Lass keine Fremden ins Haus - Carolin Schairer - E-Book

Lass keine Fremden ins Haus E-Book

Carolin Schairer

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Beschreibung

Die Frau ist unfassbar schön, aber das ist nicht das einzig Verwirrende an ihr. Denn außerdem trägt sie zerrissene Kleider und einen einzelnen Stiletto … Die mysteriöse Begegnung geht Laura nicht mehr aus dem Kopf. Als Krimiliebhaberin entschließt sie sich, hinter das Geheimnis der Namenlosen zu kommen – und tut etwas, das in ihrem eher grauen Leben viel Staub aufwirbeln wird. Denn jäh findet sie sich in einer realen Kriminalgeschichte mit internationalen Verstrickungen wieder. Carolin Schairer präsentiert hier eine packende Melange aus Wirtschaftskrimi(nalität) und der erwachenden Liebe zweier höchst ungleicher Frauen.

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Seitenzahl: 395

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Inhalt

 

Lass keineFremden ins Haus

Über Carolin Schairer

Carolin Schairer 

Lass keine

Fremden ins Haus

 

 

Roman

 

 

Ulrike HELMER Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

ISBN (eBook) 978-3-89741-947-6

ISBN (Print) 978-3-89741-311-5

 

© 2019 eBook nach der Originalausgabe

© 2011 Originalausgabe Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/TaunusAlle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NLunter Verwendung des Fotos »belle à 40 ans«, © Eleonore H / fotolia

 

Ulrike Helmer Verlag

Blütenweg 29, D-64380 Roßdorf b. Darmstadt

E-Mail: [email protected]  

www.ulrike-helmer-verlag.de

LAURA sah nervös auf die Uhr, obwohl ihr klar war, dass sie noch eine Viertelstunde warten musste. Barbara kam zu ihren Treffen generell mit viertelstündiger Verspätung. Etwas zu wissen hieß jedoch noch lange nicht, sich damit auch abzufinden, und gerade an diesem Abend war jede Minute, die sie auf sie warten musste, sechzig Sekunden zu lang.

Seit Wochen hatte sie auf die Gelegenheit gewartet, Barbara nach Feierabend endlich einmal allein zu treffen. Als Christine den gemeinsamen Kinobesuch vor zwei Tagen wegen einer dringenden Familienangelegenheit absagen musste, war Laura innerlich vor Freude fast geplatzt. Barbaras Vorschlag, den Kinobesuch dann doch einfach auf die folgende Woche zu verschieben, wenn alle drei Zeit hatten, traf sie hart in der Magengrube. So war sie geistesgegenwärtig mit der Behauptung dazwischengefahren, sie habe die Kinokarten aber schon gekauft. Ihre spontane Reaktion erfüllte sie auch jetzt noch mit Stolz, zu dem sich allerdings leichte Schuldgefühle gesellten: Christine hatte sich nicht davon abhalten lassen, ihr die Kosten für die Kinokarte zu erstatten. Reuig nahm Laura sich vor, dies am Ende des Jahres mit einem entsprechend größeren Weihnachtsgeschenk wieder auszugleichen.

Stolz war sie auch darauf, Mutter erfolgreich ausgespielt zu haben. Die Tickets, dank derer die alte Dame nun in Begleitung ihrer besten Freundin Berta in die Oper ging, hatten sie zwar ein halbes Vermögen gekostet, aber immerhin ihren Zweck erfüllt: Laura hatte die Wohnung eine kostbare Stunde für sich allein, um sich in Ruhe auf ihr Treffen mit Barbara vorzubereiten. Dann verließ sie das Haus in einem neuen, dekolletierten Kleid, mit wehendem Haar und dieser Art von Make-up, bei dem eine gewisse Sorte Mütter sofort misstrauisch geworden wäre. Dass ihre Tochter demnächst achtundzwanzig Jahre alt wurde, hinderte auch Anna Maria Eisner bisher leider nicht daran, ihr »eigen Fleisch und Blut« immer noch zu kontrollieren wie ein tollpatschiges Kleinkind, das vor Fehltritten bewahrt werden musste. Die Empörung darüber versetzte Laura nur leider nicht in den Stand, sich mit einem Schlag zu befreien. Daher träumte sie gern von Schlägen, die von außen kämen. Unruhig ging sie vor dem Kino auf und ab. An einer staatlichen Wiener Schule war eine Schülerin unter dem tonnenschweren Schultor begraben worden. In Gedanken sah Laura nun ihre Mutter gemessenen Schrittes die Staatsoper betreten, während das große offene Holztor bedrohlich aus den Scharnieren geriet … Die Vorstellung ließ sie schmunzeln.

Ihr Schmunzeln wurde zu einem breiten Lächeln, als sie Barbara um die Ecke biegen sah. Barbaras langes, dunkles Haar floss gleichmäßig über ihre schmalen Schultern. Und auch sie lächelte, ja, sie erwiderte Lauras Lächeln schon von Weitem. Lauras Herz begann unruhig zu flattern. Als Barbara sie umarmte und mit zwei flüchtigen Küssen auf die Wangen begrüßte, musste sie ihre ganze Selbstbeherrschung aufwenden, um sie nicht ein paar Sekunden länger als bei einer gewöhnlichen Begrüßung unter Kolleginnen zu umarmen.

»Du lieber Himmel, hast du heute noch etwas Größeres vor?« Barbaras Blick glitt an ihr herab. »Ich habe dich noch nie in einem Cocktailkleid gesehen!«

Laura fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Was, wenn sie mit ihrem Aufzug genau das Gegenteil von dem erreichte, was sie eigentlich bezwecken wollte?

»Gefällt es dir nicht?«, fragte sie ängstlich.

»Du siehst phantastisch aus!« Barbara legte den Kopf schief. Ihr Augenlid zuckte – ein Tick, den Laura besonders lieb gewonnen hatte. »Aber … ein Cocktailkleid für einen Kinobesuch? – Ich komme mir neben dir vor wie Aschenputtel mit meiner alten Jeans und der Jacke.«

»Es ist eigentlich nur ein Sommerkleid mit Spaghettiträgern. Den Bolero trage ich bloß darüber, weil … na, es ist abends schon etwas frisch«, beschwichtigte Laura verlegen, während sie in Gedanken ergänzte: Und du siehst immer super aus. Egal, was du trägst. Nicht auszudenken, wie gut du erst aussähest, wenn du gar nichts mehr trügest.

Sie behielt es für sich. Vielleicht bot sich später eine bessere Gelegenheit. Vielleicht, vielleicht …

»Wir sollten jetzt hineingehen«, meinte sie stattdessen. »Der Film beginnt in ein paar Minuten.«

Barbara hob ihre dunklen, schmalen Augenbrauen.

»Wollten wir nicht vorher drüben in der Bar ein Gläschen trinken gehen?« Noch ehe Laura etwas erwidern konnte, gab sie sich selbst die Antwort. »Herrje, ich bin wahrscheinlich wieder zu spät! – Egal, dann werden wir das eben nach der Vorstellung tun.«

Es läuft alles prima, beruhige dich, ermahnte sich Laura, als sie später neben Barbara im Kinosaal saß, nur getrennt durch eine schmale, mit Polsterstoff überzogene Seitenlehne.

Trotzdem gelang es ihr nicht, sich auf den Film einzulassen. Johnny Depp begeisterte sie genauso wenig wie Orlando Boom, und Piraten, die sich bei Mondschein in lebende Skelette verwandelten, verursachten ihr nicht einmal einen Hauch von Gänsehaut. Da war es etwas ganz anderes, wenn ein schwarz maskierter Mann nachts über ein Kellerfenster die Hintertür zum Haus aufbrach und sich mit einer Pistole in der Hand leise in Richtung des Schlafzimmers schlich, in dem ein älteres Ehepaar selig schlief. Das passierte schließlich täglich!

Den Film hatte Barbara ausgesucht, und sie erlebte die Handlung sichtlich mit. Als einer der Piraten seine Hand nach der schönen Gouverneurstochter ausstreckte, schrie sie erschrocken auf und griff nach Lauras Arm. Laura hatte den Bolero längst ausgezogen, und Barbaras Finger gruben sich in die nackte Haut. Ihr wurde heiß. Sehr heiß.

Jeglicher Widerstand, alle Vorsätze schmolzen dahin. Laura zog Barbara mit der linken Hand dicht an sich, während sie mit der rechten schnell die Armlehne zwischen ihren Sitzen hochklappte. Ihre Schenkel berührten sich. Ein warmer Schauder lief ihr über den Rücken. Sie kuschelte sich eng an Barbaras Schulter. Die fühlte sich weich an, weicher, als sie erwartet hatte. Ihr Hals roch leicht nach Zedern und einem Hauch von Zimt.

Barbaras Hand, die noch immer auf ihrem nackten Arm lag, streichelte ihr nun sanft über die Haut. Laura wagte sich kaum zu bewegen. Das Herz klopfte im Staccato, und sie hatte Mühe, überhaupt noch zu atmen. Was sie sich in ihren kühnsten Träumen – und davon hatte sie in den vergangenen Wochen einige gehabt – ausgemalt hatte, hier nun wurde es wahr: Barbara Rodriguez berührte sie.

Vielleicht ist es nur Zufall, meldete sich ihre Ratio zu Wort. Vielleicht meint sie es rein freundschaftlich. Doch ein jäher, piratenhafter Mut ließ ihre Bedenken schwinden. Langsam hob sie den Kopf, bewegte ihn Barbaras vollen Lippen entgegen …

»Willst du dir wirklich den ganzen Abspann anschauen?«

Laura riss die Augen auf. Ungläubig blinzelte sie in den erleuchteten Kinosaal. An der Leinwand zogen bereits die Namen der Nebendarsteller vorbei. Rechts von ihr stauten sich unwillige Besucher, die sich durch den Damm zweier sitzender Frauen davon abgehalten sahen, zum Ausgang zu gelangen. Die Polsterlehne befand sich noch immer zwischen ihren Sitzen. Barbara war inzwischen aufgestanden und wandte sich zum Gehen.

»Komm schon, Laura. Lass uns die Bar gegenüber stürmen, ehe die anderen im Saal auf dieselbe Idee kommen!« Sie grinste vergnügt.

Draußen hatte es noch mehr abgekühlt. Laura fröstelte nun; der Bolero änderte wenig daran. Der Temperatursturz ernüchterte sie vollständig.

Nichts war passiert, nichts. Wieder einmal hatte sie die Chance, die sich ihr bot, nicht genutzt!

»Das war ein toller Film«, sagte Barbara unbefangen, während sie die Straße überquerten. »Ich finde, wir sollten öfter zusammen ins Kino gehen. Oder auch mal was anderes gemeinsam unternehmen.«

Laura schöpfte Hoffnung. Es würden sich also weitere Gelegenheiten bieten. Irgendwann würde sie piratenmutig genug sein, um Barbara deutlich zu zeigen, dass sie nicht nur eine gewöhnliche Freundin und Kollegin für sie sein wollte!

Die Villa stand auf einer Anhöhe. Das gusseiserne Tor quietschte, als sie es öffnete, das Schloss hinterließ einen bräunlichroten Fleck auf ihrem Handschuh. Unter ihren Füßen knirschte der Kies, als sie sich dem feudalen Eingangsportal näherte.

Ein ungestümer Herbstwind ließ die Bäume rauschen. Fröstelnd blieb sie stehen und zog ihren Mantel zusammen. Sie fühlte sich beobachtet. Hinter den großen Fenstern an der Vorderseite des Gebäudes regte sich jedoch nichts. Obwohl es dämmerte, brannte kein Licht. Das irritierte sie; schließlich wurde sie erwartet.

Links von ihr lag ein Park, dessen Ausmaße sie nur erahnen konnte. Sie hatte bei ihrer Arbeit viele Villen dieser Art gesehen, einige davon besser erhalten als diese. Doch keine war von so viel Eigengrund umgeben. Auf der Fahrt hatte sie den letzten Weiler schon lange passiert, ehe sie auf die kleine Schotterstraße abgebogen war. Wenn sie jetzt dem Gebäude den Rücken zukehrte, konnte sie die Dächer des Dorfes sehen. Aus einigen Schornsteinen stieg Rauch auf.

Pappeln, Kastanienbäume und Akazien bogen sich unter dem Ansturm der nächsten Böe. Hinter einer Rosenhecke lag eine Wiese voll von klebrigem Laub, das der Regen der letzten Tage durchnässt hatte. Dürre Rosenzweige ragten in den Weg. Sie setzte ihren Fuß auf die erste Stufe der steinernen Treppe, die zu einer blauen Eingangstüre führte. Hinter ihr knackste ein Ast, sie zuckte zusammen und fuhr herum. Die Bäume bogen sich erneut im Wind. Die alte Akazie ächzte. Ein einzelnes Blatt löste sich von einem fast schon kahlen Ast und segelte zu Boden.

Ihr Herz schlug schnell und laut gegen ihre Brust.

Lächerlich, einfach lächerlich. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Nicht sie. Und vor allem nicht auf so plumpe Art. Sie würde sich nicht vor dem Leben verstecken wegen einer kindischen, aus Ärger und Wut erwachsenen Drohung.

Entschlossen betätigte sie den großen Klingelknopf rechts neben dem Einlass. Kein Summen, kein Gong, keine Melodie. Im Zweifel, ob die Türglocke funktionierte, drückte sie den Knopf erneut.

Ein »idyllisches Anwesen«. Die Beschreibung drängte sich ihr unwillkürlich auf, es war eine Art Berufskrankheit, in Begriffen wie »idyllisch« oder »lichtdurchflutet« zu schwärmen. Ihr Blick fiel auf die Risse im Verputz, direkt über der doppelflügeligen Eingangstüre, unter deren blauem Lack narbiges Holz durchbrach.

Drinnen näherten sich Schritte. Ausladende, entschlossene Schritte auf festen Sohlen, ganz und gar nicht das Schlurfen eines alten Menschen, das sie erwartet hatte. Mit Macht unterdrückte sie das spontane Bedürfnis, sich einfach umzudrehen und wegzulaufen.

Sie gehörte schließlich nicht zu diesen Frauen, die sich ständig in der Opferrolle sahen, die vor allem und jedem Angst hatten, am meisten vor dem Leben.

Mit quälender Langsamkeit drehte sich der Schlüssel im Schloss. Sie straffte die Schultern.

Die Türe wurde geöffnet. Ein Mann mittleren Alters stand vor ihr, ein dünnes Lächeln im Gesicht. Ihr eigenes Lächeln gefror; unwillkürlich wich sie zurück.

»Du …?!«

»Ich weiß, du hast jemand anderen erwartet. Ich kann das erklären. Komm doch bitte herein.«

Sie rührte sich nicht in der Stelle. »Was willst du hier?« Die Schärfe in ihrer eigenen Stimme stand im scharfen Kontrast zu seinem warmen, angenehmen Tenor.

»Mit dir reden. Ein ganz normales, ruhiges Gespräch führen. Das ist alles, was ich will.«

»Ich wüsste nicht, was es zwischen uns noch zu reden gibt.«

Er trat zur Seite und wies mit einladender Geste ins Hausinnere. »Komm doch erst einmal herein. Es gibt hier weiß Gott gemütlichere Orte, um alte Zeiten aufzufrischen.«

»Ich habe daran kein Interesse. Es gibt nichts zu sagen. Ich bin hier, um meinen Job zu tun! Das Leben geht schließlich weiter. Mein Leben geht weiter. Im Gegensatz zu euch habe ich eine Zukunft. – Wo ist die Besitzerin des Hauses? Ich habe einen Termin mit ihr.«

»Du solltest dich einmal hören: So verbittert. So böse.« Sein Tonfall verlor nicht an Gelassenheit. »In deinen Augen stehe ich also auf der Seite des Bösen. Das enttäuscht mich. Ich habe versucht, mich mit dir zu treffen, mehrmals. Leider hebst du nicht ab, wenn ich dich anrufe. Und deine Sekretärin stellt mich nicht zu dir durch. Ich war also gezwungen, zu einem kleinen Trick zu greifen, wenn ich mit dir in Ruhe reden will. Die Hausbesitzerin ist meine Patentante. Mir blieb nichts anderes übrig, als sie zu bitten, mit dir diesen Termin zu arrangieren.«

Sie verharrte noch immer auf derselben Stelle. »Wenn du glaubst, dass es eine gute Idee war, mich ins Nirgendwo zu lotsen, um ein Gespräch zu führen, muss ich dich enttäuschen. Ich sehe keine Veranlassung, mit dir über Dinge zu sprechen, über die wir schon oft genug diskutiert haben.«

»Ich will dir ein Angebot machen«, stellte er klar. »Wenn es dich nicht interessiert, werde ich das akzeptieren und dich nie wieder belästigen. Das einzige, worum ich dich bitte, ist eine Viertelstunde. Du musst zugeben, das wäre nur fair, nach all den Jahren.«

»Merkwürdig, das Wort aus deinem Munde zu hören«, erwiderte sie süffisant. Dennoch trat sie einen Schritt nach vorne. Der Wind hatte an Intensität zugenommen, es begann zu tröpfeln.

»Ich weiß, dass ich nicht immer fair war. Und das tut mir leid. Aber du musst Gleiches nicht mit Gleichem vergelten, oder?«

Ein dicker Regentropfen zersprang auf ihrer Stirn, ein weiterer traf ihre Lippen.

»Bitte!«, schob er nach. »Nur fünfzehn Minuten.«

Sie gab sich einen Ruck. Was war schon dabei. Fünfzehn weitere Minuten ihres Lebens, dann hatte sie ihn los.

»Aber das ist das letzte Mal, dass ich mit dir sprechen werde«, stellte sie klar, während sie ihm ins Hausinnere folgte. Er nahm ihr galant den Mantel ab, den er unter seinen eigenen hängte, obgleich es noch freie Kleiderbügel gab.

Gleichzeitig nahm die Architektur des Hauses ihre Aufmerksamkeit gefangen: das offene Treppenhaus mit seiner ausladenden Treppe erstreckte sich über drei Stockwerke; wenn sie den Kopf hob, konnte sie bis an die Decke sehen.

Er war ihrem Blick gefolgt und betätigte nun einen Lichtschalter. Bruchteile von Sekunden später war das Deckengemälde hell beleuchtet. Eingefasst von Stuck, schwebten musizierende Putten.

»Untypisch für ein Haus wie dieses, ich weiß«, meinte er. »Aber der Besitzer hatte ein Faible für barocke Kunst und ließ es in den achtziger Jahren anbringen. Zuvor soll es an dieser Stelle eine simple Holzdecke gegeben haben.«

»Sagtest du nicht, die Besitzerin sei deine Patentante?«

Sie folgte ihm quer durch die Eingangshalle in ein großes Zimmer. Im offenen Kamin brannte Feuer, auf dem dunkelbraunen Teetisch standen zwei Weingläser und eine bereits geöffnete Flasche. Er hatte fest damit gerechnet, dass sie eintreten würde. Dass er Recht behalten hatte, grämte sie.

Auf seine Aufforderung hin nahm sie auf einem der beiden altmodischen Polsterstühle Platz. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. An den Wänden hingen Ölgemälde, alle zeigten biblische Szenen. Erneut fühlte sie sich an eine Kirche erinnert.

Neben einem Sekretär, der zwischen den zwei von schweren Brokatvorhängen gesäumten Rundbogenfenstern an der Wand stand, tauchte ein Deckenfluter mit einer kitschigen goldenen Metallverzierung den Raum in schummriges Licht. Einen kurzen Moment lang fragte sie sich, weshalb sie das Licht nicht von außen gesehen hatte, obwohl die Vorhänge offen waren. Ein Blick hinaus in die Dämmerung lieferte ihr die Erklärung: der Raum lag auf der Rückseite des Hauses. Durch die von Regentropfen benetzten Scheiben konnte sie einen weiteren Teil des Gartens erkennen, wilder und verwachsener als auf der Vorderseite. Diese Vegetation hatte lange keinen Gärtner gesehen.

»Es ist ein wunderbares Haus«, riss seine Stimme sie aus ihren Gedanken. »Über hundertfünfzig Jahre alt. Ursprünglich von einem Landadeligen als Sommerdomizil erbaut, kaum genutzt … die Erben brauchten Geld und verkauften es an einen jüdischen Kaufmann. Dann kam der Zweite Weltkrieg, der Kaufmann musste flüchten ...«

»Fünfzehn Minuten«, unterbrach sie ihn. »Komm zur Sache.«

Er griff nach der Flasche und schenkte Rotwein in beide Gläser.

»Nach dem Krieg stand das Haus längere Zeit leer und wurde dann versteigert. Der Besitzer war ein ausgesprochener Weinliebhaber und ließ einen Großteil des Souterrains in einen Weinkeller umfunktionieren. Da unten lagern ganze Schätze! Du wirst staunen, wenn ich dir das zeige. Das hier ist zum Beispiel ein Bordeaux St. Emilion 1989.«

Er reichte ihr das Glas und prostete ihr zu.

Sie lächelte, denn sie waren beide große Weingenießer. Aufmerksam nahm sie einen Schluck und verkostete. Der Wein war wirklich sensationell.

»Wo ist deine Großtante jetzt?«

Er lehnte sich im Polsterstuhl zurück, balancierte das Weinglas kunstvoll auf seinem Oberschenkel, ohne es jedoch ganz aus der Hand zu lassen.

»Eine alte Freundin besuchen. Ich habe sie weggeschickt, um mit dir alleine zu sein.«

»Du hast noch ganze zwölf Minuten. Die Zeit läuft.«

Sein Seufzen wirkte auf sie theatralisch.

»Meine Liebe. Ich weiß, du hast einige sehr leidvolle Monate hinter dir. Ich verstehe, dass du momentan vom Leben enttäuscht bist.«

»Irrtum! Ich bin nicht vom Leben enttäuscht, sondern von dir.«

Er ließ sie weiterreden. »Ja ja, wie auch immer. Du bist enttäuscht, und ich verstehe das. Ich kann dir nur nochmals versichern, dass das ein ganz großes Missverständnis ist, was die geschäftliche Seite anbelangt. Ich wurde von den Entwicklungen genauso überrascht wie du. Ich wusste nichts davon. Das lag allein in den Händen deines Mannes. Mein einziger Fehler war, dass ich zu lange die Augen zugemacht habe, mich zu wenig ums Geschäft gekümmert habe.« Er senkte die Stimme und starrte in sein Weinglas. »Die letzten Monate waren auch für mich nicht leicht. Es ist alles andere als erbaulich, erkennen zu müssen, dass man von allen Seiten betrogen wird … allem voran von seiner eigenen Frau.«

Sie griff nach ihrem Glas.

»Von der eigenen Frau, von der Frau, die man liebt – und von seinem Freund«, fuhr er fort. »Das ist bitter. So, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.«

»Was du nicht sagst.« Sie nahm einen Schluck Wein.

»Ich weiß, dass es für dich auch ein schwerer Schlag gewesen sein muss. Aber im Gegensatz zu mir warst du an all dem nicht unschuldig.«

»Reden wir nun über das Geschäftliche oder gleitest du ab ins Private?«

Die Süffisanz in ihrem Tonfall war nicht zu überhören. Er ging nicht darauf ein.

»So leicht ist das in unserem Fall ja nicht voneinander zu trennen.«

»Für mich war es nur eine Affäre«, stellte sie klar. »Ich hatte nie mehr im Sinn.«

»Ach ja?« Er stellte sein Weinglas schwungvoll auf den Tisch und beugte sich nach vorn. Zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen verlor die Souveränität, die er ausgestrahlt hatte, an Glaubwürdigkeit. »Dann hat es dich also nicht getroffen, dass sie dich mit deinem Mann betrogen hat – oder dein Mann dich mit ihr? Hat dich das völlig kalt gelassen? – Tut mir leid, das nehme ich dir nicht ab!«

»Angesichts des Geschäftlichen haben diese privaten Turbulenzen für mich erheblich an Bedeutung verloren«, erwiderte sie unbewegt. »Zum Glück hatte ich immerhin in beruflicher Hinsicht den Weitblick, in letzter Sekunde die Notbremse zu ziehen.«

»Das heißt, dein Entschluss steht wirklich fest? Du willst alles aufgeben, uns in der Luft hängen lassen und dann öffentlich zur Steinigung an den Pranger stellen?«

»Wir sind hier in Österreich. Die Gefahr einer öffentlichen Steinigung kannst du also getrost vergessen.« Sie sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr. »Dir bleiben noch fünf Minuten. Wenn du mir also etwas wirklich Relevantes zu sagen hast, dann tu es jetzt, denn dann bin ich weg und werde dafür sorgen, dass sich unsere Wege erst wieder vor Gericht kreuzen.«

Er schenkte Wein nach, als überhöre er ihre Worte. »Betty hat mich vor ein paar Tagen aufgesucht und mir unter Tränen erklärt, dass alles ein großer Irrtum war. Sie hat mich auf Knien um Verzeihung gebeten. Sie will den Rest ihres Lebens an meiner Seite verbringen, hat sie gesagt. Ich denke, ich werde ihr verzeihen.«

»Das freut mich für dich«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. »Dann scheint zumindest dein Privatleben eine erfreuliche Wendung zu nehmen.«

»Es ist für mich eine Alternative, aber nicht der Königsweg«, erwiderte er. Er machte eine Pause und sah sie erwartungsvoll an. Betont lässig griff sie nach ihrem Weinglas und trank einen Schluck, sagte aber nichts.

Er stand auf, schob den Polstersessel nahe an den ihren heran und lehnte sich noch näher zu ihr als zuvor. Ihre Beine berührten sich fast.

»Wir beide haben uns immer gut verstanden – mehr als das, würde ich sagen. Ich weiß bis heute nicht, warum du dich eigentlich für ihn entschieden hast und nicht für mich. Sieh uns beide an: Wir sind Erfolgsmenschen. Wir haben dieselben Werte, dieselben Ziele. Wir sind gewohnt, hart zu arbeiten und viel zu erreichen. Wir haben schon bewiesen, dass wir gut darin sind, gemeinsam Geschäfte zu machen. Wir haben etwas aufgebaut. Aus dem Nichts. Wir werden das auch ein zweites Mal schaffen, an einem anderen Ort.«

Sie atmete tief durch. Seine Augen ruhten hoffnungsvoll auf ihr.

»Du hast den Ernst der Lage noch immer nicht begriffen, nicht wahr? – Die Finanzmarktaufsicht hat längst Wind von der Sache. Das sind Profis. Die finden, wonach sie suchen, keine Sorge, und wenn sie die ganze Firma auseinandernehmen müssen. Das Spiel ist aus, begreif es endlich! Und ich werde vorbehaltlos aussagen, wenn es sein muss, auch gegen euch. Ich werde meinen Kopf nicht dafür hinhalten, dass ihr eure Geldgier nicht zügeln konntet. Ich werde alles dafür tun, um meine eigene Firma zu retten, meinen Ruf und meine Existenz.«

Er schnaubte. »Mitgehangen, mitgefangen! Obendrein, was macht dich denn so verdammt sicher, dass du aus dieser Sache straffrei herauskommst? Glaubst du tatsächlich, dass du bis zum Ende den Unschuldsengel spielen kannst?«

»Ich bin unschuldig, und ich werde alles tun, um die Angelegenheit restlos aufzuklären. Notfalls werde ich die Konsequenzen tragen.«

»Und ins Gefängnis gehen für etwas, das in erster Linie dein Mann verbrochen hat?«

Sie schwieg.

»Es gibt eine bessere Lösung als dass du die besten Jahre deines Lebens hinter Gittern verbringst.« Er legte seine Hand auf ihr Knie, genau da, wo ihr Rock endete. »Du bist für mich die perfekte Partnerin. Beruflich und privat.« Mit der anderen deutete er auf ein Kuvert, das auf dem Tisch lag. »In diesem Umschlag sind vier Tickets nach Panama. Der Flug geht morgen in den frühen Morgenstunden. Wir können alle gemeinsam flüchten, oder wir vernichten zwei dieser Tickets und überlassen Bernd und Betty ihrem Schicksal. Niemand wird uns jemals finden.«

Sie streifte seine Hand ab und richtete sich auf. »Die Zeit ist um. Ich gehe.«

Als sie sich erheben wollte, kam er ihr zuvor und drückte sie mit sanfter Gewalt auf den Polstersessel zurück. Sie ließ es geschehen, doch sie fühlte sich unwohl.

»Von Panama aus werden wir mit dem Boot über Venezuela auf die Isla Margerita flüchten. Ein Freund von mir hat in Pampatar eine Tauchschule. Er schuldet mir einen Gefallen. Wir werden bei ihm Unterschlupf finden, zumindest eine Weile. Da sind so viele Touristen. Wir fallen dort nicht weiter auf.«

Sie war versucht, ihn zu fragen, ob er das wirklich ernst meinte. Ein Blick in sein entschlossenes Gesicht gab ihr die Antwort.

»Alexandra! Ich liebe dich! Willst du das nicht begreifen?« Er fiel vor ihr auf die Knie, was sie trotz der Umstände laut auflachen ließ. Dass ein erwachsener Mann in Anzughose, Hemd und Krawatte vor ihr auf dem Boden kniete, war eine schlichtweg absurde Situation. »Bitte! Bitte lass uns zusammen fortgehen. Lass uns ein anderes Leben beginnen … irgendwo, wo uns niemand kennt und wir ganz von vorne anfangen können. Lass uns das restliche Geld nehmen und abhauen, bevor uns die Finanzmarktaufsicht genauer ins Visier nimmt …«

Der Ernst in seinen Gesichtszügen hielt sie zurück, erneut lauthals zu lachen. Stattdessen erwiderte sie ruhig: »Abgesehen davon, dass ich mich nicht ein Leben lang vor der Justiz verstecken will, frage ich mich, von welchem Geld du sprichst. Über das Geschäftskonto können wir derzeit nur noch eingeschränkt verfügen, wenn ich dich erinnern darf, da hat die Bank bereits den Daumen drauf. Oder hast du dir etwa doch privat ein paar Millionen zur Seite geschafft? – Wenn das der Fall ist, wäre das wohl eindeutiger Beweis, dass nicht nur mein Mann Geld veruntreut hat.«

»Ich habe auf meine Weise vorgesorgt.« Er richtete sich auf und nahm wieder Platz. »Was ich gesagt habe, ist mir ernst: ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Ich will eine Zukunft mit dir.«

»Nein!« Sie musste sich beherrschen, ihn nicht anzuschreien. Sie hatte es gewusst, ein Gespräch mit ihm war sinnlos. »Schluss! Ich bin an deinem Angebot nicht interessiert; mein Entschluss steht fest. Ich werde Selbstanzeige erstatten.«

»Ist das dein letztes Wort?«

»Mein allerletztes.«

Sie erhoben sich fast gleichzeitig.

»Das muss ich dann wohl akzeptieren«, meinte er resigniert. »Danke trotzdem, dass du mich zumindest angehört hast.«

Es gab keinen Grund für sie, unhöflich zu sein. »Danke für den Wein«, sagte sie, als sie bei der Garderobe angekommen waren.

Er machte keine Anstalten, ihr den Mantel zu reichen, sondern stand mit hängenden Schultern da wie ein unschlüssiger Schulbub. Als sie die Hand nach dem Kleiderbügel ausstreckte, wurde er plötzlich wieder lebendig.

»Warte! – Wenn du schon hier bist, schau dir doch zumindest kurz das Haus an. Es bietet wirklich einige architektonische Raffinessen. Und der Weinkeller! Der wird dir ganz besonders gut gefallen.«

Erneut hatte sie das plötzliche Gefühl, beobachtet zu werden. Ihre Augen glitten nach oben, die Galerie entlang, über die Stockwerke, hinauf zum Deckenfresko. Die Putten schauten mit unbewegten Gesichtern auf sie hinab.

»Ich weiß nicht. Ich …« Der Wein wärmte sie von innen.

Sie schaute nochmals nach oben. Die Galerie war leer. Die Putten schienen über sie zu lachen. Seine Gesichtszüge waren weich und hoffnungsvoll. Er war der Mann, in den sie sich vor Jahren verliebt hatte. Er war ein guter Verlierer, schon immer gewesen. Er hatte akzeptiert, dass sie letztendlich einen anderen geheiratet hatte, er hatte verstanden, dass sie ihn als Kameraden mehr schätzte denn als Liebhaber. Was also hatte sie zu fürchten?

»Komm schon«, meinte er salopp und knuffte sie spielerisch in die Seite. »Man könnte fast meinen, du hast Angst, mit mir in den Keller zu gehen.«

Angst. Das Wort hallte in ihr wider. Nie würde sie zu diesen schwachen Frauen gehören, die nicht mehr lebten, sondern sich nur noch vor Eventualitäten fürchteten, die ohnehin niemals eintreffen würden.

»Also gut«, sagte sie. »Unserer alten Liebe zum Wein wegen.« Sie ließ es zu, dass er sich bei ihr einhakte, als sie hinabgingen. Der Keller war unverputzt, die Ziegel makellos und sauber. Ein Neonröhre leuchtete ihnen den Weg, als sie gemeinsam den schmalen Gang entlang auf eine gusseiserne Türe zuschritten.

Er angelte einen dicken Schlüsselbund aus der Tasche, der so antiquiert wirkte, dass er sie unwillkürlich an einen alten Märchenfilm erinnerte. Die Hexe in diesem Film, die die Seelen kleiner Kinder in Käfige sperrte, hatte einen ähnlichen Schlüsselbund bei sich getragen. Das Gefühl von Unwohlsein kehrte zurück. Kalte Hände legten sich um ihr Herz und pressten es zusammen.

Oben fiel eine Tür ins Schloss.

Sie zuckte zusammen. »Ich glaube, es ist langsam wirklich Zeit zu gehen«, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

Er hatte den passenden Schlüssel gefunden. Das Schloss knirschte, als er ihn darin umdrehte. Er stieß die Tür auf und tastete an der linken Seite nach dem Lichtschalter.

Er fluchte. »Vorher ging es doch noch. Möglicherweise ist die Sicherung rausgeflogen …«

»Lass gut sein!« Ihre Stimme klang schriller, als es ihr lieb war. »Ich muss die Bordeaux-Sammlung nicht unbedingt sehen.«

»Nein, warte … ich muss nur hierüber ums Eck, da ist der Sicherungskasten.«

Er ließ sie stehen und verschwand in einem Seitengang. Sie hörte ihn mit etwas Metallenem hantieren, vernahm sein nochmaliges Fluchen.

Die kalten Hände hatten ihr Herz noch immer fest im Griff.

Die Neonröhre flackerte. Im Nebengang fiel Metall auf Beton. Plötzlich war es stockdunkel. Schritte näherten sich ihr von hinten, sie fuhr herum, prallte gegen einen menschlichen Körper und dann mit der Stirn gegen die Wand. Etwas traf sie am Kopf. Die Beine knickten unter ihr weg.

Ich bin in eine Falle getappt, war ihr letzter Gedanke, ehe sie mit dem Kopf auf dem steinernen Boden aufschlug.

Als Laura das Haus verließ, setzte Nieselregen ein. Entnervt verzog sie das Gesicht und blieb einen Moment lang unschlüssig stehen. Sollte sie umkehren, vier Stockwerke nach oben steigen und ihren Schirm holen? Wo lag er überhaupt? Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie ihn das letzte Mal benutzt hatte. Gestern hatte es nicht geregnet. Vorgestern?

Die Ampel am unteren Ende der Straße schaltete auf grün. Schneller als erwartet war das erste Auto auf ihrer Höhe, blendete sie mit seinem Scheinwerferlicht und rauschte durch die Pfützen, die sich in den Schlaglöchern gebildet hatten. Laura war in Gedanken noch in ihrem Vorzimmer, suchte die mit allem denkbaren Krimskrams beladenen Regale nach dem Regenschirm ab, als die Fontäne sie traf. Ein Schwall Dreckwasser, die der Autoreifen hochwirbelte, spritzte über ihre Beine und färbte den Saum ihres knöchellangen Rocks, der unter dem Mantel hervorragte, braunschwarz. Entsetzt sprang sie zurück und prallte gegen eine Frau mit einem Kind an der Hand, die in diesem Augenblick hinter ihr vorbeiging. Das Kind fiel prompt auf den Gehsteig und begann zu heulen, die Mutter beschimpfte Laura, die sich wortreich entschuldigte, während der Nieselregen ihr bis auf die Kopfhaut sickerte und den grauen Webpelzmantel schwer werden ließ.

In der Straßenbahn standen die Leute dicht aneinander gedrängt. Der Herr neben ihr hielt sich an einem Deckengriff fest, um Halt zu finden; sie selbst erreichte mit ihren 1,60 Meter Körpergröße den Griff nicht einmal mit den Fingerspitzen. Um in Falle einer abrupten Bremsung nicht unsanft nach vorne katapultiert zu werden – Mutter war dies schon passiert –, teilte sie sich den grauen Metallbalken am Eingang mit ein paar Teenagern und nahm in Kauf, dass eines der Mädchen seinen nassen Regenschirm wie selbstverständlich an ihre Beine lehnte. Ob sich so ein Regenschirm wohl auch als Tatwaffe eignete?

Laura war froh, als die Tram schließlich hielt und sie in die U-Bahn umsteigen konnte. Hier herrschte weniger Getümmel, zu ihrer Überraschung ergatterte sie sogar einen Platz. Sie griff nach der Gratis-Zeitung, die auf dem Nebensitz lag.

MYSTERIÖSER MORD IN VILLA. In großen Lettern prangte die Schlagzeile auf Seite eins unter einem Bild, dass ein herrschaftliches Anwesen in einem Park zeigte. Das Gebäude wirkte bedrohlich.

Wie passend, dass in so einem Haus ein Mord passiert, dachte Laura und überflog den Artikel. In dem Anwesen waren zwei Leichen entdeckt worden, ein Mann mittleren Alters und eine alte Frau. Sie war tot im Keller ihres Hauses gefunden worden und, so einer ersten Diagnose des Gerichtsmediziners zu Folge, vermutlich einem Herzinfarkt erlegen. Der Mann war erschossen worden. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses hatte die Polizei seine Identität noch nicht feststellen können. Auch das Tatmotiv war bisher völlig unklar. Eine mobile Altenpflegerin, die alle zwei Tage bei der alten Dame nach dem Rechten sah, hatte die Leichen entdeckt und die Polizei alarmiert. Die Altenpflegerin stand seither unter Schock.

Laura ließ die Zeitung sinken. Ein grausiger Fund. So langweilig ihr eigener Job als Verkaufsberaterin für Kleinkunst des 20. Jahrhunderts auch war, zumindest blieb ihr erspart, allein in alte Häuser gehen zu müssen und über Ermordete zu stolpern. Andererseits wäre es natürlich auch wahnsinnig aufregend, solche Mordfälle aufzuklären und der Welt nach umfangreichen Ermittlungen den Mörder zu präsentieren. Aber dazu gehörte es wohl leider auch, echte Leichen zu betrachten. Laura begegnete tagtäglich Toten, bislang aber nur in den Kriminalromanen und -filmen, die sie gierig verschlang.

Leise seufzend blätterte sie auf die nächste Seite. Immer mehr Einbrüche in Wien. Gegenüber dem Vorjahr war die Zahl um mehr als dreißig Prozent gestiegen. Besonders betroffen waren die Bezirke Wien-Donaustadt und Wien-Floridsdorf. Was für ein Glück, dass sie in Wien-Währing wohnte. Mutter hatte darauf bestanden, in einem teureren Bezirk zu wohnen und lieber auf eine größere Wohnung zu verzichten.

Gerüchte um Bankrott der Siberius-Finanzgruppe erhärten sich. Merkel will Banken-Finanzspritze geben. Republik unterstützt Kommunalkredit bei Übernahme.

Laura überflog die Wirtschaftsüberschriften wie immer und blätterte weiter zum Kulturteil. Als die U-Bahn in der nächsten Station hielt, legte sie die Zeitung schnell auf den frei gewordenen Platz ihr gegenüber in der Hoffnung, dass sich niemand die Mühe machte, das Blatt zu entfernen, um sich dorthin zu setzen.

Die Ausdünstungen des alten Mannes, der den Platz gerade eben verlassen hatte, hingen ihr noch in der Nase. Er hatte so stark nach Mottenkugeln gerochen, dass ihr fast schlecht geworden war. Sie hasste diesen Geruch. Täglich wehte er sie an, wenn ältere Herrschaften den Verkaufsraum belagerten, in ihren wallenden Pelzmänteln, Wolljacken und Fellmützen mit altmodischen Ohrenklappen an der Seite, und herumnörgelten, wenn sie länger an der Kassa warten mussten als gewohnt. Neulich hatte sie einen Krimi gelesen, in dem ein Enkel seine reiche Großmutter langsam vergiftete, indem er heimlich Mottenkugeln in ihr Bettzeug schmuggelte. Die Chemikalien in den Kugeln waren krebserregend. Der Titel des Krimis lautete Mord auf Raten, und es war dem Kommissar weiß Gott nicht leicht gefallen, dem Enkel diese raffinierte Tat nachzuweisen.

Lauras Hoffnung, bis zur nächsten Station für sich allein zu sitzen, wurde nicht erfüllt. Schlanke, lange Finger griffen nach der Zeitung und schoben sie zur Seite. Die Finger waren weiß. Fast blutleer.

Besorgt hob Laura den Kopf und zuckte unweigerlich zusammen. Die Gestalt, die ihr gegenüber Platz genommen hatte und nun die Hände eigenartig starr ineinander verkrampft hielt, wirkte auf sie ganz und gar sonderbar. Der dunkle Mantel hatte an der Seite einen Riss, aus dem helles Innenfutter quoll. Auf dem Kopf thronte ein hässlicher Tiroler Hut mit einem zerzausten Gamsbart und einem kitschigen Edelweißanstecker. Der Hut stand im krassen Kontrast zu dem eleganten Ledermantel. Rotblondes Haar, teilweise verfilzt, teils strähnig, quoll wirr unter dem Hut hervor.

Ein Obdachloser. Instinktiv hielt Laura die Luft an. Penner brachten gewöhnlich eine noch härtere olfaktorische Note mit sich als kunstsammelnde Pelzträger. Als sie schließlich wieder atmen musste, roch es jedoch nicht besser oder schlechter als sonst. Die Gestalt trug außerdem keinerlei Plastiktüten oder Jutesäcke mit sich. Vielleicht war ihr Gegenüber nur eines dieser verschrobenen Exemplare, die gelegentlich in öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Wege kreuzten.

Die Gestalt hob abrupt den Kopf. Ihre Blicke trafen sich. Klare, graue Augen starrten sie sekundenlang an. Schnell senkte Laura den Blick. Ihr Herz flatterte unruhig.

Die Augen gehörten zum Gesicht einer Frau – einem Gesicht, von dem sich Laura sicher war, dass sie es nie wieder vergessen würde. Es war ein blasses Gesicht mit feinen, ebenmäßigen Gesichtszügen, in dem alles perfekt aufeinander abgestimmt erschien: die schmale Nase, die vollen Lippen, die geschwungenen Augenbrauen. Die Frau, wohl nicht viel älter als sie selbst, war einfach unglaublich schön.

Aus einer unbestimmten Furcht, dass sich ihre Blicke erneut auf diese Weise treffen könnten, wagte sie nicht mehr aufzusehen. Sie fixierte ihre eigenen Hände, die in grauen, mit Kaninchenfell gefütterten Lederhandschuhen steckten, und fragte sich, ob ihr Gegenüber nicht fror. Warum ging eine Frau mit so intelligenten, wachen Augen in solch einem Aufzug und bloßen Händen aus dem Haus?

Bei der nächsten Station musste sie aussteigen. Die Unbekannte blieb sitzen.

Laura legte den Fußweg von der U-Bahn-Station zu ihrer Arbeitsstätte wie im Trance zurück. Sie nahm den Regen, der inzwischen deutlich stärker geworden war, nicht mehr zur Kenntnis. Erst als sie die feudale Eingangshalle des Karolinums betreten hatte und im Vorübergehen im Glas einer Vitrine einen Blick auf ihr eigenes Abbild erhaschte, fand sie jäh zurück in die Realität.

»Du bist eineinhalb Minuten zu spät.« Johanna Fraunberger, ihre Arbeitskollegin, stand bereits mit angestecktem Namenschild und in Erwartung zahlreicher Kunden vor der Kassa. Laura durchquerte eilig den Verkaufsraum. In dem kleinen fensterlosen Büro, das sie für ihre Verwaltungsarbeiten nutzten, warf sie schnell einen Blick in den Wandspiegel.

Oh Gott, sie sah schrecklich aus. Die wirren Locken, die sie täglich mit viel Mühe ausbürstete, hatten sich durch die Nässe eingerollt. Ihr Anblick erinnerte sie spontan an ein Schaf, das schon lange nicht mehr geschoren worden war. Das Make-up war im Regen zerlaufen, die Wimperntusche hatte schwarze Rinnsale hinterlassen. Mit einem Taschentuch versuchte Laura die Spuren zu beseitigen, als die Bürotür aufging. Eine hochgewachsene Frau Mitte vierzig mit blondem Kurzhaarschnitt streckte ihren Kopf ins Zimmer.

»Ist es zu viel verlangt, wenn Sie sich zu Hause um Ihre Beauty-Pflege kümmern?«

Laura schoss das Blut in den Kopf. »Tut mir leid«, stotterte sie. »Der Regen …«

Ihre Chefin ließ ihr keine Chance, eine Entschuldigung vorzubringen. »Für solche Wetterlagen ist der Regenschirm erfunden worden. Die Minuten, die Sie hier vertrödeln, werden Ihnen selbstverständlich von der Dienstzeit abgezogen. Wir sind hier ein Auktionshaus, keine Sozialstation.«

»Ja, Frau Dr. Burger. Entschuldigen Sie.« Lauras Stimme hörte sich sogar in ihren eigenen Ohren piepsig an.

»In fünf Minuten will ich Sie vorne an der Kassa sehen.«

Die Burgerschen Absätze klapperten eilig über den abgenutzten Steinboden. Lauras Hände zitterten, während sie das feuchte Haar zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Schon wieder hatte sie ihrem Ruf alle Ehre gemacht. Laura, die immer zu spät kam. Laura, die unzuverlässig war. Laura, die …

Sie biss sich auf die Lippen. Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Nicht daran! Es war schon schlimm genug, gleich in der Früh den Zorn ihrer Vorgesetzten zu wecken. Sie musste sich den Tag nicht selbst noch schlimmer gestalten, indem sie sich bewusst den Vorfall mit Barbara in Erinnerung rief, dessentwegen sie nach acht Jahren Beschäftigung im bekanntesten österreichischen Auktionshaus noch immer im Verkaufsraum stand, anstatt als Schätzmeisterin tätig zu sein oder direkt bei den Auktionen mitzuarbeiten. Zum Glück hatte Mutter damals von der Sache nichts mitbekommen.

Laura atmete tief durch und betrat den Verkaufsraum.

Johanna Fraunberger trippelte bereits eilfertig und mit vorgerecktem Kinn an der Seite eines Stammkunden umher, in der linken Hand den Schlüsselbund, mit dem sich sämtliche Vitrinen öffnen ließen. Ihr Hintern wackelte bei jedem Schritt, während ihr Busen stramm nach vorne ragte. Obwohl sie seit fünf Jahren zusammenarbeiteten, war Laura noch nicht dahintergekommen, was das physiologische Geheimnis an diesem Gang war. Sie selbst hatte versucht, Johannas Art der Fortbewegung zu imitieren, abends, in ihrer Wohnung. Seitdem wusste sie: Was bei Johanna so selbstverständlich wirkte, war für einen Menschen mit anderem Körperbau eine wahre Herausforderung. Oh Gott, wie hasste sie diese Frau!

An der Kassa war Dorothea Lowetschek, ihre andere Kollegin, bereits damit beschäftigt, einer japanischen Touristin zwei Gallé-Vasen bruchsicher zu verpacken. Laura ging ihr zur Hand, indem sie das Formular für den Zoll ausfüllte.

Als die Japanerin mit den Vasen verschwunden war, begann Dorothea mit einer ausführlichen Schilderung der Untugenden ihrer Schwiegertochter, die ihrer Meinung nach weder kochen noch einen Haushalt führen konnte. Für ihren »Burli« – einen vierzundzwanzigjährigen Elektriker, der vor zwei Jahren mit der Disko-Schönheit ein Kind gezeugt und sie dann auch geheiratet hatte – hatte sie sich weiß Gott etwas Besseres vorgestellt. Da Dorothea Lowetschek seit dreieinhalb Jahren Lauras Kollegin und obendrein sehr auskunftsfreudig war, was ihr eigenes Privatleben und dasjenige anderer Leute betraf, hatte Laura die Geschichte von Anfang an mitverfolgen müssen und kannte bereits sämtliche Details. So nickte sie nur gelegentlich oder gab ein kurzes »Hmm« von sich. Ihre Gedanken waren allein bei der schönen, seltsamen Frau aus der U-Bahn.

Abends sahsie sie wieder. Sie stand am Gehsteig vor dem Supermarkt, der auf der Strecke zwischen U-Bahn-Station und Lauras Wohnung lag, und starrte ausdruckslos auf ein graues Haus an der gegenüberliegenden Straßenseite. Den Mantel hielt sie vor der Brust zusammen, als hätte er keine Knöpfe; ihre Hände waren weiß wie Wachs.

Lauras Herzschlag beschleunigte sich. Sie zwang sich, die Fremde nicht anzustarren, und betrat eilig den Laden. Erst als sie Brot, Butter und die restlichen Lebensmittel in der Plastiktüte verstaute, riskierte sie einen genaueren Blick auf die Frau. Hinter der großen Fensterscheibe des Supermarkts fühlte sie sich sicher. Die Frau ging jetzt draußen auf und ab. Ihr Gang war eigenartig schleppend, ja, humpelnd.

Laura kniff ungläubig die Augen zusammen, als sie bemerkte, was die Ursache dafür war: die Fremde hatte nur noch einen Schuh. Der linke Fuß steckte in einem spitzen Stiletto, während sie rechts nahezu barfuß ging – etwas, das aussah wie Fetzen einer Seidenstrumpfhose, bedeckte gerade einmal den Knöchel.

Dieser Stiletto, er passte ebensowenig wie das ebenmäßige Gesicht zu der Vorstellung, die Laura von einer Streunerin hatte. Und dennoch war sie es offensichtlich: obdachlos. Warum sonst ging ein Mensch bei diesen herbstlichen Temperaturen und dem kühlen Nordwind, der jetzt durch die Stadt blies, barfuß auf der Straße umher?

Sicherlich hat die Frau Hunger, schoss es Laura durch den Kopf. Sie überlegte, ob sie noch eine Wurstsemmel kaufen sollte, verwarf den Gedanken aber rasch wieder. Sie konnte ja nicht einfach zu einer völlig Fremden gehen und ihr etwas zu essen in die Hand drücken. Schließlich wusste sie nicht einmal mit Gewissheit, ob sie tatsächlich obdachlos und arm war. Womöglich wartete sie nur auf jemanden, und der Stiletto war aufgrund irgendeines Missgeschicks verschwunden.

Ja, so musste es sein. Laura nahm die Plastiktüte an sich. Schnellen Schrittes ging sie an der Frau vorbei, ohne einen weiteren Blick zu riskieren. Welche Obdachlose trug schon Stilettos? Gleich würde ein schwarzer Mercedes oder BMW um die Ecke biegen, die Dame stiege ein und würde dem Herrn am Steuer erzählen, dass sie einen grauenhaften Tag hinter sich hatte, für den er sie bedauern konnte.

Immerhin würde sie ihm nicht berichten müssen, dass eine wildfremde Frau ihr eine Wurstsemmel angeboten hatte, weil sie sie für eine ausgehungerte Obdachlose hielt.

Während Laura zu Hause die Lebensmittel in den Kühlschrank räumte, war sie stolz, ihrer spontanen Eingebung nicht gefolgt zu sein. Vorsicht ist besser als Nachsicht, hatte Mutter immer gesagt. Da hatte Mutter Recht gehabt. Es wäre eine peinliche Situation gewesen, für sie und die Frau.

In der linken Hand den Teller mit ihrem Abendessen, in der rechten ein Glas Rotwein, ging Laura hinüber ins Wohnzimmer. Sie knipste die Stehlampe an und ließ sich auf das braun-beige gestreifte Biedermeiersofa sinken.

Die Dämmerung war bereits in Dunkelheit übergangen. Laura biss in ihr Butterbrot, als ihr auffiel, dass der Mann aus dem vierten Stock vom Haus gegenüber am offenen Fenster stand und ungeniert in ihr Wohnzimmer glotzte. Seit sie einmal versehentlich mit nacktem Oberkörper durch das hell erleuchtete Zimmer gelaufen war, hoffte er anscheinend auf Nachschlag.

Notgeiler Spanner!

Wütend sprang sie auf und wollte mit einem Ruck die schweren Vorhänge zuziehen, stoppte aber mitten in der Bewegung. An der Haltestelle gegenüber wartete im Schein der Straßenlaterne eine inzwischen schon fast vertraute Gestalt. Die Frau saß auf der Bank im Wartehäuschen, hielt den Kopf gesenkt und den Oberkörper in sonderbar gekrümmter Haltung.

Ihr Anblick bescherte Laura ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie dachte an die Wurstsemmel und wünschte einen Augenblick lang, sie hätte sie ihr trotzdem in die Hand gedrückt, ungeachtet einer daraus eventuell erwachsenden Peinlichkeit.

Die Frau dort wartet nur auf die Straßenbahn.

Laura schrie sich den Satz in Gedanken zu. Sie schloss die Vorhänge und widmete sich wieder ihrem Abendessen. Das Brot klebte mit einem Mal im Mund und war kaum herunterzubringen; der Joghurt hinterließ einen sauren Nachgeschmack. Das Ticken der Standuhr neben dem braunen Kachelofen war lauter als zuvor.

In ORF 1 wurde ein Bobrennen übertragen, in ORF 2 traten eine »Frau Erna« und eine »Frau Anna« bei einem live übertragenen Telefonquiz gegeneinander an. Im dritten Programm, einem Privatsender, lief Werbung. Laura knipste eine Weile zwischen den Fernsehprogrammen hin- und her und bedauerte zum wiederholten Male den Umstand, dass sich Mutter als einzige im Haus dem Kabelnetz verweigert hatte. Sie habe ihr Leben lang nur ORF 1 und ORF 2 gesehen, hatte sie damals auf der Eigentümerversammlung gesagt. So einen neumodischen Krampf brauche sie nun wirklich nicht. Obendrein würden da nur Pornos laufen.

Einige der Anwesenden hatten gegrinst; das junge Ehepaar, das neu im ersten Stock eingezogen war, hatte sogar hell aufgelacht.

»Mutter, bitte!«, hatte sie ihr daher ins Ohr geflüstert. Ihr Versuch, sie zum Schweigen zu bringen, wurde vom Gegenteil gekrönt: die Mutter hatte erst richtig zu wettern angefangen, die Kabelprogramme aus Deutschland als sinnlose Amerikanisierung und Hochburg der Unmoral bezeichnet und im Brustton der Überzeugung hinzugefügt: »Ich habe eine Tochter im Haus! Glauben Sie denn, ich will, dass dieses unschuldige junge Mädchen mit so einem Sex-Programm konfrontiert wird?«

Damals war sie zarte zweiunddreißig Jahre alt gewesen. Noch immer lief Laura ein Schauder über den Rücken, wenn sie an die teils amüsierten, teils geschockten Blicke der anderen Wohnungseigentümer dachte.

Auf ORF 2 kam nun der Wetterbericht. Die allseits bekannte Wettermoderatorin verkündete mit einer gewissen Theatralik in der Stimme, dass für heute die bisher kälteste Nacht in diesem Spätherbst erwartet wurde, mit Temperaturen unter der Nullmarke. Schneefall sei in höheren Lagen nicht auszuschließen.

Laura bezwang den Impuls, zum vierten Mal aus dem Fenster zu schauen, trank noch ein Gläschen Wein, ließ die »Seitenblicke«-Sendung an sich vorüberziehen und entschied sich dann für eine amerikanische Krimiserie, in der gutaussehende Ermittlerinnen und smarte Sezierer anhand von schauderhaften Leichenüberresten und blutgetränkten Tatorten Mordfälle rekonstruierten und jedes Mal genau dann erfolgreich den Mörder fassten, wenn sich die Sendezeit dem Ende entgegen neigte. Seit Mutter tot war, verfolgte sie die Serie regelmäßig. Vor den Blutflecken und Schlachtermessern, die in irgendeinem Körper zu stecken pflegten, der sich zuckend auf dem Asphalt wand, grauste es sie noch immer. Manchmal träumte sie auch davon. Und trotzdem schaltete sie beim nächsten Mal wieder ein.

Nach der Sendung wollte sie sich noch ein Gläschen Wein gönnen, doch die Flasche war inzwischen leer. Es erstaunte sie immer wieder, wie zügig der Inhalt einer ganzen Flasche schwand. Speziell Rotwein wies einen hohen Verdunstungsgrad auf. Eine neue würde sie trotzdem erst morgen öffnen. Man musste sich im Griff haben, was Alkohol anging. Sie wusch die Flasche sorgfältig aus, trocknete sie liebevoll ab und stellte sie zu ihren Vorgängerinnen in das kleine Kabinett, das einst ihr Kinderzimmer gewesen war. Schon lange hatte sie sich vorgenommen, sich um Regale zu kümmern, in denen sie ihre Flaschensammlung dekorativ anrichten konnte. Der Platz am Boden der kleinen Kammer wurde allmählich knapp.

Ehe sie zu Bett ging, warf sie einen letzten Blick aus dem Fenster. Die Gestalt saß noch immer in dieser eigenartigen Körperhaltung an der Straßenbahnhaltestelle. Lauras Herz begann erneut unruhig zu klopfen. Warum war sie denn nicht abgeholt worden? Oder zumindest in eine Bahn eingestiegen?

Wir stecken unsere Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Das gehört sich nicht!

Die Stimme ihrer Mutter war so präsent, dass sie schnell den Vorhangspalt zuzog und zu Bett ging. Lange fand sie keinen Schlaf. Die kälteste Nacht in diesem Spätherbst. Graue Augen, die sie anschauten. Direkt und klar.

Weit nach Mitternacht schreckte sie hoch. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Dunkelheit. Hatte drüben im Wohnzimmer nicht der Parkettboden geächzt, so als würde jemand darübergehen?

Nun war kein Laut mehr zu vernehmen. Laura atmete tief durch und knipste das Licht an. Sie wartete eine Weile, dann, als es noch immer still war, erhob sie sich und ging ins Badezimmer. Der Wein forderte seinen Tribut.

Auf dem Rückweg ins Schlafzimmer zog es sie zum Fenster. Sie schob den Vorhang zur Seite. Unten im Wartehäuschen erkannte sie die Umrisse der Unbekannten. Sie kauerte mit angezogenen Beinen auf der Bank, den Kopf auf die Knie gestützt. Der Tiroler Hut lag vor ihr auf dem Asphalt.

Die kälteste Nacht in diesem Spätherbst.

Die Frau würde ganz sicher erfrieren.

Ein heftiger Windstoß fegte durch die Straße, ließ die alten Außenfenster erzittern und blies den Tiroler Hut vom Gehsteig auf die Straße.

Laura zog den Vorhang zu. Sie konnte und wollte dieses Szenario nicht länger mit anschauen.

Eine Wildfremde. Eine Obdachlose. Möglicherweise ist sie eine Kriminelle und auf der Flucht, schimpfte Mutter in ihr. Du solltest die Polizei holen. Sicher eine Ausländerin. Sehr wahrscheinlich hat sie Flöhe.

Sie hörte Mutters aufgebrachte Stimme, schlüpfte in Mantel und Stiefel, nahm zwei Treppenstufen auf einmal und stand kurze Zeit später vor dem Hauseingang. Sie verharrte kurz, atmete die kalte Nachtluft ein.

Ihr Herzschlag raste, als sie Augenblicke später vor der Frau stand, die noch immer völlig bewegungslos mit dem Kopf auf den Knien auf der Bank kauerte.

»Entschuldigen Sie«, begann Laura zaghaft.

Keine Reaktion.

»Entschuldigen Sie!«

Die Fremde rührte sich nicht.

Um Himmels Willen, wahrscheinlich war sie schon erfroren! Laura nahm ihren ganzen Mut zusammen. Sie streckte die Hand aus und berührte die Frau vorsichtig an der Schulter.

Blitzschnell fuhr die Gestalt hoch und stieß ihre Hand heftig zur Seite. Laura, geschockt von der unerwarteten Abwehr, wich zurück.

»Ent…entschuldigen Sie«, stammelte sie.