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An einem schwülen Sommerabend werden die LKA-Ermittler Sandra Mohr und Sascha Bergmann aus Graz zu einem Einsatz ins nahe Schöcklland gerufen. Auf Schloss Abelsberg hat der Jagdhund einer Jägerin die verwesende Hand eines Mannes im Wald aufgestöbert. Kurze Zeit später wird die Leiche in einem Graben hinter dem Schloss entdeckt und als Schlossbewohner identifiziert. Wer aber hat den exzentrischen Regisseur erschossen und weshalb? Die Jagd auf den Mörder nimmt ihren Lauf und sorgt für so manche Überraschung. Auch in Sandras Privatleben.
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Seitenzahl: 305
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Claudia Rossbacher
Steirerwald
Sandra Mohrs 13. Fall
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher und iLUXimage / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7684-6
Liebe Leserinnen, werte Leser!
Nun ist es also passiert. Im vorliegenden 13. Steirerkrimi morde ich erstmals vor meiner Haustür. Denn Graz-Umgebung war der letzte steirische Bezirk, in dem Abteilungsinspektorin Sandra Mohr und Chefinspektor Sascha Bergmann noch nicht ermittelt hatten – sieht man von der Landeshauptstadt ab, die durch den Arbeitsplatz und Wohnort der beiden LKA Steiermark-Ermittler ohnehin in jedem Band ein wichtiger Schauplatz ist.
Die Wahl des Tatorts an meinem Wohnsitzort hat die Recherchen zwar um einiges bequemer gemacht, die Figurenentwicklung und das Plotten aber umso komplizierter gestaltet. Überall anders war ich als »Zuagroaste« so weit unverdächtig. Wo ich keine realen Personen kannte, konnte ich keine solchen verwenden oder tatsächliche Begebenheiten schildern und damit womöglich Persönlichkeitsrechte verletzen. Manch einer glaubte dennoch zu wissen, wen ich da und dort gemeint hätte, oder wähnte sich gar selbst in einer Figur wiederzuerkennen. Dem muss ich widersprechen.
Bis auf die eine oder andere Anekdote aus meinem Leben beziehungsweise Inhalte aus der öffentlichen Berichterstattung, die ich immer wieder gerne in meine fiktiven Geschichten einflechte, um das aktuelle Zeitgeschehen widerzuspiegeln, sind alle Figuren und Handlungen meiner Steirerkrimis frei erfunden – so auch in Steirerwald. Einzig die Schauplätze sind real, allerdings habe ich den einen oder anderen aus Diskretionsgründen umbenannt. Ortskundige werden diese dennoch erkennen.
Sollten Ihnen der eine oder andere steirische beziehungsweise österreichische Ausdruck, ein Wort aus der Jägersprache oder eine Abkürzung nicht geläufig sein, können Sie wie gewohnt im Glossar im Buch hinten nachschlagen. Falls Ihnen Erklärungen abgehen oder Sie Fehler im Text entdecken, dürfen Sie mir gerne ein E-Mail an [email protected] schicken, damit ich etwaige Korrekturen und Ergänzungen für die nachfolgenden Auflagen veranlassen kann.
Noch ein Hinweis: Der Lesbarkeit zuliebe verzichte ich im Buch auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen, weiblichen beziehungsweise diversen Sprachformen. Die Personenbezeichnungen gelten im Zweifelsfall für alle Geschlechter und sollen die Gleichberechtigung und Inklusion aller Menschen widerspiegeln.
Und nun wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung und spannende Stunden im Steirerwald!
Herzlichst, Ihre Claudia Rossbacher
Kumberg, im Mai 2023
Den Geist des Waldes,
du hast ihn beschwor’n.
Es gibt kein Zurück mehr,
nur noch nach vorn.
Hörst du sie rascheln,
flüstern und lachen?
Gekommen,
um dir ein Grab zu machen.
Schlaf ein, mein Bruder,
geh hin in Frieden.
Die Schatten der Nacht
nun hinter dir liegen.
Schreit’ tapfer ins Licht,
das dir beschieden,
ob Höllenfeuer,
ob ew’ger Frieden.
Donnerstag, 10. August
Der köstliche Duft des Rehragouts stieg Marlene in die Nase, als sie den Deckel vom Bräter hob. Stundenlang hatte das Fleisch im Steinguttopf auf der Holzkohle in der Feuerschale gegart. Jetzt war es perfekt, mürb und saftig, wie es sein sollte.
Den Nachmittag hatten die Jägerinnen im Wald verbracht, die Wasserstellen und Salzlecken kontrolliert und die beste Stelle für die Blattjagd erkundet. Nach dem Essen planten sie, abermals auf die Pirsch zu gehen und den kapitalen Ier Bock zu suchen, der ihnen am Morgen entwischt war.
»Das duftet himmlisch«, sagte Stella, die Marlene über die Schulter blickte.
»Du könntest schon den Wein für uns holen«, schlug Marlene vor.
Die Parson Russel Terrier-Hündin hinter ihnen kläffte auf einmal aufgeregt.
Sabrina kreischte auf.
Marlene ließ den Deckel auf den Bräter fallen. Was zum Teufel hatte ihre Bayerische Gebirgsschweißhündin da angeschleppt? Ein totes Tier? Bari saß vor einem vergammelten Fleischklumpen. An einem Fingerstumpf steckte ein Ring. Die zerfressene, halb verweste Hand eines Menschen lag im Gras.
»Pfui! Geh da weg, Sunny!« Sabrina zog ihren Terrier am Halsband weg.
Marlene drehte sich der Magen um. »Ruf die Polizei an, Stella!«
Es war schwül an diesem Abend. Nicht das leiseste Lüftchen regte sich im ORF-Park. Der Landeshauptstadt stand eine weitere Tropennacht bevor. Bereits zum elften Mal in diesem Jahr würde es nachts nicht unter 20 Grad Celsius abkühlen. Ein neuer Rekord in Graz, und vermutlich nicht der letzte, der mit dem Klimawandel einherging.
Sandra Mohr schlug nach einer Gelse auf ihrem Unterarm. »Verdammtes Mistviech!« Etwas Mineralwasser schwappte aus ihrem Glas und ergoss sich auf ihren rechten Slingback. Ein unschöner dunkler Fleck breitete sich auf dem sandfarbenen Wildlederschuh aus. Das Insekt war auf und davon. Bestimmt lauerten unzählige dieser Blutsauger im Schilfgürtel, der den Funkhausteich säumte. Spätestens in der Dämmerung würden sie sich gierig auf die Besucher stürzen, die sich zur Lesung zwischen Schilf und Seerosen eingefunden hatten. Mittlerweile breiteten sich hierzulande auch exotische Gelsenarten wie die Asiatische Tigermücke aus, die Zika-, Dengue- und Chikungunya-Viren übertragen und tropisches Fieber und andere unangenehme Symptome auslösen konnte. Der Einwanderer war jedoch auffällig schwarz-weiß gemustert, während die schlammbraune Stechmücke, die Sandra gerade entkommen war, vermutlich zu den rund 100 heimischen Hausgelsenarten zählte, die zumeist keine ärgeren Beschwerden verursachten als einen juckenden Gelsendippel. Der Gelsenspray steckte freilich in einer anderen Handtasche, die zu Hause geblieben war. Wie immer, wenn Sandra Taschen wechselte, fehlte etwas, das sie gerade benötigt hätte.
»Hast du sie erwischt?« Der gut aussehende Mann an ihrer Seite hatte den versuchten Totschlag beobachtet.
Sandra verneinte. »Dafür ist jetzt ein Fleck auf meinem neuen Schuh«, sagte sie, auf ihre Fußspitze blickend.
»Es ist doch nur Wasser«, beschwichtigte Hubert lächelnd. »Da bleibt bestimmt nichts zurück.« Er hob sein Weinglas und prostete ihr zu. Seine ozeanblauen Augen lächelten mit.
Wie lange kannten sie sich eigentlich schon, fragte sich Sandra. Das erste Mal war sie ihrem neuen Nachbarn vor neun Monaten im Stiegenhaus begegnet, rechnete sie nach, während Hubert einen Schluck Sauvignon Blanc trank. Kaum war er in ihr Wohnhaus eingezogen, lief er ihr ständig über den Weg – im Supermarkt, in der Tiefgarage, im Aufzug. Und zwar dermaßen häufig, dass sie ihn anfangs für einen Stalker hielt. Dass ein lediger, fescher, intelligenter, gebildeter, amüsanter Mann in den besten Jahren hinter ihr her war, kam der Abteilungsinspektorin des LKA Steiermark höchst verdächtig vor. Wäre er ein Verbrecher gewesen, den sie irgendwann überführt hatte und der sich, wieder auf freiem Fuß, an ihr rächen wollte, hätte sie seine Motivation ja verstanden. Aber so? Hubert Müllner konnte jede Frau haben. Weshalb wollte er ausgerechnet sie?
Dann wurde Sandra bei einem misslungenen Polizeieinsatz schwer verletzt, und Hubert wich noch immer nicht von ihrer Seite. Seither waren sie zusammen – mehr oder weniger. Es war kompliziert. Wie immer bei ihr. Mittlerweile kannte sie auch seine Schwächen. Insbesondere seine Bindungsangst ließ sie manchmal zweifeln, aber nicht verzweifeln. Schließlich war niemand perfekt. Auch sie nicht. Dass sie in Sachen Mord und Totschlag ermittelte, machte ein Leben mit ihr auch nicht unbedingt einfach. Und so nahmen sie ihre Beziehung hin, wie sie war – ohne Ansprüche zu stellen oder den anderen verändern zu wollen. Theoretisch war das sehr reif und vernünftig, praktisch aber nicht immer ganz einfach. Doch die Liebe war kein Wunschkonzert. Wer wusste das besser als sie, die früher oder später immer enttäuscht wurde.
Sandra richtete ihren Blick zu den Klappbänken, die vor der Bühne am Teich hintereinander aufgereiht waren. Einige Besucher hatten bereits Platz genommen. Andere standen plaudernd beisammen, die meisten mit einem Getränk in der Hand. Außer Hubert kannte sie hier niemanden persönlich. Allerdings hatte sie die blonde Frau im knöchellangen weißen Sommerkleid, die abseits für ein Interview vor der Kamera stand, schon einige Male in Zeitungen und Magazinen gesehen. Beatrice Franz würde in zwölf Minuten aus ihrem neuesten Roman lesen, verriet Sandra ein Blick auf die Uhr. Am Buch der Grazer Starautorin hatte sie sich selbst bereits mehrfach versucht, war jedoch immer wieder darüber eingeschlafen. Nach 30 Seiten hatte sie es endgültig aufgegeben und das Buch Andrea geschenkt. Ihre Freundin litt neuerdings unter Schlafstörungen.
»Die sind richtig gut«, riss Hubert sie aus ihren Gedanken. Er meinte das junge Damenquartett, von dem Sandra noch nie etwas gehört hatte.
Steirische Harmonika, Gitarre, Schlagzeug und Gesang verschmolzen zu progressiver Volksmusik, die Einflüsse von Blues und Jazz erkennen ließ. Einem stimmungsvollen Abend stand nichts im Wege, außer den lästigen Gelsen und ihrem Bereitschaftsdienst.
Sandra schob den Gedanken, dass sie jederzeit ein Anruf aus der Landesleitzentrale erreichen konnte, beiseite und trank noch einen Schluck Mineralwasser.
Im nächsten Moment machte Hubert sie mit dem charmanten Kulturredakteur des ORF Landesstudios Steiermark bekannt. Er sei kurzfristig für seine erkrankte Kollegin, die für die Veranstaltungsreihe zuständig war, eingesprungen, erklärte er und stellte ihnen die Praktikantin an seiner Seite vor. Ihr klobiges schwarzes Brillengestell erinnerte Sandra an den alten Fernsehapparat ihrer Großmutter. Was thematisch zwar zum Funkhaus passte, jedoch nicht zu den jugendlichen Zügen der Brillenträgerin, die vermutlich intellektueller, vielleicht auch älter wirken wollte, als sie war. Sonst hätte sie wohl zu einem schmeichelhafteren Modell gegriffen und nicht zu diesem Monstrum, das ihr fein gemeißeltes Näschen zu erdrücken drohte. Doch über Mode und Geschmack ließ sich bekanntlich streiten. Auch in der Literatur, selbst wenn sie aus der Feder einer hochgelobten Schriftstellerin stammte. Kaum hatte sich die Praktikantin auf die Toilette verabschiedet, steuerte Beatrice Franz schnurstracks auf sie zu.
Als Literaturübersetzer und Autor kannte Hubert die preisgekrönte Literatin freilich persönlich, wie die meisten Schriftsteller, die in der heimischen Szene Rang und Namen oder zumindest Talent hatten.
Die beiden Männer wurden mit Wangenküssen begrüßt. Für Sandra hatte Beatrice Franz nur ein simples »Hallo« übrig.
Die verkniff es sich, auf den respektlosen Gruß mit einem Spruch ihrer Volksschullehrerin zu antworten: ›Der Hallo ist schon gestorben und liegt gleich neben dem Heast am Friedhof.‹ »Guten Abend«, grüßte sie stattdessen zurück.
»Darf ich dir Beatrice Franz vorstellen?«, fragte Hubert förmlich. »Bea, das ist Sandra Mohr, meine Nachbarin.«
Wie jetzt? Bloß seine Nachbarin? Sandra rang sich ein Lächeln ab, das die Schriftstellerin gekünstelt erwiderte. Während sie sich eine goldblonde Locke aus dem Engelsgesicht strich, wanderten ihre wasserblauen Augen zum feschen Hubert zurück. Dort blieben sie kleben, ohne Sandra eines weiteren Blickes zu würdigen.
Hatte es das Liebkind des Feuilletons auf ihn abgesehen? Verhielt sie sich deshalb so abweisend Sandra gegenüber? Oder war sie bloß angespannt vor ihrem Auftritt? Sandras Abneigung gegen sie schien jedenfalls auf Gegenseitigkeit zu beruhen – wie die Vertrautheit zwischen Hubert und Bea.
Schweigend beobachtete Sandra, wie eine Gelse am Schwanenhals der Autorin saugte, bis der Tontechniker mit einem Headset an sie herantrat und ihr beim Aufsetzen half – ein ziemliches Gewurschtel mit den vielen Haaren.
Hubert sah ihrer anmutigen Gestalt hinterher, die im Schilf verschwand.
Hübsch war sie ja, außerdem auch noch klug und talentiert, musste Sandra zugeben. Ihr Charakter ließ jedoch zu wünschen übrig. »Was für eine Trutschn«, sagte sie. »Ist die immer so arrogant?«
»Aber geh«, beschwichtigte Hubert. »Du musst Bea nur näher kennenlernen.«
Nein, das musste sie nicht. Sandra spülte ihren Groll mit einem weiteren Schluck Mineralwasser hinunter. Ihre Lust, sich die Lesung anzuhören, tendierte gegen null.
»Kommst du jetzt?« Hubert nahm sie an der Hand und steuerte zwei freie Plätze an – ausgerechnet in der ersten Reihe.
Sollte Sandra unverhofft aufbrechen müssen, würde es jeder mitbekommen, auch die Autorin auf dem Floß direkt gegenüber. Kein Wunder, dass bei Lesungen die ersten Reihen meist am längsten oder – bis auf die reservierten Plätze für Ehrengäste – weitgehend frei blieben. Allerdings nicht bei diesem Andrang, der heute Abend herrschte. Entweder setzten sie sich ganz vorne hin oder sie blieben hinter den letzten Bankreihen stehen, was Sandra lieber gewesen wäre. Doch jetzt war es zu spät für einen unauffälligen Rückzug. Der Moderator hatte sich bereits in Position gebracht, um die Künstlerinnen und das Publikum zu begrüßen.
Artiger Applaus setzte ein.
Hubert zog Sandra zu sich auf die Bank.
Ihre Frage, weshalb er sie der Schriftstellerin bloß als seine Nachbarin vorgestellt hatte, verschob sie auf später. Immerhin verband sie beide doch mehr als nur die Tatsache, dass er im vergangenen Herbst die Wohnung unter ihrer bezogen hatte. Bindungsangst hin oder her. Gedankenverloren klatschte Sandra mit den anderen mit, während die Autorin auf hohen Keilabsätzen auf die Bühne stolzierte.
Sie warf ihre Lockenpracht in den Nacken, um sich anschließend manieriert auf dem Sessel niederzulassen. Ihr Buch legte sie vor sich auf das Holztischchen und klappte es bedeutungsschwer auf. Abermals strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht, hauchte eine kurze Begrüßung ins Mikrofon und erzählte danach umso ausführlicher von der Entstehung ihres Romans, dessen Handlung der eigenen Familiengeschichte entsprang, wie sie betonte.
Sandra fand ihre Mikrofonstimme weitaus angenehmer als ihre herablassende Art. Dass alle Augen auf sie gerichtet waren, genoss die Autorin sichtlich. Zweifellos verstand sie es, ihr Publikum zu fesseln. Nur Sandra eben nicht. Gelangweilt lauschte sie den ausführlichen Schilderungen einer kargen Winterlandschaft in irgendeiner trostlosen Gegend und der Geschichte der Großmutter, die ihren Sohn – den Vater der Autorin – unter großen Schmerzen geboren und unter noch größeren Entbehrungen allein aufgezogen hatte. Am unterhaltsamsten fand Sandra, dass sich die Lesende zwischendurch immer wieder am Hals kratzte. Und nur sie wusste, warum. Während sie sich dem monotonen Sprachrhythmus hingab, driftete sie gedanklich immer weiter ab, bemüht, nicht zu gähnen. Beinahe wäre sie eingenickt, als ein Klingelton sie hochfahren ließ. Ausgerechnet aus ihrem Handy.
Beatrice Franz starrte entsetzt ins Publikum. Wenn sie nicht stark kurzsichtig war, würde sie den Störenfried erkennen.
Hubert zog leise stöhnend seinen Kopf ein.
Endlich fand Sandra das Handy in ihrer Tasche und stellte es auf lautlos. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass der Abend für sie gelaufen war. »Tut mir leid«, wisperte sie ihrem Begleiter zu, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie war froh, der langweiligen Lesung frühzeitig zu entkommen. Um den weiteren Verlauf des Abends und der Nacht tat es ihr wirklich leid. Hubert würde allein mit dem Taxi nach Hause fahren müssen. Im Aufstehen nahm Sandra den Anruf entgegen. »Warte kurz, Lubensky«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand in ihr Handy und schlich in geduckter Haltung an den Bankreihen vorbei, verfolgt von mehr oder weniger bösen Blicken aus dem Publikum. Bis sie weit genug entfernt war, um sprechen zu können, ohne die Veranstaltung weiter zu stören.
Auf dem Weg zum Parkplatz gab ihr Lubensky die ersten Fakten zum Leichenfund durch. Ein männlicher Toter war mit einer Schussverletzung aufgefunden worden, die auf Fremdverschulden hinwies. Das Todesermittlungsverfahren war eingeleitet, die Tatortgruppe vor Ort, um die Spuren zu sichern.
Als Sandra das Gespräch beendete, war bereits eine Nachricht mit der Adresse des Einsatzortes auf ihrem Handy eingegangen, der nördlich von Graz im Schöcklland lag. Sie wählte die Nummer des Chefinspektors, den sie abholen sollte, und stieg in den zivilen Dienstwagen ein.
Sascha Bergmann telefonierte an der Straßenecke, als Sandra den schwarzen Audi A6 in zweiter Spur abbremste. Mit einer Geste bedeutete ihr der Chefinspektor zu warten.
Konnte er nicht im Auto weitertelefonieren? Oder war sein Gespräch so geheim? Sandra stellte den Motor ab und damit auch die Klimaanlage. Die Sonne war ohnehin schon untergegangen. Zumindest musste sie diesmal nicht in die kurze Sackgasse abbiegen, um Bergmann direkt vor seiner Haustür einsteigen zu lassen, und anschließend wieder zurückschieben. Wobei er ganz bestimmt nicht aus Rücksicht auf sie hier stand, sondern aus irgendeinem anderen Grund, war sie überzeugt. Den obligaten Kaffeebecher hatte er heute auch nicht dabei. Dafür hing sein graues Leinensakko gewohnt schlampig über seinem rechten Unterarm, der Holster mit der Dienstwaffe an seinem Gürtel.
Sandra nahm einen Schluck aus ihrer Trinkflasche und verzog das Gesicht. Das Wasser war bacherlwarm.
Bergmann diskutierte noch immer angeregt und lachte.
Womöglich telefonierte er mit seinem Gspusi. Wenn man der Gerüchteküche des LKA Steiermark glauben durfte, handelte es sich um niemand Geringeren als die Vize-Landespolizeidirektorin. Dass Bergmann vor zig Jahren im LKA Wien mit Nicole Herbst zusammengearbeitet hatte, war allseits bekannt. Dass er mit der Fallanalytikerin sogar verlobt gewesen war, wussten nur die beiden, die es betraf. Und Sandra, der Bergmann sein Geheimnis anvertraut hatte. Selbstverständlich hielt sie dicht. Wiewohl sie beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte, was eine intelligente, attraktive Akademikerin wie Nicole Herbst an einem Schwerenöter wie Sascha Bergmann fand. Aber sie musste es auch nicht verstehen.
Endlich beendete er sein Gespräch und kam auf den Dienstwagen zu.
Es war keine drei Stunden her, dass sie sich in ihrem Büro in der Landespolizeidirektion voneinander verabschiedet hatten. Zu jenem Zeitpunkt hatte Sandra noch gehofft, den Chefinspektor erst nach dem Wochenende wiederzusehen. Seufzend startete sie den Motor, während er sein zerknittertes Sakko auf den Rücksitz warf. Diesen Abend hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Hubert bestimmt auch. Sandra nahm an, dass er sauer auf sie war, zumindest aber enttäuscht. Wenngleich nicht sie die Spielverderberin war, sondern die Kriminellen, die sich nicht an die üblichen Bürozeiten hielten.
Bergmann öffnete die Beifahrertür und nahm neben Sandra Platz.
»Austelefoniert?«, fragte sie zur Begrüßung und legte den Gang ein.
Der Chefinspektor starrte auf ihr Dekolleté. Eine Augenbraue wanderte nach oben, dazu grinste er dreckig. »Grüß euch«, sagte er und sprach offenbar ihre Brüste an.
»Sag mal, hast du kein Privatleben?«, schnauzte Sandra ihn an, bevor er einen weiteren sexistischen Kommentar abgeben konnte. Irritiert tastete sie nach dem Gurt zwischen ihren Brüsten, die sich durch den feinen Bambusjersey ihres ärmellosen Jumpsuits stärker abzeichneten, als ihr unter den gegebenen Umständen lieb war.
Bergmann starrte sie weiterhin ungeniert an. »Seit wann interessierst du dich für mein Privatleben?«, fragte er zurück, als hätte ihre rhetorische Frage eine Antwort verlangt.
»Vergiss es, Sascha! Schnall dich an!« Sandra richtete ihren Blick in den Seitenspiegel und drückte den Blinkerhebel hinunter. Wieder einmal ärgerte sie sich über den unverbesserlichen Macho an ihrer Seite, was aber auch nichts änderte.
Bergmann griff über seine Schulter zum Sicherheitsgurt. »Und wie steht es um dein Privatleben?«, fragte er. »Für wen haben wir uns heute denn so aufgehübscht?«
Aufgehübscht. Wo hatte er diesen dämlichen Begriff wieder her? Sandra hatte bestimmt nicht vor, ihm zu antworten. Stattdessen verzog sie ihren Mund, den Blick in den Rückspiegel gerichtet. Den roten Lippenstift hatte sie extra abgewischt, ehe sie vom Parkplatz losgefahren war. Sie hatte auch die auffälligen Ohrgehänge und die Kette vor dem Einsatz abgenommen und bequeme Sneakers angezogen. Doch auch das verbliebene Make-up und ihre halblangen hellbraunen Haare, die sie offen trug, entsprachen nicht ihrer für gewöhnlich sportlich-legeren Aufmachung im Dienst. Ärgerlich wartete sie ab, bis der pastellblaue Cinquecento an ihnen vorbeigefahren war. Dann trat sie dermaßen forsch aufs Gaspedal, dass die Reifen quietschten.
»Jetzt sag schon … für deinen Huubert, oder?«, stichelte Bergmann weiter. Er zog das U in die Länge, um sich über den Namen lustig zu machen, von dem er wusste, dass Sandra ihn nicht mochte.
Hubert hatte nämlich auch der alte »Hiasbauer« in der Steirischen Krakau geheißen, wo sie aufgewachsen war. Der Furcht einflößende Landwirt hatte ihr einmal sogar den Hintern versohlt, nachdem ihr eines seiner Hühner ins Fahrrad gelaufen war. Dass Sandra das Federvieh nicht absichtlich getötet hatte, zählte für ihn nicht. Ihre Mutter musste ihn auch noch finanziell entschädigen, wofür sich Sandra von ihr ein paar Detschn einfing – zur Gaudi ihres jüngeren Halbbruders. Mike war bereits bösartig auf die Welt gekommen und hatte später nicht nur sie krankenhausreif geprügelt. Sandra schob die unerfreulichen Erinnerungen an ihre Familie beiseite. Da war es ihr allemal lieber, sich über Sascha Bergmann zu ärgern. Aber das brauchte der nicht zu wissen. An der roten Ampel bremste sie sich hinter dem Fiat ein.
»Wie lange fahren wir zum Einsatzort?«, erkundigte sich Bergmann.
»Höchstens eine halbe Stunde«, antwortete Sandra mürrisch. Dass der Schöckl vor den Toren der steirischen Landeshauptstadt lag, hätte der zugezogene Wiener schon wissen können. Immerhin lebte er seit über einem Jahrzehnt in Graz. Möglicherweise hatte Lubensky den Grazer Hausberg aber gar nicht vor ihm erwähnt. Auch in der Landesleitzentrale war hinlänglich bekannt, dass der Chefinspektor sich nur im äußersten Notfall ans Steuer setzte. Wofür ihm alle anderen Verkehrsteilnehmer dankbar sein mussten. Sandra war ein einziges Mal mit ihm mitgefahren, was ihr für alle Zeiten reichte. Seither bestand sie sogar darauf, den Dienstwagen zu lenken. Außerdem kannte sie sich in der Steiermark viel besser aus als er. Sie wusste auch, wo der Einsatzort lag. Wenigstens ungefähr. Im nahen Freizeitpark war sie schon im Badesee geschwommen, hatte mit Freunden gekegelt, Minigolf oder Tennis gespielt und im Gastgarten des See-Cafés den einen oder anderen Eiskaffee oder Weiße Mischungen getrunken. Die Adresse des Tatorts in Kumberg sagte ihr allerdings nichts. Doch das Navi würde Schloss Abelsberg schon finden, hatte sie geglaubt und sich 33 Minuten später auf einem markierten Wanderweg im Wald wiedergefunden. Die Wegweiser bestätigten ihr zwar, dass dieser zum gesuchten Schloss führte, aber ob das auch für Pkws galt?
Inzwischen war es finster, und die Bäume standen immer dichter. Möglicherweise hätte sie an der letzten Abzweigung doch nicht in die Sackgasse abbiegen sollen, überlegte Sandra, während sie an einem Hof vorbeirollte, vor dem ein silberfarbener Golf und ein weißer Kleinbus ohne Kennzeichen geparkt waren. Ob sie aussteigen, anläuten und die Anwohner nach dem Weg fragen sollte? Der Straßenname entsprach jedenfalls der Adresse, die ihr Lubensky genannt hatte. Zudem bestärkte sie das Display des stumm geschalteten Navis in ihrer Entscheidung, dem holprigen Weg weiter zu folgen. Das gesuchte Schloss musste hinter den nächsten Kurven auftauchen. Ob der Weg bis dorthin befahrbar war, wagte sie allerdings nicht vorherzusagen. Navis waren auch nicht unfehlbar. Manch einer, der ihnen stur gefolgt war, hatte sich schon auf einen Radweg verirrt oder auf Bahngleisen wiedergefunden, war im Matsch versunken oder in einer engen Gasse stecken geblieben. Mit einem Polizeidienstwagen aus einer derart misslichen Lage geborgen werden zu müssen, wäre ihr mehr als peinlich gewesen. Sandra würde nicht nur für die Kollegenschaft zur Lachnummer werden. Heutzutage blieb ja so gut wie nichts mehr im Verborgenen. Und Polizisten wurden besonders gerne öffentlich an den Pranger gestellt. Vielleicht sollte sie doch lieber zurückfahren.
»Wo soll denn hier ein Schloss stehen? Mitten im Wald«, meldete nun auch noch Bergmann Bedenken an. Über den Rand seiner Lesebrille hinweg blickte er sich skeptisch um. Konnte er sich nicht weiterhin schweigend mit seinem Handy beschäftigen?
Ein Stück des Weges war von ihren Autoscheinwerfern ausgeleuchtet, ebenso die Sträucher und Bäume im Lichtradius ringsherum. Da und dort blitzte der abnehmende Mond durch das Blätterdach. Ansonsten war nicht viel zu sehen. Außer Insekten, die aufgeregt im Scheinwerferlicht tanzten.
Der Chefinspektor ließ sein Fenster hinunter, um mit der Taschenlampen-App seines Handys mehr Licht ins Dunkel zu bringen.
Sandra atmete indessen die frische Waldluft tief ein. Der Mischwald roch anders als der Nadelwald ihrer Kindheit, dessen würziger Duft sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Sie hörte einen Waldkauz rufen. Balzzeit war zurzeit nicht. Der nachtaktive Vogel grenzte vermutlich sein Revier ab. Dem Volksaberglauben nach brachte sein Ruf den Tod.
»Jössas!«, fuhr Bergmann zusammen.
»Was ist denn?« Sandra wandte sich ihm zu.
»Dort drüben!«
Zwei kreisrunde gelbe Augen machten kehrt und verschwanden im Gebüsch.
»War das ein Raubtier?«, fragte der bekennende Stadtmensch neben ihr.
Sandra nickte. Die rötliche Fellfarbe und die weiße Schwanzspitze gehörten zweifelsfrei zu einem Fuchs. Vielleicht hatten ihn die Rufe des Waldkauzes, der auf der Speisekarte des Beutegreifers stand, angelockt. »Das war ein Wolf«, sagte sie mit regungsloser Miene.
»Im Ernst?« Bergmann schloss eilig sein Fenster und schaltete die Handytaschenlampe aus.
Glaubte er, dass der vermeintliche Wolf zu ihnen in den Wagen springen würde? Sandra zuckte betont gelassen mit den Schultern, bemüht, nicht loszulachen.
»In der Nähe von Graz wurden schon öfters Wölfe gesichtet«, erzählte sie. Allerdings nicht in dieser Region, sondern weiter westlich und nördlich. In Eisbach-Rein und in Pernegg an der Mur hatten Wildkameras einzelne Tiere aufgenommen, worüber in den Medien ausführlich berichtet worden war. In der Bevölkerung und unter den Landwirten hatte dementsprechend große Aufregung geherrscht. Doch waren weder Menschen noch Nutztiere zu Schaden gekommen. Die Wölfe waren weitergewandert, konnten sich aber jederzeit wieder blicken lassen – auch hier im Schöcklland.
Bergmann blicke sich bange um. »Ich hasse diese Wildnis. Bist du wirklich sicher, dass wir hier richtig sind?«
Sandra verdrehte die Augen. Nein, das war sie nicht. Während sie noch einmal überlegte, ob sie bis zur letzten breiteren Stelle zurückschieben, dort wenden und zurückfahren sollte, erblickte sie ein Fahrverbotsschild. »Ausgenommen Anrainerverkehr«, las sie vor. Demzufolge musste der Weg doch befahrbar sein.
Bergmann lehnte sich seufzend zurück. »Von wegen höchstens eine halbe Stunde«, maulte er.
»Hast du heute noch etwas anderes vor?«, fragte Sandra süffisant. In zwei Minuten sollten sie ihr Ziel erreichen. Sofern sie dem Navi vertrauen durfte. Der Audi holperte im Schritttempo um die Kurve.
»Ha! Dort oben brennt Licht«, verkündete Bergmann triumphierend.
»Na, siehst du.«
»Ja, ich sehe es. Aber das ist doch kein Schloss«, monierte er.
Zu früh gefreut, musste Sandra ihm insgeheim recht geben, während sie den Wagen über Stock und Stein an zwei am Wegesrand geparkten Autos vorbeilenkte. Das renovierte alte Steinhaus ging keinesfalls als Herrschaftshaus durch. An der Gabelung hielt sie an, um sich in der Dunkelheit neu zu orientieren. Rechter Hand führte die Wanderroute weiter, die nicht befahren werden durfte. Auch nicht von Radfahrern, verkündete eine weitere Tafel im Schilderwald.
»Dort müssen wir hinauf!« Bergmann deutete geradeaus.
Sandra beugte sich nach vorn, damit sie an ihrem Beifahrer vorbeisehen konnte. Tatsächlich wies der grüne Pfeil zum Schloss. Ihre Miene hellte sich auf. »Na bitte, auch ein blindes Hendl findet ab und zu ein Körndl«, kommentierte sie die hilfreiche Entdeckung ihres Co-Piloten. Das nächste Verbotsschild untersagte das Reiten. Der Aufforderung, Signal zu geben, gedachte Sandra nicht nachzukommen. Sollte ihnen im Dunkeln ein Fahrzeug begegnen, würde sie es frühzeitig an den Scheinwerfern erkennen. Auch durch das dichteste Dickicht. Umgekehrt würde sie wohl auch gesehen werden. Mit Spaziergängern oder Joggern rechnete sie eher nicht. Auf der Hut war sie dennoch. Man wusste ja nie, wer sich im finsteren Wald herumtrieb – abgesehen von Wildtieren und Jägern. Der Mann, der vor einigen Jahren im nicht allzu weit entfernten Stiwoll zwei seiner Nachbarn erschossen und eine Frau verletzt hatte, war nach der Bluttat auch in den Wald geflüchtet. Jedenfalls hatte man seinen verlassenen Lieferwagen am Waldrand gefunden. Sonst gab es noch immer keine Spur von dem mutmaßlichen Täter, dessen Name auf der Fahndungsliste Austria’s Most Wanted Persons der Europol ganz weit oben stand.
»Was ist? Willst du nicht weiterfahren?«, riss Bergmann sie aus ihren Gedanken.
Sandra trat sachte aufs Gaspedal. »Ich fahre ja schon.«
Nach wenigen Metern wandte sich der Chefinspektor wieder um. Auf der Anhöhe wollte er Lichter gesehen haben. Möglicherweise brannten sie beim oder im gesuchten Schloss. So genau konnte er es nicht sagen, weil Sandra zu schnell an der steilen Waldlichtung vorbeigefahren war.
»Soll ich nun weiterfahren oder zurückschieben?«, fragte sie genervt und hielt den Wagen an. Aus ihrer Position hatte sie keine Lichter wahrgenommen. Vielleicht hatte er ohne städtische Lichtverschmutzung die Sterne am Nachthimmel funkeln sehen.
»Fahr weiter«, knurrte er.
Sandra folgte dem Forstweg, der sich durch den Wald bergauf wand, als plötzlich Lichter vor ihnen auftauchten.
Als Erstes erkannte sie einen Eckturm mit einem Pyramidendach. Je näher sie dem Schloss kamen, desto mächtiger schien das historische Bauwerk mit drei Geschoßen und vier Ecktürmen auf der Anhöhe zu thronen. An seiner Frontseite ragte ein etwas höherer zentraler Glockenturm mit einem Laternendach schemenhaft in den Nachthimmel, dazwischen einige schlanke Schornsteine und Dachgauben. Etliche Fenster waren hell erleuchtet.
Auf dem Vorplatz parkten zwei Funkstreifen. Die beiden grauen Vans ordnete Sandra dem Fuhrpark der Tatortgruppe zu. Sie richtete ihren Blick wieder auf die nähere Umgebung. Die Wanderroute vom Ortszentrum zum Schöcklblick kreuzte ihren Weg und führte linker Hand weiter in den Wald hinauf. Im Schritttempo rollte sie auf den offen stehenden Schranken zu, an dem ein uniformierter Polizist postiert war. Das Betreten des Privatgrundstücks war verboten, stand auf einer Tafel. Das zweite Schild warnte vor frei laufenden Hunden. Plötzlich von grellem Licht geblendet, kniff sie ihre Augen zusammen und trat auf die Bremse.
Bergmann fiel in den Gurt und wieder zurück. »Herrschaftszeiten!«, schimpfte er. Ob er sich über ihr harmloses Bremsmanöver oder das gleißende Licht aufregte, blieb dahingestellt. Wahrscheinlich meinte er beides.
Sandra legte die flache Hand an ihre Stirn und ließ blinzelnd das Fenster hinunter. »LKA Steiermark, Abteilungsinspektorin Sandra Mohr und Chefinspektor Sascha Bergmann«, stellte sie sich und ihren Beifahrer vor.
»Runter mit der Lampe! Das grenzt ja an Körperverletzung!«, schnauzte Bergmann den Uniformierten über Sandra hinweg an.
Augenblicklich senkte der Kollege die Handlampe, ließ sie jedoch eingeschaltet. »Tschuldigung. Woher soll ich denn wissen, dass Sie …« Vor lauter Schreck vergaß der Jungspund, dass Polizisten, egal welchen Ranges, sich im Einsatz üblicherweise duzten.
»Schon gut«, unterbrach Sandra sein Gestammel. »Dürfen wir passieren?«
»Ja, sicher. Fahrts bis zum Vorplatz auffi«, erklärte er. »Dann links umi, am Stallgebäude vorbei und beim Schuppen links zum Parkplatz zuwi.«
»Auffi, umi, zuwi«, äffte Bergmann ihn nach, während Sandra in die beschriebene Richtung blinzelte.
Linker Hand wuchs eine hohe Natursteinmauer aus der Böschung in den Sternenhimmel. Ein Stallgebäude ließ sich nur erahnen. Sie schloss das Fenster und fuhr weiter.
»Lapo«, stänkerte Bergmann, als der Landpolizist hinter dem Audi in einer Staubwolke verschwand.
Sandra folgte dem Kiesweg an blühenden Rosenstöcken, Sträuchern und einer Blumenwiese vorbei. Hohe Bäume säumten den Schlosspark, der einen gepflegten, aber keinen akkuraten Eindruck machte. Wildromantisch traf es eher. Genauso stellte sie sich ein Märchenschloss vor.
Das angekündigte Nebengebäude rückte immer weiter in ihr Blickfeld. Wie ein Stall sah es nicht aus, vielmehr wie ein schmuckes Wohnhaus. Hinter den Fenstern brannte allerdings kein Licht. Eine lavendelgesäumte Kurve führte am hübschen Vorgarten entlang. Hinter einem Sitzplatz kletterten dunkelrote Rosen an einem Spalier die Hausmauer empor. Die meterlange Fensterfront der Schleppgaube unter dem Dach war ebenfalls finster. Beim verwitterten Holzschuppen bog Sandra auf den Parkplatz ab.
»Jutta ist schon da«, murmelte Bergmann. Der weiße Jeep der Gerichtsmedizinerin aus Graz war zwischen einer Funkstreife und einem dunkelgrauen Volvo mit »GU«-Kennzeichen geparkt. »Gupferln« nannte Andrea die Lenker aus dem Bezirk Graz-Umgebung scherzhaft. Warum ausgerechnet diese als schlechte Autofahrer verrufen waren, konnte sie allerdings auch nicht erklären.
Sandra stellte den Wagen als letzten in der Reihe direkt vor der alten Steinmauer ab und stieg gleichzeitig mit Bergmann aus. Als die Wagentüren ins Schloss fielen, schlugen zwei Hunde in nächster Nähe an. Die Warntafel bei der Schrankenanlage kam ihr in den Sinn. Vorsichtig wandte sie sich um und blickte zum angrenzenden Grünstreifen hinüber, von wo das Bellen kam. Bissige Hunde hätten ihr gerade noch gefehlt, doch keiner stürmte auf sie zu. Die Tiere schienen sich bei den Gestalten aufzuhalten, die hinter den Sträuchern an einem Tisch saßen. Ob es sich um drei Frauen oder drei Männer handelte, war im Lichterschein der Kerzen und des Feuers, das etwas abseits loderte, nicht zu erkennen. Jetzt kläffte nur mehr ein Hund, der von kleiner Statur sein musste, sonst hätte sein Bellen tiefer geklungen.
»Aus, Sunny!«, befahl eine Frauenstimme.
Der Hund gehorchte.
Während Bergmann sein Sakko vom Rücksitz nahm, öffnete Sandra die Heckklappe, um ihre Polizeijacke herauszuholen, die sie über ihrem Jumpsuit anzog. Nicht nur, weil es hier spürbar kühler als in der Stadt war, sondern weil sich der Chefinspektor besser auf den Einsatz als auf ihr Dekolleté konzentrieren sollte. Die anderen Kollegen wollte sie gar nicht erst in Versuchung führen. In Gedanken versunken suchte sie in ihrer Handtasche nach einem Haargummi.
»Was ist jetzt? Kommst du endlich?«, drängte Bergmann.
Sandra gab die Suche auf und ließ die Heckklappe fester als nötig zufallen.
Wieder bellte der kleinere Hund, gefolgt von derselben Frauenstimme, die Sunny erneut zum Schweigen brachte. Die Grillen auf der nahen Wiese zirpten indessen munter weiter, und der Waldkauz rief: »Kuwitt!«
Bergmann sprach die beiden uniformierten Polizisten an, die vor dem Stallgebäude postiert waren.
Der ältere, kleinere Mann mit grauem Haar und Schnurrbart stellte sich als Kommandant der örtlichen Polizeiinspektion vor. Er berichtete, dass kurz vor 17 Uhr ein Anruf von einer Jägerin eingegangen sei, nachdem in Abelsberg eine Hand aufgefunden worden war.
»Was denn für eine Hand?«, fragte Sandra. Lubensky hatte von einem erschossenen männlichen Toten gesprochen, rief sie sich den Anruf aus der Landesleitzentrale in Erinnerung. Eine Hand hatte er nicht erwähnt.
»A rechte Hand«, erläuterte der Kommandant, dessen Polizeihemd um die Leibesmitte spannte. »Männlich.« Sie sei zerfressen und schon ziemlich verwest gewesen, schilderte er das Fundstück, an dessen verstümmeltem Ringfinger ein Ring steckte.
Der konnte ihnen unter Umständen bei der Identifizierung der Leiche nützlich sein, ging Sandra durch den Kopf. Bevor sie sich nach der Identität des Opfers erkundigen konnte, ergriff der jüngere Landpolizist das Wort.
»Die Jagarinnen wollten am späten Nachmittag am Sitzplatz hinterm Schuppen essen, bevor s’ zur Jagd aufbrechen. Aber dann hat der Bari die Hand ang’schleppt …«
»Bari?«, fragte Sandra nach.
»Ein Bayerischer Gebirgsschweißhund«, erwiderte der Uniformierte.
»Die Bari«, korrigierte sein Vorgesetzter. Die Hündin sei eine der besten in der Nachsuche, erläuterte er. »Eigentlich heißt s’ ja Baronesse von der Soundso und stammt aus einer Kärntner Zucht.« Der Name der Zuchtstätte war ihm entfallen. Dafür konnte er ihnen den Namen der Hundebesitzerin nennen: »Lichtenegger Marlene. Sie ist die Tochter vom Jagdpächter, dem Lichtenegger Martin.«
»Bist du auch ein Jäger?«, erkundigte sich Sandra.
Der Kommandant nickte.
»War Herr Lichtenegger heute Nachmittag ebenfalls hier?«
Die Landpolizisten sahen einander an. Heute hatten sie Marlenes Vater noch nicht gesehen, waren sie sich einig.
»Sitzt die Zeugin hinter dem Schuppen?« Bergmanns Daumen wies über seine Schulter.
Abermals folgte Nicken. »Ich hab die Damen gebeten, auf euch zu warten.«
Sandra holte ihr Handy aus der Jackentasche, um die Namen der drei Jägerinnen aufzunehmen. Alles Weitere würde sie diese später persönlich fragen.
Der Kommandant fuhr mit seiner Schilderung der Ereignisse fort und erzählte, dass sie um 17.08 Uhr in Abelsberg eingetroffen seien, um die Hand sicherzustellen. Bari war kaum zu halten und zog wie verrückt an ihrer Leine, also folgten sie der Jägerin und ihrer Jagdhündin hinter das Schloss, wo sich die Hundeleine prompt im Gebüsch verhedderte. Bari musste abgeleint werden, damit sie sich nicht strangulierte. »Dann is’ sie in Wald ab’poscht und direkt in Grab’n owi g’rennt.«
»Ich wollt’ ihr noch folgen«, fuhr der jüngere Polizist fort. »Aber der Graben ist dort schon eher eine Schlucht.« Der steile Hang fiel geschätzte 20 Meter in die Tiefe hinab und endete in einem kleinen Bach.
»Dann habt ihr die Feuerwehr verständigt?«, fragte Sandra.
Die Männer nickten. Zwei Feuerwehrmänner waren in den Graben hinuntergeklettert, die die bellende Jagdhündin neben der Leiche fanden, die sie schließlich bargen.
Der jüngere Polizist nahm sein Smartphone zur Hand, um die Fotos vom Leichenfundort aufzurufen, die ihm einer der Feuerwehrmänner geschickt hatte. Die Bilder waren bereits über den Dienst-Messenger ans LKA übermittelt worden und sollten demnächst für alle im Ermittlungsteam zum Download bereitstehen.
Sandra fand es lobenswert, dass sich der Landpolizist der neuesten mobilen Polizeikommunikation bediente. Nicht alle Kollegen standen den 27.000 iPhones und über 3.000 iPads, die für Polizisten und Polizeistationen in ganz Österreich angeschafft worden waren, so aufgeschlossen gegenüber wie er. Selbst im Landeskriminalamt befürchteten manche, vom Dienstgeber über die Smartphones überwacht zu werden. Andere scheuten die technische Herausforderung der eigens entwickelten Apps, die den verschlüsselten Versand von Polizeidaten und den Zugriff auf die wichtigsten Datenbanken auch unterwegs ermöglichten. Zwar gab es eine Dienstanweisung, zu Dienstbeginn das Smartphone zu aktivieren und es im Außendienst jedenfalls mitzuführen, jedoch wurden disziplinarische Verstöße nicht geahndet, weshalb ein beachtlicher Teil der teuren Geräte in den Amtsstuben verstaubte.
Bergmann schaute Sandra über die Schulter, während sie sich durch die Fotos wischte. Für diese Distanz brauchte er seine Lesebrille nicht auszupacken.
Der Leichnam lag bäuchlings zwischen Steinen, Laub und Moos in einem Bächlein, das kaum Wasser führte. Das Gesicht ruhte im Farn, lediglich ein dichter, ergrauter Haarschopf war zu sehen. Der Kopf stand in einem unnatürlichen Winkel seitlich ab. Die Kleidung war zerrissen, das weiße Hemd verdreckt. Die rechte Hand der Leiche fehlte unterhalb des abgenagten Handgelenks. Die linke Hand war zerfressen, das verwesende Fleisch von Maden und Insekten befallen. Die Jeans wiesen ebenfalls Flecken auf, Blut war kaum zu erkennen. Der rechte Unterschenkel lag ähnlich verdreht da wie der Kopf und war offenkundig gebrochen. Beide Füße steckten in dunkelgrauen Hiking-Schuhen mit neonorangefarbenen Details.
»Ist der Tote schon identifiziert?« Sandra blickte auf und gab dem Kollegen das Handy zurück.
»Bei der Leich’ handelt sich’s um den Schneeberger Oskar. Geboren am 2.11.1956 in Graz. Er hat im Schloss Abelsberg g’wohnt.« Die Landpolizisten hatten den Mann wegen der Tierfraßspuren und der fortgeschrittenen Verwesung nicht gleich erkannt, seine Brieftasche aber in der Hosentasche gefunden.
Sandra kannte jemanden, der so hieß. In ihrem Kopf formte sich das Bild eines Mannes, dem sie im vergangenen Frühjahr bei der Diagonale im Schubert Kino begegnet war, als sie Hubert zu einer Filmpremiere im Rahmen des Grazer Filmfestivals begleitet hatte. »Oskar Schneeberger, der Regisseur?«
Der Kommandant bestätigte ihre Vermutung.
Auch Bergmann hatte diesen Namen schon gehört. Wenngleich sich sein Interesse für den heimischen Film in Grenzen hielt. »Hatte der Mann sonst noch etwas bei sich? Ein Handy vielleicht?«, fragte er.