Steirerkreuz - Claudia Rossbacher - E-Book + Hörbuch

Steirerkreuz E-Book und Hörbuch

Claudia Rossbacher

4,4

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Beschreibung

Als Sandra Mohr und Sascha Bergmann ins Mürzer Oberland gerufen werden, erwartet sie ein seltsamer Leichenfund. Ein Mann und ein Hund wurden kopfüber an einem Baum aufgehängt. Ist der Tatort unweit des Pilgerweges nach Mariazell ein Hinweis auf einen religiös motivierten Ritualmord? Welche Rolle spielt die blinde Magdalena, um die sich im Dorf alles zu drehen scheint? Und was verbirgt Pater Vinzenz, der sich so rührend um sie kümmert? Die Spuren führen die LKA-Ermittler in die Vergangenheit ….

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Seitenzahl: 306

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Sprecher:Claudia Rossbacher

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Claudia Rossbacher

Steirerkreuz

Sandra Mohrs vierter Fall

Zum Buch

Mord am Pilgerweg Als Sandra Mohr und Sascha Bergmann ins Mürzer Oberland gerufen werden, erwartet sie ein seltsamer Leichenfund. Ein Mann und ein Hund wurden kopfüber an einem Baum aufgehängt. Ist der Tatort unweit des Pilgerweges nach Mariazell ein Hinweis auf einen religiös motivierten Ritualmord? Welche Rolle spielt die blinde Magdalena, um die sich im Dorf alles zu drehen scheint? Was verbirgt Pater Vinzenz, der sich so rührend um sie kümmert? Die Spuren führen die LKA-Ermittler aus Graz in die Vergangenheit der Dorfgemeinschaft, die den Toten zu Lebzeiten ächtete. Seit seiner Entlassung aus der Strafanstalt lebte der »Waldmensch« jahrelang allein mit seinen Tieren in einer alten Jagdhütte. Bis Magdalena nach dem Tod ihrer Mutter zu ihm zog. Wenngleich die Geschehnisse eine Weile zurückliegen, wittert Sandra eine tödliche Verschwörung. Doch wer hat den Waldmenschen ermordet? Warum ausgerechnet auf diese Weise? Und warum erst jetzt?

 

Claudia Rossbacher, geboren in Wien, zog es nach ihrem Tourismusmanagementstudium in die Modemetropolen der Welt, wo sie als Model im Scheinwerferlicht stand. Danach war sie Texterin, später Kreativdirektorin in internationalen Werbeagenturen. Seit 2006 arbeitet sie als freie Schriftstellerin in Wien und in der Steiermark und schreibt vorwiegend Kriminalromane und Kurzkrimis. Ihre Steirerkrimis mit den LKA-Ermittlern Sandra Mohr und Sascha Bergmann waren allesamt Bestseller in Österreich. »Steirerblut«, »Steirerkind« und »Steirerkreuz« – ausgezeichnet mit dem österreichischen »Buchliebling 2014« –, wurden als Landkrimis für ORF und ARD verfilmt. Alles zur Autorin und ihren Büchern auch unter www.claudia-rossbacher.com

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Ortsnamen Ainberg an der Mürz und St. Raphael im Krakautal

wurden von der Autorin fiktiv gewählt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4366-4

Widmung

Für Charly

† 17.02.2013

Prolog

Gegrüßet seist du, Maria,

voll der Gnade,

der Herr ist mit dir,

du bist gebenedeit unter den Frauen,

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes,

Jesus.

 

Heilige Maria, Muttergottes,

bitte für uns Sünder

jetzt und in der Stunde unseres Todes.

Amen.

Das Ave Maria ist ein Grundgebet der katholischen Kirche und Bestandteil des Angelus- und des Rosenkranzgebetes.

Kapitel 1

Freitag, 26. Juli

Der Regen war wieder stärker geworden. Wie es die Meteorologen prophezeit hatten. Zwischen den unzähligen Wolkenbrüchen der vergangenen Tage hatte sich die Sonne nur ein paar Mal am Himmel über Graz gezeigt. Zaghaft, höchstens für eine halbe Stunde am Stück. Dabei waren die steirische Landeshauptstadt und der Süden des Landes noch begünstigt. Viel schlimmer traf es die Obersteiermark. Im Paltental hatte eine Mure ein halbes Dorf mit sich gerissen. Wie durch ein Wunder waren nach dem gewaltigen Hangrutsch keine Verletzten oder Todesopfer zu beklagen. Eine Besserung der angespannten Lage wurde für das Wochenende erwartet. Dann sollte das hartnäckige Tief einem Omega-Hoch weichen, das sich, geformt wie der griechische Buchstabe, über dem europäischen Kontinent einnisten würde und endlich eine längere sonnige Periode versprach.

Sandra Mohr kümmerte das Wetter und seine Konsequenzen kaum. Einmal mehr war sie mit der Katastrophe beschäftigt, die das eigene Leben überschattete. Ging es nach ihr, konnte die Welt getrost untergehen. Bis dahin würde sie laufen. Bis zur völligen Erschöpfung. Oder arbeiten. Doch derzeit stand kein aktueller Mordfall an, der die Abteilungsinspektorin des Landeskriminalamtes Steiermark von ihren privaten Sorgen abgelenkt hätte. Zudem war dies ihr freier Tag. Also rannte Sandra, als könnte sie vor ihren Gedanken davonlaufen, die sie spätestens wieder einholen würden, sobald sie erschöpft in ihr Bett fiel. Den Pfützen wich sie aus Gewohnheit aus. So gut es eben ging. Dabei waren ihre Laufschuhe genauso durchnässt wie der Rest der Sportkleidung, die an ihr klebte.

Den Mann im weißen Mercedes Coupé, der an der Ampel am Lendkai auf die nächste Grünphase wartete, ignorierte Sandra. Wenngleich sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, dass er den Kopf schüttelte, als die patschnasse Joggerin bei Wind und Wetter vor ihm über den Zebrastreifen trabte. An solchen Tagen jagte man nicht einmal einen Hund auf die Straße, schien er bei ihrem Anblick zu denken. Oder irgendetwas in dieser Art. Was auch immer ihm durch den Kopf gehen mochte, Sandra war es egal.

Den Mursteg, den sie sonst auf ihrem Weg zum Schloßberg nahm, um den Fluss zu überqueren, der die Stadt teilte, ließ sie rechts liegen. Stattdessen rannte sie am Lendkai entlang, stromaufwärts bis zur Keplerbrücke. Gestern Nachmittag war die überschwemmte Murinsel durch Treibholz beschädigt worden und drohte vom Hochwasser mitgerissen zu werden. Den Mursteg und zwei weitere Brücken stromabwärts hatte man vorsichtshalber gesperrt.

Sandra versuchte, möglichst ruhig in den Bauch zu atmen, um bei dem rasanten Tempo, das sie vorlegte, kein Seitenstechen zu riskieren. Wenigstens konnte sie noch laufen, während Julius unter übermenschlicher Kraftanstrengung und mit eisernem Willen in der Rehabilitationsklinik gegen seine Querschnittlähmung ankämpfte.

Warum ausgerechnet Julius? Wieso hatte der sturzbetrunkene Snowboarder unbedingt ihren Freund über den Haufen fahren müssen und war dabei selbst mit vergleichsweise harmlosen Arm- und Schulterverletzungen sowie einer Gehirnerschütterung davongekommen? Warum war sie auf der Skihütte nicht eingeschritten, als es noch nicht zu spät gewesen war? Wieso hatte sie sich von Julius wider jegliche Vernunft davon abhalten lassen, die offensichtlich alkoholisierten Freizeitsportler an der Abfahrt zu hindern? Wie sehr sie diese immer wiederkehrenden Fragen hasste, auf die es ohnehin keine befriedigenden Antworten gab. Es war, wie es war. Julius und sie hatten mit einem Schicksalsschlag zurechtzukommen wie unzählige andere Menschen auch. Selbst wenn es ihnen an manchen Tagen noch so unmöglich erschien.

Normalerweise hätte Sandra spätestens jetzt die Musik lauter gedreht, um mental in eine andere Welt abzutauchen, doch waren ihre Kopfhörer wegen des starken Regens zu Hause geblieben. Sie musste einen Zahn zulegen, ihren Körper noch mehr schinden, um die quälenden Gedanken zu vertreiben. Nein, nicht auch das noch … Nicht jetzt! Der vertraute Klingelton und das Vibrieren an ihrem linken Oberarm ließen sie langsamer statt schneller werden. Sie zog das Handy aus dem Sportarmband, das sie beim Joggen trug. Das hatte sie nun davon, dass sie sich für das robuste, wasserdichte Outdoor-Modell anstelle des schickeren, wesentlich empfindlicheren Smartphones entschieden hatte, das bei einem derartigen Sauwetter bestimmt den Geist aufgegeben hätte. Zwar gab es auch Mobiltelefone, die Design und Widerstandsfähigkeit in sich vereinten, aber die standen nicht auf der Liste ihres Dienstgebers. Sie mussten schon froh sein, dass die alten Geräte überhaupt endlich eingezogen worden waren. Sandra blickte auf das Display, während sie sich im nächsten Hauseingang unterstellte, um das Gespräch anzunehmen.

»Kannst du mich abholen?«, hörte sie den Chefinspektor am anderen Ende der Leitung grußlos fragen.

»Was? Wieso?«, fragte sie, nach Atem ringend, zurück. »Ich hab … ich hab heute frei.« Sie holte tief Luft, ehe sie weitersprach. »Nur für den Fall, dass du es vergessen hast … Miriam ist doch im Dienst.«

»Miriam hat sich heute Morgen krankgemeldet. Ihr Weisheitszahn macht ihr zu schaffen. Sie hat Fieber und muss zum Zahnarzt. Ich brauche dich, Sandra.« Sascha Bergmann klang einen Tick zu freundlich für ihren Geschmack.

»Schön, das mal aus deinem Mund zu hören. Aber sag, wie heißt das Zauberwort mit zwei T?« Einmal mehr vermisste Sandra ein einfaches ›Bitte‹ des Kollegen.

»Flott.« Sascha Bergmann lachte hämisch. Demnach fand er seinen abgedroschenen Witz auch noch lustig. Nach fast drei Jahren der Zusammenarbeit hätte Sandra wissen müssen, dass ihr Wink mit dem Zaunpfahl nach hinten losgehen würde. In solchen Augenblicken fragte sie sich stets, wie sie es bisher mit ihm ausgehalten hatte. Während sie noch überlegte, was sie auf seinen schlechten Scherz erwidern sollte, sprach er weiter. »Also? Was ist? Wie schnell kannst du im LKA sein?«

Sandra stemmte ihr angewinkeltes Bein gegen die Mauer im Hauseingang und zögerte die Antwort nunmehr absichtlich hinaus.

Bergmann seufzte. »Na, schön … biiitte«, fügte er überspitzt hinzu.

Ihre Genugtuung hielt sich in Grenzen. Spätestens jetzt war Sandra klar, dass ihre Anwesenheit dringend nötig war. Jemand musste getötet worden sein. »Ist ja gut. Bin schon unterwegs. Zuerst muss ich aber noch nach Hause, um mich umzuziehen. Was ist denn passiert?«

»Ein Mord. Sieht jedenfalls ganz danach aus.«

»Ach was …« Sandra trabte gemächlich los. »Geht’s vielleicht ein bisschen konkreter?«, fragte sie genervt.

»Genauer gesagt handelt es sich um zwei Leichen. Du bist schon wieder joggen, stimmt’s? Du weißt doch, dass du vor deinen Problemen nicht davonlaufen kannst.«

Sandra ignorierte die allzu persönliche Bemerkung und blickte auf ihre Armbanduhr, das Handy ans Ohr gepresst. »Was soll das heißen: ein Mord und zwei Leichen? Ein Doppelmord? Oder Mord und Selbsttötung?«, wollte sie wissen.

»Wie lange brauchst du nun, um mich abzuholen?«, wiederholte Bergmann seine Frage, anstatt die ihre zu beantworten.

»Eine gute Dreiviertelstunde. Sagst du mir jetzt bitte endlich …«

»Ruf mich an, wenn du da bist. Wir treffen uns dann unten am Parkplatz«, unterbrach er ihren nächsten Versuch, weitere Details über den aktuellen Fall zu erfahren. »Und lauf nicht so schnell. Tot ist tot und bleibt tot. Daran ändern ein paar Minuten mehr oder weniger auch nichts mehr.«

Dass es dennoch wichtig war, Leichen, Fundort und etwaige Zeugen möglichst rasch aufzusuchen und mit den Ermittlungen zu beginnen, solange die Spuren noch heiß waren, wussten beide.

»Ist die Tatortgruppe schon verständigt?«, fragte Sandra im Laufen.

»No na ned«, ätzte Bergmann.

Die Frage nach der Gerichtsmedizinerin, die ihr auf der Zunge lag, verkniff sich Sandra lieber. Bestimmt war Doktor Jutta Kehrer ebenfalls längst auf dem Weg zum Einsatzort. »Wo wurden die beiden Leichen denn aufgefunden?«, ging sie zur nächsten Frage über.

»Ainberg an der Mürz.«

»Ainberg … das liegt im Naturpark Mürzer Oberland«, überlegte sie laut.

»Wusste ich doch, dass du auch dieses Kaff kennst.«

Sandra hatte das zynische Grinsen des Chefinspektors deutlich vor Augen. »Für Kaffs bin ich schließlich die Spezialistin«, griff sie seine Anspielung auf ihre Herkunft aus der Steirischen Krakau auf. »Wissen wir schon, wer die Toten sind?«

»Nein, aber wir werden es hoffentlich demnächst herausfinden.«

»Wie sind die beiden denn nun getötet worden? … Sascha? … Hallo?«

Bergmann hatte das Gespräch ebenso grußlos beendet, wie er es begonnen hatte. Ärgerlich steckte Sandra ihr Handy weg. Selber schuld. Warum hatte sie den Anruf an ihrem freien Tag überhaupt entgegengenommen?

»Du mich auch«, murmelte sie und sprintete los, sodass das dreckige Regenwasser unter ihren Füßen nur so hochspritzte.

Kapitel 2

»Peter? Bist du das, Peter?« Magdalena setzte sich in ihrem Bett auf, horchte in die Stille, die von einem leisen Poltern durchbrochen worden war. Hatte sie geträumt? Oder war Peter endlich aus dem Dorf zurückgekehrt? Wie spät war es überhaupt? Da! Da war es wieder, dieses Geräusch, das sie nicht zuordnen konnte. In der Stube nebenan. Die blassblauen Augen der jungen Frau stierten zur Decke des Schlafzimmers, bewegten sich dabei ruckartig von links nach rechts und wieder zurück. Ihr Nachthemd war nass geschwitzt. Sie fröstelte, spürte die warme, raue Zunge über ihren Handrücken lecken. »Schon gut, Luna. Komm, lass uns nachschauen, ob der Peter gekommen ist.«

Magdalena zwang sich, aufzustehen und in die Crocs zu steigen. Ihre Glieder schmerzten nicht mehr, doch verlangte ihr jeder Schritt enorme Kraft ab. Kraft, die ihr das Fieber in den vergangenen Tagen geraubt hatte. Luna wich nicht von ihrer Seite, wie sie es ihr beigebracht hatten. Nach monatelangem Training war die Schäferhündin zu einer zuverlässigen Begleiterin geworden, die Magdalenas Leben, das aus Licht, Schatten und unscharfen Konturen bestand, vor allem draußen erleichterte.

Magdalena drückte den Knopf auf ihrer Armbanduhr. »Es ist 12 Uhr 31«, verkündete die vertraute Frauenstimme, die ein winziger Chip in der Uhr generierte.

Erschöpft war Magdalena wieder eingeschlafen, nachdem sie Luna morgens vor die Tür gelassen hatte, damit sie sich draußen im Wald erleichtern konnte. Sie hatte den Tieren Futter und frisches Wasser gegeben, danach die Ziegen gemolken. Für sich selbst hatte sie einen Kräutertee zubereitet, der ihr Fieber senken sollte. Im Schlaf hatte er seine Wirkung getan. Ihre Stirn fühlte sich nun nicht mehr so heiß an.

»Peter?«, rief sie noch einmal in die Stube.

Luna hechelte.

Magdalena hörte etwas sanft zu Boden gleiten. Dann spürte sie das flauschige Katzenfell an ihren nackten Beinen. »Merlin! Du bist das! Was hast du denn schon wieder angestellt?«

Luna bellte zweimal kurz. Für Magdalena das Zeichen, dass sich etwas vor ihr befand. Langsam ging sie in die Knie, tastete behutsam die Holzdielen ab, bis sie den vermeintlichen Gegenstand fand. Was war das? Es fühlte sich weich an. Weich wie … wie Federn. Dazwischen spürte sie etwas … »Merlin! Pfui Teufel!« Erschrocken sprang Magdalena aus der Hocke auf. Diesmal hatte ihr der Kater einen toten Vogel nach Hause gebracht. Der Kadaver musste weg, bevor er ihn zerlegte und die Reste in der Stube verteilte. Noch einmal bückte sie sich, um den starren, gefiederten Körper aufzuheben und nach draußen zu tragen. Dort warf sie ihn in die Mülltonne. »Peter!«, rief sie in den Wald. »Sancho!«

Da war nichts. Außer Luna, die einige Schritte abseits ihre Notdurft verrichtete, dem Nieseln des Regens, dem Rauschen des Baches und dem würzigen Geruch des feuchten Waldes. Dennoch wuchs sich ihre Sorge um Peter und Sancho allmählich zur Angst aus. Magdalena zitterte jetzt am ganzen Körper. Sie musste ins Haus zurückkehren, bevor sie sich hier draußen den Tod holte. Bis zum Abend wollte sie auf die beiden warten, dann die Polizei verständigen. Auch wenn Peter ihr das bestimmt übel nehmen würde.

Kapitel 3

»Himmelherrgott noch mal! Dieser verdammte Gatsch!«, schimpfte Bergmann, der hinter Sandra über eine Baumwurzel stolperte und beinahe hinfiel. Vergeblich versuchte er, den Matsch von den Profilsohlen seiner Sportschuhe an einem Felsen am Wegesrand abzustreifen.

»Hör lieber zu fluchen auf. Immerhin befinden wir uns in der Nähe vom Pilgerweg nach Mariazell«, zog Sandra ihn auf. Auch sie musste ihre Schritte sorgsam setzen, um mit ihren Gummistiefeln auf dem durchweichten Waldboden nicht auszurutschen. Wenigstens hatte der Regen während der knapp anderthalbstündigen Autofahrt von Graz nach Ainberg an der Mürz etwas nachgelassen. Dem leichten Nieseln würde ihre alte, kaum mehr imprägnierte Jacke schon noch standhalten, hoffte sie wenigstens. Den Regenschirm, der ihr im Wald nur hinderlich gewesen wäre, hatte sie lieber gleich im Wagen gelassen.

Nach etwa 100 Metern blieb Sandra stehen, den Blick auf das Display ihres Handys gerichtet. Vom Kollegen der Tatortgruppe hatte sie sich die GPS-Daten des Einsatzortes durchgeben, statt sich vom Parkplatz beim Dorfwirt in Ainberg abholen zu lassen. Hier musste irgendwo die Stelle sein, an der sie vom markierten Weg nach links abzweigen sollten, um den direkten Weg zum Leichenfundort zu nehmen. Der war zwar von zwei Seiten, das letzte Stück jedoch nur zu Fuß erreichbar. Ob man nun, wie die beiden Ermittler, von unten oder aber von oben kam. Sandra sah sich um und entdeckte einen schmalen Pfad, der tiefer in den Wald hineinführte. »Hier lang«, sagte sie zu Bergmann gewandt und marschierte weiter. Der Chefinspektor war ihr dicht auf den Fersen. Zu dicht. Die nassen Zweige der jungen Fichte, die Sandra mit ihrer Schulter streifte, schnalzten ihm mitten ins Gesicht.

»Aua! So pass doch auf, verdammt«, maulte er.

»Das war die Strafe Gottes für deine Flucherei. Alles okay mit dir?« Sandra drehte sich um. Ins Auge war jedenfalls nichts gegangen. Missmutig wischte sich Bergmann mit dem Handrücken die Wassertropfen vom unrasierten Kinn. Sandra überprüfte die Koordinaten auf ihrem GPS-Handy noch einmal und nahm die Kapuze ab, um zu lauschen.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, wollte Bergmann wissen.

»Die Felswand befindet sich linkerhand – exakt, wo sie sein sollte. Und ich höre Stimmen …«

»Vermutlich Engelsstimmen«, spottete Bergmann.

»Hörst du sie etwa nicht? Los, komm schon!« Sandra setzte sich wieder in Bewegung.

Bergmann folgte ihr weiter durch den Wald, diesmal in etwas größerem Abstand, bis sie die gesuchte Lichtung erreichten. Am anderen Ende der Wiese standen einige Leute am Waldrand. Aus dieser Entfernung konnte Sandra nicht viel erkennen. Außer, dass es sich um uniformierte Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr handelte. Die Gestalten in den weißen Overalls gehörten der Tatortgruppe des LKA an. Der Tatort selbst musste hinter dem rot-weiß gestreiften Polizeiabsperrband im dunkleren Wald liegen und war von hier aus nicht einsehbar.

An die 100 Meter wateten Sandra und Bergmann durchs Gras, das ihr bis zur Hüfte reichte. Entsprechend durchnässt waren ihre Hosenbeine, als sie ans Ziel gelangten. Wenigstens waren Sandras Füße dank der Gummistiefel trocken geblieben. Im Gegensatz zu Bergmanns, der unaufhörlich hinter ihrem Rücken schimpfte.

Vorhin auf der Fahrt hatte er ihr endlich verraten, was sie am Einsatzort erwartete. Ein gehängter Mann und ein getöteter Hund. Nichts, was sie nicht schon einmal gesehen hätten, hatte Sandra bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls geglaubt. Jetzt wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie sich gründlich geirrt hatte. Der bizarre Anblick der Leichen ließ sie auf der Stelle erstarren. »Heiliger Bimbam«, entkam es ihr.

»Ist der Mann inzwischen identifiziert?«, sprach Bergmann den männlichen der beiden uniformierten Kollegen am Polizeiabsperrband an. Sandra schlüpfte hinter dem Chefinspektor unter dem Flatterband durch und betete zur Begrüßung ihre Namen und Dienstränge herunter, den Blick noch immer auf die Leichen gerichtet.

Inspektionskommandant Hannes Trummer stellte sich und die jüngere Inspektorin Daniela Stix von der örtlichen Polizeiinspektion ebenfalls vor, ehe er Bergmanns Frage beantwortete. »Seine Identität ist uns nach wie vor unbekannt. So was hab ich noch nie gesehen …« Trummer war sichtlich erschüttert.

»Also ist er nicht aus dieser Gegend?«

»Wenn’s einer von uns ist, kann ich ihn beim besten Willen nicht erkennen«, meinte Stix, nicht minder schockiert.

»Ich auch nicht«, stimmte ihr Trummer zu.

»Wurde jemand vermisst gemeldet?«, fragte Bergmann.

Trummer und Stix schüttelten synchron die Köpfe. »Bei uns jedenfalls ned«, antwortete er.

»Wie sieht es denn mit Hunden aus?«, wollte der Chefinspektor wissen.

»Hä?« Trummer verstand nicht.

Stix schwieg. Die kleine, aber umso pummeligere Polizistin war bleich um die Nase, was angesichts der grotesk anmutenden Leichen nachvollziehbar war.

»Na, es gibt doch sicher einige Hunde in der Gegend«, half Sandra dem Inspektionskommandanten auf die Sprünge.

»Ach so. Ja freilich«, bestätigte Trummer.

»Na also. Ich brauche eine Liste mit allen Hundehaltern aus der Umgebung. Und schreibt die Rassen der Hunde dazu, sofern es sich nicht um Zwergpinschpudeldackel oder Exemplare in Rattengröße handelt«, ordnete Bergmann an.

»Jetzt gleich?«, fragte Trummer nach.

»Wenn ihr derzeit keine anderweitigen Verpflichtungen habt, als entsetzt im Wald herumzustehen …«

»Nein … Ja, wir kümmern uns sofort drum.«

»Moment noch«, hielt Bergmann die Uniformierten auf. »Wer hat die Leichen denn gefunden?«

»Ach so. Ein Pilger aus Hartberg. Almer Gerhard heißt er. Ein Hauptschullehrer«, berichtete Trummer.

»Und den habt ihr einfach gehen lassen?«

»Nein, ich hab vor lauter … ich hab nur vergessen, es zu erwähnen. Der Zeuge und seine Pilgergruppe warten beim Dorfwirt in Ainberg auf ihre Einvernahme. Sie sind zu fünft. Alles Lehrer.«

»Auch das noch …« Bergmann seufzte.

»Wollt’s die Namen haben?«, fragte Stix.

»Nicht jetzt. Sagt ihnen, sie sollen sich gedulden. Wir kommen dann. Sobald wir hier fertig sind.«

»Dann …«, wiederholte Trummer, »jawoll.« Seine flache Hand wanderte zackig an den Rand der Kappe, die zum Schutz vor dem Regen mit einer transparenten Plastikhaube überzogen war.

»Ungefähr in einer Stunde«, wurde Sandra konkreter. »Die Liste mit den Hunden könnt ihr mir mailen. Wenn’s Neuigkeiten zu dem Fall gibt oder euch irgendwas dazu einfällt, ruft mich umgehend an, ja?«

Trummer nickte und steckte ihre Visitenkarte ein. Verunsichert blickte er von der Abteilungsinspektorin zum Chefinspektor.

»Was ist? Worauf wartet ihr denn noch? Gemma, gemma!«, schnauzte Bergmann ihn an und wedelte die örtlichen Polizisten mit den Händen aus seinem Blickfeld.

Die beiden beeilten sich, den Tatort zu verlassen, um ihrem Auftrag nachzukommen.

»Das sind vielleicht zwei Komiker«, murmelte Bergmann und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schauplatz des Verbrechens zu.

»Vermutlich sind den beiden noch niemals Leichen in einem derartigen Zustand untergekommen«, nahm Sandra die Dorfpolizisten in Schutz.

»Na, das eine oder andere Unfallopfer werden Dick und Doof doch schon vom Baum gekratzt haben. Ist ja schließlich auch kein besonders schöner Anblick, oder?« Bergmanns Augen waren auf die Leiche des Mannes gerichtet.

Sandra fand die Überheblichkeit des Chefinspektors wieder einmal zum Kotzen. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als neben ihm am Absperrband zu warten, bis die Tatortgruppe etwaige Spuren sichergestellt hatte. Während der Kollege auf der Leiter herumturnte, um zu fotografieren, betrachtete sie das schaurige Bild der toten Körper, die beide kopfüber, einen guten Meter voneinander entfernt, vom untersten, waagrecht gewachsenen Ast eines alten Bergahornbaumes herabbaumelten.

Bergmann neigte den Kopf zur Seite und kniff die Augen zusammen. »Einmal verkehrt herum … interessant«, stellte er fest.

»Du hast also nicht gewusst, dass die Opfer an den Füßen aufgehängt wurden?«, hakte Sandra nach.

Bergmann schüttelte den Kopf und überlegte anscheinend noch immer, was er von diesem ungewöhnlichen Anblick halten sollte.

»Vielleicht sind die beiden in eine Falle getreten«, sprach Sandra ihre erste Vermutung aus.

»Dann dürfte das Seil aber nur um ein Bein des Mannes geschlungen sein. Und wenn sich der Hund nicht im Rückwärtsgang bewegt hat, müsste es ihn doch an einem Vorderlauf erwischt haben.« Beides war augenscheinlich nicht der Fall. »Möglich, dass der Mann es selbst getan hat«, überlegte Bergmann laut weiter.

Unwahrscheinlich, wollte Sandra ihm intuitiv widersprechen, behielt ihre Meinung aber vorerst bei sich. Dennoch ließ sich ein Suizid derzeit nicht ausschließen, musste sie dem Chefinspektor insgeheim zustimmen. Der Mann konnte den Hund an den Hinterläufen festgebunden und hochgezogen haben, danach selbst mithilfe des Seils auf den Baum geklettert sein, um sich zu erhängen. Aber warum zum Teufel an den Füßen? So zu sterben, war erheblich qualvoller, als mit der Schlinge um den Hals in die Tiefe zu springen, um sich im Idealfall den Kehlkopf zu zerquetschen und das Genick zu brechen. Das wäre zweifelsfrei die schnellere, schmerzlosere Methode gewesen. Nein, überlegte sie weiter, das hier sah nicht nach einer Selbsttötung aus, sondern nach einer Hinrichtung. Irgendwo hatte sie ein ähnliches Bild schon einmal gesehen. Bloß fiel ihr momentan nicht ein, wo.

In ihrem Augenwinkel näherte sich eine Gestalt. Sandra wandte sich der Gerichtsmedizinerin zu, die sich im klassischen beigen Trenchcoat und Gummistiefeln in Burberry-Karo zu ihnen gesellte.

»Mahlzeit!« Doktor Jutta Kehrer grüßte mit einer Floskel, die Sandra in Anbetracht der Leichen reichlich deplatziert vorkam, wenngleich sie um die Mittagszeit durchaus gebräuchlich war. Besonders appetitanregend fand sie die gegenwärtige Situation jedenfalls nicht. Also begnügte sie sich mit einem wortlosen Nicken. Dass die Begrüßung des Chefinspektors ebenso spärlich ausfiel, wunderte Sandra. Da weder Pietätsgefühl noch Sensibilität zu seinen heraus­ragenden Charaktereigenschaften zählten, vermutete sie eher, dass seine Leidenschaft für Doktor Kehrer abgekühlt war. Was auch immer der Grund dafür sein mochte.

Der Gerichtsmedizinerin war wie gewöhnlich keinerlei menschliche Regung anzumerken, was ihr die meisten Leute als Arroganz auslegten. Auch Sandra bildete da keine Ausnahme. Lediglich die Patienten ließ das unterkühlte Verhalten der Ärztin völlig kalt. Sie waren allesamt tot.

»Die beiden wurden an den Knöcheln beziehungsweise an den Hinterläufen aufgehängt«, stellte Frau Doktor Kehrer fest, was für jeden Laien, selbst aus sechs Meter Entfernung betrachtet, offensichtlich war.

»Das Passiv gilt zumindest für den Hund«, sagte Bergmann. »Oder kannst du aus dieser Distanz ausschließen, dass der Mann Suizid begangen hat?«

»Suizid, meinst du«, wiederholte die Ärztin nachdenklich. »Also, ich weiß nicht. Die Methode erscheint mir aber höchst ungewöhnlich.«

»Nur so eine Idee«, relativierte Bergmann seinen Einwand.

»Wie lange hält der Kreislauf das aus?«, fragte Sandra.

»Maximal ein paar Stunden. Kommt auf das Körpergewicht, die Außentemperatur und die allgemeine Konstitution an«, erklärte Frau Doktor Kehrer. »Beim Hund hat es sicher einige Stunden länger gedauerte als beim Mann, bis er verstorben ist.«

»Die Viecher sind zäh. Der Hund sieht jedenfalls deutlich besser aus als der Mann«, merkte Bergmann an.

»Das Fell verbirgt so einiges.« Die Ärztin sah Bergmann aus schmalen Augen an. Zwischen den beiden herrschte Gewitterstimmung, war sich Sandra nunmehr sicher.

»Wir sind hier mit den Spuren soweit fertig. Sie können sich die Leichen jetzt näher ansehen«, meldete sich Manfred Siebenbrunner zu Wort. Damit hatte der Leiter der Tatortgruppe den Schauplatz des Verbrechens für die weiteren Ermittlungen freigegeben.

»Kommen Sie«, sprach die Gerichtsmedizinerin Sandra direkt an.

Spätestens jetzt musste sie sich den Toten nähern. Ob sie nun wollte oder nicht. Tausende Fliegen umschwirrten die Leichen und legten ihre Maden im toten Fleisch ab, damit neues Insektenleben entstehen konnte. Die unterbluteten, stark vergrößerten Augäpfel traten bei beiden aus den Höhlen, als würden sie jeden Moment herausspringen. Die Zungen waren durch den Druck, den das Blut und die Gewebsflüssigkeit in dieser ungewohnten Position ausübten, ebenfalls geschwollen und quollen aus Mund und Fang. Die ballonartigen Köpfe drohten jeden Moment zu zerplatzen. So sahen sie jedenfalls aus. Während die Ohren des Mannes wulstig vom Kopf abstanden, gehorchten seine dunkelbraunen Haare der Schwerkraft und hingen auf Sandras Augenhöhe klatschnass herab. In aufrechter Stellung musste ihm die Mähne bis zum Kinn gereicht haben, schätzte sie. Der dunkle Vollbart konnte die auffällige blauviolette Färbung seiner Haut kaum verbergen, so aufgedunsen, wie sich auch das Gesicht und der Hals präsentierten. Das hier war wahrlich kein schöner Anblick. Selbst für hartgesottene Kriminalpolizisten der Mordgruppe nicht, die einiges gewöhnt waren. Noch grausiger hatte Sandra nur die Leiche der jungen Frau gefunden, die vor zwei Jahren auf einem weststeirischen Kürbisacker gepfählt und als menschliche Vogelscheuche dort aufgestellt worden war. Damals war ihr schon am Leichenfundort speiübel gewesen. Das blieb ihr in diesem Fall wenigstens erspart.

Die Gerichtsmedizinerin bat einen der umstehenden Männer, für sie die Leiter zu halten und kletterte dann hinauf, um dem Toten das nasse T-Shirt und das Flanellhemd aus dem Hosenbund mit dem braunen Ledergürtel zu ziehen. Der Oberkörper war ebenso stark angeschwollen wie Gesicht und Hals und wies vom unteren Rippenbogen bis zu den Schultern ausgeprägte Leichenflecken auf. Finger, Hände und Arme, die herabhingen, sahen aus, als steckten sie in langen blauvioletten Gummihandschuhen, die jemand aufgeblasen hatte.

Sandra wunderte sich, dass Doktor Kehrer die Leiche des Mannes dort oben begutachtete, anstatt sie gleich herunterholen zu lassen. Wäre es nicht viel einfacher gewesen, sie auf dem Boden zu untersuchen? Die Gerichtsmedizinerin wusste bestimmt, was sie tat. Also widmete sich Sandra dem Anblick des toten, ebenso nassen Hundes über ihrem Kopf. Ob er irgendeiner Rasse angehörte?, fragte sie sich. Dass es sich um einen Rüden handelte, verriet ihr sein Geschlechtsteil. Mit viel Fantasie ähnelte er einem Deutschen Schäferhund, doch das Fell war vom Fang über die Brust deutlich heller und wies auch am dunkleren Rücken weiße Einsprenkelungen auf. Die Haare kamen ihr etwas länger und, wie die Unterwolle, dichter vor. Genauso gut hätte es sich um einen Husky, einen Wolfshund oder auch um einen Wolf handeln können, der neben dem toten Mann vom Ast herabbaumelte. Aber Wölfe gab es in der Steiermark schon lange keine mehr, hatte sie in der Schule gelernt. Oder waren sie inzwischen zurückgekehrt?

Wer um Himmels willen beging einen solchen Mord? Und warum?, fragte sich Sandra weiter. Die Inszenierung der Leichen wirkte absichtlich gewählt, als wären die beiden nach einem bestimmten Ritual hingerichtet worden. Noch einmal versuchte sie sich zu erinnern, wo ihr ein solches Bild schon einmal untergekommen war. War das auf einem Foto gewesen? Oder auf einer Zeichnung? Auf einem alten Kupferstich vielleicht?

»Okay«, unterbrach Frau Doktor Kehrer ihre Überlegungen, während sie die Leiter hinabstieg. »Kann jemand die Leiche des Mannes herunterholen?« Sie wandte sich ihrem Laptop zu, der ihr unter anderem für gerichtsmedizinische Berechnungen diente.

»Können Sie den Todeszeitpunkt denn schon eingrenzen?«, fragte Sandra, nachdem sie ihr eine Weile über die Schulter geschaut hatte.

»Die beiden sind sicher die ganze Nacht hier gehangen. Die Totenflecken lassen sich bei dem Mann nicht mehr wegdrücken. Seiner Körpertemperatur nach zu urteilen, müsste er gestern zwischen 17 und 19 Uhr verstorben sein. In der vergangenen Nacht hat es laut regionalen Wetteraufzeichnungen auf zwölf beziehungsweise dreizehn Grad abgekühlt. Im feuchten Wald kann es durchaus ein bisschen kälter gewesen sein.«

»Könnte der Mann denn bewusstlos oder schon tot gewesen sein, als er hier aufgeknüpft wurde?«

»Möglich. Aber warten wir lieber die Obduktion ab. Ein solcher Fall ist mir bisher noch nicht untergekommen, muss ich gestehen.« Die Gerichtsmedizinerin klappte ihren Laptop zu und linste noch einmal durch die Blätter des mächtigen Bergahorns hinauf. Die stärkste Stelle, an der das Seil mit dem Mann befestigt war, hatte in etwa den Umfang eines nicht allzu kräftigen Oberschenkels, verjüngte sich in Richtung Hundeleiche und weiter nach außen hin.

»Müsste es einem gesunden, einigermaßen trainierten Mann nicht möglich sein, sich aus eigener Kraft aus dieser hängenden Position in eine aufrechte zu bringen?«, fragte Bergmann.

Der Blick der Gerichtsmedizinerin wanderte von der Leiche zum Chefinspektor. Sie musterte ihn abschätzig. »Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Einer deiner jüngeren, fitteren Kollegen soll es doch mal versuchen«, schlug sie ihm vor.

»Was soll das heißen? Ich bin topfit«, glaubte Bergmann sich verteidigen zu müssen.

Sandra grinste. »Willst du dich etwa freiwillig für diese Turnübung melden?« Sie hätte schwören können, den Anflug eines Lächelns im Gesicht der Gerichtsmedizinerin zu erkennen, bevor sich diese Siebenbrunner zuwandte. Der kam soeben mit drei Feuerwehrmännern auf sie zu, die eine längere Leiter und eine Plane brachten.

»Seid’s ihr hier fertig?«, fragte der stämmige Mann, der die zusammengefaltete Plastikplane trug.

Bergmann nickte. »Fürs Erste, ja. Beide Leichen gehen in die Gerichtsmedizin.«

»Aber der Hund doch nicht«, protestierte Frau Doktor Kehrer. »Das ist Angelegenheit eines Veterinärs.«

»Mein Gott, dann ziehst du halt einen Tierarzt hinzu«, erwiderte Bergmann. »Wo ist das Problem?«

»In meinem Sektionssaal?«

»Warum denn nicht? Hunde sind doch auch nur Menschen.« Bergmann verzog keine Miene.

»Solltest du derlei Entscheidung nicht lieber dem Staatsanwalt überlassen?«, giftete ihn Jutta Kehrer an.

Wenn Blicke töten könnten, dachte Sandra. Was war nur zwischen den beiden vorgefallen, das ihm die Dame so übel nahm? Ganz so gefühllos war sie demnach doch nicht.

Bergmann blieb ungerührt. Wie Winnetou im Film legte er die flache Hand über seine Augenbrauen und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Ich sehe hier keinen Staatsanwalt. Außerdem leite ich die kriminalpolizeilichen Ermittlungen«, konterte er und ließ die Hand wieder fallen. »Und ich möchte möglichst rasch herausfinden, was hier wann geschehen ist. Auch mit dem armen Tierchen. Der Staatsanwalt wird das nicht viel anders sehen und die Obduktion anordnen, wenn ich ihn dann anrufe.«

»Vielleicht ist der Hund ja gechipt und führt uns zum Namen seines Besitzers«, ging Sandra dazwischen. Ein besserer Einwand fiel ihr momentan nicht ein, um den Zwist der beiden zu unterbrechen. Sollten sie ihre Unstimmigkeiten doch gefälligst auf privatem Terrain ausfechten. Ein solches Verhalten war alles andere als professionell.

»Wir sehen uns also bei der Leichenöffnung. Montag um neun.« Doktor Kehrers Einladung hatte Bergmann gegolten. Das Feuer in ihrem Blick war der üblichen Eiseskälte gewichen. Sie nickte Sandra zu und wandte sich ab, um den Tatort schleunigst zu verlassen. Bergmann sah ihr nicht einmal hinterher.

Siebenbrunner instruierte die Feuerwehrmänner besonders eindringlich, dass sie beim Abnehmen der Leichen nur ja keine tatrelevanten Spuren zerstörten. Der zuständige Kriminaltechniker sollte als Erster auf den Baum hinaufklettern, um mögliche weitere Spuren zu sichern und Fotos zu schießen. Sandra trat zurück, um Platz für die lange Leiter zu machen. Den Chefinspektor zog sie am Arm mit sich, sodass sie beide etwas abseits neben Siebenbrunner zu stehen kamen. »Irgendwelche brauchbaren Spuren?«, erkundigte sie sich beim leitenden Kriminaltechniker, den sie genauso wenig ausstehen konnte wie er sie. Hoffentlich war er heute ausnahmsweise friedlich gestimmt. Eine Zwidawurzn am Tatort reichte ihr völlig. Auch wenn sich diese soeben grollend entfernt hatte.

»Es finden sich hier kaum tatrelevante Spuren. Wie auch? Bei dem vielen Regen.« Siebenbrunner deutete auf den matschigen Waldboden. Dann hob er die Hände gen Himmel, aus dem es noch immer leicht nieselte.

Sandra blickte nach oben, während der Mann auf der Leiter, teilweise vom Laub verdeckt, fotografierte. Erst als er wieder hinabkletterte, stieg der Feuerwehrmann hinauf, um das Seil durchzuschneiden. Die beiden anderen nahmen den Leichnam unten in Empfang, um ihn auf der Plane zwischenzulagern, bis er vom Bestatter abtransportiert wurde. »Was ist mit dem Seil? Irgendwelche Besonderheiten?«, fragte sie, während sie die aufgescheuchten Fliegen, die sie umschwirrten, mit den Händen vertrieb.

»Auf den ersten Blick nicht«, meinte Siebenbrunner, der zu Füßen der Leiche hockte und das Seil inspizierte. »Scheint mir ein handelsübliches Kletterseil mit einem Polyamidkern zu sein. 9,5 mm. Die Knoten sind gekonnt gelegt, weisen aber keine Auffälligkeiten auf.«

»Könnte er mit dem Seil hinaufgeklettert sein?«

»Ich sehe weder einen Klettergurt noch einen Karabiner. Auch keine Steigschlingen, Steigklemmen, Klemmknoten oder sonstige Hinweise, die für SKT sprechen. Von einer Sicherung ganz zu schweigen.«

»SKT?«, fragte Sandra nach.

»Seilklettertechnik. Auch Doppelseiltechnik, wie sie beim Baumklettern, bei der Baumpflege und bei Baumfällungen von Forstarbeitern eingesetzt wird.«

»Wenn der Mann nicht selbst mit dem Seil auf den Baum geklettert ist, wie ist er dann dort hinaufgelangt?«, fragte Sandra, den Blick wieder nach oben gerichtet. Allmählich drohte ihr Genickstarre.

Siebenbrunner erhob sich mit dem losen Seilende in der Hand. »Ganz einfach. Wahrscheinlich wurde ein Ende beschwert und nach oben geworfen, das andere an den Fußknöcheln des Mannes befestigt. Dann wurde er hochgezogen. Zeigen Sie mir mal die Bilder, Andi.« Er griff nach der Kamera und betrachtete die Fotos.

Sandra starrte konzentriert hoch, während der Feuerwehrmann rittlings auf dem Ast saß, um die Hundeleiche vom Seil zu schneiden. »Ohne Flaschenzug oder andere technische Hilfsmittel?«

»Durchaus möglich. Ein gewisser Kraftaufwand wäre allerdings schon erforderlich gewesen.«

»Aber ein einzelner Mann könnte es geschafft haben? Oder waren hier mehrere Täter am Werk? Ist vielleicht einer auf den Baum geklettert?«, fragte Sandra weiter.

»Ohne Leiter oder sonstige Aufstiegshilfe halte ich das für schwierig.«

»Der Täter könnte doch ebenfalls ein Seil benutzt haben. Und einen Gurt. Vielleicht war er ein Kletterer.«

»Frau Mohr, es ist unser Job, den technischen Tathergang zu rekonstruieren. Sobald die Leichen fort sind, werden wir uns den möglichen Tatszenarien widmen. Sie werden sich wohl oder übel noch ein wenig gedulden müssen.«

Seit wann war das Mitdenken bei der Polizei verboten?, ärgerte sich Sandra. Warum glaubte der Kollege immer, dass sie seine Kompetenz anzweifelte? Sie atmete tief durch und schluckte ihre letzten beiden Fragen hinunter. Dann erst sprach sie ihn in möglichst emotionslosem Tonfall an. »Wann dürfen wir mit Ergebnissen rechnen?«

»Sobald wir die Spuren ausgewertet haben«, blieb Siebenbrunner vage.

»Einer der Männer soll versuchen, sich aus der Position der Leiche ohne Hilfe aufzurichten«, ordnete Bergmann an.

Siebenbrunner nickte wortlos. Wieder einmal musste Sandra zur Kenntnis nehmen, dass der Kriminaltechniker die Worte des Chefinspektors zumeist ohne Widerrede akzeptierte, während er sie ständig in die Schranken wies. Und sie hatte nicht das Gefühl, dass dies ausschließlich an ihrem niedrigeren Dienstrang lag. Entweder war es etwas Persönliches, oder aber er verachtete Frauen generell. Nur in einem Punkt behandelte er alle Kollegen – unabhängig von deren Geschlecht und Dienstrang – gleich, indem er sie konsequent siezte, was bei der Polizei unüblich war.

»Machen wir«, hörte sie Siebenbrunner sagen. »Obwohl ich bezweifle, dass sich jemand verkehrt hängend aufrichten kann. Außer, er ist ein begnadeter Turner, Zirkusartist oder Entfesselungskünstler. Der Baumstamm ist viel zu weit entfernt, als dass man sich darauf abstützen und irgendwie hochhanteln könnte. Ich sehe auch keine erreichbaren Äste.«

»Mit Schwingen schafft man es vielleicht«, versuchte es Sandra mit einer neuen Theorie.

»Mit Schwingen, meinen Sie? Höchstens mit Adlerschwingen«, meinte Siebenbrunner trocken.

Bergmann biss sich auf die Lippe, was Sandra weder entging noch überraschte. Schließlich hätte diese dämliche Wortmeldung genauso gut aus seinem Mund stammen können. Momentan fehlten ihr sowohl die Energie als auch die Lust, sich mit dem eigentümlichen Humor der beiden Männer auseinanderzusetzen. Kommentarlos wandte sie sich ab, um sich unter den jüngeren Kollegen nach einem geeigneten Kandidaten für das sportliche Experiment umzusehen. »Der dort drüben könnte unser Mann sein. Er sieht durchtrainiert aus, scheint aber nicht sehr schwer zu sein. Und die Größe dürfte in etwa jener des Opfers entsprechen.«

»Damenwahl«, kommentierte Bergmann und zwinkerte Siebenbrunner zu.

Der ignorierte den Spruch des Chefinspektors und die allzu joviale Geste geflissentlich.

Sandra bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Wäre dir ein anderer lieber?«, fragte sie mit säuerlichem Grinsen.

»Nein, nein. Du hast definitiv den besseren Blick für junge Männer«, meinte er und deutete mit einer ausladenden Geste an, dass er ihr den Vortritt ließ.

Spielte er schon wieder darauf an, dass Julius um läppische fünf Jahre jünger war als sie? Als ob das noch eine Rolle spielte. War Bergmann wirklich kein Scherz zu blöd, der auf ihre Kosten ging? Am liebsten wäre sie ihm auf der Stelle an die Gurgel gesprungen. Wären nur nicht so viele Zeugen vor Ort gewesen. Stattdessen atmete sie erneut tief durch. Sie musste sich auf den Fall konzentrieren, nicht von den dummen Sprüchen der Kollegen ablenken lassen. Ein weiteres Mal wandte sie sich Siebenbrunner zu. »Konnten Sie persönliche Gegenstände sicherstellen?«, fragte sie, um Sachlichkeit bemüht.

»Ein paar Geldscheine in der rechten hinteren Hosentasche«, antwortete Siebenbrunner, »und Münzen. Einige davon sind auf der Erde unter der Leiche gelegen. Sind ihm vermutlich herausgefallen. Insgesamt haben wir etwas über 30 Euro gezählt.«