Süßer als Honig - Carolin Schairer - E-Book
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Süßer als Honig E-Book

Carolin Schairer

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Beschreibung

Jessi und ihre Freundinnen stranden auf Kreta im Nirgendwo – bis die charismatische Unternehmerin Tina sie in ihre Ferienvilla einlädt. Jessi ist direkt von ihrer Gastgeberin fasziniert, doch als der Urlaub zu Ende geht, ist sie sich sicher, ihr nie wieder zu begegnen. Dann erhält Jessi ein Jobangebot, das sie zurück nach Kreta führt – und direkt in Tinas Nähe. Bald merkt sie, dass nicht nur die griechische Küche ihr Herz höherschlagen lässt …

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Seitenzahl: 467

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carolin Schairer

SÜSSER ALS

HONIG

Roman

HELMER

 

ISBN (E-Book) 978-3-89741-901-8

ISBN (Print) 978-3-89741-496-9

© 2025 E-Book nach der Originalausgabe

Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach a. Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung unter Verwendung eines Fotos von © Addictive Stock / Adobe Stock

 

Ulrike Helmer Verlag

Klosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach a. Taunus

E-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

1. Kapitel

Gestrandet

»Du musst dich um nichts kümmern«, hatte Bea versichert. »Ich habe alles im Griff.«

Spätestens bei dieser Aussage hätten ihre Alarmglocken schrillen müssen, gestand sich Jessi ein, während sie ihre eingefallenen Wangen in dem schmutzigen Spiegel über dem mindestens genauso schmutzigen Waschbecken betrachtete. Schließlich war Bea seit jeher dafür bekannt, Chaos zu perfektionieren.

Nun steckten sie in einer schmucklosen Taverne im Hinterland Kretas fest. Weit und breit gab es keinen Supermarkt, kein Hotel und keinen Taxistand, dafür aber unzählige Olivenbäume und ein paar dürre Ziegen.

Jessi drehte den Wasserhahn auf, um sich kaltes Wasser in ihr viel zu heißes Gesicht zu spritzen. Das dünne Rinnsal, das aus dem Hahn floss, war lauwarm. Mit gespreizten Fingern fuhr sie sich durchs Haar. Nach dem Tag am Strand kamen ihre Locken mehr zur Geltung, als ihr gefiel. Wegen ihrer dunkelbraunen Lockenmähne, des großen Munds und der breiten Nasenflügel war sie noch vor einigen Jahren oft mit Julia Roberts verglichen worden. Mittlerweile war die Ähnlichkeit nicht mehr ganz so ausgeprägt, und mit ihrem wirren Haar glich sie wohl eher der weiblichen Version eines Struwwelpeters. Jetzt hatte sie allerdings andere Probleme als ihr Erscheinungsbild.

Als sie aus dem Anbau nach draußen trat, prallte sie wie gegen eine Wand aus heißer Luft. Hinter der Taverne erhob sich ein schroffer, felsiger Berg, der seinen Schatten auf den großen Parkplatz warf.

Lena und Bea saßen noch immer als einzige Gäste an einem der Plastiktische. Ihre großen Reiserucksäcke lehnten an der Mauer der Taverne. Bea hatte sich eine Zigarette angezündet. Lena trank aus einer Coladose.

»Geht es dir besser?«

Lenas Frage klang beiläufig, und Jessi war dankbar über die übliche spröde Art ihrer Freundin. Von Mitleid und Fürsorge hatte sie in den vergangenen Monaten eine Überdosis erhalten. Mehr davon wäre nicht zu ertragen.

Letztendlich war es auch Lenas Verdienst, dass Jessi auf Kreta überhaupt mit von der Partie sein konnte. Die Tatsache, dass sie Ärztin war, hatte Jessis Eltern überzeugt, dass eine Griechenland­reise nach den Monaten im Krankenhaus und in der Reha für sie nicht nur zu bewältigen war, sondern vielleicht sogar zu ihrer vollständigen Genesung beitragen würde. Gleichzeitig hatte Jessi sich bei dem Gespräch mit ihren Eltern einmal mehr wie eine Minderjährige gefühlt, die um Erlaubnis bitten musste, und nicht wie eine zweiunddreißigjährige Frau.

Jetzt, da Jessis Kopf und Glieder schon den gesamten Tag schmerzten und die wohlbekannte, lästige Müdigkeit immer mehr von ihr Besitz ergriff, lag klar auf der Hand, dass Lena rein gar nichts für sie tun konnte. Wie sich herausgestellt hatte, war ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, eine Reiseapotheke einzupacken.

»Im nächsten Dorf ist eine Bushaltestelle, hat die Wirtin gesagt.« Bea blies eine Rauchwolke in die Luft. »Wenn wir Glück haben, fährt heute noch ein Bus Richtung Rethymno.«

»Und wenn nicht?«

Bea zuckte mit den Schultern. »Dann wird es sicher irgendwo eine Pension geben, in der wir übernachten können.«

Jessi überzeugte das wenig. Als sie am frühen Vormittag in Richtung Südküste aufgebrochen waren, hatte die schmale Serpentinenstraße, über die sich der Bus durch das gebirgige Binnenland der Insel quälte, bereits eindrücklich gezeigt, dass der Tourismus abseits der Küste keine große Rolle spielte. In den schlichten Dörfern, die sie durchfahren hatten, gab es allenfalls hie und da eine Art Kiosk, in dem Olivenöl und Honig verkauft wurden. Hotels, Bars und Tavernen fehlten, und auch diese Gaststätte hier war eher eine Raststation für Durchreisende als ein Ort, an dem sich Touristen gerne aufhielten.

Lena stellte ihre Coladose ab.

»Ich bin absolut dagegen, dass wir bei dieser Hitze drei Kilometer mit schwerem Gepäck eine viel befahrene Straße entlangwandern, ohne überhaupt zu wissen, ob uns das irgendeinen Vorteil bringt«, sprach sie aus, was Jessi durch den Kopf ging. »Wir sollten lieber zusehen, dass uns jemand in Richtung Norden mitnimmt. Rethymno wäre super, aber ehrlich gesagt ist mir für heute egal, wo genau wir landen. Hauptsache, wir sind an der Küste, finden ein nettes Hotel und eine gute Taverne.«

»Na, trampen hat ja vorher schon so toll geklappt«, bemerkte Bea sarkastisch. »Es hat über eine Stunde gedauert, bis wir jemanden gefunden haben, der uns zumindest von Preveli Beach hierhergebracht hat, und das bei einem Parkplatz voller Touristenautos. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Gewöhnlich sind Touristen doch entspannt und hilfsbereit, oder?«

»Drei Frauen, drei große Reiserucksäcke – da kannst du noch so hilfsbereit sein, das kriegst du halt in einem kleinen Mietwagen nicht unter«, erwiderte Lena lakonisch. »Wenn du den Busplan wirklich gelesen hättest, anstatt dich auf deine Intuition zu verlassen, säßen wir inzwischen in Rethymno bei einem Glas Wein.«

Lenas Stimme war frei von jedem Vorwurf gewesen. Dennoch fühlte sich Bea offensichtlich angegriffen, denn sie konterte bissig: »Ich weiß nicht, seit wann ihr so spießig seid! – Auf den Philippinen haben wir in einem Hühnerstall übernachtet! Auf Bali haben wir drei Tage am Strand gepennt! In Thailand sind wir vierhundert Kilometer auf der Pritsche eines Bananentransporters mitgefahren und haben eine Woche in einer Wellblechhütte ohne fließendes Wasser gewohnt. Und wir fanden es alle super!« Sie drückte den Stummel ihrer Zigarette im Aschenbecher aus und sah die Freundinnen aus ihren dunklen, großen Augen beschwörend an. »Seht ihr denn nicht, was mit uns passiert? – Wir werden genauso spießig wie unsere eigenen Eltern! Alles muss plötzlich durchgeplant sein, und ihr zwei Primadonnen braucht sogar ein Hotelzimmer mit eigenem Bad! – Was kommt als Nächstes? Eine Pauschalreise?«

Jessi musste unweigerlich lachen. Die Vorstellung, in einer Bettenburg mit hundert Gästen gefangen zu sein, abends am Buffet Schlange zu stehen und hin und wieder einen teuren, organisierten Ausflug zu machen, klang wie der pure Alptraum.

Lena lachte nicht.

»Ich habe einen stressigen Job, Bea. Diese Nachtdienste sind kein Zuckerschlecken. Ja, du hast recht: Ich stecke das mittlerweile nicht mehr so einfach weg. Im Urlaub will ich zumindest ein bisschen entspannen. Es ist ganz sicher meine letzte Rucksacktour für lange Zeit.«

»Natürlich. Bald bist du ja auch mit Stefan verheiratet.« Bea verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wir alle wissen, was dann folgt: Ihr baut ein Haus, seid die nächsten zweihundert Jahre damit beschäftigt, den Kredit abzustottern und kriegt unzählige Kinder, die euch an allem hindern, was Spaß macht.«

Lena verdrehte die Augen. »Nur, weil das nicht dein Lebensmodell ist, musst du es nicht in den Dreck ziehen.«

»Vor ein paar Jahren waren wir uns einig darüber, dass wir nicht dieses Nullachtfünfzehn-Leben wollen. Und jetzt flippt ihr aus, nur weil eine Busverbindung nicht klappt.«

Ich habe gar nichts gesagt, lag es Jessi auf der Zunge, doch sie verkniff sich den Kommentar. Letztendlich ärgerte sie sich ja genauso wie Lena. Der Palmenstrand war sehenswert gewesen, doch nun wollte auch sie zurück in den belebteren Inselnorden. Für Diskussionen über sich unverhofft verändernde Lebenswege fehlte ihr zudem die Energie.

»Das ist schon länger her als nur ein paar Jahre.« Lena lachte trocken. »Da waren wir halbe Kinder. Irgendwie muss ich ja mein Geld verdienen. Es kann nicht jede für immer und ewig in einer WG leben, so wie du.«

»Na, prima!« Bea stand auf. Ihre Wangen waren gerötet. »Ich arbeite auch hart, nur dass du es weißt! Ich stehe mir nicht selten bis weit nach Mitternacht die Füße in den Bauch, wenn irgendein Dreh mal wieder länger dauert. Aber weißt du was? Ich mache das gern und jammere nicht herum! Weil Regieassistenz nämlich meine Berufung ist und nicht nur irgendein Job!« Sie drehte sich um und marschierte in Richtung Olivenhain.

»Du lieber Himmel.« Lena seufzte resigniert. »Was ist denn mit ihr los? – Man darf ja wohl noch Kritik üben. Und dass wir hier festsitzen, hat ja wirklich sie verbockt.«

»Lass uns lieber überlegen, wie wir in die Stadt kommen.«

Jessis Kopfschmerz war stärker geworden. Die Müdigkeit ebenso. Wenn sie sich nicht bald irgendwo bequem ausstrecken konnte, würde ihr Kreislauf versagen. Und dann müsste Lena wirklich ihr ärztliches Können unter Beweis stellen. So weit sollte es besser nicht kommen.

»Vielleicht mit dem Taxi …?«, überlegte Lena laut.

»Bis nach Rethymno? – Das sind fast vierzig Kilometer.«

Jessi wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, was diese Fahrt kosten würde. Ihre Ersparnisse waren fast aufgebraucht. Ein regelmäßiges Einkommen hatte sie vor über einem Jahr das letzte Mal bezogen – vor der Indienreise, die ihrem bisherigen Leben als Creative Director bei einer angesagten Wiener Werbeagentur ein jähes Ende bereitet hatte. Seither bezog sie Zuwendungen von Krankenkasse und Staat, wobei sie den Eindruck hatte, sich jeden einzelnen Cent schwer erarbeiten zu müssen. Das Ausfüllen von Formularen und Erbringen von ärztlichen Attesten war zeitraubend und zehrte an ihren Nerven. Kreta war nur möglich, weil ihre Eltern großzügig zugeschossen hatten.

»Ich werde mich mal bei der Wirtin hier erkundigen, wie viel ein Taxi ihrer Einschätzung nach kostet.« Lena erhob sich. »Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, zahle ich die Fahrt eben allein.«

Sie verschwand im Inneren der Taverne.

Jessi verharrte noch einen Moment auf ihrem Platz, dann erhob sie sich schwerfällig. Ihre Stimmung war abgesackt, und daran hatten nicht nur ihre Kopfschmerzen und die Müdigkeit schuld. Bea, Lena und sie schienen nicht mehr so gut zu harmonieren wie noch vor wenigen Jahren. Es lag nicht nur daran, dass sie beruflich und privat andere Wege eingeschlagen hatten. Das war schon seit Jahren der Fall. Neu war die Unzufriedenheit, die anscheinend jede von ihnen mit sich schleppte wie ein zusätzliches Gepäckstück, und die jede einzelne von ihnen dünnhäutig und reizbar machte.

Darüber offen zu reden, schien unmöglich. Lena, die nach den ersten Schnupperpraktika in diversen Krankenhäusern noch Kritik am Gesundheitssystem geübt und sich über den Sexismus mancher Oberärzte geärgert hatte, verteidigte ihren Job plötzlich in alle Richtungen: die Nachtdienste seien zwar stressig, aber die Medienberichte über Zwei-Klassen-Medizin völlig überzogen, das Arbeitsklima super und der Alltag aufregend und erfüllend zugleich. Und auch mit Stefan lief alles Bestens. Kein Wort mehr davon, dass sie die Ehe bis zu seinem Heiratsantrag als veraltete Institution abgelehnt hatte.

Bea dagegen stand zu ihren zahlreichen Affären mit Männern, die ebenso wenig von fester Bindung zu halten schienen wie sie. Es waren Schauspieler, Produzenten, Kameramänner – Typen, die sie im beruflichen Alltag kennenlernte und üblicherweise in ihr Bett zog, noch ehe sie ihre Nachnamen wusste. Gleichzeitig gab sie vor, den richtigen Karriereweg eingeschlagen zu haben – es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis sie selbst Regie führen würde. Dass sie mittlerweile seit über sieben Jahren in ihrem unterbezahlten Job als Regieassistenz dahindämmerte und sich keine Entwicklung abzeichnete, verleugnete sie hartnäckig.

Jessi selbst hatte das Gefühl, am Tiefpunkt ihres bisherigen Lebens angekommen zu sein. Im Alter von zweiunddreißig Jahren lebte sie wieder in ihrem ehemaligen Kinderzimmer in jener österreichischen Kleinstadt, die sie mit achtzehn jubelnd verlassen hatte. Sie war de facto arbeitslos und litt noch immer unter den gesundheitlichen Folgen der Viruserkrankung, die sie sich bei ihrer Indienreise eingefangen hatte.

Natürlich wussten ihre Freundinnen, dass sie unter ihrer Situation litt, doch es lag Jessi fern, all ihre Sorgen, Nöte und Befindlichkeiten ständig breitzutreten. Es reichte ja schon, dass sie körperlich nicht voll belastbar war – da musste nicht noch der Eindruck entstehen, dass sie unter Depressionen litt!

Ihr Kopfschmerz war inzwischen in ein permanentes Klopfen zwischen ihren Schläfen übergegangen. Sie öffnete eine der Außentaschen ihres Rucksacks und zog den Ibuprofen-Blister da­raus hervor. Ihre Wasserflasche war leer.

Jessi rechnete damit, Lena an der Theke zu finden, doch außer der Wirtin war dort niemand.

Als sie mit einer kalten Flasche Wasser nach draußen trat, fiel ihr erstmals der schwarze Ford Mustang auf, der unter einem der Eukalyptusbäume parkte. Abgelenkt durch ihren Kopfschmerz und Beas Tränen war ihr gar nicht aufgefallen, dass jemand zugefahren war.

Nachdem sie gerade die Tablette heruntergespült hatte, kam Lena zurück.

»Das mit dem Taxi wird uns teurer kommen als erwartet, aber was bleibt uns anderes übrig«, sagte sie wenig enthusiastisch. »Die Wirtin ruft uns eines, wenn wir uns darauf geeinigt haben, wo genau es hingehen soll. Wir sollten das kurz mit Bea besprechen. Wo steckt sie denn eigentlich?«

»Vielleicht sitzt sie noch im Olivenhain hinter dem Haus?«

»Nein, ich habe sie vorher zur Raststätte abbiegen sehen. Aber da drinnen gibt es noch zwei weitere Zimmer, und –«

Was auch immer Lena hatte sagen wollen – ein Piepsen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Handy in ihrem Brustbeutel. Sie zog es heraus und war in den nächsten Minuten damit beschäftigt, eine Nachricht zu tippen.

Jessi war froh, dass sie nicht weiterreden musste. An ihrem ganzen Körper zwickte und riss es. Das Pochen zwischen ihren Schläfen war zu einem hartnäckigen Schlagen mit einem Vorschlaghammer geworden. Ihr war leicht übel.

Sie lehnte sich zurück und versuchte, sich zu entspannen. Der unbequeme Stuhl machte es ihr nicht leicht.

Sehen Sie es als eine Art Migräne, hatte einer der Ärzte auf ihre Frage hin geantwortet, ob diese letzten Symptome ihrer schweren Erkrankung etwa für immer bleiben würden. Ihr Leben lang war sie fit und sportlich gewesen, nahezu explodierend vor Energie. Und plötzlich war sie kaum mehr belastbar.

»Mädels! Ich habe unser Problem gelöst!«

Bea schlenderte auf sie zu, drei Coladosen in der Hand, ein breites Grinsen im Gesicht. Der Streit von zuvor schien vergessen zu sein.

»Wir haben einen Shuttleservice!«

»Tatsächlich?« Lena steckte das Handy zurück in die Tasche und nahm die Cola in Empfang. »Und zwar?«

Bea wies mit der linken Hand in Richtung des Mustangs. Sagen konnte sie nichts, da sie die Coladose bereits an die Lippen gesetzt hatte.

Jessi sah den Fahrer bereits vor sich: einen etwa fünfzigjährigen Griechen mit Bauchansatz und Vollbart, Boss-Jeans und Armani-Sonnenbrille, der sich für unwiderstehlich hielt und in der süßen Bea mit ihren großen dunklen Kulleraugen und dem für ihren zierlichen Körperbau üppigen Dekolleté leichte Beute sah. Es würde gewiss schwer werden, ihn in Rethymno wieder loszuwerden.

Doch die Person, die gerade aus der Taverne kam, entsprach in keiner Weise diesem Bild.

Es war eine Frau mit langem blonden Haar und einem markanten Gesicht. Ihre Augen waren von einer dunklen Sonnenbrille bedeckt. Sie war mittelgroß, weder gertenschlank noch mollig, und steckte in einer weißen Leinenhose und einer Kurzarmbluse, deren oberste Knöpfe offen standen. Mit schnellen Schritten steuerte sie auf Jessi, Bea und Lena zu.

»Das ist Tina«, sagte Bea. »Wir können mit ihr mitfahren. – Tina, das sind meine Freundinnen Lena und Jessica, kurz: Jessi.«

»Hallo«, sagte Tina und streckte Jessi als erster die Hand entgegen. Ihr Händedruck war fest.

»Es ist wirklich sehr nett, dass Sie uns mit nach Rethymno nehmen«, sagte Lena. »Wir wollten gerade schon ein Taxi bestellen.«

Tina hob die Augenbrauen. »Ich fahre an die Südküste«, sagte sie. »Nicht nach Rethymno.«

»Aber da kommen wir doch her.« Lenas Stimme verriet deutlich, wie enttäuscht sie war.

Jessi ging es ähnlich. Gleichzeitig war sie überrascht, dass die Frau offenbar Deutsche war. Sie hatte keinen Zweifel daran gehabt, eine Griechin vor sich zu haben – der sonnengebräunte Teint, die knallrot geschminkten Lippen und die üppigen Goldkreolen an den Ohren waren so typisch für den Stil der Einheimischen. Hinzu kam der dunkle Haaransatz, der die natürliche Haarfarbe preisgab.

»Tina sagt, es gibt dort günstige Appartements«, beeilte sich Bea nun zu sagen. »Sehr günstige. Und wir wollten uns doch eh noch einen Strandtag gönnen, ehe wir wieder Besichtigungen machen.«

Diesmal erwiderte Lena nichts, doch Jessi erkannte an ihren aufeinandergepressten Lippen, wie wenig ihr der Vorschlag zusagte. Schon am Vortag hatte sie wiederholt klargestellt, dass sie sich tagsüber an einem Strand in Stadtnähe erholen wollte, um abends auszugehen. Dem Ausflug zum abgelegenen Preveli ­Beach hatte sie nur deshalb zugestimmt, weil der Strand mit seinen Palmen und des ins Meer mündenden Flusses als besonders sehenswert galt.

Jessi fühlte sich inzwischen zu schwach und müde für weitere Diskussionen.

»Prima Idee«, sagte sie daher mit einer Begeisterung, die sich sogar in ihren eigenen Ohren ziemlich künstlich anhörte. »Vielen Dank.«

Knapp zehn Minuten später saßen sie in Tinas Auto und fuhren in Richtung Südküste. Im Radio lief griechischer Pop. Bea auf dem Beifahrersitz übernahm den Smalltalk und erzählte, welche Orte auf Kreta sie seit ihrer Ankunft vor vier Tagen schon besucht hatten, was sie sich noch anschauen wollten und was ihnen bisher besonders gut gefallen hatte. Manchmal steuerte Lena etwas dazu bei.

Jessi hatte ihren Kopf gegen die Rückenlehne gebettet und hoffte darauf, dass das Ibuprofen endlich seine Wirkung entfaltete. Der Schmerz war inzwischen nahezu unerträglich.

Trotzdem verfolgte sie mit halbem Ohr das Gespräch. Sie fragte sich unwillkürlich, was Tina wohl für einen Eindruck von ihnen gewann: eine, die redete wie ein Wasserfall, eine andere, die ihre Genervtheit mit Höflichkeit zu überspielen versuchte und eine dritte, die gar nicht sprach.

Wahrscheinlich fragte sie sich längst, was diese drei Frauen miteinander verband. Schon ihre Erscheinungsbilder unterschieden sich komplett voneinander.

Da war zum einen die stupsnasige Bea, die nicht nur wegen ihrer geringen Körpergröße von gerade einmal ein Meter fünfundfünfzig herausstach, sondern vor allem wegen ihrem unkonventionellen Äußerem. Beas Haar war schwarz gefärbt mit lila Strähnen. Ihre Unterarme tätowiert – mit Drachenköpfen, Schlangen und chinesischen Zeichen, die irgendeine spirituelle Bedeutung hatten. Abgesehen davon trug sie stets Klamotten, die wie in letzter Sekunde aus dem Reißwolf gezogen wirkten – aktuell einen schwarzen, knöchellangen Rock, der aussah, als hätte ihn jemand planlos mit einer Schere in unterschiedlich große Stoffstreifen geschnitten, dazu ein dunkles Trägeroberteil, unter dem die Träger ihres quietschgelben Bikinis hervorlugten.

Lena dagegen war gut einen Kopf größer und athletisch gebaut, trug sportliche Shorts und einfarbige Shirts. Ihr haselnussbraunes, glattes Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden.

Und dann gab es sie selbst, Jessi. Ihr Bruder hatte sie – wenig charmant wie üblich – vor Kurzem als langes Elend bezeichnet, und tatsächlich fühlte sie sich auch so. Mit ihren ein Meter fünfundsiebzig hatte sie schon immer zu den größten Frauen in ihrem Bekanntenkreis gezählt. Modelmaße, hatten einige mit unverhohlenem Neid festgestellt.

Jessi hatte ihre Figur als so selbstverständlich betrachtet, dass sie den Komplimenten keine übermäßige Beachtung schenkte. Die schlanke Taille hatte für sie genauso zu ihr gehört wie ihr muskulöser Po und der wohlproportionierte Busen. Dass ihr Körperbau nicht nur das Resultat guter Gene war, hatte sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus feststellen müssen. Die mangelnde Bewegung hatte ihre Muskeln schrumpfen lassen und sie mindestens zehn Kilo gekostet. Auch wenn sie die Hälfte davon wieder zugenommen hatte, wirkte sie noch mager. Die meisten Kleidungsstücke schlackerten an ihr wie damals als Kind die Hosen und Pullis, die sie von ihrem größeren Bruder übernommen hatte.

Daran, dass sie als Sechzehnjährige in viel zu weiten, abgewetzten Klamotten herumgelaufen war und von kahl rasiert bis grün gefärbt alle möglichen Haarstylings ausprobiert hatte, wollte sie heute lieber nicht mehr denken. Der Wunsch, sich unbedingt im Aussehen von ihren Mitmenschen zu unterscheiden, hatte sich im Lauf der Zeit gelegt.

Das Einzige, was dauerhaft an die Jessi von früher erinnerte, waren ihre Tattoos. Zwei Motive zierten ihren Körper – ein Ornament, das sich vom Knöchel über das Fußgelenk bis zum Knie zog und eine fantasievoll gestaltete Blume zwischen den Schulterblättern.

»Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragte Tina, als Bea endlich einmal eine Redepause einlegte.

»Wir kommen aus demselben Kaff in Österreich. Scheibbs. Kennt kein Mensch«, gab Bea bereitwillig Auskunft. »Wir waren zuerst zusammen im Turnverein, dann auf derselben Schule und schließlich gemeinsam in Wien zum Studium. Außerdem lieben wir es, unterwegs zu sein und neue Länder zu erkunden.«

»Welche Länder habt ihr bereist?«

»Wir waren schon oft in Asien, dann in Südafrika und auch in Australien.«

»Und jetzt in Griechenland?« Die Frau schob ihren Worten ein kehliges Lachen hinterher, und Jessi begriff erst dadurch, dass sie einen Scherz gemacht hatte.

Bea kicherte. »Na ja, ich war schon oft in Griechenland. Mit meinen Eltern, als Kind. Wir sind meistens nach Rhodos geflogen. Oder nach Korfu.«

»Auf Korfu war ich auch schon.« Lenas Laune schien sich allmählich zu bessern. »Und auf Santorin.«

»Nur Jessi ist zum ersten Mal in Griechenland«, setzte Bea hinzu, und Jessi hätte sie dafür gerne erwürgt. Sicher erweckte sie den Eindruck des verblendeten Touris, der zwar Fernreisen buchte, sich aber quasi vor der eigenen Haustür nicht auskannte.

»Für ein erstes Mal ist Kreta eine gute Wahl.«

Die Frau sah durch den Rückspiegel nach hinten. Sie hatte die Sonnenbrille abgenommen. Ihre Augen waren dunkel; der Kajalstrich nach Jessis Ermessen viel zu dick und der grüne Lidschatten zu auffällig. Eine gewisse Neugier lag in ihrem Blick.

»Meine Familie kommt aus Kreta«, fuhr Tina fort. »Aus Chania.«

Zum ersten Mal bemerkte Jessi den ganz leichten Akzent – eine Sprachmelodie, die nicht dem üblichen Standard entsprach, Silben, die minimal anders betont wurden.

»Sind Sie zweisprachig?«, stellte Bea auch schon prompt die Frage, die sich Jessi aufdrängte.

»Meine Mutter war Deutsche. Sie kam aus der Nähe von Düsseldorf.«

Das Gespräch floss weiter dahin, doch Jessi hörte nicht mehr zu. Mehr und mehr kämpfte sie gegen Kopfschmerz und Übelkeit. Sie fuhren gerade über eine Serpentinenstraße nach unten in Richtung Küste, als sie spürte, dass es nicht mehr ging.

»Stopp!«, rief sie panisch.

Tina fuhr sofort rechts an den Rand. Das Auto kam keine Sekunde zu früh zum Stehen. Jessi erbrach sich, kaum dass die Autotür offen stand.

Irgendwann wurde ihr ein Taschentuch gereicht.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

*

Jessi schlug die Augen auf. Helles Sonnenlicht fiel durch die geöffneten Fenster. Obwohl sie alles im Raum klar erkannte – den weiß lackierten Holzschrank neben der blauen Tür, den kleinen Tisch mit den gedrechselten Beinen, den Polstersessel in der Ecke und die beiden großflächigen abstrakten Gemälde an den Wänden, die mit dem Türkistönen der Vorhänge harmonierten – brauchte sie eine Weile, um sich zu orientieren.

Diffuse Erinnerungen an den vergangenen Abend fügten sich allmählich wie ein Puzzle zusammen. Tina, die Deutsch-Griechin, die sie in ihrem Auto mitnahm. Die kleine, im italienischen Stil gebaute Villa östlich von Plakias. Die Großzügigkeit, mit der ihnen Tina dort Quartier bot.

Als Jessi sich im Bett aufsetzte, stellte sie erleichtert fest, dass der Kopfschmerz vom Vortag verschwunden war. Sie fühlte sich erholt, beinahe fit. Ein Blick auf ihr Handy zeigte, dass es halb neun Uhr morgens war – ihre Freundinnen schliefen sicherlich noch. Jessi warf ein luftiges Sommerkleider über und ging auf Zehenspitzen die Marmortreppe nach unten.

Bei Tageslicht und im ausgeruhten Zustand faszinierte das Haus sie noch mehr als schon bei ihrer Ankunft. Architektonisch mochte die Villa mit den Marmorsäulen und den großen Fenstern an ein altes venezianisches Palais erinnern. Das Mobiliar dagegen war modern: schlichte Eleganz in Kombination mit ausgefallenen Accessoires wie einer kunstvollen Stehlampe oder einer imposanten Vase. Im Wohnzimmer hingen großflächige Bilder in unterschiedlichsten Stilrichtungen. Manche zeigten abstrakte Landschaften, andere Motive der Insel.

Eine Brise blähte die weißen, luftigen Vorhänge auf wie Segel. Von draußen drang das sanfte Kling-Klong eines Windspiels herein.

Jessi trat durch die offene Küchentüre hinaus in den Garten. Schon nach ein paar Schritten hielt sie inne.

So muss es im Paradies sein, ging es ihr durch den Kopf, während sie sich einmal um die eigene Achse drehte.

Orangen- und Zitronenbäume reihten sich an Fächer- und Dattelpalmen. In mit Ornamenten verzierten Trögen blühten Blumen, deren Namen sie nicht kannte. Als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, schmeckte sie Salz.

Wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, bahnte sie sich ihren Weg durch die Bäume zu der steinernen Brüstung.

Das Haus lag auf einer Anhöhe oberhalb des kleinen Ortes. In einiger Entfernung war das Meer zu sehen. Die Morgensonne ließ das Wasser glitzern. Ein Segelschiff schipperte die Küste entlang.

Jessi atmete tief durch. Der Duft der Blumen vermischte sich mit dem unverkennbaren Geruch des Meeres.

Zum ersten Mal seit dem Verlassen des Flugzeugs verspürte sie einen Hauch von Ruhe und Frieden. Sie genoss die sommerliche Wärme auf ihrer Haut und den atemberaubenden Ausblick. Dann erinnerte ihr Magen sie daran, dass ihre letzte richtige Mahlzeit fast vierundzwanzig Stunden zurücklag.

Sie hatte keine Ahnung, ob und was es an Essbarem in diesem Haus gab. Sich in einer fremden Küche ohne Erlaubnis zu bedienen, kam nicht infrage. Fürs Erste musste die angebrochene Kekspackung in ihrem Rucksack reichen.

Diesmal nahm Jessi einen anderen Weg durch den Garten. Als sie um die Ecke bog, stand sie auch schon auf der Terrasse. Plötzlich zog ein Plätschern zu ihrer Rechten ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Ihre Gastgeberin stieg aus dem angrenzenden Pool. Wasser perlte an ihrer sonnengebräunten Haut. Das Haar hing in langen Strähnen über Rücken und Schultern.

Der unerwartete Anblick der nassen Frau in einem Bikini, der ihre weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen betonte, nahm Jessi gefangen.

»Guten Morgen. Gut geschlafen?«

Jessi schoss prompt das Blut in den Kopf.

»Ja, danke«, presste sie hervor und drehte verlegen den Kopf in die andere Richtung. Im Augenwinkel bemerkte sie, wie Tina ihr ein warmes Lächeln schenkte, während sie sich abtrocknete.

»Wie geht es dir heute?«

»Viel besser.« Da Jessi glaubte, ihr eine Erklärung zu schulden, fügte sie hinzu: »Ich war lange krank und bin noch immer nicht so ganz fit.«

»Und machst in der Hochsaison eine Rundreise durch Kreta – bei fünfunddreißig Grad und mit schwerem Rucksack auf dem Rücken.« Tinas Tonfall verriet deutlich, was sie davon hielt.

»Sie hören sich gerade an wie meine Mutter!«

Tinas Lächeln wurde zu einem Grinsen. Jessi sah die Grübchen um ihre Mundwinkel herum und leitete davon ab, dass sie gewiss ein Mensch sein musste, der viel lachte – einer, der unbefangener und heiterer durch das Leben ging als sie selbst.

»Manchmal haben Mamas recht«, erwiderte sie amüsiert. »Und übrigens … ich bin einfach nur Tina. Kein Sie. – Magst du einen Kaffee?«

»Gerne.«

»Milch, Zucker?«

»Irgendwas. Bitte keine Umstände … ich weiß Ihre …. deine Gastfreundschaft … wirklich zu schätzen, aber …«

»Mach es dir bequem. Ich bin gleich zurück.«

Erst jetzt bemerkte Jessi den Teakholztisch unter dem großen Sonnenschirm. Auf der Tischplatte standen eine ganze Reihe benutzter Gläser und drei Weinflaschen. Jessi erinnerte sich dunkel an die Stimmen und das Gelächter, das nachts durch das offene Fenster an ihr Ohr gedrungen war. Offenbar hatten Lena und Bea weit weniger Skrupel gehabt, sich von ihrer Gönnerin bewirten zu lassen.

Tina kam mit einem vollen Tablett zurück. Den nassen Bikini hatte sie gegen einen trockenen getauscht; darüber trug sie ein locker schwingendes Kleid aus dünnem Stoff. Fasziniert betrachtete Jessi die Muskeln, die sich auf ihrem Bauch abzeichneten, als sie das Tablett auf dem kleinen Tisch zwischen den Liegen abstellte.

»Soll ich kurz abräumen?«, bot Jessi mit einem Blick auf die Überreste des Gelages vom Vortag an. Denn Tina servierte nicht nur zwei Cappuccino mit kunstvoll aufgeschäumter Milch, sondern ein ganzes Frühstück mit Weißbrot, Käse, Schinken, Marmelade und aufgeschnittenen Früchten.

Einen Moment lang machte Tina ein Gesicht, als müsste sie erst begreifen, wovon Jessi sprach. Dann hob sie abwehrend die Hand.

»Nein. Das wird Maria erledigen, sie kommt heute sowieso zum Putzen. – Wir essen bei den Liegen.«

Dass Maria irgendeine Hausangestellte war, konnte Jessi nur erahnen. Etwas anderes wusste sie nun aber mit Gewissheit: Tina war es gewohnt, Anweisungen zu geben. Allein die Art und Weise, wie sie Wir essen bei den Liegen sagte, verriet, dass Widerspruch nicht erwünscht war.

Während Jessi die Cappuccinotasse an die Lippen setzte, betrachtete sie die Frau verstohlen. Tina hatte an diesem Morgen auf Make-up verzichtet. Ohne die dunkel geschminkten Augen und den roten Lippenstift wirkte ihr Gesicht natürlicher und auch älter. Am Vortag war Jessi noch davon ausgegangen, dass Tina nur zwei, drei Jahre älter sein konnte als sie selbst, erkannte aber jetzt, dass sie eine Frau Mitte vierzig vor sich haben musste.

»Es ist ein wundervolles Haus«, sagte Jessi nach einer Weile. »Es erinnert mich an ein italienisches Palazzo.«

»Mein Vater hat es für meine Mutter gebaut. Sie war ein echter Ita­lien-Fan. Nicht umsonst heißt das Haus Villa Verde.«

»Ein Italien-Fan, obwohl sie mit einem Griechen verheiratet war?« Die Frage drängte sich ihr unweigerlich auf.

Ein dünnes Lächeln huschte über Tinas Lippen, ehe sie erwiderte: »Sie konnte mit Griechenland und der griechischen Kultur nie viel anfangen.«

»Sie lebt nicht mehr?«

»Brustkrebs.«

»Das … tut mir leid.«

»Es ist lange her.«

Etwas an Tinas Tonfall sagte Jessi, dass diese nicht daran interessiert war, das Thema zu vertiefen, also sagte sie: »Aber du wohnst nicht das ganze Jahr über hier, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Das ist ein Ferienhaus.«

Jessi rechnete bereits damit, dass es bei der Aussage bleiben würde, doch dann schien es sich Tina anders zu überlegen.

»Ich wohne in Athen und in Düsseldorf. Aber im Sommer bin ich gerne hier. Ab und zu mag ich die Ruhe.«

»Du lebst meinen Traum. Ich wollte als Kind am liebsten zum Zirkus – weil man so an unterschiedlichen Orten wohnt. Drei Wohnsitze zu haben, kommt dem schon relativ nahe. Wobei man sich dabei schon immer an einem der Orte mehr zu Hause fühlt als an den zwei anderen, oder?«

Tina biss von ihrem Brot ab.

»Und warum bist du nicht zum Zirkus gegangen?«, fragte sie ausweichend.

»Ich glaube, meine Eltern hätten mich einweisen lassen, wenn ich auch nur den Wunsch geäußert hätte. Sie halten mich jetzt schon für ziemlich exaltiert.«

»Exaltiert?«, wiederholte Tina stirnrunzelnd. »Ist das ein Synonym für verrückt?«

»Nicht ganz. Eher im Sinne von abgehoben.«

Tina tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Ich verstehe weder das eine noch das andere. Ich spreche besser Griechisch als Deutsch. – Aber egal. Du bist also nicht beim Zirkus. Was machst du dann?«

Arbeitslos daheim herumhängen und die Absagen lesen, die ich auf meine Bewerbungen bekomme, ging es Jessi mit leichter Verbitterung durch den Kopf. Laut sagte sie: »Ich habe Marketing studiert, habe zwei Jahre bei einem internationalen Konzern gearbeitet, davon eines in der Krisenkommunikation, und bin dann in die Werbung gegangen. Also, in verschiedenen Agenturen. Dort lief es ziemlich gut für mich. Ich hatte da verschiedene Positionen inne und konnte Erfahrung in unterschiedlichsten Bereichen sammeln. Zuletzt war ich Creative Director und habe ein Team mit zehn Leuten geleitet.«

»Hat diese Position nicht mehr mit Grafik als mit Marketing zu tun?«

»Stimmt. Aber nicht nur. Im Grunde gibst du in dieser Position Umsetzung und Strategien für ein gesamtes Projekt vor.«

Es überraschte Jessi, dass ihre Gastgeberin zu den wenigen Menschen gehörte, die zumindest eine vage Ahnung von dem zu haben schien, was ihren Beruf ausmachte. Ihren Eltern hatte sie x-mal zu erklären versucht, was sich hinter der Jobbezeichnung verbarg.

»Die grafischen Dinge habe ich mir überwiegend selbst beigebracht. Learning by doing, sozusagen.«

»Und in einem Konzern wolltest du nicht mehr arbeiten?«

»Nicht unbedingt. Die Strukturen sind teilweise so starr, dass man sich selbst blockiert. Im Marketing wurde beispielsweise fast alles von der deutschen Niederlassung vorgegeben. Ich bin deshalb in die PR-Abteilung gewechselt, obwohl das nichts mit meiner Ausbildung zu tun hat, und habe beim Erstellen eines Krisenhandbuchs mitgeholfen.«

»Was ist das?«

»Es ist ein Notfallplan, in dem definiert ist, wer im Falle einer Unternehmenskrise was zu tun hat. Wer spricht mit den Medien? Was wird wie kommuniziert? Welche Stakeholder müssen benachrichtigt werden? – Es war ziemlich interessant, daran mitzuarbeiten, und ich habe viel gelernt.«

»Zum Beispiel?«

»Dass es immer besser ist, aktiv zu kommunizieren und Kontakt nach außen zu halten, als den Medien das Berichten zu überlassen.«

»Klingt sinnvoll.« Tina lehnte sich im Liegestuhl zurück und schloss die Augen.

Die Sonne brannte bereits zu dieser frühen Stunde unbarmherzig auf die Terrasse. Selbst im Schatten war es extrem warm. Jessi wollte sich gar nicht vorstellen, wie heiß es zur Mittagszeit werden würde.

Während sie noch überlegte, ob sie Tina fragen konnte, was sie beruflich machte, ertönte im Haus der aufdringliche Klingelton eines Handys.

Tina erhob sich mit einem Seufzen und ging ins Haus. Augenblicke später hörte Jessi sie auf Griechisch reden. Ihr Tonfall war anfangs neutral, wurde dann aber eindringlicher und bestimmend. Diese Frau wollte sie weder als Chefin noch als Feindin haben.

Da das Telefonat länger zu dauern schien, ging sie nach oben und holte ihr eigenes Handy. Zurück im Liegestuhl, beantwortete sie die Nachricht ihrer Eltern.

Haben gestern nichts von dir gehört. Geht es dir gut? Wo seid ihr? – Bitte vergiss nicht, genügend zu essen und zu trinken. M & P.

Sie konnte ihnen unmöglich von ihrem Kreislaufkollaps erzählen. So, wie sie die beiden kannte, würden sie ihr dann sofort den nächstmöglichen Rückflug buchen und gemeinsam mit Doktor Egger, dem Hausarzt, am Flughafen auf sie warten.

Alles bestens, schrieb sie zurück. Wir sind an der Südküste, wohnen in einer hübschen Villa und ich habe gerade gut gefrühstückt. Das Wetter ist prima und ich erhole mich jeden Tag mehr.

Sie wollte das Handy gerade zur Seite legen, entdeckte jedoch, dass knapp zwanzig Minuten zuvor eine zweite Nachricht eingetroffen war.

Als sie den Absender bemerkte, schlug ihr Herz schneller – eine körperliche Reaktion, für die sie sich selbst sogleich verurteilte. Mit Patricia und ihr war es schließlich aus.

Die auflodernde Flamme freudiger Erregung erlosch schlagartig, nachdem sie das Foto am Display erblickt hatte. Patricia und eine Frau mit kurzem, rotem Haar, im Hintergrund eine gelbe Fußgängerbrücke, die ihr bekannt vorkam. Ihre Ex hatte für das Selfie den Arm um die Frau gelegt und grinste in die Kamera.

Hi Süße, wie läuft’s auf Kreta? Wünsch dir viel Spaß. Petra und ich radeln heute auf der Donauinsel; danach zeige ich ihr »unseren« Italiener. Wird Zeit, dass sie Giovannis Spezial-Spaghetti kennenlernt! *lol* Lass mal wieder was hören. Oder, besser noch: Schick ein Foto! XOXO, Patricia.

Es war nicht das erste Mal seit ihrer Trennung, dass sich Patricia meldete. Sie hatten immer wieder lose Kontakt gehabt – schließlich wollten sie ja befreundet bleiben. Es war auch nicht das erste Mal, dass sie von Petra, der neuen Frau im Leben ihrer Ex, hörte. Trotzdem fühlte sich die Nachricht an wie ein Faustschlag in die Magengrube. Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Patricia das italienische Lokal erwähnte, in dem sie beide ihr erstes Date gehabt hatten, verstörte sie. Warum musste sie ihre Neue ausgerechnet zu den Orten führen, an denen sie gerne ihre Freizeit miteinander verbracht hatten?

»Hallo, hallo, guten Morgen!«

Bea polterte fröhlich auf die Terrasse, dicht gefolgt von Lena, die ziemlich verschlafen wirkte.

»Bist du wieder fit? Du hast uns gestern einen ganz schönen Schrecken eingejagt!«

»Alles gut. Bei euch auch?«

Lena ließ sich in jenen Liegestuhl fallen, in dem zuvor Tina gesessen hatte.

»Ich hatte gestern ein, zwei Gläser zu viel, aber das wird wieder.«

»Ein, zwei Gläser?« Jessi schmunzelte. »Drei Flaschen, drei Per­sonen …«

»Es war gestern Abend so lustig!« Bea holte sich den dritten Liegestuhl, der direkt am Pool gestanden hatte, und ließ sich da­rauf nieder. »Tina ist unglaublich witzig und unterhaltsam.«

Jessi wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Anscheinend war nur ihre Wahrnehmung eine andere.

»Sie hat uns angeboten, hier zu bleiben.«

»Sie hat … was?« Jessi setzte sich überrascht auf. »Hier? In diesem Haus? Für wie lange?«

Lena hob die Schultern. »Von ihr aus können wir unseren ganzen restlichen Urlaub hier verbringen.«

»Und … das willst du annehmen?«

»Vielleicht. – Ich will schon noch etwas von der Insel sehen, aber … es ist ein Traumhaus. Der Strand ist in der Nähe, wir schlafen in Einzelzimmern und haben sogar einen Pool.«

Es überraschte Jessi, dass ausgerechnet Lena, die am Vorabend noch auf einen Aufenthalt in der Stadt gedrängt hatte, ihre Pläne so rasch über den Haufen warf. Sie selbst fühlte sich angesichts des unerwarteten Angebots zwiegespalten. Die Aussicht auf ein paar erholsame Tage in der venezianischen Villa gefiel ihr. Andererseits behagte es ihr nicht recht, die Gastfreundschaft der Deutsch-Griechin überzustrapazieren.

»Ich stelle es mir schwierig vor, von hier aus Ausflüge zu machen«, versuchte sie es daher mit einem rationalen Argument. »Ich habe keine Ahnung, wo genau wir sind, aber es wirkt abgelegen. Oder habt ihr schon eine Bushaltestelle entdeckt?«

»Wir werden uns einen Leihwagen nehmen«, überraschte Lena mit der nächsten Entscheidung, die offensichtlich schon getroffen worden war, ohne Jessi einzubeziehen. »Dann sind wir tagsüber flexibel. Und nachts haben wir eine super Unterkunft.«

»Ich weiß nicht recht …« Jessi war noch immer skeptisch. »Es kommt mir vor, als würden wir Tina ausnutzen.«

Bea lehnte sich zu ihr. »Ich glaube, sie kann sich Gäste leisten«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Siehst du nicht, wie das Haus eingerichtet ist? – All die Bilder! In meinem Zimmer hängt ein Druck von Roy Lichtenstein, der Kaffeevollautomat ist ein exquisiter Wahnsinn, und sie trägt eine Uhr, von der ich zufällig weiß, was sie kostet. Hier riecht es an allen Ecken nach Geld!«

Jessi war nicht einmal eine Uhr an Tinas Handgelenk aufgefallen, geschweige denn, dass sie einen Blick auf die Kaffeemaschine geworfen hatte.

»Ich will einfach niemandem auf den Wecker gehen«, sagte sie. »Bestimmt hat sie das gestern nur in dieser weinseligen Stimmung angeboten …« Sie warf einen demonstrativen Blick in Richtung des Tisches.

»Frag Tina doch selbst, wenn du uns nicht glaubst«, schlug Bea vor. »Heute ist sie stocknüchtern.«

»Ich war gestern auch nüchtern.« Tina trat auf die Terrasse.

Beas und Lenas Augen leuchteten auf, als sie das Tablett mit dem Frühstück in ihren Händen sahen.

Jessi fühlte sich augenblicklich noch schlechter. Tina hatte offenbar mitbekommen, dass sie ihr Trunkenheit und unbesonnene Aussagen unterstellte.

»Ich habe gerade von deinem großzügigen Angebot gehört«, packte Jessi den Stier bei den Hörnern. »Und ich habe Skrupel, es anzunehmen. – Du willst doch sicher ein paar Tage für dich haben?«

Tina stellte das Tablett ab. Dann sah sie Jessi direkt an, und ihr Blick war fest und so kompromisslos wie zuvor ihr Tonfall beim Telefonieren.

»Es gefällt mir, Gesellschaft zu haben. Wenn ich euch loswerden will, sage ich das direkt, keine Sorge.«

*

Lena besorgte tatsächlich einen Leihwagen – ein kleines japanisches Modell, mit dem sie fortan die Umgebung erkunden wollten. Ihr erster Ausflug führte sie ins zwischen den Bergen gelegene Amari-Tal. Im Reiseführer hatte Lena gelesen, dass am dortigen See seltene Vogelarten und eine einzigartige Flora zu finden waren. Sie hoffte auf tolle Schnappschüsse mit ihrer neuen Spiegelreflexkamera.

Doch als sie ankamen, war der Wasserstand niedrig. Die Buchten – im Reiseführer als malerisch beschrieben – zeigten sich als wenig pittoreske Kiesbänke, und es roch unangenehm nach getrocknetem Schlick. Entlang des Weges gab es neben Felsen und Geröll nur dürres Gras.

Während des Spaziergangs auf der Hochebene merkte Jessi rasch wieder ihre Kurzatmigkeit. Als sie am Ende des Tages wieder in die Villa zurückkehrten, fühlte sie sich so erschöpft, dass sie sich erst einmal hinlegen musste.

Am nächsten Morgen ließ sie ihre Freundinnen alleine ziehen. Auf einer der schattigen Liegen am Pool zu liegen, hätte ihr am meisten zugesagt. Doch auf der Terrasse am Teakholztisch saß Tina am Notebook, telefonierte und tippte konzentriert in die Tasten. Jessi hatte mittlerweile begriffen, dass Tina vom Ferienhaus aus arbeitete. Dabei wollte sie nicht stören.

Innerhalb weniger Minuten erreichte Jessi den Strand. Trotz Hochsaison fand sie schnell eine freie Liege mit Sonnenschirm. Das Meer war sauber und glasklar. Jessi entdeckte an sich eine gänzlich neue Seite: Vor ihrer Erkrankung konnte sie am Strand kaum zwei Stunden still liegen, aber hier reichten der E-Reader und gelegentlich ein kühles Getränk aus der Taverne hinter ihr, um den ganzen Tag zufrieden zu sein.

Nicht einmal die Gespräche mit Lena und Bea hatten ihr gefehlt. Zwar hatte sich die Stimmung erheblich verbessert, seit sie nicht mehr jeden Tag ein günstiges Quartier und passende Busverbindungen finden mussten und von Tina bewirtet wurden – ein Umstand, der Jessi noch immer nicht ganz behagte –, doch Jessi hatte die Ruhe an diesem Tag genossen.

Nun saßen sie nach einem köstlichen Fischgericht und vielerlei Beilagen mit vollen Bäuchen am Tisch auf der Terrasse. Schon den vierten Tag in Folge hatte Tina Essen aus der nahen Taverne liefern lassen und Jessis Bemühungen, etwas von den Kosten übernehmen zu wollen, mit entschiedenen Worten abgeschmettert. Jessi hatte sich geschlagen gegeben. Mit Tinas bestimmender, direkter Art kam sie ohnehin nicht sonderlich gut klar.

Ihre Freundinnen schienen damit keine Probleme zu haben.

Tina öffnete bereits die zweite Flasche Wein und schenkte großzügig nach – allen, außer sich selbst.

Tina trank augenscheinlich wenig. Ein einziges Glas Wein begleitete sie meist durch den ganzen Abend. Selbst ohne Alkohol wirkte Tina stets genauso überdreht wie Bea und Lena nach einer ganzen Flasche Wein: Tina unterstrich ihre Worte mit temperamentvollen Gesten. Wenn sie lachte, warf sie ihren Kopf in den Nacken und lachte laut und herzlich. Es war ein Lachen, das Jessi wohl auch nach ihrer Rückkehr nach Österreich noch lange in ihrer Erinnerung begleiten würde: kehlig und rau.

Dabei ging es stets um belanglose Themen. Tina war eine Meisterin des Smalltalks – und verstand sich gleichzeitig darauf, andere geschickt auszufragen. Bea und Lena erzählten bereitwillig von ihren Jobs und aus ihrem Leben. Gerade gab Bea jene Geschichte zum Besten, wo sie bei einem Dreh mit einem berühmten österreichischen Comedian und einer nicht ganz unbekannten Schauspielerin im Lift stecken geblieben war, und wie sie sich zu dritt auf halsbrecherische Weise befreiten, wobei der Comedian und einzige Mann in der Runde sich vor Angst fast in die Hose machte und gar nicht mehr so witzig war wie vor der Kamera. Bea erzählte das Erlebnis auf unterhaltsame Weise, aber Jessi, die die Geschichte zum dritten Mal in ihrem Leben hörte, begann sich zu langweilen.

Sie griff nach ihrem Handy. Zehn Nachrichten – alle von Patricia. Sie hatte Fotos geschickt – von sich und Petra, aber auch von anderen. Offensichtlich waren sie auf einer Party.

Ach, was habe ich die Crew hier vermisst, lautete Patricias Begleittext. Du verpasst eine coole Party mit dem besten DJ aller Zeiten.

Jessi betrachtete die Fotos eingehender. Als sie in den Gesichtern der Feiernden ihre ehemaligen Arbeitskollegen erkannte, entfuhr ihr ein heftiges: »Das gibt es doch nicht!«

Das Gespräch am Tisch verstummte abrupt. Drei Augenpaare waren auf sie gerichtet.

»Entschuldigung … ich bin nur …« Sie schüttelte den Kopf. Das passende Wort wollte ihr nicht einfallen.

»Darf ich?«

Lena wartete nicht auf eine Antwort und hatte das Handy bereits in der Hand. Jessi war es egal; in dieser Hinsicht hatte sie vor ihren Freundinnen keine Geheimnisse.

Als sie die Fotos sah, lachte Lena ungläubig, dann reichte sie das Telefon an Bea weiter.

»Hat deine Ex kein eigenes Leben?«

»Scheint so. Aber irgendwie ist es auch schmeichelhaft, wenn das Leben mit mir anscheinend so cool war, dass sie es im selben Stil weiterführen muss.«

Jessi nahm ihr Handy wieder an sich. Sie wollte das Thema nicht weiter vertiefen – nicht hier am Tisch, nicht vor ihrer Gastgeberin, die ihren Blick an die Hausmauer geheftet hatte. Die daran entlangkletternde große Spinne interessierte sie offenbar weit mehr als das Tischgespräch.

Umso weniger konnte Jessi nachvollziehen, was Bea dazu bewog, den nächsten Satz zu sagen: »Jessis Ex, Patricia, hat sie verlassen, als sie auf der Intensivstation lag und keiner wusste, ob sie überhaupt durchkommt. Und jetzt bringt sie ihre Neue überall dorthin, wo sie mit Jessi gern Zeit verbracht hat. Scheinbar will sie jetzt auch noch Jessis Freunde kapern.«

»Und nur, um das festzuhalten: Wir konnten Patricia noch nie leiden«, setzte Lena hinzu. »Aber leider hatte Jessi schon immer einen grauenhaften Frauengeschmack. – Bea, kannst du dich noch an Sabina erinnern? Die mit dem Faible für die Emo-Szene?«

»Oh mein Gott, jaaa!« Bea schlug sich auf die Stirn. »Die war gruselig. Aber nichts gegen diese aggressive Klimaaktivistin … wie hieß die noch?«

»Heli oder so ähnlich. Die hatte doch auch diesen dreibeinigen Hund? Der, der immer an Jessis Palme gepinkelt hat«, erwiderte Lena.

Jessi, die den Wortwechsel der beiden bisher ungläubig verfolgt hatte, fand ihre Sprache wieder.

»Entschuldigt mich kurz, aber ausgerechnet jetzt, wo es spannend wird, muss ich auf die Toilette.« Sie gab sich keine Mühe, den bissigen Sarkasmus in ihrer Stimme zu verbergen. Genauso wenig verbarg sie, dass sie nicht den Weg zum Klo einschlug.

Es war dunkel geworden. Nur im Inneren des Hauses brannte Licht und die Bäume warfen lange Schatten. Sie ging durch den Garten und stand schließlich an der Brüstung, von der aus sie freien Blick auf das Meer hatte. Der Mond spiegelte sich in der glatten Oberfläche. Am Horizont erkannte sie die Lichter eines Fischerboots. Grillen zirpten. Irgendwo bellte ein Hund, und gedämpfte Musik drang von der Taverne den Hügel hinauf.

Hinter ihr knackte ein Ast. Erschrocken fuhr sie herum. Es war Lena, die sich wortlos zu ihr gesellte. Eine ganze Weile starrten sie gemeinsam auf das Meer.

»Tut mir leid«, sagte Lena dann und hörte sich tatsächlich zerknirscht an. »Wir wollten nur Spaß machen. Normalerweise machst du selbst Witze über deine Exen. Ich hatte keine Ahnung, dass dich das mit Patricia noch immer so trifft.«

»Darum geht es nicht.«

»Worum dann?«

Um die Spinne an der Hausmauer.

»Es war nicht nötig, mich zu outen.«

»Äh … was?« Lena starrte sie sekundenlang irritiert an. »Bitte? – Seit wann hast du ein Problem mit deiner sexuellen Orientierung? Seit wir Teenager sind, machst du keinen Hehl darum – wofür ich dich im Übrigen immer bewundert habe.«

»Ja, aber das hier ist Griechenland. Die Leute hier sind viel unaufgeklärter und konservativer. – Hast du nicht gemerkt, wie abweisend Tina reagiert hat?«

Lena runzelte kurz die Stirn.

»So ein Blödsinn!«, platzte es dann aus ihr heraus. »Kaum warst du weg, hat sie gesagt, dass bei der Partnerwahl wohl jede schon ins Klo gegriffen hat … oder so etwas in der Art.«

»Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie ein Problem damit hat«, beharrte Jessi und ergänzte in Gedanken: Oder mit mir ein Problem hat.

Denn dass Tina mit Bea und Lena um einiges gesprächiger war und mehr scherzte, ließ sich wohl nicht leugnen.

»Das bildest du dir ein«, widersprach Lena. »Du magst sie nur einfach nicht.«

»Mögen ist das falsche Wort. Ich finde, sie ist unzugänglich. Und ich halte es noch immer für falsch, dass wir ihre Gastfreundschaft so missbrauchen.«

»Sie hat uns eingeladen. Außerdem wollten Bea und ich sowieso mit dir reden, wie es weitergehen soll. Hier ist es traumhaft, das steht außer Frage. Aber eben auch ruhig. Es dauert ewig, bis man über die Berge irgendwohin kommt. Wir sind nur noch eine Woche hier. Wir wollten noch so viel sehen: Elafonisi, die Samaria-Schlucht, Balos, Chania … Bea hat schon im Internet nach günstigen Appartements gesucht. Am Ortsrand von Stalos hätten wir ein Airbnb gefunden – ohne Balkon zwar, aber es gibt in der Nähe eine Bushaltestelle. Den Leihwagen wollen wir ja nicht noch eine weitere Woche zahlen.«

Jessi spürte, wie sich ihre Muskeln verkrampften. Gerade hatte sie angefangen, sich zu entspannen. Es war ja nicht so, dass sie all diese Ausflugsziele prinzipiell nicht interessieren würden. Deshalb war sie hergekommen. Doch bereits die ersten Tage hatten ihrem Körper mehr abverlangt, als er offenbar zu geben bereit war. Die Aussicht, tagsüber von einem Ort zum anderen zu hetzen, womöglich erneut irgendwo im Nirgendwo zu stranden, um abends in einem Zimmer ohne Klimaanlage auf einer durchgelegenen Matratze Schlaf zu finden, machte ihr Angst. Bloß was war die Alternative?

Wenn sie den Urlaub abbrach und vorzeitig nach Hause flog, würden ihre Eltern sie noch mehr bemuttern als zuvor.

»Und wann werden wir nach Stalos wechseln?«, fragte sie daher, um einen lockeren Tonfall bemüht. »Morgen schon?«

»Wir dachten an übermorgen. Morgen wollen wir hier in der Nähe ein ganztägiges Flusstrekking machen. Das soll absolut gigantisch sein!«

Einen Tag Schonfrist also.

»Okay … da komme ich nicht mit, das ist mir noch zu viel«, sagte sie daher. »Ich bleibe wieder am Strand.«

*

Am späteren Nachmittag wurde die Sonne angenehm. Jessi rückte ihre Liege aus dem Schatten des Schirms, legte sich auf den Rücken und genoss mit geschlossenen Augen die Wärme. Ihre Haut war inzwischen gut gebräunt. Wenn sie jetzt in den Spiegel schaute, blickte ihr nicht mehr ein blasser Geist entgegen, sondern beinahe die Jessi von früher. Auch ihre Wangen wirkten nicht mehr so eingefallen. Noch ein paar Wochen Nichtstun am Strand, und ich wäre wieder fit, ging es ihr durch den Kopf, da bemerkte sie eine Person neben sich.

»Darf ich?« Tina breitete ein Handtuch auf der freien Liege aus und streifte ihr luftiges Sommerkleid ab. Der weiße Bikini darunter war so knapp geschnitten, dass er mehr preisgab als verbarg.

Jessis sah rasch zur Seite. Dass ihre Gastgeberin an den Strand kam, war neu.

»Wenn du lieber allein sein willst, kann ich mir auch eine Liege am anderen Ende aussuchen. Zum Beispiel neben dem krebsroten Sonnenanbeter links oder dem übergewichtigen Glatzkopf im Männertanga. Ich kann mir vorstellen, dass sich die beiden über Gesellschaft freuen.« In Tinas Tonfall schwang Belustigung mit, so als würde sie ohnehin nicht den Platz wechseln.

»Nein … entschuldige … ich … ich bin nur überrascht, dass du hier bist.«

»Freitag. Ich … wie sagt man das … läute das Wochenende ein.«

Tina schaute zum Meer.

»Was ist? Kommst du mit?«

Peinlich berührt von ihrem eigenen Verhalten, das auf Tina äußerst unhöflich gewirkt haben musste, wollte Jessi ihr keine Abfuhr erteilen. Während sie ihr über den Strand zum Wasser folgte, fragte sie sich jedoch mit leichter Sorge, was sie mit ihr reden sollte. Dass sie nicht auf einer Wellenlinie lagen, zeigte sich ja wohl immer deutlicher.

Tina tauchte sofort unter. Als ihr Oberkörper sich wieder aus den Wellen hob, zeichneten sich ihre Brustwarzen deutlich unter dem Bikini ab.

Jessi verstand sich selbst nicht: Tina entsprach weder körperlich noch von ihrer Persönlichkeit her dem Typ Frau, auf den sie gewöhnlich reagierte. Und trotzdem konnte sie den Blick kaum von ihr abwenden.

Vermutlich bin ich einfach nur sexuell ausgehungert.

Mit leichter Resignation dachte sie daran, dass knapp zwölf Monate vergangen waren, dass sie das letzte Mal mit einer Frau geschlafen hatte: Patricia. In Indien.

»Schwimmen wir ein bisschen, okay?«

Tina setzte sich die kleine Schwimmbrille auf, die bisher lose um ihren Hals gebaumelt war und warf sich in die Fluten. Jessi folgte ihr, froh darüber, keine Gesprächsthemen suchen zu müssen. Allerdings erkannte sie recht rasch, dass von gemeinsam schwimmen keine Rede sein konnte. Kaum im tieferen Wasser, kraulte Tina los und gab dabei ein Tempo vor, bei dem Jessi niemals hätte mithalten können.

Also drehte sie um und schwamm zum Ufer zurück. Von ihrer Liege aus sah sie, wie Tina eine ganze Weile später wieder aus dem Wasser stieg und zur Süßwasserdusche ging. Danach kreuzte sich ihr Weg mit dem des Tavernenwirts. Sie wechselte einige Worte mit ihm, begleitet von ihrem kehligen Lachen.

Als sie zur Liege zurückkehrte, schenkte sie Jessi ein flüchtiges Lächeln, dann legte sie sich hin und schloss die Augen.

Jessi hatte ihren eReader vor sich liegen, konnte sich aber nicht länger auf die Geschichte konzentrieren. Verstohlen ließ sie ihren Blick über Tinas Körper schweifen.

Ein trainierter Körper … Unwillkürlich verharrten ihre Augen an Tinas Brüsten. War der Busen einer Frau über vierzig tatsächlich von Natur aus so prall und fest? Oder hatte sie nachgeholfen?

Wie auch immer. Das Ergebnis war … sexy.

Jessi erschrak vor ihren eigenen Gedanken und versuchte, sich erneut auf ihren eReader zu konzentrieren.

Es gelang ihr nicht.

»Was liest du?«

Jessi zuckte zusammen. Tina drehte sich auf die Seite, stützte den Kopf in die Hände und erwartete offenbar tatsächlich eine Antwort. Hatte sie ihr Starren bemerkt?

»Äh … Liebes … Liebesgeschichte«, stammelte Jessi peinlich berührt. »Nichts Besonderes.«

»Worum geht es?«

Jessi konnte sich kaum vorstellen, dass Tina sich für ihre Lektüre interessierte. Es war wohl eher das Bemühen um Konversation.

»Zwei treffen sich am Flughafen, knutschen herum und etwas später stellt sich heraus, sie sind Kolleg…Kolleginnen. Es ist ein … nun ja, ein Liebesroman mit zwei Frauen.«

Unter ihren Kollegen hatte sie stets als eloquent gegolten, doch offensichtlich war auch diese Eigenschaft im Krankenhaus verkümmert.

Tina verzog keine Miene.

»Und werden sie sich am Ende kriegen?«

»Bestimmt. In dieser Art von Romanen ist das immer so.«

Trotz Tinas Nachfrage wollte Jessi den homosexuellen Aspekt ihrer Lektüre nicht weiter vertiefen. Nach wie vor war sie der Überzeugung, dass ihre Gastgeberin am Vorabend sehr distanziert auf ihr Outing reagiert hatte.

»Ich lese schon auch andere Bücher«, schob sie daher hinterher. »Ich meine, Anspruchsvolleres.«

»Wie zum Beispiel?«

Jessi wurde rot. Warum hatte sie das gesagt?

Sie schluckte.

»Thriller und Krimis, meistens von skandinavischen Autoren«, gab sie zu. »Okay … ich gebe zu, so anspruchsvoll ist das auch nicht. Ich bin nicht so … äh … der Literaturfan.«

Tina grinste. »Warum ist dir das peinlich?«

Jessi setzte sich auf und strafte die Schultern. Warum waren Gespräche mit Tina für sie wie eine Art Spießrutenlauf, während Bea und Lena locker mit ihr plaudern konnten?

Sie atmete tief durch.

»Vielleicht, weil ich nicht als intellektuelle Flachzange dastehen will.«

»Flachzange? Was ist das?«

»So was wie ein Dummkopf.« Eine bessere Erklärung fiel Jessi spontan nicht ein.

Tina runzelte irritiert die Stirn.

»Ich habe mich in der Schule durch Böll, Heine und Manngequält. Das hat mich so nachhaltig traumatisiert, dass ich seither nur Netflix schaue.«

»Das liest man auch in Griechenland?«

»Nein. In Deutschland natürlich.« Tina schien erst jetzt zu begreifen, woher Jessis Verwirrung rührte. »Ich bin ein paar Jahre lang in Deutschland zur Schule gegangen«, erklärte sie – und fügte dann hinzu: »Meine Eltern haben sich nicht ganz so gut verstanden. Als ich vierzehn war, zog meine Mutter mit mir nach Düsseldorf, in ihre Heimat. Ich bin erst später wieder nach Griechenland zurückgekehrt.«

Die erste richtig private Information, ging es Jessi durch den Kopf.

»In dem Alter in ein anderes Land mit anderem Schulsystem zu wechseln, stelle ich mir herausfordernd vor. Wie ging es dir damit?«

»Es war natürlich schrecklich«, gab Tina offen zu. »Das ganze Leben in Deutschland … Es war so anders. Ich habe es anfangs gehasst. Die Leute waren so steif, so förmlich … und mir war immer kalt. Es wurde erst besser, als ich mit dem Schwimmen angefangen habe. Da habe ich dann Freunde gefunden und es hat mich insgesamt abgelenkt.«

»Mit dem Schwimmen?«

»Ja, ich habe am Schluss mit dem deutschen Schwimmkader trainiert, das war schon eine gute Zeit. Ich war sogar ganz nah dran, in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden. Das Schwimmen war eine ganze Zeit lang mein Leben.«

»Wow«, sagte Jessi beeindruckt. »Nationalmannschaft. So weit bist du gekommen. – Woran ist es dann gescheitert?«

»An der deutschen Staatsbürgerschaft. Die hätte ich annehmen müssen, aber ich wollte und konnte meinen griechischen Pass nicht aufgeben.«

»Kann man nicht eine doppelte Staatsbürgerschaft haben?«

»Jetzt ja, aber damals war das nicht so einfach. Das war nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich. Es wäre sehr kompliziert gewesen, das durchzusetzen … und letztendlich war mir meine griechische Familie wichtiger.«

»Aber du schwimmst noch immer?«

»Nur für mich. Es hält mich fit.«

Ein Mann sagte etwas auf Griechisch.

Jessi sah auf und entdeckte den Tavernenwirt, der mit einem Tablett vor ihrer Liege stand.

Bevor sich Jessi einen Reim darauf machen konnte, hatte er auch schon zwei Aperol Spritz auf dem Tischchen zwischen ihren Liegen serviert. Er wechselte einige Worte mit Tina, wobei beide ihren Spaß zu haben schienen und Jessi den Eindruck nicht los wurde, dass es in dem Gespräch um sie ging.

»Jamas!«, sagte Tina und hob das Glas, kaum, dass er ihr den Rücken gekehrt hatte. Sie hatte sich aufgesetzt.

»Jamas.«Jessi nahm einen Schluck. Der Aperol-Mix schmeckte besser als erwartet. »Danke für den Drink. Aber es wäre nicht nötig gewesen …«

Tina wischte ihren Einwand mit einer lapidaren Geste vom Tisch. »In meinem Land ist es sehr unhöflich, eine Einladung abzuschlagen. Obwohl ich gerade von Dimitrios erfahren habe, dass du das schon getan hast.«

Tinas Grinsen war ansteckend. Auch Jessi lächelte.

»Darüber habt ihr also geredet. – Ja, du hast recht, ich lasse mich nicht von jedem auf ein Getränk einladen. Wenn mir der Typ, der diesen Bananaboot-Spaß da drüben anbietet, unbedingt einen Cocktail zukommen lassen will, bin ich lieber radikal unhöflich, als mich den Rest des Urlaubs gegen seine Anmachsprüche wehren zu müssen.«

»Dann habe ich wohl Glück, dass ich mich für einen gemeinsamen Drink qualifiziert habe – jetzt, wo ich weiß, wie radikal du bist.«

»Solange du auf plumpe Anmache verzichtest, liegen deine Chancen gut.«

Erst Tinas schwer einzuordnender Gesichtsausdruck machte Jessi bewusst, was sie da gesagt hatte. Das Blut schoss ihr in den Kopf, und ihr wurde heiß.

Sie setzte bereits zu einer Entschuldigung an, als Tina hörbar amüsiert erwiderte: »Gut zu wissen. Du willst also nicht hören, wie wunderschön du bist. Was dann?«

Tina nahm sie zweifelsohne auf den Arm.

»Gar nichts.« Jessi fühlte sich überfordert. »Ich meine, ich will einfach etwas mit Substanz hören. Nicht so etwas Abgedroschenes. Und vor allem will ich kein Kompliment von jemanden bekommen, dessen einzige Absicht ist, mich damit ins Bett zu kriegen. Auch nicht von einer Frau.«

»Und was müsste jemand sagen, um dich ins … um dich zu begeistern?«