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In einer Herbstnacht werden die LKA-Ermittler Sandra Mohr und Sascha Bergmann in die Südsteiermark gerufen. Schon die Fahrt zum Tatort in Kitzeck im Sausal gerät für Sandra zur Nervenprobe. Aus dem Nichts taucht ein Mädchen mitten auf der Fahrbahn auf, das genauso plötzlich wieder im dichten Nebel verschwindet. Bergmann will merkwürdigerweise nichts davon gesehen haben. Nach und nach wird der Fall um den ermordeten Weinbauern immer unheimlicher, führt er die Ermittler doch in dunkle Zeiten zurück, als der „Spuk von Trebian“ begann …
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Seitenzahl: 307
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Claudia Rossbacher
Steirerrausch
Sandra Mohrs neunter Fall
Geisterhaft In einer Herbstnacht – nur zwei Tage vor Halloween – werden Sandra Mohr und Sascha Bergmann vom LKA Steiermark zu einem Mordfall ins südsteirische Sausal gerufen. Schon die Fahrt zum Tatort in Kitzeck gerät für Sandra zur Nervenprobe. Im dichten Nebel – draußen sieht man kaum die Hand vor Augen – taucht aus dem Nichts ein leicht bekleidetes Mädchen mitten auf der Fahrbahn auf und verschwindet genauso plötzlich wieder. Bergmann, der mit seinem Handy beschäftigt war, will davon nichts gesehen haben. Im Laufe ihrer Ermittlungen wird der Fall um den toten Weinbauern im Weingartenhaus immer unheimlicher, führt er doch in dunkle Zeiten zurück, als der „Spuk von Trebian“ begann. Anno 1809, so heißt es, wurde am selben Tatort schon einmal ein Mord verübt, als ein verschmähter französischer Soldat dort ein Mädchen und dessen Geliebten erschoss. Seither geisterte es angeblich, bis die legendäre „Seherin von Waltendorf“ den „Spuk von Trebian“1927 beendete. Doch anscheinend geht der tödliche Spuk nun weiter …
Claudia Rossbacher wurde in Wien geboren. Nach ihrem Tourismusmanagementstudium zog es sie in die Modemetropolen der Welt, wo sie als Model im Scheinwerferlicht stand. Danach war sie Texterin, später Kreativdirektorin in internationalen Werbeagenturen. Seit 2006 arbeitet sie als freie Schriftstellerin in Wien und der Steiermark und schreibt vorwiegend Kriminalromane. Ihre Steirerkrimis mit den LKA-Ermittlern Sandra Mohr und Sascha Bergmann waren allesamt Bestseller in Österreich. »Steirerblut«, »Steirerkind«, »Steirerkreuz«, »Steirerrausch« und »Steirerstern« wurden als Landkrimis für ORF und ARD verfilmt und sorgten in der Primetime für Topquoten. 2014 wurde Claudia Rossbacher mit dem »Buchliebling«, 2019 mit dem »Bacchuspreis« ausgezeichnet.
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Alle Rechte vorbehalten
4. Neuauflage 2022
Lektorat: Claudia Senghaas
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hannes Rossbacher
ISBN 978-3-8392-5882-8
Für Sabine, Maria und all meine lieben Freundinnen und Freunde. Schön, dass es euch gibt.
Handlung und Personen der Kriminalgeschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der »Spuk von Trebian« und das Leben und Wirken von Maria Silbert (»Die Seherin von Waltendorf«) basieren auf dem Buch »Mutter Silbert. Ein Opfergang. Tatsachen, Berichte, Urkunden« (1959) von Rudolf Sekanek mit freundlicher Genehmigung des Reichl Verlagessowie auf persönlichen Erinnerungen der Enkeltochter von Maria Silbert, Gertraud Just, die Autorin Claudia Rossbacher im Jänner 2018 aufgezeichnet hat.
Des Weiteren diente die Geschichte »Das Medium Maria Silbert und dessen Hausgeist Nell« im Buch »Spuk in der Steiermark« von Gabriele Hasmann (2014) und deren Protagonisten (Medium Aniko und Jägerstochter Anna) als Vorlage – mit freundlicher Genehmigung des Ueberreuter Sachbuch-Verlages.
Ein Literaturverzeichnis und ein Glossar der steirischen beziehungsweise österreichischen Ausdrücke und Abkürzungen befinden sich am Ende des Buches.
Pfingstsonntag, 1. Juni 1873
Elfen und Feen,
ich hab sie geseh’n
und Zwerglein so klein …
Das kann doch nicht sein.
Schweig still, mein Kind!
Ins Bett nun geschwind.
Ich lüg aber nicht.
Da war dieser Wicht
und die Hand im Bett …
Mariele, sei nett!
Lass das Lügen sein,
und schlaf endlich ein!
Sonntag, 29. Oktober 2017, Graz
Der Klingelton holte Sandra Mohr unsanft in die Realität zurück. »Bitte nicht«, murmelte sie, zur einzigen Lichtquelle in ihrem Schlafzimmer blinzelnd. Im selben Augenblick kam der Abteilungsinspektorin des LKA Steiermark ihr Bereitschaftsdienst in den Sinn. Schlaftrunken griff sie nach ihrem Diensthandy und knipste die Nachttischlampe an. Auf dem Weg ins Wohnzimmer lauschte Sandra, was ihr Lubensky von der Landesleitzentrale zu berichten hatte.
Mordalarm im Bezirk Leibnitz. Ein männlicher Toter auf einem Weingut in Kitzeck im Sausal. Der Notruf war um 22.52 Uhr eingegangen. Bei der Anruferin handelte es sich mutmaßlich um die Mutter des Opfers. Die ältere Dame hatte verwirrt geklungen, immer wieder von ihrem toten Sohn gesprochen. Und von einer Jägerstochter. Einem bösen Weib, das die Seelen ihrer Opfer gefangen hält, teilte ihr Lubensky mit.
Sandra ließ sich auf die Couch fallen. »Jägerstochter? Seelen ihrer Opfer?«, wiederholte sie müde. »Was soll das denn bitteschön heißen? Hat die Anruferin die Täterin gesehen? Oder sie erkannt?«
»Kann sein. Oder auch nicht. Die Frau hat hauptsächlich wirres Zeug von sich gegeben. Der Kollege vom Notruf hat den Verdacht geäußert, dass sie alkoholisiert sein könnte. Oder auch dement …«
»Einen Toten gibt es aber schon«, vergewisserte sich Sandra und rieb sich mit dem Daumen und dem Zeigefinger ihrer freien Hand den Schlaf aus den Augen.
»Ja, den gibt es. Die Kollegen aus Heimschuh haben uns einen Leichenfund an der angegebenen Adresse in Kitzeck bestätigt. Es soll sich um den dort wohnhaften Weinbauer handeln, der augenscheinlich in seinem Weingartenhaus erschossen wurde«, berichtete Lubensky weiter.
Sandra aktivierte die Lautsprecherfunktion an ihrem Smartphone und notierte sich die Namen des Opfers und der Zeugin sowie die Adresse des Weinguts in Kitzeck im Sausal.
Ob die Frau nun alkoholisiert, dement oder auch nichts von alledem war, ganz bestimmt war sie traumatisiert. Ein Kind zu verlieren, war zweifelsohne der schlimmste Schicksalsschlag, der einem widerfahren konnte. Kein Wunder, dass man in einer solchen Situation verwirrt klang, überlegte Sandra.
Nur allzu gut erinnerte sie sich noch an die eigene Trauer, die sie vor fünf Jahren empfunden hatte. Nach ihrer Fehlgeburt in der elften Schwangerschaftswoche. Ihr Sohn hatte niemals das Licht der Welt erblicken dürfen, Sandra hatte ihn nicht ein einziges Mal im Arm gehalten. Die Erinnerung an ihr Sternenkind, wie man diese Totgeburten auch nannte, schmerzte sie heute noch. Und dennoch konnte sie als Kinderlose das volle Ausmaß der nächtlichen Tragödie im südsteirischen Sausal höchstens ansatzweise nachvollziehen.
Bei aller beruflichen Routine ließ Sandra der Schmerz der Angehörigen noch immer nicht kalt. Ganz egal, wie oft sie das Leid der Betroffenen noch miterleben würde. Immerhin hatte sie gelernt, ihr Mitleid auf ein erträgliches Maß an Mitgefühl zu beschränken, um sich selbst zu schützen. Andernfalls hätte sie ihren Job bei der Mordgruppe wohl längst an den Nagel hängen müssen. »Ist das KIT schon verständigt?«, erkundigte sie sich und gähnte.
»Das Kriseninterventionsteam ist angefordert«, bestätigte Lubensky. »Der Notarzt ist bereits am Tatort. Die Tatortgruppe ist unterwegs, ebenso die Gerichtsmedizinerin. Chefinspektor Bergmann erwartet dich um Mitternacht vor seinem Wohnhaus.«
Sandra griff nach ihrer Armbanduhr, die sie erst vor einer halben Stunde auf dem Couchtisch abgelegt hatte. 23.25 Uhr zeigte diese an, als sie sie wieder um ihr Handgelenk band.
Just an diesem Vormittag hatte sie alle Uhren auf Winterzeit zurückgestellt, nachdem sie die gewonnene Stunde genüsslich verschlafen hatte. Das Joggen hatte sie an diesem stürmischen Herbstsonntag lieber bleiben lassen, stattdessen zu Hause auf dem Crosstrainer trainiert und sich danach endlich wieder einmal mit ihrer Freundin im Kaffeehaus getroffen. Seit Andrea verheiratet war, sahen sie einander nicht mehr so häufig wie früher. Höchstens noch einmal im Monat. Wenngleich Sandra vielbeschäftigt war, vermisste sie ihre beste Freundin gelegentlich. Aber so war das Leben nun einmal. Ein ständiges Kommen und Gehen. Sie seufzte unwillkürlich. Hauptsache, Andrea war glücklich mit ihrem Robert, dem Cobra-Polizisten, der sie im allerletzten Moment aus einem brennenden Haus geschafft und ihr damit das Leben gerettet hatte. Gute drei Jahre war das nun schon wieder her. Die Narben der Hauttransplantationen auf Andreas Rücken und auf ihren Oberschenkeln erinnerten immer noch an das Flammeninferno, das auch Sandra das Leben hätte kosten können. Wenngleich sie selbst mit einer Platzwunde und einer leichten Rauchgasvergiftung damals um einiges glimpflicher als die Freundin davongekommen war.
»Der Tatort liegt östlich, etwas unterhalb vom Ortszentrum von Kitzeck«, fuhr Lubensky fort. »Eine Funkstreife sollte direkt an der Straße bei der Zufahrt postiert sein.«
»Alles klar. Pfiat di, Lubensky!« Sandra trennte die Verbindung, um sich so rasch wie möglich anzuziehen und aufzubrechen.
In Graz war leichter Nebel aufgezogen, als Sandra kurz vor Mitternacht den schwarzen Audi A6 vor dem Wohnhaus des Chefinspektors abbremste. Außer ihr war in der Sackgasse hinterm Griesplatz keine Menschenseele zu entdecken. Dabei herrschte in dem traditionellen Migrantenbezirk höchst selten Ruhe.
Früher hatte es vor allem Steirer aus der Provinz nach Gries gezogen. Nachts auch Grazer, die ihr Vergnügen in den zahlreichen Erotikklubs des Grätzels suchten. Später, in den 1990er-Jahren, übernahmen vorwiegend Bosnier die verbliebenen Rotlichtlokale. Heute prägten Kebab- und Pizzaläden, Handy- und Asia-Shops, Wettcafés, Billigsdorfergeschäfte und Hinterhofmoscheen das Straßenbild. Steirisch oder gar Hochdeutsch hörte man hier kaum.
Sandra stellte den Motor ihres zivilen Dienstwagens ab. Sieben Jahre waren vergangen, seitdem Sascha Bergmann von Wien nach Graz gezogen war, rechnete sie zurück, damals völlig ahnungslos, in welches Wohnviertel es ihn verschlug. Seine Ansprüche schienen nicht besonders hoch zu sein. Sonst wäre er inzwischen längst umgezogen, überlegte sie, während sie auf Bergmann wartete. Leisten konnte er sich eine Wohnung an einer nobleren Adresse jenseits des Murufers allemal. Andererseits verbrachte der geschiedene Chefinspektor des LKA Steiermark, Abteilung Leib und Leben, ohnehin nicht viel Zeit zu Hause, wo niemand auf ihn wartete. Zudem war seine Mansardenwohnung gut geschnitten und ebenso ausgestattet. Wozu sollte er also den Aufwand eines Umzugs in Kauf nehmen? Für die paar Stunden, die er zum Schlafen heimkam, lohnte sich dieser wohl kaum.
Sandra war das nur recht. Ihre Wohnung lag unweit von seiner im Nachbarbezirk Lend. In wenigen Minuten war sie hier, um Bergmann abzuholen. So auch heute Nacht. Vielleicht war diese Nähe ja mit ein Grund, warum er nicht von hier fortzog, mutmaßte sie. Wobei die eigene Bequemlichkeit für ihn ganz bestimmt mehr zählte als ihre. Fragte sich nur, wo der Chefinspektor so lange blieb.
Früher wäre er längst Zigarette rauchend vor dem Haus gestanden und hätte auf sie gewartet. Und nicht umgekehrt sie auf ihn. Dennoch war die überzeugte Nichtraucherin heilfroh, dass er dieses Laster vor einigen Jahren abgelegt hatte. Seiner Tochter zuliebe. Auch wenn die mittlerweile Elfjährige die meiste Zeit bei ihrer Mutter, dem Stiefvater und ihrem kleinen Halbbruder in Wien verbrachte.
Himmelherrschaftszeiten! Was trieb Bergmann bloß so lange? Hatte Lubensky ihn nicht verständigt? Oder war er womöglich wieder eingeschlafen? Sandra beugte sich über den Beifahrersitz, schaffte es jedoch noch immer nicht, bis zur Mansardenwohnung des zweistöckigen Wohnhauses hinaufzusehen. Sie stieg aus dem Wagen aus, ließ den Blick über die hellblau gestrichene Fassade bis unters Dach schweifen, um gerade noch wahrzunehmen, wie das Licht hinter zwei Gaubenfenstern erlosch. Bergmann war demnach endlich auf dem Weg nach unten. Gähnend kehrte sie hinters Steuer zurück und schaltete Radio Steiermark ein.
Der heftige Herbststurm, der bis zum Nachmittag durch Österreich gefegt war, tobte inzwischen in Weißrussland weiter, berichtete der Nachrichtensprecher. Auch hierzulande hatten die orkanartigen Böen wie in Dänemark, Deutschland, Polen und in der Tschechischen Republik enorme Sachschäden hinterlassen. Etliche Dächer waren abgedeckt worden, Bäume umgestürzt. Einer hatte die Oberleitung der Bahnstrecke zwischen Bruck an der Mur und Mürzzuschlag beschädigt. Die Zugverbindung war voraussichtlich noch bis zum Mittag in beide Richtungen unterbrochen. So lange mussten Bahnreisende auf die Schienenersatzbusse ausweichen, die zwischen den hochsteirischen Städten verkehrten. Die meisten Stromausfälle waren mittlerweile behoben, fast alle betroffenen Haushalte in der Steiermark wieder ans Netz angeschlossen, meldete der größte steirische Energieversorger. Anders als im Norden und Osten Europas gab es hierzulande glücklicherweise keine Menschenleben zu beklagen. Zumindest keine, die dem Unwetter anzulasten waren, dachte Sandra, erneut gähnend. Dennoch wartete ein Toter auf sie. Und vermutlich eine ebenso schlaflose wie nebelige Nacht. Vor allem im steirischen Hügelland sei in den kommenden Stunden mit immer geringeren Sichtweiten zu rechnen, warnte der Radiosprecher. Höchste Vorsicht im Straßenverkehr sei geboten. Erst im Laufe des nächsten Vormittags sollte sich der Nebel allmählich wieder lichten und der Herbstsonne Platz machen.
Das Wetter spielte wieder einmal verrückt, dachte Sandra. In einer Welt, die von Leuten wie Donald Trump regiert wurde, der die globale Erwärmung für eine Erfindung der Chinesen und Klimaschutz für wirtschaftsfeindlich hielt, der die mühsam errungenen Umweltvorschriften in den USA wieder lockern und zu fossilen Brennstoffen zurückkehren wollte, war das nicht weiter verwunderlich. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Beifahrertür jäh aufgerissen wurde.
Im nächsten Moment ließ sich Sascha Bergmann in den Sitz fallen, den obligaten Coffee-to-go-Becher in der Hand. »Fahr’ ma, euer Gnaden«, meinte er grußlos, nachdem die Autotür ins Schloss gefallen war.
Sandra überging den jovialen Spruch, mit dem seinerzeit die Wiener Fiakerkutscher ihre hochwohlgeborenen Fahrgäste angesprochen hatten, wie sie erst kürzlich wo gelesen hatte. Wortlos schaltete sie das Radio ab und startete den Motor.
Bergmann steckte seinen Mehrwegbecher aus biologisch abbaubaren Bambusfasern in die Getränkehalterung und schnallte sich an. Den Becher hatte ihm Sandra im vergangenen Februar zu seinem 43. Geburtstag geschenkt. Nicht nur, aber auch wegen des aufgedruckten Spruchs, der den Chefinspektor so treffend charakterisierte: »Nett kann ich auch. Bringt aber nix.« Abgesehen davon entfielen seither unzählige Einwegbecher, die sich früher immer im Auto gestapelt hatten, bis zumeist Sandra diese entsorgte.
Sie legte den Retourgang ein und wandte sich um, um in der kurzen Sackgasse zurückzusetzen.
»Wie lange dauert die Fahrt zum Tatort eigentlich?«, erkundigte sich Bergmann.
»Normalerweise eine Dreiviertelstunde. Heute Nacht aber bestimmt länger. Kommt darauf an, wie dicht der Nebel unterwegs ist«, bezog sich Sandra auf die aktuelle Wetterprognose.
»So genau wollte ich es gar nicht wissen.« Bergmann griff zu seinem Becher, um am Kaffee zu nippen.
Nach all den Jahren in der Steiermark ließ der Chefinspektor noch immer jegliche Ortskenntnis vermissen. Auch deshalb hatte Sandra den hundsmiserablen Autofahrer bisher nur ein einziges Mal ans Steuer des Dienstwagens gelassen. Bei ihrem ersten gemeinsamen Mordfall. Und das auch nur, weil damals ein Nasenverband ihr Sichtfeld eingeschränkt hatte. Danach nie mehr wieder.
Ohne jeden weiteren Kommentar legte sie den Vorwärtsgang ein und fuhr los.
Montag, 30. Oktober 2017, Sausaler Weinstraße
Je näher die Ermittler der Mordgruppe ihrem Ziel kamen, desto dichter wurde der Nebel. Kurz vor der Autobahnabfahrt Leibnitz betrug die Sichtweite höchstens 50 Meter. Zuletzt keine zehn Meter mehr.
Auf der unbeleuchteten Landstraße schlich Sandra beinahe im Schritttempo dahin, damit sie die richtige Abzweigung zum Einsatzort in Gauitsch nur ja nicht verfehlte. Dass es streckenweise weder Bodenmarkierungen noch Begrenzungspfosten oder Leitplanken gab, gestaltete die nächtliche Fahrt durch den Nebel noch anstrengender. Umso mehr, als sie wusste, dass es im Sausal mancherorts direkt neben der Fahrbahn steil bergab ging.
Die Weingärten reichten hier bis auf 560 Höhenmeter hinauf und waren damit nicht nur die höchsten, sondern auch die steilsten des Landes. Mit einem Gefälle von 90 Prozent waren sie sogar noch steiler als die Mausefalle der Streifabfahrt beim Hahnenkammrennen in Kitzbühel. Bei allem technischen Fortschritt wurden derlei extreme Hanglagen auch heute noch in aufwendiger Handarbeit, gesichert mit Seilwinden beziehungsweise auf schmalen Terrassen bewirtschaftet, hatte ihr letzthin ein Winzer am Demmerkogel erklärt, der wie die meisten im südlichen Weinland der Steiermark lieber Weinbauer genannt werden wollte. »Weinzerln« waren früher die Arbeiter gewesen, die die zugewiesenen Weingärten zwar selbstständig, dennoch für ihre Lehensherren bewirtschafteten. Als Gegenleistung stellte dieser ihnen eine Winzerkeusche mit einer Wohnküche und einem Schlafraum zur Verfügung. Dazu einen Stall für eine Milchkuh, eine Sau und Hühner sowie ein Garterl neben der Keuschn, wo der Winzer seinen Heckenklescher für den Eigenbedarf ziehen durfte, einen süffigen Wein aus Direktträgertrauben. Auch eine Wasserquelle, die Zufahrt zur Keuschn, Brennholz aus dem nächsten Wald und ein Acker standen dem Winzer vertraglich zu, auf dem er anbauen konnte, was seine Familie und das Vieh so übers Jahr benötigten. Für die mühsame Arbeit in den steilen, oftmals rutschigen Weingärten bekam er eigens vom Schmied angefertigte Steigeisen und sämtliche Arbeitsgeräte von seinem Herrn. Bargeld hingegen selten. Und wenn, dann nur für Sonderleistungen. Da die Winzerverträge jeweils für ein Jahr abgeschlossen wurden, fragte der Lehensherr alljährlich an Jakobi am 25. Juli seinen Weinzerl, ob er ein weiteres Jahr bleiben wolle. War man sich einig, wurde ein Klapotetz im Weingarten aufgestellt – ein hölzernes Windrad, das mit seinen Klappergeräuschen die Vögel von den Weinbeeren fernhalten sollte. War die Familie zu groß für die Keuschn geworden oder lag ein besseres Angebot eines anderen Lehensherrn vor, siedelte der Winzer mit Sack und Pack, Kind und Kegel auf einem Karrenwagen mit Ochsengespann, später mit dem Traktor, weiter.
Hätte Bergmann die topografischen Besonderheiten der Region ebenfalls gekannt, wäre er vermutlich nicht so entspannt neben ihr gesessen und hätte sich mit seinem Smartphone beschäftigt. Wiewohl er den Fahrkünsten und Ortskenntnissen seiner Kollegin üblicherweise vertraute.
Dass Sandra soeben betete, es möge ihnen bloß kein Auto auf der engen Straße entgegenkommen, dem sie hätte ausweichen müssen, es aber vielleicht nicht können, ahnte er ebenso wenig. Auch wenn sie laut Navi keinen Kilometer mehr von ihrem Ziel entfernt waren, wurde ihr die nächtliche Fahrt immer unheimlicher. Die knorrigen, herbstlich verfärbten Rebstöcke erinnerten sie im fahlen Licht der Autoscheinwerfer an Zwerge aus einer mystischen Welt. Einer schien dem anderen die dürre Hand zu reichen. Bis die nächste gespenstergleiche Nebelschwade die vermeintlichen Fabelwesen wieder verschluckte.
Ganz bestimmt zählte Sandra nicht zu den ängstlichen Vertreterinnen ihres Geschlechts, dennoch war sie heilfroh, dass Bergmann neben ihr saß. Doch das behielt sie lieber für sich, um nur ja nicht wieder einen seiner Machosprüche zu provozieren. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch die falsche Abzweigung genommen, stellte sie nach einem Blick auf das stummgeschaltete Navi fest, das ihr auf einmal zum Umkehren riet. Also bog sie in die nächste Hofeinfahrt, um dort zu wenden.
»Sind wir endlich da?« Bergmann blickte von seinem Handy auf und sah sich im dichten Nebel um.
»Wir müssen ein Stück zurückfahren. Ich bin vorhin falsch abgezweigt«, erklärte ihm Sandra.
»Im Ernst?«, wunderte sich Bergmann, dass sie sich verfahren hatte, was so gut wie nie vorkam.
»Ja, mein Gott … Es kostet uns höchstens eine Minute. Kaum der Rede wert«, beschwichtigte Sandra, während sie der Straße folgte, die nun bergab zurückführte. Diesmal stimmte die Route, bestätigte ihr das Navi, nachdem sie an der Abzweigung scharf rechts in ein Waldstück abgebogen war. Schweigend blickte sie auf, als plötzlich wie aus dem Nichts eine weiße Gestalt am linken Fahrbahnrand zwischen den Bäumen auftauchte, die im nächsten Augenblick die Straße überqueren wollte.
Erschrocken trat Sandra aufs Bremspedal. Die blutjunge Frau blieb am Straßenbankett stehen. Keine drei Meter trennten sie von ihrem Kotflügel. Regungslos stand sie da und starrte Sandra in die Augen.
Was um alles in der Welt suchte sie hier mitten in der Nacht? War sie lebensmüde? Oder brauchte sie Hilfe? Sandra aktivierte die Handbremse und schaltete die Warnblinkanlage ein. Noch ehe sie das Fenster hinunterlassen konnte, um das Mädchen anzusprechen, bleckte es die Zähne, verzog das bleiche Gesicht zu einer grässlichen Fratze, die Sandra erstarren ließ und ihr die Nackenhaare aufstellte. Erst jetzt bemerkte sie die blutende Wunde, die am Hals der Jugendlichen klaffte. Mit der nächsten Nebelschwade löste sich die Gestalt gleichsam wieder in Nichts auf. Als wäre sie niemals hier gewesen. Ein heftiger Windstoß wirbelte Laub über die Straße. Sandra hörte einen Vogel schreien, der umgehend wieder verstummte.
»Hey! Was ist denn los? Willst du uns umbringen?«, unterbrach Bergmann die gespenstische Stille und sah sie über seine Lesebrille hinweg an.
Auf einmal erfasste Sandra ein brennender Schmerz. Als hätte jemand ihr Herz entzündet. Flammen loderten in ihrer Brust. So fühlte es sich zumindest an. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn. Schwindel überkam sie. Was war bloß los mit ihr? Fühlte sich so ein Herzinfarkt an? Panisch fasste sie sich an die Brust, noch immer zu den Bäumen starrend, zwischen denen das leicht bekleidete Mädchen im Nebel verschwunden war.
Zum Glück war sie nicht schneller gefahren. Umso dümmer, wenn sie jetzt einen Herzinfarkt erlitt.
»Sandra! Was ist los, verdammt? Ist dir schlecht?«, verlangte Bergmann nach einer Antwort.
Sandra japste nach Luft. Ihr Herzschlag galoppierte wie ein wildes Pferd, das durchging. Dafür erlosch das Feuer in ihrer Brust ebenso jäh, wie es ausgebrochen war. Allmählich verflog auch der Schwindel wieder. »Ich weiß nicht«, antwortete sie endlich. »Ist wohl nur der Schreck … Um ein Haar hätte ich das Mädel überfahren.«
»Welches Mädel denn?« Bergmann nahm seine Brille ab und suchte mit seinen Blicken die Straße ab.
»Wie? Hast du … hast du’s etwa nicht gesehen? Das Mädchen war verletzt … da war eine … eine blutende Wunde quer über der Kehle«, stammelte Sandra verwirrt. Ihr war jetzt so kalt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ihr Herz hämmerte noch immer wie wild.
»Gar nichts hab ich in dieser Nebelsuppe gesehen«, antwortete Bergmann.
Außerdem hatte er ja seine Lesebrille aufgehabt, suchte Sandra nach einer logischen Erklärung. Tatsächlich war alles viel zu schnell gegangen. Und nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei gewesen. Wahrscheinlich hatte Bergmann nicht sofort von seinem Handy aufgeblickt, als sie die Vollbremsung hinlegte. War das möglich? Oder war sie im dichten Nebel einer Sinnestäuschung erlegen?
»Hast du den Vogel rufen gehört?« Verunsichert rieb sich Sandra die eiskalten Hände. Er hatte wie ein Mäusebussard geklungen, überlegte sie. Aber mitten in der Nacht?
»Einen Vogel? Nein. Die Einzige, die ich höre, bist du«, erwiderte Bergmann. »Sag mal, geht’s dir gut? Du zitterst ja …«
Sandra atmete tief durch. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich. Doch sie fröstelte noch immer. »Ja, es geht schon.« Sie hauchte warme Atemluft in ihre klammen Fäuste.
»Dann könnten wir ja weiterfahren«, schlug Bergmann vor.
»Wie? Ich soll einfach weiterfahren?«, echauffierte sich Sandra. »Möchtest du nicht wenigstens aussteigen und nachschauen, ob du das Mädchen irgendwo entdeckst? Vielleicht sind ja Blutspuren auf der Straße oder irgendetwas anderes. Sie ist genau dort zwischen den Bäumen im Wald verschwunden. Bitte, Sascha! Sie ist verletzt …«
Seufzend steckte Bergmann seine Lesebrille in die Innentasche seiner Lederjacke. »Na schön. Von mir aus«, brummte er, nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Sekunden später war auch er im Nebel verschwunden. »Ha-llo! Ist da jemand?«, hörte Sandra ihn rufen.
Sie fuhr an den Straßenrand, möglichst weit aufs Bankett, drehte die Temperatur der Klimaanlage höher und das Gebläse auf. Nichtsdestotrotz zitterte sie weiter vor sich hin. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die laut Uhr am Armaturenbrett keine zwei Minuten gedauert hatte, tanzte das Licht einer Taschenlampe auf sie zu.
Bergmann stieg in den Wagen ein. »Da draußen ist nichts«, knurrte er. »Kein Blut, kein Mädchen, kein Vogel. Rein gar nichts. Außer diesem Scheißnebel und Wald. Können wir endlich weiterfahren?«
Sandra schaltete die Warnblinkanlage aus und löste die Handbremse.
Bergmann drehte kommentarlos das Gebläse ab, während Sandra noch langsamer als zuvor weiterfuhr, bis das Navi die nächste Kurve ankündigte. Danach sollten sie ihr Ziel erreichen.
»Bist du sicher, dass du vorhin jemanden gesehen hast?«, fragte Bergmann nach.
Sandra kniff die Augen zusammen, um die Zufahrt zum Weingut in dem Waldstück zu finden. »Todsicher. Das Mädchen war ungefähr 16, vielleicht auch 18 Jahre alt. Mit langen dunkelbraunen Haaren und extrem blasser Haut. Es hatte ein weißes Kleid mit kurzen Ärmeln und einer grünen Satinschleife unterhalb der Brust an.« Oder war das ein Nachthemd gewesen? »Und es hatte eine Wunde quer über dem Hals.« Dennoch war das Kleid sauber, glaubte sich Sandra zu erinnern. Hätten dort nicht Blutflecken sein müssen? Ihr waren aber keine aufgefallen. Dass die Jugendliche ihr Gesicht zu einer Fratze verzogen hatte, verschwieg sie Bergmann ebenfalls. Bestimmt war sie genauso erschrocken wie sie selbst. Sie mussten einen Suchtrupp anfordern, kam ihr nach dem Schreck reichlich spät, aber immerhin doch noch in den Sinn. In dem dünnen Gewand konnte sich das Mädchen den Tod holen. Wenn es nicht vorher verblutete, abstürzte oder überfahren wurde.
»Da!«, riss Bergmann sie aus ihren Gedanken, noch ehe sie diese aussprechen konnte.
»Was ist denn? Sag mal, musst du mich so erschrecken?« Sandra bremste den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit herunter. Wieder leuchtete das Licht einer Taschenlampe im Nebel auf. Im nächsten Augenblick erkannte sie rechterhand einen Polizisten, der einen Zufahrtsweg im Wald absicherte, den das Navi nicht anzeigte. Sie bog in den Forstweg ein und hielt den Wagen an.
Bergmann öffnete sein Fenster und streckte dem Uniformierten seinen Polizeiausweis entgegen.
Der Kollege salutierte und winkte sie weiter über den Forstweg, der sich bald lichtete und einen breiten Lichtkegel freigab, der durch Nacht und Nebel himmelwärts flutete. Im Scheinwerferlicht waren nun auch die ersten Einsatzautos zu sehen, die am Fuße des Weingartens parkten.
»Vielleicht war das Mädchen ja Zeugin der Bluttat auf diesem Weingut, wurde verletzt und konnte dem Täter entkommen«, überlegte Sandra laut. »Sie könnte sich im Nebel verirrt haben. Das würde auch die Kleidung erklären …«
»Möglicherweise handelt es sich ja um die Täterin, die aus Notwehr oder vorsätzlich auf den Mann geschossen hat«, entgegnete Bergmann. »Sofern du nicht doch ein Gespenst gesehen hast.« Er hob seine Hände und schnitt eine Grimasse, die nicht annähernd so schrecklich aussah wie die Fratze des Mädchens.
»Du bist so ein …« Sandra hielt inne.
»Was denn, Liebling?«, fragte Bergmann launig.
Sandra rollte an einem geparkten Einsatzfahrzeug vorbei, während sie um Beherrschung rang. »Als ob ich an Gespenster glauben würde«, erwiderte sie nach außen hin möglichst gelassen.
»Na geh … Wo übermorgen doch Halloween ist«, zog Bergmann sie weiter auf.
Sie schluckte auch die nächste Antwort hinunter. Wenn er glaubte, dass sie sich von ihm provozieren ließ, hatte er sich getäuscht.
»Sarah ist heuer zu Halloween als Hexe unterwegs«, kam Bergmann ansatzlos auf seine Tochter zu sprechen. »Sie wird sich wohl wieder den Bauch mit Süßigkeiten vollschlagen, bis ihr schlecht ist.«
Sandra konnte die Sehnsucht nach Sarah, die er viel zu selten sah, in seiner Stimme hören. »Meinst du, das Mädchen auf der Straße ist zwei Nächte zu früh mit Halloween dran? Und ihr Aufzug ist nur eine Maskerade?«, sprach sie ihre nächsten Gedanken aus.
Bergmann überging ihre Frage. »Bleib doch mal dort vorne bei den beiden Lapos stehen!«, sagte er und zeigte auf zwei Landpolizisten, die bei einer Funkstreife am Absperrband standen.
Freilich ließ sich nicht ausschließen, dass sie vorhin der Täterin auf der Flucht begegnet war, spann Sandra ihre Gedanken weiter, während sie im Schritttempo auf die beiden Uniformierten zurollte. Immerhin hatten sie vor einigen Jahren schon einmal eine minderjährige Mörderin festgenommen, die vier Menschen kaltblütig getötet hatte. Um ein Haar hätte die preisgekrönte Jugendschützin damals auch noch Sandra erschossen.
Hatte Lubensky nicht von einer Jägerstochter gesprochen, die die Anruferin in ihrem Notruf erwähnte? Von einem bösen Weib, das die Seelen ihrer Opfer gefangen hält, rief sich Sandra seine Worte ins Gedächtnis. Was immer das bedeuten mochte und wer dieses verletzte Mädchen auch war, sie durften es nicht weiter im Nebel herumgeistern lassen. Das Außenthermometer zeigte kühle drei Grad Celsius an. Sandra bremste den Wagen neben den beiden Provinzpolizisten ab.
Der Chefinspektor ließ das Fenster hinunter, um die Männer an seiner Wagenseite anzusprechen. »Bergmann, Mordgruppe LKA Graz. Wo finden wir die Leiche?«
»Gleich ums Eck im Weingartenhaus«, antwortete der jüngere der beiden Männer und wies mit seinem Kinn zu den nächststehenden Scheinwerfern. Aus ihrer Position war der Leichenfundort, der demnach hinter dem Herrenhaus lag, nicht zu sehen.
»Ihr könnt’s da aber net zuwi fahrn, wegen der Spurensicherung«, erklärte sein älterer Kollege. »Am besten schiebt’s zurück und parkt’s dort hint beim Weingarten.« Sein ausgestreckter Arm wies in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.
Bergmann wollte sein Fenster wieder hinauflassen, als Sandra ihn am Ärmel zupfte und sich nach vorne beugte. An ihrem Beifahrer vorbei sprach sie die Kollegen draußen an. »Wird hier vielleicht ein Mädchen vermisst? Eine Jugendliche, ungefähr 16 bis 18 Jahre alt, dunkelhaarig, auffallend blasse Haut. Ich hab sie keinen Kilometer von hier entfernt auf der Straße gesehen. Sie ist aus dem Wald gekommen, am Hals verletzt und nur mit einem dünnen Kleid oder einem Nachthemd bekleidet.«
Beide Männer zuckten mit den Schultern. »Ich weiß nix von einer Vermissten oder Verletzten«, antwortete der eine und sah den anderen an. »Du, Patrick?«
Der jüngere Polizist verneinte ebenfalls.
»Finden heute Nacht Halloween-Veranstaltungen in der Gegend statt?«, wollte Sandra wissen.
Es folgte Kopfschütteln.
»Wohnt auf diesem Weingut ein Mädchen in diesem Alter?«, fuhr Sandra fort.
Wieder verneinten die Männer. »Im Herrenhaus wohnt nur die alte Haideggerin mit ihrer Enkeltochter und dem Schwiegersohn, der erschossen worden ist«, erklärte der eine. »Die Enkeltochter, das Sopherl, ist aber schon älter – Ende 20.«
»Das?«, fragte Sandra nach.
»Was?« Der Polizist verstand nicht.
»Na, warum das Sopherl, wenn die Frau auf die 30 zugeht?«, wurde Sandra konkret.
»Ah so … Nur so … Brand Sophie heißt s’«, erklärte der Befragte.
»Und mit der alten Haideggerin ist vermutlich Frau Agnes Haidegger gemeint, die den Toten gefunden und den Notruf abgesetzt hat?«, vergewisserte sich Sandra.
»Jawoll«, bestätigte der ältere Polizist.
»Die Arme … jetzt hat’s den Hermann also auch noch erwischt«, meinte der Jüngere betroffen.
»Den Schneider Hermann«, beeilte sich der ranghöhere der beiden Polizisten den Nachnamen des Mordopfers der Vollständigkeit halber hinzuzufügen. »Möge seine Seele in Frieden ruhn«, zeigte sich nun auch er tief bewegt.
Sandra wartete vergeblich darauf, dass sich die beiden bekreuzigten. »Wieso denn auch noch erwischt?«, hakte sie nach.
»Na ja, der Sohn von der Agnes ist schon als Kind bei einem Unfall im Weingarten ums Leben ’kommen. Ihr Mann, der Edi, hat sich mit dem Traktor überschlagn. Der Bua is daneben g’sessn, außig’falln und vom Traktor zerquetscht worn. Der Edi war schwer verletzt und ist ein paar Tag später auch verstorbn. Einige Jahre danach hat’s dann der Agnes ihren ersten Schwiegersohn, den Brand Peter erwischt. Bei einem Gärgasunfall im Weinkeller. Die Tür war von innen zug’sperrt und die Fenster warn verriegelt, wie s’ ihn g’fundn ham. Das muss an die 20 Jahr her sein …«
»Dann war das damals kein Unfall, sondern ein Suizid?«, folgerte Sandra.
»Das hat nie hundertprozentig geklärt werden können. Er hat keine Kerze im Keller mitg’habt, und das Fenster war verriegelt, was darauf hindeutet, dass er nimmer leben wollt.«
»Wurde Fremdverschulden denn ausgeschlossen?«, fragte Sandra nach.
Beide Männer nickten. »Eure Leut warn damals eh da, ham ihre Ermittlungen aber bald wieder eing’stellt.«
»Die Tochter von der Haideggerin, die Liesl, hat dann den Schneider Hermann g’heiratet«, fuhr der eine fort. »Er hat sich nach dem Tod vom Peter ums Weingut gekümmert. Der Bua von der Liesl, der Brand Josef, ist damals grad Silberberg ’gangen.«
»Silberberg?«, fragte Bergmann nach.
»Eine Fachschule für Obst- und Weinbau, nicht weit weg von hier beim Sulmsee«, erklärte ihm Sandra.
»Der Hermann hat si’ net nur ums Haidegger-Weingut ’kümmert, sondern auch um die Liesl. Angeblich ham die beiden schon vor dem Tod vom Peter was miteinander g’habt. Vielleicht war ihr Panscherl ja der Grund dafür, dass er sich um’bracht hat …«
Ein strenger Blick des älteren Polizisten stoppte den redseligen jüngeren. »Auf alle Fälle ist ein paar Jahr später auch noch die Liesl g’storbn«, erklärte er weiter.
»Krebs hat’s g’habt. Unheilbar. Ist ziemlich schnell ’gangen«, fügte der Jüngere hinzu.
»Dann war das Mordopfer also der aktuelle Schwiegersohn von Frau Haidegger und nicht ihr Sohn«, rekapitulierte Sandra.
Beide Männer nickten.
»Hat Agnes Haidegger weitere Kinder?«
»Nein.«
Warum hatte die Anruferin dann von ihrem Sohn gesprochen, fragte sich Sandra insgeheim. Möglicherweise hatte ihr zweiter Schwiegersohn nicht nur bei ihrer Tochter und auf dem Weingut dessen Stelle eingenommen, sondern auch in ihrem Herzen. »Haben sich Frau Haidegger und Herr Schneider gut miteinander vertragen?«, hakte sie nach.
»Soweit ich weiß, ja. Obwohl der Hermann schon ein rechter Streithansl war. Ausgerechnet mit seiner Schwiegermutter ist er aber recht gut aus’kommen. Oder ist dir was anderes zu Ohren ’kommen?«
Der rangniedrigere Uniformierte verneinte. »Obwohl, wetten tät ich nicht drauf. Man weiß ja nie, was sich hinter verschlossenen Türen so abspielt«, schränkte er ein.
»Dafür ist der Hermann früher mit seinem Stiefsohn oft aneinander’klescht. Der Joe wollt schon früher auf biologischen Weinbau umstellen. Der Hermann war aber noch von der alten Schule. Erst wie der Joe eine Auszeichnung nach der andern eing’heimst hat, hat er ihm den Betrieb übergeben, und die beiden ham sich dann wieder z’sammeng’rauft«, erzählte der Ältere.
»Dafür hat’s mit seinem Nachbarn, dem Zach Franz in letzter Zeit vermehrt Probleme ’gebn«, fuhr der andere Polizist fort. »Der Hermann hat ihn vor einigen Wochen an’zeigt, weil er ohne Baugenehmigung an’baut hat. Der Zach hat wohl ’glaubt, dass sich das im Nachhinein schon regeln lässt. Da hat er die Rechnung aber ohne seinen Nachbarn g’macht. Demnächst wird ihm wohl ein Abbruchbescheid ins Haus flattern.«
»Gut zu wissen«, sagte Sandra. Diese Anzeige und die drohenden Folgen gaben ein mögliches Mordmotiv für den Nachbarn ab. Auch wenn dieser die Konsequenzen für sein Versäumnis trotz des plötzlichen Ablebens seines Widersachers würde tragen müssen. Auf alle Fälle stand Franz Zach auf ihrer Vernehmungsliste ganz oben. »Wo hält sich Frau Haidegger jetzt auf?«, fragte sie weiter.
»Im Herrenhaus.«
Im Flutlicht konnte Sandra trotz des dichten Nebels erkennen, dass der untere Bereich des einstöckigen Hauses mit dem ausgebauten Dachgeschoß teilweise in den Hang hineinragte. Das rote Dach war ebenso neuwertig wie der Anstrich der cremefarbenen Fassade mit den weißen Akzenten und dem grau gestrichenen Fundament, die grüne Eingangstür und die Fensterläden an den teils vergitterten grünweißen Fenstern, hinter denen Licht brannte.
»Und ihre Enkel?«
»Die sind auch da.«
»Bist sicher, dass der Joe noch herunt ist? Er wohnt doch seit Kurzem im Haus weiter oben.« Der ältere Polizist deutete zum Weingarten hinauf.
Der jüngere Polizist zuckte mit den Achseln. »Meine Großmutter hat immer behauptet, dass dieses Weingut verflucht ist«, sagte er. »Ein Bewohner nach dem andern stirbt hier weg. Das ist schon merkwürdig …«
»Geh, halt’s doch z’sammen, Patrick«, fiel ihm sein Kollege ins Wort. Die Haideggerin ist weit über 80 und noch immer pumperlg’sund.«
»Und trotzdem soll’s hier nicht mit rechten Dingen zugehn. Angeblich spukt’s in dem Weingarten schon seit Jahrhunderten …«
»Jetzt hör doch mit de’ depperten Geisterg’schichtn auf«, folgte die nächste Rüge des älteren Mannes.
»Es wäre mir auch recht, wenn Sie bei den Fakten blieben«, sagte Bergmann, was dem jüngeren Mann neuerlich ein Schulterzucken entlockte.
Der Ältere richtete den Blick zu Boden.
»Gibt es in der näheren Umgebung einen Jäger mit einer jugendlichen Tochter?«, fragte Sandra. Vielleicht hatte Agnes Haidegger vor ihrem Notruf dasselbe Mädchen gesehen wie sie vorhin auf der Straße. Dass dieses »böse Weib« angeblich die Seelen ihrer Opfer gefangen hielt, ließ sie vorerst unerwähnt.
Die Männer sahen einander an. »Da fragt’s am besten den Obmann vom Jagdverein«, sagte der Ältere und nannte ihr den Namen. »Mir fallt so gach kein Dirndl ein, das infrage kommt.«
»Und ihr wisst wahrscheinlich auch nichts von einer Jägerstochter, die die Seelen ihrer Opfer gefangen hält?«, wurde Sandra konkreter. Prüfend sah sie von einem Mann zum anderen.
Ein strenger Blick des Älteren vermittelte ihr den Eindruck, dass er den Jüngeren am Reden hindern wollte. Dabei schienen sie über ihre ungewöhnliche Frage keineswegs überrascht zu sein, sondern verneinten nur kopfschüttelnd.
Verheimlichten ihr die beiden etwas? Aber warum sollten die Kollegen etwas verschweigen, das womöglich der Klärung eines Mordfalls in ihrem Revier diente?
»Können wir dann?«, drängte Bergmann.
Sandra bedankte sich bei den Landpolizisten und richtete sich wieder auf. Nachdem sie reversiert hatte und losfuhr, bemerkte sie im Rückspiegel, dass der Ältere wild gestikulierend auf den Jüngeren einredete. »Ich habe den Eindruck, dass uns die beiden etwas verheimlichen«, sagte sie.
»Was denn? Etwa deine mysteriöse Jägerstochter? Was sollte diese seltsame Frage überhaupt?« Einmal mehr bedachte sie der Chefinspektor von oben herab mit einem Grinsen. Wenn jemand überheblich dreinschauen konnte, dann war er es.
»Agnes Haidegger hat diese Jägerstochter in ihrem Notruf erwähnt«, erklärte ihm Sandra, um Gelassenheit bemüht.
»Na, wenn das so ist, werden wir sie später nach ihr befragen. Und nach den Seelen ihrer Opfer …« Bergmann lachte auf. »Du glaubst diesen Schwachsinn doch hoffentlich nicht?« Sein prüfender Blick haftete auf Sandra.
»Natürlich nicht. Ich mach mir aber Sorgen um das verletzte Mädchen«, wandte Sandra ein. »Wir sollten einen Suchtrupp anfordern. Nicht, dass es heute Nacht noch eine weitere Tote im Sausal gibt.«
Bergmann verdrehte die Augen und seufzte. »Ist das dein Ernst?«
»Ja, was denn sonst? Warum glaubst du mir denn nicht, Sascha? Ich bilde mir so etwas doch nicht ein.« Sandra funkelte ihren Beifahrer aus schmalen Augen an.
»Lass uns erst einmal die Fakten vor Ort klären. Wir sind schließlich hier, um in einem Mordfall zu ermitteln. Nicht, um Gespenster und verlorene Seelen zu jagen«, sagte Bergmann.
»Das Mädchen war aber kein Gespenst, Himmelherrgott noch mal!«, verlor Sandra nun doch die Beherrschung. »Sondern eine verletzte Jugendliche, die womöglich noch immer bei dieser Kälte im Nebel herumirrt. Falls sie überhaupt noch lebt … Warum kapierst du das denn nicht, Sascha?«
Bergmann runzelte skeptisch die Stirn. Immerhin war ihm jetzt das Grinsen vergangen.
Dennoch hätte Sandra ihn am liebsten gepackt und geschüttelt, damit er ihr endlich glaubte. Stattdessen schluckte sie erneut ihren Ärger hinunter und schnaufte durch. War es möglich, dass sie sich das Mädchen nur eingebildet hatte? War sie einer Sinnestäuschung erlegen, fragte sie sich insgeheim noch einmal. Konnte es sich um eine Illusion im Nebel gehandelt haben? Nein. Nie und nimmer, gab sie sich selbst die Antwort. Ausgeschlossen.
»Park dich zwischen den beiden Vans dort ein«, ordnete Bergmann an.
Sandra folgte seiner Anweisung zähneknirschend.
Nachdem sie aus dem Wagen ausgestiegen war, zog sie den Reißverschluss ihrer leichten Steppjacke zu und öffnete den Kofferraum, um die Schutzkleidung für sich und Bergmann herauszuholen. Dann marschierten sie an den Fahrzeugen entlang, die am Rande des Weingartens geparkt waren, zum Absperrband zurück. Im Licht der Polizeischeinwerfer waren nur die nächsten Rebzeilen zu erkennen. Spärlich belaubt und herbstlich verfärbt wie die knorrigen Zwerge auf der Fahrt hierher.