Sterne, Zimt und Winterträume - Stina Jensen - E-Book
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Sterne, Zimt und Winterträume E-Book

Stina Jensen

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Beschreibung

Ein Roman, traumhaft wie ein Blick zu den Sternen …

Nach einem Schicksalsschlag ist Johanna mit ihrem kleinen Sohn Oskar auf sich gestellt. Besonders der Wiedereinstieg in den Job macht ihr zu schaffen, und auch Oskar wehrt sich beharrlich gegen die Veränderung. Als Johanna den Astrophysiker Nick kennenlernt, spürt sie sofort eine Verbindung zu ihm. Vielleicht, weil er ihr die Sterne nahebringt und damit ihren verstorbenen Mann. Oder weil er mindestens genauso einsam zu sein scheint wie sie. Dabei könnten der rationale Denker und die chaotische Träumerin nicht verschiedener sein. Wie gut, dass beide nur eine Freundschaft wollen. Doch dann verrät Nick Johanna seinen sehnlichsten Traum …

Dies ist der dritte Teil der WINTERknistern-Reihe. Alle Romane können unabhängig voneinander gelesen werden.

Die WINTERknistern-Reihe: Plätzchen, Tee und Winterwünsche; Misteln, Schnee und Winterwunder; Sterne, Zimt und Winterträume; Muscheln, Gold und Winterglück; Vanille, Punsch und Winterzauber; Mondschein, Flan und Winterherzen; Engel, Blues und Winterfunkeln.

Lesen Sie auch die Insel- und Gipfelfarben-Reihe von Stina Jensen.

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STERNE, ZIMT UND WINTERTRÄUME

STINA JENSEN

SÓTANO

INHALT

Die Winterknistern-Reihe

Das Buch

1

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Nachwort

Leseprobe zu Inselrot

Alle Bücher von Stina Jensen

Über die Autorin

DIE WINTERKNISTERN-REIHE

Bisher erschienen:

1. Plätzchen, Tee und Winterwünsche

2. Misteln, Schnee und Winterwunder

3. Sterne, Zimt und Winterträume

4. Muscheln, Gold und Winterglück

5. Vanille, Punsch und Winterzauber

6. Mondschein, Flan und Winterherzen

Alle Titel sind in sich abgeschlossene Romane.

DAS BUCH

Liebe ist nicht berechenbar. Und die Zukunft liegt in den Sternen.

Nach einem Schicksalsschlag ist Johanna mit ihrem kleinen Sohn Oskar auf sich allein gestellt. Besonders der Wiedereinstieg in den Job macht ihr zu schaffen, und auch Oskar wehrt sich beharrlich gegen die Veränderung.

Als Johanna in der Vorweihnachtszeit den Astrophysiker Nick kennenlernt, spürt sie sofort eine Verbindung zu ihm. Vielleicht, weil er ihr die Sterne nahebringt und damit indirekt ihren verstorbenen Mann. Oder weil er insgeheim genauso einsam zu sein scheint wie sie. Dabei könnten der rationale Denker und die chaotische Träumerin nicht verschiedener sein.

Wie gut, dass beide nur eine Freundschaft wollen.

Doch dann verrät Nick Johanna seinen sehnlichsten Weihnachtswunsch …

1

MÄRZ

8. März

An: [email protected]

Von: [email protected]

Betreff: Ankunft

Liebe Johanna,

heute Morgen bin ich in Delhi angekommen, und was ich dir jetzt, in meinem Hotelzimmer sitzend, schreiben muss, fällt mir unendlich schwer. Aber ich muss es tun, denn ich habe dir versprochen, mich zu melden, und ich will nicht, dass du dich sorgst, wenn ich es nicht tue. Und vormachen will ich dir auch nichts.

Seitdem ich hier angekommen bin, habe ich einen Flashback nach dem anderen. Die vielen Menschen, der Verkehr, der Lärm, die Farben, die Gerüche. Ich bin wie betrunken von allem. Dazwischen all die Tiere (du denkst vielleicht an Hühner, und die gibt es. Aber auch viel anderes Getier – die Einzelheiten erspare ich dir lieber …), und ja, leider auch der Müll. Aber so ist es hier eben. Dieses Wilde, Ungezügelte ist es, was mir all die Jahre in Deutschland gefehlt hat. In denen ich mich wie gekappt gefühlt habe von meiner Identität.

Ich weiß, dass es dich viel gekostet hat, mir dein Einverständnis für diesen Trip ausgerechnet jetzt zu geben, wo Oskar noch so klein ist. Und ich habe eingesehen, dass es für dich niemals infrage kommen würde, mit mir und ihm für immer nach Indien zu gehen. Aber ich sitze jetzt hier, und mir wird klar: Hier gehöre ich hin. Hier bin ich geboren, hier soll eines Tages meine Asche verstreut werden. Was soll ich tun gegen diese starken Gefühle für mein Land? Die letzten Jahre habe ich mir vorgemacht, dass ich das alles hier gar nicht so dringend bräuchte. Dass ich es mir nur vor Heimweh so schön ausmalen würde, obwohl es das gar nicht ist. Aber das stimmt nicht.

Was soll ich tun?

Natürlich werde ich wie geplant in drei Wochen zurückkehren, um meinen endgültigen Umzug vorzubereiten. Lass uns eine gemeinsame Lösung für dieses Dilemma finden, ohne dass Oskar Schaden nehmen wird. Ich liebe euch – auch das weiß ich. Vielleicht denkst du ja doch noch mal darüber nach, hier zu leben? Es wäre noch immer mein größter Traum.

In drei Tagen fliege ich weiter nach Punjab zu meinen Eltern. Ich melde mich dann von dort wieder. Vorher werde ich euch noch etwas schicken, ich habe ein paar hübsche Sachen entdeckt.

Gib Oskar einen Kuss von mir! Bis bald.

Rahul

10. März

An: [email protected]

Von: [email protected]

Re: Ankunft

Lieber Rahul,

wie kannst du mir aus der Ferne eine solche Nachricht schreiben? Willst du mich wirklich verlassen, wenn ich mich nicht entschließen kann, dir in ein Land zu folgen, in dem ich völlig fremd bin? Ich habe dich nicht nach Indien fliegen lassen, damit du mir gleich am ersten Tag mitteilst, dass du dort bleiben möchtest.

Wir sind doch verheiratet, wir haben ein Kind!

Ich dachte, wir lieben uns. Aus tiefstem Herzen. Und dass diese Krise, die wir seit Oskars Geburt haben, wieder vorübergehen wird.

Dass diese Reise dir dabei helfen sollte, herauszufinden, was du wirklich willst – klar. Aber doch nicht so! Und nicht gleich am ersten Tag!

Vielleicht wird es ja schrecklich bei deinen Eltern, hast du daran schon gedacht? Vielleicht wirst du dich nach drei Wochen ungezügelter Wildheit sogar darauf freuen, wieder zurückzukehren? Allein schon wegen Oskar, er wird dir doch schrecklich fehlen, oder etwa nicht?!

Ich kann einfach nicht fassen, dass du ernsthaft in Erwägung ziehst, ihn und mich zu verlassen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Johanna

13. März

An: [email protected]

Von: [email protected]

Betreff: Rahul

Meine liebste Johanna,

ich sollte dir keine E-Mail schreiben, sondern dich anrufen. Aber ich bringe es nicht fertig. Meine Eltern genauso wenig.

Heute habe ich leider die schreckliche Aufgabe, dir eine unendlich traurige Nachricht zu übermitteln. Es geht um Rahul. Er ist gestern mit einer kleinmotorigen Maschine auf dem Weg von Neu-Delhi zu uns nach Punjab abgestürzt. Zusammen mit dreizehn Mitreisenden, dem Piloten und der Flugbegleiterin kam er ums Leben. Ich mag mir nicht vorstellen, was diese Zeilen in dir auslösen. Wahrscheinlich hast du schon auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet. Wir alle stehen unter Schock. Es tut mir so leid.

Bitte ruf mich an, sowie du dich dazu in der Lage siehst. Sobald Rahuls Leichnam freigegeben wird, würden wir ihn gern hier in seinem Heimatland bestatten. Natürlich steht es dir als seine Ehefrau zu, auf die Überführung nach Deutschland zu bestehen. Doch bitte frage dich, was sein letzter Wille gewesen wäre. Ich hoffe, ihr habt irgendwann darüber gesprochen. Natürlich würden wir mit der Zeremonie warten, bis du und Oskar hier eingetroffen seid.

In unendlicher Trauer

Kavya

2

ACHT MONATE SPÄTER

»Hey, Johanna!« Rahul winkte mir vom Ende der belebten Straße aus zu. Dann legte er die Hände an den Mund. »Wann kommst du denn endlich?«

Ich wollte ja. Aber es schien unmöglich. Zwischen uns waren hunderte von Menschen unterwegs. Einige zu Fuß, andere mit dem Fahrrad oder einem Karren. Das Stimmengewirr der Leute klingelte in meinen Ohren.

Eine Rikscha fuhr an mir vorüber, der dunkelhäutige Fahrer trug einen roten Turban. Ich versuchte aufzuspringen, doch jemand stieß mich herunter. Es gab schon einen Passagier. Oskar. Wo brachte der Chauffeur ihn denn hin?

Wieder sah ich zu Rahul. Ich musste unbedingt zu meinem Mann. Er wollte mir etwas Wichtiges mitteilen!

»Hier!«, rief Rahul nun von einer anderen Stelle. Dabei hatte ich mich endlich ein paar Meter voran gearbeitet. Ich watete durch die Menge, als klebten meine Füße am Boden.

Mit einem Schreck fuhr ich aus dem Schlaf. Mein Großvater hatte die Tür des Gästezimmers mit einem Knarzen geöffnet. »Guten Morgen, ihr zwei, Zeit zum Aufstehen«, brummte Papu. »Es ist schon halb acht.«

Einen Protest murmelnd zog ich die Bettdecke enger um mich. Warum musste er Oskar und mich immer so früh wecken? Und mich damit aus diesem Traum holen, in dem ich fast mit Rahul geredet hätte.

Seit Monaten träumte ich das Gleiche. Entweder stand mein Mann inmitten einer Menschenmenge, so wie heute, und ich kam nicht an ihn heran. Oder er rief von der Spitze eines Berges nach mir, dessen Höhe unüberwindbar erschien. Manchmal standen wir auch in tiefem Morast, in dem wir zu versinken drohten. Und jedes Mal weckte mich irgendetwas anderes. Es kam einfach nicht dazu, dass Rahul und ich uns aussprachen!

Ich schaute zur Seite. Mein siebzehn Monate alter Sohn lag in seinem Gitterbettchen und rührte sich nicht. Seit ich vor acht Monaten bei Papu eingezogen war, erstaunte es mich jeden Tag aufs Neue, dass dieses Baby nach dem Tod seines Vaters begonnen hatte, durchzuschlafen. Als hätte es gespürt, dass es mir neben meiner Trauer nicht eine einzige schlaflose Nacht mehr zumuten könnte. Dafür liebte ich unser Kind nur noch mehr.

Gerade zog Papu die Vorhänge beiseite und ließ Licht ins Zimmer, brachte damit die Rumpelkammer zum Vorschein, in der Oskar und ich schliefen. Mein ehemaliges Kinderzimmer in der Wohnung meiner Großeltern in der Leopoldstraße in München hatte sich nach meinem Auszug vor ein paar Jahren zur Abstellkammer entwickelt. Hier hatten ausrangierte Möbelstücke und abgelegte Klamotten Platz gefunden. Dazwischen tummelten sich eine halb verwelkte Yuccapalme, eine brüchige Küchenlampe aus Korb und drei Kisten voller Bücher.

Mamu hätte wahrscheinlich darauf bestanden, alles zu beseitigen und Platz zu schaffen. Doch sie war Anfang des Jahres verstorben. Der Verlust meiner Großmutter nagte auch an mir, obwohl es irgendwann absehbar gewesen war, dass es mit ihr zu Ende ging. Auf den Punkt gebracht: Es war ein beschissenes Jahr. Und es konnte nur besser werden.

Nach Kavyas E-Mail vor acht Monaten hatte ich stundenlang fassungslos auf ihre Worte gestarrt. Las die Nachricht wieder und wieder, in der irrsinnigen Hoffnung, ich könnte mich täuschen. Oder träumen. Und irgendwann aufwachen. Doch das war nicht geschehen.

In meinem Schock rief ich als erstes Papu an und sagte ihm, dass ich mit Oskar zu ihm kommen würde. Und dann schrieb ich Kavya, dass sie und ihre Eltern Rahul seinem Wunsch gemäß in seinem Heimatland bestatten sollten. Ohne mein Beisein.

Wie hätte ich an der Zeremonie teilnehmen können? Mir fehlte zu alledem die Kraft. Und ich hatte ein Baby. Besonders die Nachricht, die Rahul mir so kurz vor seinem Tod geschickt hatte, lähmte mich.

Kavya und ihre Eltern hatten Bilder von Rahuls Beisetzung geschickt. Oder besser gesagt, von der Verbrennung seiner menschlichen Überreste. Und davon, wie sie die Asche über den örtlichen Fluss hinweg in alle Winde verstreut hatten. Damit seine Seele, wenn sie wiedergeboren wurde, nicht an einen festen Ort gebunden war.

Der Gedanke an Wiedergeburt war wenig tröstlich für mich. Es würde mir nichts nützen, wenn Rahul an irgendeinem anderen Ort dieser Welt je wiedergeboren werden sollte. Außerdem hatte er ja ohnehin nicht mehr bei mir sein wollen!

Als ich mit Oskar von Frankfurt hierher geflüchtet war, hatte Papu uns stumm in die Arme geschlossen, und ich hatte mich kurz darauf auf das Bett in meinem alten Zimmer fallen lassen. Drei Tage und Nächte hatte es gedauert, ehe ich wenigstens wieder in der Lage war, mich meinen alltäglichen Aufgaben als Mutter zu stellen. Der Abschied von Rahul und der einstigen Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte und wir trotz unserer Krise den Rest unseres Lebens miteinander verbringen würden, verlangte mir alles ab. Es ist schlimm, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber es ist noch schlimmer, einen geliebten Menschen zu verlieren, von dem man weiß, dass er einen eigentlich nicht mehr wollte.

Dass dies so war, wusste nur ich. Bisher war ich noch nicht in der Lage gewesen, auch nur mit einer Menschenseele über Rahuls Trennungsabsichten zu sprechen.

Auch Papu hatte mächtig damit zu kämpfen, dass Mamu und dann auch noch mein Mann gestorben waren. Meinen Schmerz zu erleben machte es für ihn nicht leichter – stehen wir uns doch sehr nah, denn als Kleinkind hatte ich meine Eltern verloren und war bei meinen Großeltern aufgewachsen. Irgendwie schien sich dieses Schicksal von Verlusten durch mein Leben zu ziehen. Wusste der Teufel, warum.

Papu warf mir von der Zimmertür einen mahnenden Blick zu. »Komm dann bitte, ja? Frühstück ist fertig.« Damit verließ er den Raum.

Mein Großvater klammerte sich an einen normalen Tagesablauf, und dazu gehörte, dass wir mit ihm frühstückten. Da ließ er nicht mit sich verhandeln. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich schon verhungert. Noch immer bekam ich kaum etwas hinunter. Und wenn, dann knabberte ich so lange an einer Scheibe Brot, bis er die Geduld verlor und den Tisch abräumte. Am liebsten hätte er es gesehen, wenn ich mindestens einmal pro Woche ein Steak verdrückt hätte, so wie er es tat. Einmal hatte er Essen bei einem indischen Restaurant bestellt, aber allein der Geruch nach Curry, Koriander und Zimt hatte mir die Kehle zugeschnürt.

Ich richtete mich auf und spähte wieder hinüber zu Oskar, der sich zu räkeln begann.

»Ma-ma!« Er reckte im Gitterbettchen die Arme nach mir. Das feuerrote Haar stand ihm vom Köpfchen ab, seine schwarzen Augen funkelten erwartungsfroh. Er sah so süß aus. Mein Herz zog sich zusammen.

Ich schob die Beine aus dem Bett und schlang mir die Haare im Nacken zusammen, tappte hinüber zu meinem Söhnchen, der auf seinen kurzen Beinen aufgeregt auf und ab wippte. Er konnte noch nicht lange laufen. Doch seit er es vor zwei Monaten endlich gelernt hatte, war er nicht mehr zu stoppen. Nichts konnte man schnell genug vor ihm in Sicherheit bringen.

Ich hob meinen Kleinen aus dem Bett und gab ihm einen zärtlichen Kuss. »Na, gut geschlafen?«, murmelte ich in sein Haar.

»Pa!«, rief Oskar und zeigte zur Zimmertür. Damit meinte er seinen Uropa.

Ich selbst hatte meine Großeltern nie Oma und Opa genannt. Bei meiner Geburt waren sie erst knapp über vierzig gewesen und fühlten sich viel zu jung, um so gerufen zu werden.

Nach dem Wickeln zog ich Oskar eine Latzhose und den senfgelben Pulli mit Eisbäraufdruck an, den Doris, Papus Haushaltshilfe, ihm mitgebracht hatte. Sie kam zweimal pro Woche, und das schon seit Jahren, auch als Mamu noch gelebt hatte. Manchmal passte sie auf Oskar auf, wenn Papu mich dazu überreden konnte, mit ihm ins Theater zu gehen. »Irgendetwas muss ich doch davon haben, dass du hier bist«, sagte er dann, und ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen, machte mich sogar ein wenig schick. Doch heute schlüpfte ich in mein bequemes Joggingoutfit wie nahezu jeden Tag, an dem ich nicht das Haus verließ. An manchen Tagen war es auch der abgelegte Trainingsanzug von Rahul, den ich bei meiner Abfahrt getragen hatte. Ich hatte bei aller Ambivalenz meiner Gefühle etwas dabeihaben wollen, das nach ihm roch. Um mich dann und wann der Illusion hinzugeben, dass er noch da wäre.

In der Küche hielt Papu den Kopf über die Tageszeitung gebeugt und schlürfte geräuschvoll den Kaffee aus seiner Tasse.

»Na endlich«, brummte er und tippte auf die Überschrift eines Artikels. »Die Krippenplätze sind knapp«, las er und sah auf. »Du hast aber eine feste Zusage, oder?«

Ich setzte Oskar in den Hochstuhl und gab ihm ein Butterhörnchen in die Hand, in das er augenblicklich hineinbiss.

Ich hockte mich im Schneidersitz auf die Küchenbank und goss mir einen Kaffee ein. »Klar. Das weißt du doch. Es ist eine private Einrichtung. Nichts Staatliches.«

Papus Bemerkung erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich demnächst nach Frankfurt zurückkehren musste. Meine Elternzeit war bald vorüber. Am zweiten Dezember erwartete man mich an meinem alten Arbeitsplatz in einer renommierten Rechtsanwaltskanzlei zurück, wo ich zuletzt als Partnersekretärin gearbeitet hatte. Der Gedanke daran versetzte mich in Unruhe. Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass ich mit Oskar in die Wohnung würde zurückkehren müssen, in der wir zuletzt zu dritt gelebt hatten. Sondern auch, weil ich meinen Sohn mehrere Stunden am Tag in fremde Obhut würde geben müssen. Zwei Wochen Eingewöhnung wären besser gewesen, das hatte auch die Leiterin der Krippe gesagt. Ich hatte der Dame meine Situation erklärt, und sie hatten eine Ausnahme gemacht.

Dabei hatte Oskar in den letzten Monaten kaum andere Menschen als Papu und mich um sich gehabt – wenn man von Ulli, Papus bestem Freund, oder Doris einmal absah. Außer bei den Skype-Sessions mit meinen Frankfurter Freundinnen Milla und Sina hatte ich kaum Kontakt zur Außenwelt. Die Zwillingsschwestern waren derzeit der einzige Lichtblick, wenn ich an meine Rückkehr nach Frankfurt dachte.

Bei einem dieser virtuellen Treffen vor ein paar Wochen hatte ich Sina darum gebeten, meine Wohnung umzugestalten, um mir den Schmerz zu ersparen, alles so vorzufinden, wie es zuletzt gewesen war. Ich wollte einen Neustart, und nichts, das mich in die Vergangenheit katapultiert hätte. Sina war genau die Richtige dafür. Sie besaß ein erstklassiges Händchen, was Inneneinrichtungen betraf und hatte ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht.

»Hier.« Papu legte mir unaufgefordert eine Semmel auf den Teller. »Du musst etwas essen, Kind.«

Oskars Butterhörnchen war schon halb aufgegessen. Krümel verteilten sich über seinen Platz und den Fußboden. Ein paar schimmerten in seinen Haaren. Ich stupste ihn auf die Nasenspitze. »Du kleines Krümelmonster.«

Dann schnitt ich das Brötchen, das Papu mir auf den Teller gelegt hatte, in zwei Hälften, bestrich eine davon mit Butter und nahm einen Bissen. Mehr als eine halbe Semmel würde ich nicht runter bekommen. Aber damit gab Papu sich inzwischen zufrieden.

Während ich kaute, lauschte ich seinem Gemurmel beim Zeitunglesen. Oft las er aus den Kleinanzeigen vor, wie heute, wo er sich darüber wunderte, wer in Gottes Namen am Nikolausabend für einen Fake-Nikolaus einhundertfünfzig Euro hinblätterte, damit dieser ein paar Kinder verschreckte.

»Ach was«, kommentierte ich und nahm einen Schluck Kaffee. »Die Kids von heute haben bestimmt keine Angst mehr vorm Nikolaus, die freuen sich.«

Papu winkte ab und war schon beim nächsten Artikel. Er hatte die Angewohnheit, alles Gelesene zu kommentieren, sodass ich, seitdem ich hier eingezogen war, immer auf dem neuesten Stand des Weltgeschehens war. Nach Oskars Geburt dagegen war ich selten dazu gekommen, mich mit Politik oder etwas anderem als dem Baby zu beschäftigen. An manchen Tagen hatte ich es erst nachmittags aus dem Schlafanzug geschafft, weil Oskar mich auf Trab hielt. Ich war einfach überfordert und oft so erschöpft vom dauernden Herumtragen des Babys, dass ich kaum Körperkontakt darüber hinaus ertrug. Was auch damit zusammenhing, dass ich mein Kind stillte, und sobald Rahul meine Brüste berührte, schoss Milch ein und mein Busen begann zu tropfen. Das war nicht besonders erotisch, wenn man mich fragte. Ob Rahul sich zu sehr von mir zurückgewiesen gefühlt hatte? Aber irgendwann hätte sich das doch bestimmt wieder eingerenkt. Kein Grund, alles hinzuschmeißen!

Wie sehr ich darauf gehofft hatte, nach Rahuls Rückkehr aus Indien noch mal neu mit ihm anzufangen. Ich hatte wieder die alte werden wollen. Die energiegeladene, unbeschwerte Johanna. Vielleicht hätte ihn das ja umgestimmt?

Mein Magen verkrampfte sich. »Ich kann nicht mehr«, sagte ich nach nur zwei Bissen und legte die Semmelhälfte auf dem Teller ab.

Papu schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge.

Milla und Sina meinten, mein Appetit würde schon irgendwann zurückkehren. Genauso mein Sinn für hübsche Klamotten, den ich mal gehabt hatte. Wahrscheinlich spätestens, wenn der Arbeitsalltag in der Kanzlei mich wiederhatte.

Oskar stopfte sich das letzte Stück des Hörnchens in den Mund, zeigte auf die angebissene Semmel und schmatzte. Ich lächelte gequält und überließ ihm mein Frühstück.

Kurze Zeit später waren mein Sohn und ich allein. Papu half, seit er Rentner war, an einigen Tagen ehrenamtlich bei der Nachbarschaftshilfe, damit ihm nicht die Decke auf den Kopf fiel, denn außer einzukaufen oder wie in diesen Tagen mit Oskar spazieren zu gehen, musste er sich nicht um vieles kümmern. Seine Perle Doris wusch und putzte, brachte oft Eintöpfe und Aufläufe vorbei. Ich hatte in dieser Wohnung eigentlich auch nichts anderes zu tun, als ein bisschen aufzuräumen, gelegentlich zu kochen und mich um meinen Sohn zu kümmern. Doch selbst damit war ich oft überfordert. Meine Traurigkeit überschattete alles. Natürlich deuteten alle diese Traurigkeit als echte Trauer um meinen geliebten Mann. Und selbstverständlich schmerzte mich sein Tod zutiefst, wie auch der Gedanke, dass Oskar ohne seinen Vater aufwachsen würde. Doch gleichzeitig spürte ich auch eine kaum zu bändigende Wut auf Rahuls Trennungsgedanken, die es mir so schwermachten, uneingeschränkt um ihn zu trauern und mit seinem Tod abzuschließen.

Um Oskar nicht mit meinen zwiespältigen Gefühlen anzustecken, schaltete ich leider oft den Fernseher ein. Auf den Streaming-Kanälen gab es Programme für die Allerkleinsten. Und ich betäubte mich auch selbst in dieser Zeit gern mit Fernsehen, wenn Oskar schlief.

Leider kam aber auch der blutigste Thriller oft nicht ohne Liebesgeschichte aus. Wenn man sich allein und verlassen fühlt – so viel kann ich zumindest sagen – scheint ohnehin die ganze Welt voller glücklicher Paare zu sein.

Auch heute setzte ich Oskar vor eine Kindersendung. Wie gut, dass er von alledem nichts ahnte. Genauso wenig wusste er davon, dass die Tage bei Papu nun gezählt waren. Genau genommen waren es noch fünf. Fünf Tage in Sicherheit.

Was Oskar und mich danach erwartete, erschien mir wie ein riesiges schwarzes Loch, das mich zu verschlucken drohte.

3

»Hast du auch alles?«

Doris rang die Hände. Sie, Papu und sein Freund Ulli standen neben meinem Auto vor dem Haus Spalier. Die drei hatten mich bereits dreimal geherzt und mir versichert, ich würde das schaffen. Aber ihre Gesichter drückten das Gegenteil aus.

»Weihnachten kommst du ja schon wieder zurück«, tröstete Papu mich und nahm mich noch einmal in den Arm. »Das ist schon in einem Monat.«

Der Verkehr auf der Leopoldstraße floss an uns vorüber. Einige Häuser und Vorgärten der nachbarschaftlichen Umgebung waren schon seit einigen Tagen weihnachtlich mit leuchtenden Sternen oder Weihnachtsmännern geschmückt, die sich an Fassaden entlanghangelten. Ansonsten erinnerte aber nichts daran, dass das Fest der Liebe so bald schon vor der Tür stand. Oskar saß angeschnallt in seinem Kindersitz auf der Rückbank meines alten Peugeot. Mein Sohn war es nicht gewohnt, mit dem Auto zu fahren und wand sich unter den engen Gurten, reckte die Ärmchen nach mir. In seinen Augen schimmerten empörte Tränen.

Vielleicht spürte er, wie viel Angst ich hatte, und wenn ich ehrlich bin, wäre es mir am liebsten gewesen, Papu hätte mich begleitet. Aber die Fahrt war lang, und irgendwann mussten wir uns schließlich trennen. Ich hatte außerdem mit Milla und Sina vereinbart, sie von unterwegs anzurufen, wenn ich meine Ankunftszeit absehen konnte. Sie wollten in meiner Wohnung auf mich warten. Und wenn Sina ganze Arbeit geleistet hatte, würde ich die Räume kaum wiedererkennen, und nichts dort würde mich an die gemeinsame Zeit mit Rahul erinnern. Also stieg ich endlich ein, winkte ein letztes Mal und fuhr mit einem dicken Kloß im Hals davon.

Irgendwann begann es unterwegs zu regnen, ich schaltete die Scheibenwischer ein. Im Übergang zwischen Bayern und Hessen veränderte sich mehr und mehr die Landschaft, und meine Angst wuchs. War es ein Fehler, schon zurückzukehren? War es für alles noch zu früh? Würde ich mein Leben hier meistern können? Alleinerziehend. Als Witwe.

Um kurz nach vier traf ich in Frankfurt ein. Ich fuhr ein paarmal um den Block, bis ich endlich einen Parkplatz ergatterte. Die Straße war mit weihnachtlichen Girlanden überspannt, deren Licht auf dem feuchten Asphalt und in den Schaufensterscheiben reflektierte. Im Fenster der benachbarten Apotheke wünschte man in leuchtenden Lettern »Merry christmas«. Klopfenden Herzens lud ich den Buggy aus dem Kofferraum, hievte Oskar, der irgendwann eingeschlafen war, in die Karre. Und dann stand ich vor dem Altbau, den ich vor acht Monaten Hals über Kopf verlassen hatte, und wäre am liebsten wieder nach München umgekehrt.

Mit zitternden Fingern steckte ich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Der vertraute Geruch des Mietshauses schlug mir entgegen. Eine Mischung aus Keller und Staub, dazwischen waberte der Duft nach Waffeln. Aus dem dritten Stock schallten die Stimmen und Schritte von Milla und Sina, die mich vom Fenster aus gesehen haben mussten und jetzt zu mir nach unten kamen.

Schon tauchten meine beiden Freundinnen auf der Treppe auf, und wir fielen uns in die Arme. Die zwei hielten mich umklammert, bis ich nach Luft japste. Ich konnte nicht anders, als zu lachen. »Ich habe euch auch vermisst.«

Bei Oskars Anblick stießen die Zwillingsschwestern verzückte Schreie aus. »Ist der groß geworden! Er ist ja ein richtiger Riese!«

Oskar starrte sie entsetzt an und brüllte los.

»O je«, murmelte ich und nahm ihn auf den Arm, flüsterte sanfte Worte in sein Ohr und streichelte ihm über den Kopf.

Milla schob den Buggy im Flur an die Seite. »Jetzt kommt erst mal mit hoch, bestimmt beruhigt er sich gleich wieder. Dein Gepäck können wir ja später noch aus dem Auto holen.«

Zögernd folgte ich den beiden die Treppe nach oben und hörte das fröhliche Krähen eines Babys. Oskar verstummte und lauschte. Ich kniff ihn zärtlich in die Wange. »Hörst du das Baby? Es ist noch kleiner als du!«

»Sie liegt im Wohnzimmer in der Babytrage«, klärte mich Milla auf und lief einen Schritt schneller.

Als ich nach München aufbrach, war meine Freundin schwanger gewesen; bisher hatte ich Millas knapp vier Monate alte Tochter nur via Skype bewundern dürfen. Ich freute mich darauf, das kleine Mädchen endlich mal auf den Arm zu nehmen.

Das weiße Schuhregal neben der Kokos-Fußmatte vor meiner Wohnungstür war neu. Ich würde es in den Flur meiner Wohnung stellen müssen, hier war es nicht erlaubt. Zögernd betrachtete ich die angelehnte Tür. Aus dem Inneren erklang abermals das leise Keckern von Millas Tochter.

»Ich hoffe, die Veränderungen nach der Renovierung gefallen dir!« Sina sah mich erwartungsfroh an.

Ich hob zaghaft die Schultern und trat durch die Tür. »Bestimmt!«

Milla eilte voraus, während ich Oskar, der sich auf meinem Arm wand, zu Boden ließ. Die Wohnung, das sah ich bereits jetzt, war viel heller als vorher. Rahul und ich hatten uns bei unserem Einzug an den Wänden mit Erdtönen ausgetobt und außerdem die Raufasertapeten im Wohnraum mit Teppichen behängt, die wir von seiner Familie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Ich hatte mit Sina besprochen, dass ich nur einen einzigen dieser Läufer behalten wollte: den größten von allen, der auf dem Holzboden im Wohnzimmer lag. Die Farbkombination aus hellen Gelb-, Grau- und Blautönen hatte mich von Anfang an fasziniert. Den Rest hatte meine Freundin verkauft, um damit die Renovierung zu finanzieren.

Natürlich plagte mich mein schlechtes Gewissen, dass sie so viel für mich getan hatte. Doch Sina hatte mir oft versichert, dass sie das gerne tat und es ihr Spaß machte, sodass ich sie schließlich frei walten ließ und einfach nur dankbar war. Sie arbeitete für einen russischen Unternehmer, der wegen Sina ein Geschäft für Interieur eröffnet hatte. Seine ebenfalls russischen Kundinnen nahmen Sinas Dienste – sie und Milla waren in Russland geboren – auch nur allzu gern in Anspruch, denn es gelang meiner Freundin mühelos, sich in die Vorstellungen ihrer Kundschaft hineinzudenken und dabei ihren eigenen Geschmack außen vor zu lassen.

Nur was die Teppiche von Rahuls Familie betraf, quälte mich weiterhin mein schlechtes Gewissen. Ich wusste nicht einmal, wie viel Geld Sina dafür erzielt hatte, denn sobald sie am Telefon davon anfing, hatte ich abgeblockt. Es kam mir vor wie ein Verrat, die Teppiche verkauft zu haben. Als würde ich aus Rahuls Tod Kapital schlagen wollen. Und doch hätte ich sie nicht behalten können, weil die Erinnerungen zu schmerzlich waren. Unsere Beziehung war am Ende gewesen, bevor er starb. Und nun kam er nicht nur nicht zurück, sondern war tot. Ließ mich noch einsamer zurück, als ich es ohnehin gewesen wäre.

Ich schüttelte meine Gedanken ab und sah mich weiter in der Diele um. Sie erstrahlte in hellem Grau. Sina hatte Rahuls Jacken von der Garderobe entfernt und in Absprache mit mir auch den Kleiderschrank ausgemistet und einen Großteil der Sachen einem Wohltätigkeitsverein gespendet. Nur seine Fußballkluft samt Fan-Schal und den Trainingsanzug, den ich mit nach München genommen hatte, besaß ich noch.

Zögernd ging ich weiter, und Oskar griff nach meiner Hand. Für ihn war hier alles neu.

Zuerst schauten wir ins Wohnzimmer. Der Teppich auf dem Fußboden lag noch immer da. Doch die Wandteppiche und Sitzkissen waren fort. Mein Blick fiel auf ein neues graues Cordsofa vor einer hellgelb gemusterten Tapete. Die restlichen Wände waren in einem zarten Ocker gehalten, passend zum Läufer.

Vermutlich sperrte ich den Mund auf, denn Sina stieß mich in die Seite und flüsterte: »Gefällt es dir?«

Ich nickte sprachlos und ging mit Oskar an der Hand zu der Babytrage, die auf dem Boden am Fenster stand, und aus der Milla in diesem Moment ihre Tochter hob. Das kahlköpfige Mädchen hatte ein entzückendes, zahnloses Lächeln. Auch Sina strahlte über das ganze Gesicht und nahm ihrer Schwester die Kleine ab, gab einen schmatzenden Kuss auf die Wange des pausbäckigen Babys. »Mein Sonnenschein«, hauchte sie.

Für Sina war es bestimmt nicht einfach, ihre Zwillingsschwester als glückliche Mutter zu erleben. Sie hatte vorher selbst drei Jahre lang erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. Darüber war ihre Ehe mit Nils zerbrochen. Die beiden hatten sich auf meiner Geburtstagsfeier kennengelernt. Nils war viele Jahre mein engster Freund gewesen, doch im letzten Jahr hatte er sich ein paar Dinge geleistet, die uns einander entfernt hatten.

Genau zu diesem Zeitpunkt liefen sich Sina und ihr neuer Traummann Elyas über den Weg. Er hatte eine zehnjährige Tochter, die Leila hieß und die er innig liebte. Seither hatte ich meine Freundin nicht mehr von einem Baby sprechen hören. Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass ihr Kinderwunsch passé war. Aber Elyas und sie kannten sich kein Jahr, außerdem war meine Freundin noch nicht von Nils geschieden.

Andächtig betrachtete ich Millas Kleine. »Sie ist so hübsch«, flüsterte ich und streichelte ihr über das samtweiche Köpfchen.

Milla lächelte stolz und legte das Baby zurück in die Wippe. Das Baby gab keinen Mucks von sich, sondern zappelte nur mit Armen und Beinen, als sei das Leben ein einziges Vergnügen.

Ich sah mich weiter um und entdeckte nun doch ein paar Details, die an Rahul erinnerten. Die antike indische Truhe, auf der ich Bilderrahmen mit Fotos von ihm, mir und Oskar aufgestellt hatte, war noch da. Ich ging hinüber und besah mir unser Hochzeitsfoto. Ich trug einen farbenfrohen Sari, den Rahuls Schwester mitgebracht hatte, und der wie angegossen passte. Mein blondes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, ganz schlicht, so wie ich sie darum gebeten hatte. Indische Frauen werden bei ihrer Hochzeit oft so ausstaffiert, dass sie sich fast nicht mehr bewegen können. Ich hingegen hatte bis in die frühen Morgenstunden getanzt. Wir hatten im Rumors gefeiert, dem Hotel, in dem Rahul als Hotelkaufmann gearbeitet hatte. Anschließend hatten wir in einer der Suiten übernachtet.

Ich schluckte und verdrängte die Gedanken an diese schöne Zeit, stellte das Bild zurück und dankte Sina noch einmal. Ein paar Erinnerungsfotos waren erträglich. Ich konnte ja nicht so tun, als hätte es Rahul nie gegeben. Im Gegenteil – ich wollte ja am liebsten, dass das alles niemals geschehen wäre und ich endlich aus diesem Alptraum erwachte!

»Die Teppiche«, sagte ich zu Sina gewandt. »Wie viel haben sie eigentlich eingebracht?«

Meine Freundin warf ihrer Schwester einen Blick zu, dann sah sie mich feierlich an. »Halt dich fest. Neunzehntausendachthundert habe ich dafür bekommen.«

Ich fasste mir mit beiden Händen an die Brust. »Wie bitte?«

Sina nickte stolz. »Das waren Knüpfteppiche aus irgendeinem Gebirge an der pakistanischen Grenze. Ich habe sie schätzen lassen und danach einigen Kundinnen angeboten. Nachdem eine von ihnen einen gekauft hatte, brannten auch die anderen dafür.« Sina breitete die Hände aus. »Ich ziehe die Kosten für die Renovierung ab und überweise dir den Rest. Einverstanden?«

Fassungslos rang ich die Hände, bis Milla mich bei den Schultern nahm und sachte schüttelte. »Einfach danke sagen, Süße. Sie hat das gern gemacht. Und wenn jemand ein bisschen Glück verdient hat, dann du.«

Sie tätschelte mir die Wange und zog mich hinter sich her in Rahuls und mein ehemaliges Schlafzimmer, das sie in das Kinderzimmer umgewandelt hatte. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als ich die Wandmalerei entdeckte. Sie zeigte ein Piratenschiff, auf dem ein freundlicher Seeräuber mit Augenklappe stand. Außerdem gab es ein Äffchen und einen Papagei, bei dessen Anblick Oskar juchzte.

»Da!«, rief er und streckte den Finger aus.

Ich konnte mir denken, wessen Werk das gewesen war. Sinas Freund Elyas hatte ein Händchen für Wandmalereien. Auch Leilas Zimmer hatte er selbst gestaltet.

Auf dem Fußboden lag ein Spielteppich mit Straßenmuster, darauf stand eine Kiste mit Fahrzeugen. Sofort machte Oskar sich daran, sie auszuräumen.

Dankbar küsste ich Sina auf die Wange. »Ich fühle mich wie bei ›Zuhause im Glück‹«, hauchte ich.

Grinsend zog sie mich weiter hinter sich her. »Das liebe ich an meinem Beruf. Die leuchtenden Augen meiner Kundinnen zu sehen. Jetzt fehlt nur noch dein Reich. Die Küche hab ich gelassen, wie sie war.«

Und schon standen wir in dem Zimmer, das Rahul und ich zuletzt als Arbeitszimmer genutzt hatten. Die Wände waren in einem satten Taubenblau gehalten, das sich hübsch gegen die weiße Stuckdecke abhob. Der Schreibtisch vor dem Fenster war noch derselbe. Es handelte sich um ein Möbelstück aus den Siebzigern, das Sina aus der Konkursmasse eines mittelständischen Unternehmens gerettet hatte.

Ich war noch in den Anblick des nagelneuen Boxspringbettes vertieft, als es klingelte. Fragend sah ich meine Begleiterinnen an. »Erwarten wir jemanden?«

Sina begab sich wie selbstverständlich zur Tür. Ich folgte ihr. Hatte sie einen Überraschungsgast organisiert?

Doch auf der Fußmatte stand eine mir unbekannte, etwa sechzigjährige Frau in einem Blümchenkleid, das nicht zur Jahreszeit passte. Obendrein trug sie flauschige Hausschuhe an den Füßen. Das hochgesteckte Haar der Dame war in verschiedenen Rottönen gesträhnt. Der Pony war rundgeföhnt und landete in einer exakten Linie auf ihren dunkel nachgezogenen Augenbrauen. Die Lippen glänzten in einem hellen Rot. Auf dem Arm hielt sie eine Langhaarkatze mit zerknautschtem Gesicht. Ohne sich vorzustellen, sagte sie: »Endlich erwische ich Sie mal persönlich.«

Sina musterte sie. »Was gibt es denn?«

»Es geht um die Männer, die Ihre Wohnung renoviert haben.« Sie deutete mit dem Daumen auf die Tür neben meiner. »Ich bin Ihre Nachbarin. Diese Leute haben schon morgens vor sieben Uhr russische Volksweisen gespielt.«

Zögernd schob ich mich neben Sina. »Die Renovierung ist jetzt vorbei, und Ihre Nachbarin bin ich.« Ich hielt ihr die Hand entgegen. »Johanna Rathi, sehr erfreut.«

Ehe mein Gegenüber meinen Gruß erwidern konnte, umschlang Oskar von hinten mein Bein und biss in meinen Oberschenkel.

»Oskar!« Ich lachte erschrocken auf und zog ihn von mir fort. »Was machst du denn?«

Argwöhnisch betrachtete die Frau Oskars flammendroten Schopf und drehte sich so, als wollte sie ihre Katze vor ihm in Sicherheit bringen. »Also gehört Ihnen der Buggy unten im Hausflur? Das ist verboten. Genauso wie«, sie deutete auf das Schuhbord neben meiner Wohnungstür, »das hier.«

»Hören Sie«, schaltete Sina sich ein, »meine Freundin war acht Monate weg, sie ist gerade wiedergekommen. Lassen Sie sie doch erst mal ankommen.« Ihre Augen blitzten. »Sie werden bestimmt rein gar nichts von ihr hören. Schon gar keine russischen Volksweisen.«

»Das will ich hoffen.« Die Frau nickte nachdrücklich. »Sie müssen wissen, ich bin Schriftstellerin. Störungen hemmen meine Kreativität.«

Ich betrachtete sie. Sie war die erste Autorin, die ich persönlich kennenlernte.

Oskar reckte seine Hand in Richtung Katze. »Ei!«, hauchte er.

Die Frau trat einen Schritt zurück. Nun deutete sie abermals auf das Schuhregal. »Wie gesagt, das muss weg. Es geht da um Brandschutz.«

»Es wird schon nicht brennen«, entgegnete Sina. »Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Wir heißen unsere Freundin gerade willkommen.« Ehe ich sie darin hindern konnte, machte sie der Frau die Tür vor der Nase zu.

Zu mir sagte sie mit einem übertriebenen Grinsen: »Vorsicht, wachsame Nachbarin.«

Unser Rundgang endete in der Küche. Hier hatten Rahul und ich oft zusammen indisch gekocht. Und nicht nur das. Wir hatten uns sogar mal auf dem Küchentisch geliebt. Kaum vorstellbar, wenn man bedachte, dass das gute Stück nur einen Durchmesser von knapp siebzig Zentimetern aufwies. Und dennoch. Wir hatten gelacht dabei, das Ding hatte unter unserem Gewicht geächzt, und ich hatte befürchtet, es könnte jede Sekunde zusammenbrechen. Aber das war vor Oskars Geburt geschehen. Als ich noch an eine gemeinsame Zukunft glaubte.

Ich fixierte das Paket, das jetzt auf dem Tisch lag. Augenblicklich sank mein Herz. Bevor ich Hals über Kopf in meine Heimatstadt aufgebrochen war, hatte ich Sina den Wohnungsschlüssel übergeben und sie gebeten, gelegentlich den Briefkasten zu leeren. Die Werbung hatte sie weggeworfen, aber es hatte auch ein paar Rechnungen gegeben, die ich online von München aus beglich. Viel von dem Papierkram, den Rahuls Tod nach sich gezogen hatte, hatte Papu mir abgenommen. Drei Wochen nach meiner Abreise nach München erzählte mir Sina dann, dass ein Paket eingetroffen sei.

---ENDE DER LESEPROBE---