiß geliebten Sneakers trug. So auch heute wieder. Wenigstens ersparte er ihr den Anblick von Männersandalen, womöglich mit Socken. Außerdem lag er mit seinem Schuhwerk momentan sogar im Trend. Reiner Zufall. »Der Red Bull Ring sagt dir aber schon etwas«, fuhr sie fort. Die Rennstrecke am nahen Spielberg bei Zeltweg musste selbst ihm – dem miserabelsten Autofahrer, den sie kannte – ein Begriff sein. Auch wenn er sich bestimmt nicht für Formel 1- oder andere Motorsportrennen interessierte.

»Spielen wir jetzt ›Stadt, Land, Fluss‹? Oder verrätst du mir auch so, wie lange wir noch fahren?«

»Normalerweise noch eine gute Stunde. Ohne Urlauberreiseverkehr oder Stau. Morgen ist ja ein Feiertag.« Einer, an dem sie beide Bereitschaftsdienst hatten, während viele andere zu Mariä Himmelfahrt ins lange Wochenende fuhren. Die meisten allerdings in den Süden und nicht wie die Ermittler ins nördlicher gelegene Obere Murtal, stellte Sandra auf der A 9 fest.

Kurz nach Peggau meldete sich ihr Magen laut knurrend. Mit vollem Bauch hatte sie nicht schwimmen gehen, sondern erst nach dem Sport etwas essen wollen. Davids Anruf hatte ihre Pläne gründlich über den Haufen geworfen. Und jetzt war ihr beinahe schlecht vor Hunger. »Magst du im Handschuhfach nachschauen, ob du einen Müsliriegel für mich findest? Ich hab seit Mittag nichts mehr gegessen«, wandte sie sich an ihren Beifahrer. Der hatte sich seit seiner letzten Frage nach der Ankunftszeit wortkarg gezeigt, was Sandra recht war.

Bergmann legte sein Smartphone weg, durchwühlte das Handschuhfach, um dort tatsächlich fündig zu werden. Mit spitzen Fingern betrachtete er den Müsliriegel, der nach hinten gerutscht war, und reichte ihn ihr hinüber. »Ein g’sundes Klumpert«, meinte er geringschätzig.

So gesund war dieser Riegel mit dem vielen Zucker gar nicht. Aber wörtlich hatte der Chefinspektor seinen Kommentar ohnehin nicht gemeint. »Hast du etwas Besseres dabei?«, fragte Sandra zurück.

»Kaugummi.«

»Nein, danke!«

Bergmann nahm sein Smartphone wieder zur Hand.

Heißhungrig biss Sandra von dem klebrigen Riegel ab, der sein Ablaufdatum bereits vor etlichen Monaten überschritten hatte. In der Not fraß der Teufel Fliegen, kam ihr das Sprichwort in den Sinn. Keine Ahnung, warum er das tat. Da war ihr dieser alte Müsliriegel doch noch lieber. Auch wenn er wie picksüßer Pappendeckel schmeckte.

Gähnend steckte Sandra die leere Folienverpackung ins Seitenfach der Fahrertür. Morgen würde sie sich wohl wieder nicht ausschlafen können, fiel ihr ein. Sofern die Spurenlage am Einsatzort nicht unmittelbar und zweifelsfrei widerlegte, dass Davids Freund durch fremde Gewalteinwirkung zu Tode gekommen war.

Nicht nur um der eigenen Nachtruhe willen hoffte Sandra inständig, dass Luigi bei einem Unfall verstorben war. Für ihn änderte die Todesart zwar nichts mehr, aber seine Angehörigen würden ein tragisches Unglück höchstwahrscheinlich leichter verarbeiten können als einen Mord oder Totschlag.

3.

Kurz nach Sonnenuntergang rollte Sandra im Schritttempo an den Funkstreifen vorbei, um auf der schmalen Schotterstraße im Gaalgraben nicht unnötig Staub oder Steinchen aufzuwirbeln. Ihren Kombi stellte sie zwischen dem Leichenwagen und einem Kastenwagen der Tatortgruppe ab.

Hatte der Arzt die Leiche schon zum Abtransport freigegeben? Handelte es sich doch um einen Unfall? Dann war der Transporter der Tatortgruppe umsonst ausgerückt. Dass die Kollegen vor ihnen am Einsatzort waren, wunderte Sandra.

In der Abenddämmerung erkannte sie das Anwesen aus der Zeitschrift wieder. Die Scheune war zur Gänze, das große Wohnhaus nur im Erdgeschoß gemauert und weiß getüncht. Das obere Stockwerk samt Balkon aus demselben verwitterten Holz wie die Almhütte, beide Häuser mit Holzschindeln gedeckt. Eine ähnliche Almhütte stand etwas abseits noch einmal im Miniaturformat und diente den Hühnern als Unterschlupf. Das weitläufige Außengehege war mit einem Maschendrahtzaun gegen tierische Hühnerdiebe aus der Luft und aus dem Wald gesichert. Den idyllischen Teich und die Almwiese aus dem Magazin suchte Sandra vergeblich. Sie mussten wohl hinter den Gebäuden liegen. Dafür erkannte sie Davids blauen Seat Kombi, der neben einem roten Jeep in einem der beiden Carports am Waldrand parkte. Im zweiten stand ein weißer VW-Bus, dessen Motorhaube das Logo von Jessica Wind mit ihrem Namensschriftzug, einem Notenschlüssel und Noten aus bunten Sternchen zierte. Daneben eine schwarze Ducati-Maschine.

Sandra erspähte David, der vom größeren der beiden Wohnhäuser kommend auf sie zueilte.

»Da seid’s ihr ja endlich!«, begrüßte er die Ermittler, gleichzeitig erleichtert und vorwurfsvoll, kaum, dass sie aus ihrem Dienstwagen ausgestiegen waren.

»Servus, David!« Bergmann sah seinen Sohn prüfend an.

Sandra sprach ihm ihr Beileid aus.

Davids Haut wirkte fahl in der Dämmerung. Seine Augen verrieten ihr, dass er um seinen toten Freund geweint hatte. Auch jetzt kämpfte er gegen seine Tränen an und blickte zu Boden, die Hände in die Taschen seiner locker sitzenden Jeans gebohrt.

Sandra fröstelte. Hier oben war die Luft deutlich frischer als im hochsommerlich schwülen, feinstaubgeplagten Graz. Sie holte ihre Jeansjacke vom Rücksitz und schlüpfte hinein, als ein uniformierter Polizist auf sie zukam, der sich ihnen als Kommandant der Polizeiinspektion Seckau vorstellte.

»Da ist der Totenschein.« Der Kontrollinspektor reichte Bergmann ein Papier.

David merkte auf.

Der Chefinspektor gab das Dokument an Sandra weiter, damit er nicht erst umständlich seine Lesebrille hervorkramen musste.

»Todesart: unnatürlicher Tod. Fremdeinwirkung mit einem Fragezeichen«, las sie laut vor. Der Arzt schloss eine Gewalttat demnach nicht aus. Die Staatsanwaltschaft würde ein Todesermittlungsverfahren und eine Obduktion der Leiche durch die Grazer Gerichtsmedizin anordnen. Damit hatten sie also einen neuen Fall. »Etliche Hämatome. Im Gesicht, am Kopf und am Körper«, las Sandra weiter vor. »Todesursache: Wirbelfraktur. Und noch ein Fragezeichen.«

»Ist Herr Doktor Fragezeichen noch hier? Kann ich mit ihm sprechen?« Bergmann blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um.

»Der Doktor hat dringend zu einem Notfall müssen«, sagte der Kontrollinspektor.

Bergmann seufzte und griff zu seinem Handy. »Na schön, dann rede ich mit dem Staatsanwalt. Herrn Doktor Fragezeichen können wir später anrufen.«

»Bruckner Erich heißt der Herr Doktor«, erklärte der Landpolizist, was den Chefinspektor nicht mehr interessierte.

Bergmann hatte sich abgewandt, um einige Schritte abseits zu telefonieren.

»Okay, dann sehen wir uns im Haus um«, sagte er nach seinem kurzen Gespräch.

Sandra öffnete die Heckklappe, um Schutzkleidung herauszuholen.

»Kann hier mal jemand für Licht sorgen?«, hörte sie Bergmann hinter ihrem Rücken rufen.

Sandra warf die Heckklappe zu und blickte zum klaren Abendhimmel. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, bis es finster war. Momentan changierte die Farbe des Himmels von Hellblau ins Violett. Den Vollmond, der gerade erst aufgegangen war, suchte sie vergeblich. Noch verbarg er sich hinter den hohen Fichten, die sich wie Scherenschnitte als schwarze Konturen gegen das Firmament abzeichneten.

»Bin schon dabei!«, antwortete ein weißer Kapuzenover­all im Vorbeihuschen, um der Bitte des Chefinspektors nachzukommen.

Der Revierinspektor strebte indessen auf das Haupthaus zu.

Beide LKA-Ermittler zogen ihre Einwegoveralls über, als die Außenleuchten am Haus eingeschaltet wurden und ein Polizeischeinwerfer anging. Kurz danach leuchtete ein zweiter. Sandra stülpte die Plastiküberschuhe über ihre schwarzen Halbschuhe.

»Die Leiche befindet sich drinnen im Haus?«, vergewisserte sich Bergmann bei seinem Sohn.

David bejahte.

Sandra zog einen Handschuh an. »Wie geht es Jessica?«, erkundigte sie sich.

Der junge Mann fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Besser. Vorhin war eine Psychologin bei uns. Und ein Arzt. Der wollt’ der Jessie ein Beruhigungsmittel verpassen. Aber das hat sie abgelehnt. Sie verabscheut Drogen und Medikamente.«

Das hatte sie mit der Sängerin gemeinsam, dachte Sandra.

Davids Hand verschwand in der Hosentasche.

»Nix Sex, Drugs und Rock’n’Roll?«, fragte Bergmann. »Zu meiner Zeit haben die Musiker noch anständig Gas gegeben.« Der Chefinspektor gestikulierte nicht ganz jugendfrei und zwinkerte Sandra zu.

Die verdrehte die Augen.

David schluckte. »Papa, bitte …«

Glaubte Bergmann, dass sein Sohn derlei Sprüche angesichts der Umstände witzig fand? Offensichtlich war das nicht der Fall. Davids Augen füllten sich erneut mit Tränen. »Hör nicht auf diesen Grawaldi«, sagte Sandra.

»Gra-was?«, fragte Bergmann nach.

»Grawaldi«, wiederholte sie, während sie ihre zweite Hand in einen Gummihandschuh zwängte. »Ein Mensch ohne jegliches Feingefühl.«

»Ach so, und ich dachte schon, das wäre etwas Schlimmes«, erwiderte Bergmann.

Sandra atmete tief durch. Ganz bestimmt würde sie sich nicht von ihm provozieren lassen. Schon gar nicht vor seinem trauernden Sohn, der gerade seinen besten Freund verloren hatte. »Wo ist Jessica?«, wandte sie sich an David. Hoffentlich konnten sie die Zeugin heute noch befragen. Ansonsten würden sie diese morgen einvernehmen. Solange ihre Erinnerungen einigermaßen frisch waren.

»Der Jessie war’s schon zu kühl hier draußen«, sagte David. »Sie wollt’ duschen gehen und uns was zum Essen machen.«

Sandra nickte. Gegen etwas Essbares hätte sie nichts einzuwenden gehabt. Der vergammelte Müsliriegel auf der Fahrt hatte nicht viel ausgegeben, aber immerhin die aufkommende Übelkeit erfolgreich bekämpft.

»Muss ich auch so was anzieh’n?« David deutete auf ihre Schutzkleidung.

»Nicht nötig. Deine Spuren hast du eh schon überall im Haus hinterlassen. Und an der Leiche«, antwortete Bergmann.

David bestätigte seinen Vorwurf mit einem Nicken.

»Deine und Jessicas Fingerabdrücke müssen wir abnehmen, um sie mit den Spuren vom Tatort abgleichen zu können«, erklärte ihm Sandra. Falls es sich überhaupt um einen Tatort handelte. Das galt es erst einmal abzuklären.

David nickte neuerlich, während Bergmann sich der schmucken Almhütte zuwandte. Unter den Fenstern und am Balkon blühten Petunien in Rosa, Lila und Weiß. »Lasst uns mal hineingehen«, entschied er.

»Kann ich in der Küche auf euch warten?«, fragte David.

»Wenn es dort was zum Essen gibt?«, entgegnete Bergmann. »Ich bin am Verhungern.« Wie immer sprach er von den eigenen, nicht aber von den Bedürfnissen seiner Partnerin.

»Hast du auch Hunger, Sandra?«, erkundigte sich wenigstens sein Sohn bei ihr.

Sandra nickte. »Wie ein Wolf.«

»Irgendwelche speziellen Wünsche?«

»Was immer ihr dahabt«, antwortete sie. Schließlich waren sie nicht im Wirtshaus.

»Kleiner Tipp: Sie steht auf alte Müsliriegel«, meinte Bergmann grinsend.

David sah Sandra fragend an.

Die verzog die Mundwinkel und schüttelte den Kopf.

Die Aufmerksamkeit des Chefinspektors galt nun dem Kriminaltechniker, der vorhin die Scheinwerfer gebracht hatte. Er winkte ihn zu sich herüber.

Das pausbäckige Gesicht unter der Kapuze war Sandra fremd. Sehr lange konnte der Jüngling noch nicht beim LKA beschäftigt sein.

»Habt ihr die Spuren von der Leiche abgenommen?« erkundigte sich Bergmann.

Der Forensiker schüttelte seinen namenlosen Kopf. »Die Leiche will sich der Chef selbst vornehmen, damit wir nix überseh’n. Der Jörg müsst’ eh bald da sein. Er kommt aus Graz. Wir waren ja vorher in Leoben.«

Das erklärte die frühere Ankunft am Einsatzort.

»Für mich schaut’s nach einem Unfall aus«, griff der junge Mann den Untersuchungsergebnissen ungefragt vor.

»Ach, ein Hellseher.« Bergmann hob die Augenbrauen und zupfte an seinem Gummihandschuh, dass es schnalzte.

Der Jüngling senkte seinen Blick.

»Die Fingerabdrücke der Zeugen darfst du aber abnehmen? Oder müssen wir dafür auch auf den Chef warten?«

»Nein, das kann ich machen.« Der Kriminaltechniker sah auf, die prallen Wangen gerötet.

»Großartig. Der junge Mann hier ist einer von zwei Zeugen.« Bergmann deutete mit einem behandschuhten Zeigefinger auf seinen Sohn. »Die andere Zeugin ist die Hausbesitzerin, Jessica Wind. Sie hält sich drinnen auf.«

»Oh mein Gott …«

»Ja, bitte?«, fragte der Chefinspektor, als fühle er sich persönlich angesprochen.

»Die Jessica Wind?«

Bergmann seufzte. »Ja genau die und weiter?«

»Gar nix weiter.«

»Dann kannst du gleich eine DNA-Probe von ihr nehmen. Selbstverständlich nur, wenn sie damit einverstanden ist.«

»Okay, Chef. Ich hol’ nur rasch den Tatortkoffer aus dem Auto.«

»Großartige Idee«, ätzte Bergmann. »Gibt’s jemanden, der Fotos vom Tatort und von der Leiche schießen kann? Oder sollen wir das selbst mit dem Handy erledigen?«

»Nein, nein. Die Laura macht das schon.« Der Kriminaltechniker zeigte zum Kastenwagen hinüber, aus dessen Fond ein weißes Hinterteil ragte.

»Sehr hübsch«, meinte Bergmann. »Dann schick sie gleich mit der Kamera zu uns.«

»Jawoll, Herr Chefinspektor!« Diensteifrig wandte sich der Jungspund ab, um zum Kastenwagen zu eilen.

Sandra und David folgten Bergmann knirschenden Schrittes zum Haus. Der Kies auf dem Weg war feiner und dichter gestreut als jener auf der geschotterten Zufahrt, fiel Sandra auf.

»Ist der immer so drauf im Dienst?«, raunte ihr David zu. Mit seinem Kinn wies er auf den weißen Vlies-Rücken, hinter dem sie her marschierten.

Vor der offenen Eingangstür hielt Bergmann an.

»Das hab ich gehört«, brummte er, über seine Schulter blickend.

Sandra zuckte kommentarlos mit den Achseln. Sollte sich David doch selbst ein Bild von seinem Vater machen, der wieder einmal durch besondere Taktlosigkeit und Überheblichkeit glänzte. Möglicherweise, weil er hungrig war. Oder einfach nur, weil er Sascha Bergmann war. Erstaunlich fand sie, dass sein Sohn diese Seite von ihm gar nicht kannte.

Im Vorzimmer wies David erneut mit dem Kinn, diesmal zur Holzstiege hinüber, die ins Obergeschoß führte. »Dort drüben liegt der Luigi …« Der Adamsapfel des jungen Mannes hob und senkte sich. »Ich bin dann in der Küche«, sagte er und verschwand.

Sandra zog wie Bergmann die Kapuze über den Kopf, den Reißverschluss bis zum Hals hinauf zu und folgte ihm zur Stiege. Die Leiche war mit einer silbernen Foliendecke abgedeckt, wie sie in der Erstversorgung nach Unfällen zum Einsatz kam. Die uniformierte Polizistin, die am Treppengeländer lehnte, nahm Haltung an, als sie die beiden weißen Gestalten auf sich zukommen sah.

Sandra stellte sich und Bergmann vor. Die junge Kollegin von der Polizeiinspektion Seckau nannte ihren Dienstrang und den Namen.

»Habt ihr keine Schutzkleidung in der Provinz?«, fragte Bergmann unwirsch.

Die Inspektorin zog Farbe auf. Unter ihrer Dienstkappe ragte ein langer blonder Zopf hervor. »I hab eh Handschuh’ an. Der Kollege aus Graz hat g’meint, dass ich sonst nix brauch, weil ich vorher Kontakt mit der Leich’ g’habt hab’.«

»Wann vorher?«

»Wie ich ’kommen bin. Ich sollt’ hier auf euch wart’n und aufpass’n, dass keiner eini latscht, bis ihr die Spuren sichert’s«, erklärte sie.

»Wir sichern keine Spuren, wir ermitteln«, stellte Bergmann klar.

»A so.«

Bergmann verdrehte die Augen in Sandras Richtung.

Die Uniformierte ließ ihre schmalen Schultern hängen. »Der Doktor ist erst nach mir ’kommen. Von dem her hab ich doch nachschau’n müssen, ob der Tote vielleicht noch lebt«, rechtfertigte sie sich weiter.

»Unwahrscheinlich, dass ein Toter noch lebt«, konterte Bergmann spitzfindig, ohne die Landpolizistin weiter zu beachten. Von ihr abgewandt, bückte er sich, um die Foliendecke vom Leichnam zu ziehen. Neben ihm hockend, brachte er seinen Mundschutz in Position.

Sandra lächelte die junge Beamtin aufmunternd an. Mit einer Handbewegung wollte sie ihr signalisieren, dass sie das Verhalten des Chefinspektors nicht weiter ernst nehmen sollte. Kein Wunder, dass die LKA-Ermittler aus der Landeshauptstadt in der Provinz als präpotent verschrien waren. Besonders Bergmann hatte in den letzten Jahren einiges zu ihrem schlechten Ruf beigetragen. »Darf ich?«, fuhr sie umso freundlicher fort.

Die Inspektorin sprang zur Seite, um sie vorbeizulassen.

Sandra hockte sich an die andere Seite der Leiche, zog ebenfalls die Schutzmaske über Mund und Nase.

Der Tote lag auf dem Rücken, unmittelbar vor der untersten Stufe. Um ihn zu beschauen, hatte der Arzt ihn wie üblich entkleidet. Beide Schultern und Arme wiesen großflächige Tätowierungen auf. Auf halber Höhe der Treppe fiel Sandra ein schwarzer Flipflop auf, der aussah, als wäre er beim Sturz verloren gegangen und dort liegen geblieben. Aber wo war der zweite?

»Da sind Hämatome am rechten Auge und auf der linken Schläfe«, konstatierte Bergmann. Die rötlich verfärbte Stelle an der Schläfe reichte bis zum Backenknochen. Vorsichtig strich er dem Toten eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht, um die Stelle besser begutachten zu können. »Sieht frisch aus. Zumindest an der Schläfe«, meinte er. »Vermutlich beim Sturz entstanden.« Er blickte die Stufen hinauf.

»Hm, ja vielleicht«, sagte Sandra. »Wenn nicht schon vor dem Treppensturz ein Hieb auf seinen Kopf erfolgt ist.« Der möglicherweise zum Tode geführt hat, überlegte sie weiter. Bestimmt war der Mann nach dem Sturz anders dagelegen als jetzt, hatte vielleicht sogar noch gelebt und sich selbstständig bewegt. Spätestens David hatte ihn für seine Reanimationsversuche auf den Rücken drehen müssen. Sandra blickte zur Polizistin auf, die Bergmann über die Schultern schaute. »Wurde die Position der Leiche verändert?«, fragte sie der Vollständigkeit halber nach.

»Er ist genau so auf dem Rücken g’legn, wie ich ’kommen bin. Nur halt noch im G’wand«, versicherte ihr die Kollegin, wusste aber nicht, ob jemand anders den Toten zuvor bewegt hatte.

»Und wo ist seine Kleidung?«

»In dem Sackl da.« Die Polizistin drehte sich, um Sandra den transparenten Plastiksack zu präsentieren, der hinter ihrem Rücken am Geländer stand.

»Ist da auch der zweite Flipflop drin?«, fragte Sandra weiter.

Die Kollegin nickte. »Alles, was ihm der Doktor aus’zogn hat, ist da drin.«

»Der Kopf ist seitlich stark überdreht«, warf Bergmann ein.

Sandra wandte sich wieder der Leiche zu, deren Kopf der Chefinspektor behutsam zwischen seinen Händen hin und her bewegte.

»Genickbruch«, bestätigte er die Diagnose auf dem Totenschein. »Die Leichenstarre hat noch nicht die Nackenmuskulatur erreicht.«

Ob die Fraktur des Halswirbels oder eine Schädelverletzung zum Tod geführt hatte beziehungsweise etwas ganz anderes, würde sich bei der Obduktion herauskristallisieren. Weitere äußerliche Verletzungen waren in der aktuellen Lage der Leiche keine sichtbar. Falls es doch welche gab, möglicherweise unter den Tätowierungen, würden die Gerichtsmediziner sie finden. Spätestens, wenn der Leichnam auf dem Seziertisch lag, geöffnet war und die Organe entnommen und beschaut wurden.

»Weshalb der junge Mann über die Stiege gefallen ist, wissen wir nicht«, überlegte Sandra laut. »Und warum der Zeuge davon ausgeht, dass er ermordet wurde.« Dass es sich um den Sohn des Chefinspektors handelte, erwähnte sie vor der anwesenden Kollegin wohlweislich nicht. Was David gehört hatte, das einen Mord nahelegte, würden sie schon noch erfahren.

Sandra erhob sich und zog ihren Mundschutz unters Kinn. Dann nahm sie den Plastiksack mit der Kleidung an sich und drehte ihn auf Augenhöhe langsam im Kreis. »Ist das eine Cargohose?«, fragte sie die Landpolizistin. Vorsichtig tastete sie eine der vielen Hosentaschen durch das Plastik ab.

»Ja, ich hab die Hosentaschen alle überprüft, bevor ich die Sachen sicherg’stellt hab.«

Bergmann stand ebenfalls auf und zog seinen Mundschutz hinunter. »Herzlich willkommen beim Spurenvernichtungskommando«, ätzte er und hatte mit seiner Kritik leider recht. Falls sich Fasern oder Haare eines potenziellen Täters auf der Hose befunden hatten, standen die Chancen gut, dass sie dort nicht mehr waren.

Die Uniformierte entschuldigte sich kleinlaut.

Sandra befürchtete, dass sie bei nächster Gelegenheit in Tränen ausbrechen würde. »Was hat sich denn alles in den Hosentaschen befunden?«, fragte sie.

»Ein paar Euro- und Cent-Münzen.«.

»Was ist mit einer Geldtasche, Ausweisen oder einem Handy?«, fragte Sandra weiter.

»Nix.« Die Kollegin zückte ihren Block und las vor, was sich alles in dem Beutel befand: eine Cargohose, eine Unterhose, ein olivgrünes T-Shirt mit einer stilisierten Gitarre auf der Brust und ein Flipflop, Größe 45. Der andere lag auf der Stufe. Ansonsten sei dort nichts gewesen, versicherte sie.

Demnach war dem jungen Mann beim Treppensturz nichts aus den Händen oder den Taschen gefallen. Es sei denn, David oder Jessica hatten es entfernt, bevor die Polizei eingetroffen war, überlegte Sandra.

»Kommst du dann?«, sprach Bergmann sie an. »Ach, unsere Fotografin ist auch schon da«, wechselte er die Stimmlage und grinste die groß gewachsene Rothaarige mit der Kamera gekünstelt an.

Sandra begrüßte Laura Magnoli mit einem Blick, der Bände sprach.

Der attraktiven Kriminaltechnikerin, die unzählige Tatortfotos für sie geschossen hatte, waren die Launen des Chefinspektors keineswegs fremd.

»Du weißt eh, was zu tun ist, Laura.« Sandra übergab der um die 30-Jährigen mit den auffallend türkisgrünen Augen den Plastiksack mit den Asservaten und verwies auf den Flipflop, der am Fundort fotografiert und sichergestellt werden musste.

Laura nickte.

»Ihr könnt die Leiche dann in die Gerichtsmedizin überstellen lassen«, ordnete Bergmann an. »Wo befindet sich hier die Küche?«