Tage unseres Lebens - Erik Neutsch - E-Book

Tage unseres Lebens E-Book

Erik Neutsch

4,7

Beschreibung

Ein Mädchen ist verschwunden, Oberschülerin, Tochter eines Straßenbahnfahrers - Brüdering lässt dieses Mädchen suchen. Dabei sollte man meinen, dass ein Oberbürgermeister andere Sorgen hat in diesen drei Tagen unseres Lebens: Konz ist gekommen, der neue Parteisekretär. Er will durchsetzen, was der OB für undurchführbar hält: Schneisen hauen quer durch die Stadt, die in Jahrhunderten gewachsen ist und angefüllt mit Menschenschicksalen, Verkehrsadern schlagen quer durch Häuser und Wohnungen und Plätze. Eine Stadt ist kein Wald. Man kann nicht mit einem Federstrich ausstreichen, was Generationen geschaffen haben. Gibt es einen anderen Weg als den der Feindschaft zwischen den Genossen Brüdering und Konz? Und dann fragt sich einer, was die wahren Geschichten hierzulande sind. LESEPROBE: Später dann, nach der bösen Geschichte, die sein Sohn sich eingebrockt hatte, glaubte ich oft, man brauche dem Jungen nur wie vorher dem Alten zu kommen. Wenn wir ihn für uns gewönnen, dachte ich, wird Ordnung in die Schule einziehen. Ein Dickschädel wie sein Vater. Und vielleicht hatten ihn nur die Lehrer nicht richtig angefaßt. Auch er war der Wortführer seiner Klasse. Intelligent wie Einstein. Auch auf ihn schworen die Mitschüler. Außer in Mathematik, Physik und Chemie störte er jeden Unterricht. In Staatsbürgerkunde fragte er, ob Marx nicht nur ein Phantast gewesen sei, ähnlich wie Christus, in den Deutschstunden, warum nicht dieses oder jenes moderne Stück westlicher Autoren auf dem Lehrplan stünde. Er zitierte, ohne darum gebeten worden zu sein, ganze Passagen aus Dürrenmatts »Physikern«, das Buch hatte er der Bibliothek seines Vaters entnommen. Goethe hinge ihm schon zum Halse heraus, sagte er, und immerzu sozialistischer Realismus, das wär auf die Dauer langweilig. Koblenz zuckte dazu mit den Schultern. »Ich möchte auch nicht nur immer Kasernen bauen.« Ich hatte ihn angeschrien. Mir gehen selten die Nerven durch. An diesem Tage jedoch war es geschehen. »Ihre Arroganz«, schrie ich, »stinkt zum Himmel. Und soweit sie Ihren Sohn betrifft, gleicht sie einer fahrlässigen Tötung.« Doch was dachte er jetzt? Er saß noch immer still und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf Konz. Vielleicht dachte er nur, was gestern auch ich noch gedacht hatte. Kommst hier hereingeschneit, Konz, wie Habakuk unter die Löwen. Gerhard, sein Sohn, las also Dürrenmatt. Die Physiker, sagte er, die entsprächen schon vom Titel her seinem Geschmack, kein schnulziges Drumherum von wegen Herz und so.

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Impressum

Erik Neutsch

Tage unseres Lebens

ISBN 978-3-95655-004-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1973 im Reclam Verlag Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

ERSTER TAG

»Die Stadt muß verändert werden«, sagte Konz. »Ich wüßte nicht, weshalb ich hierhergeschickt worden bin, wenn die Stadt nicht verändert wird.«

Der hat klug reden, dachte ich, eine Woche ist er nun hier, nicht einmal eine Woche, seit Montag erst, heute ist Freitag, und schon nimmt er den Mund voll, spielt sich auf, und eigentlich will er mir nur beweisen, mit jedem seiner gesalbten, gepfefferten Worte, daß ich ersetzbar bin, auswechselbar, wenn nicht gar fehl am Platze. Ich sollte ihm den Gefallen tun und abdanken. Kurzen Prozeß sollte ich machen, aufstehen, durch die Tür gehen und abdanken. Ich bin nicht der Mann, der sich seine Papiere in Raten auszahlen läßt. Ich pfeif auf die Blumen. Wenn ich nicht mehr von Nutzen bin, wenn ich nach deiner Ansicht, Konz, die Zeichen der Zeit nicht mehr begreife, bitte, sag es. Grabstein, und darauf eine Inschrift: Er fiel im Frieden. Das wäre ehrlich. Doch nun?

Die Sitzung dauerte seit dem Morgen. Einen Schluck Kaffee, Konz ging durch alle Zimmer, und dann begann sie. Jetzt leuchtete schräg schon die Abendsonne in alle Fenster, übergoß den Raum mit einem rosigen Licht, spiegelte sich auf den Brillengläsern von Konz, bedeckte sie mit einer silbrigen Folie, so daß man nicht mehr erkennen konnte, wen er gerade mit seinen Blicken aufs Korn nahm, und außerdem hatte er eine verdammte, ich möchte sagen: beinahe ehrenrührige Art, unsere Geduld auf die Probe zu stellen. Sprich es doch aus, Konz. Mach ein Ende. Ich bin mürbe inzwischen wie ein Hefeteig, auf dem einer stundenlang herumgeknetet hat. Deine Beweisketten. Deine Rechnerei mit jedem Kubikmeter Erde. Was werden denn unsere Frauen sagen? Wie wird mich Herta empfangen, wenn es wiederum Nacht wird, bevor ich nach Hause komme?

Konz hat keine Frau. Der ist vierzig oder erst fünfunddreißig, jung, glaube ich, und das genügt ihm, um mal hier und mal dort...

»Natürlich schaffen wir’s nur, wenn alle an einem Strang ziehen«, unterbrach er meine Gedanken. »Allein ist der Tod. Also, Genossen, macht es der Partei nicht zu schwer.« Ich meldete mich zu Wort. Er übersah mich nicht, und ich sagte: »Seit zwanzig Jahren lebe ich hier. Seit zehn Jahren bin ich Bürgermeister dieser Stadt. Sie ist nicht zu verändern. Das Alte ist nur zu verschönern.«

Konz erwiderte: »Ich hoffe, Genosse Brüdering, du kennst den Unterschied genau zwischen alt und neu. Ich weiß nicht, ob das Neue auch immer schön ist. Aber notwendig ist es. Schön ist keine Alternative zu alt. Neu jedoch, das trifft.«

Es war seit seiner Ankunft kein Tag vergangen, an dem er uns nicht mit solchen oder ähnlichen Philosophien attackierte. Immer hielt er ein Spruchband bereit, wenngleich mich oft, ich muß es gestehen, der Text darauf überraschte. Woher nahm Konz seine Sicherheit? Ich dachte darüber noch nach, als ich bereits auf dem Nachhauseweg war. Nein, an diesem Tage war die Entscheidung noch nicht gefallen. Morgen würden wir weitersehen. Weiter und klarer. Für morgen hatte Konz die Ingenieure und Architekten eingeladen. Die Stadt muß verändert werden. Er nannte seit seiner Antrittsrede das Was. Und alle anderen wollte er darauf trimmen, ihm das Wie zu liefern. Doch ohne mich, mein Freund. Trotz der Sonne auf deinen Brillengläsern konntest du deine Augen vor mir nicht verstecken. Ich saß an deiner Seite. Ich sah dir in die Pupillen. Eine Farbe hat deine Iris, grau und kalt wie die Pfennigstücke. Vielleicht rührt es nur daher, von diesem Grau, daß jeder deiner Blicke eine Rechnung aufzumachen scheint. Denn nichts anderes an dir, die abstehenden Ohren nicht unter den blonden Haarfransen, die vollen Lippen mit den schiefgewachsenen Zähnen dahinter, die runden Wangen nicht und das wenig energische Kinn, nichts ist an dir so sachlich wie deine Augen. Wäre die graue Sachlichkeit deiner Augen nicht, hätte sogar dein Gesicht, möchte ich meinen, etwas einnehmend, anziehend Lustiges.

Ich nahm die Bahn. Ich kenne den Fahrer. Wenn er Nachtschicht hat, bin ich manchmal sein letzter Begleiter, fährt er nur meinetwegen bis an die Endhaltestelle in Staubnitz. Dann kommen wir ins Gespräch. Zehn Minuten, nicht länger. Doch über zehn Jahre nun schon, im Schnitt zehn Minuten je Woche, das reicht, um einen anderen Menschen kennenzulernen. Über den Austausch von Höflichkeitsfloskeln sind wir hinaus. Und so verspürte ich denn auch nach dieser Sitzung das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen. Ich weiß, daß er in der Großen Leipziger wohnt. Zwei Zimmer, vier Kinder, fünfhundert Mark im Monat, seine Frau, Austrägerin für die Nachmittagspost, winters wie sommers auf einem Fahrrad, verdient noch ein bißchen dazu. Sind sie glücklich? Ich frag es mich jedesmal. Wenn es nach Konz ginge, würde die Große Leipziger fallen. Er stand heute früh vor der Karte und entwarf seinen Plan. Die neue Nord-Süd-Achse legte er quer durch die Stadt. Kein Pardon für das Zentrum. Aufreißen, Abbruch, Rekonstruktion. Wir hatten die Straße bisher außen herum, durch die versumpften und sauren Wiesen der Saale führen wollen. Die Stadt ist tausend Jahre alt. Fünfmal, berichten die Urkunden, brannte sie nieder. Im Krieg allerdings, und bis heute weiß niemand, warum, blieb sie verschont. So ziemlich verschont. Und jetzt? Konz steht vor der Stadt wie Tilly und will sie zum sechsten Mal in den Erdboden äschern. Ich mußte erfahren, was Paul dazu sagt, der Straßenbahnfahrer. Zehn Minuten am Park entlang bis zur Endhaltestelle. Die Hyazinthen werden schon in den Perron hinein duften. Und wenn’s nicht genügt, so helfe ich ihm beim Rangieren. Eine Antwort auf eine Frage.

Ich lebe bei Gott nicht so schlecht, als daß ich mir nicht auch was leisten könnte, sagt Seidensticker. Fernseher und Kühlschrank, wenn’s Dinge sind, woran sich der Mensch heute mißt, die hab ich. Auch ein Paar Schuhe jährlich fallen für jeden ab, ein Anzug für mich und ’n Kleid für die Frau und die Tochter zu Weihnachten und zum Geburtstag. Nur, Bürgermeister, du müßtest mehr Kindergärten errichten. Dann könnte Ellen ganztags zur Post gehen. Hundertundfünfzig mehr, auf die hohe Kante, man könnte auch mal wieder ein Möbelstück kaufen, neue Matratzen und Bettbezüge, auch ’n Bier trinken, nach Feierabend, versteht sich. Die Große sind wir bald los. Sie macht jetzt ihr Abitur. Doch was dann? Sie liegt uns nicht mehr auf der Tasche, gut. Das ist das eine. Bisher aber hat sie nachmittags immer, zwischen Shakespeare und Mathematik, kenn mich darin nicht aus, unseren Jüngsten betreut. Die FDJ wird schon böse, weil sie nicht hingehen kann, und manch einen gibt’s, Söhnchen von einem Arzt oder einem Direktor oder was sonst aus einer verwöhnten Familie, der sie hänselt. Die fahren schon in die Schule mit eigenem Roller. Sie aber sitzt zu Hause, weil einer auf den Kleinsten aufpassen muß. Und dann lernt sie, wird soviel verlangt heutzutage, und dann geht das große Gejammer los. Bürgermeister, bau einen Kindergarten in der Leipziger. Uns allen wäre geholfen, auch dem Mädchen...

Doch Konz erklärte am Morgen, daß an Kindergärten demnächst nicht zu denken ist. Die Stadt braucht einen Aufbruch. Durchbrüche braucht sie von Norden nach Süden und von Osten nach Westen. Anschlüsse an die Autobahnen. Das frißt Geld, gewiß. Aber wenn wir uns heute dazu nicht entschließen, sagt Konz, zahlen wir morgen das Doppelte, wird es sich rächen in fünfzehn Jahren, noch im Prognosezeitraum. Paul Seidensticker, begreifst du das? Auch dein Bürgermeister wird im Beton vergraben. Ich hab mich gewehrt. Das Alte läßt sich nur verschönern. Bau eine neue Stadt, Konz, draußen, nach Wolfen und Bitterfeld zu, vor den Toren, wo die Erde so flach und so breit ist wie der Himmel darüber. Dort hast du Platz. Dort kannst du wirtschaften aus dem vollen. Und vielleicht springt sogar noch etwas heraus dabei für den Fahrer der Linie sieben.

Ich stieg aus. An diesem Abend war ich mit meinen Fragen allein geblieben. Ich hatte nicht einmal den Duft der Hyazinthen bemerkt. Hinter dem grünen Vorhang auf dem Perron, an der Kurbel, stand eine Frau, die ich nicht kannte. Ich war enttäuscht. Dann hätte ich gleich den Dienstwagen nehmen können. Ein Uhr nachts. Ich wäre früher zu Hause gewesen, früher im Bett. Schlafen. Doch der Schlaf würde ohnehin wieder eine Ewigkeit auf sich warten lassen. So kurz vor der Ablösung. Was das Schlafen betrifft, haben’s sogar die Katzen schon leichter als ich, die, wie man weiß, nur halb soviel brauchen wie ein Mensch. »Wo ist Paul Seidensticker?« frage ich die Frau. »Hat er nicht Nachtschicht?« Sie schaute mich prüfend an. »Kennen Sie ihn?« Ich nickte. »Es ist was passiert«, sagte sie dann, und mir senkte sich plötzlich Blei in die Glieder. Ich hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Vor zwei Wochen, glaub ich, das letzte Mal. »Was ist denn passiert?« — »Mit seiner Großen was.« — »Sigrid?« — »Ja. Seit gestern ist sie verschwunden. Zur Schule gegangen, und seitdem ist sie verschwunden. Paul war ganz aufgeregt, als er uns Nachricht gab.« Sie schwätzte noch irgend etwas von Vertretung und Mangel an Arbeitskräften. Ich hörte schon nicht mehr hin. »Hat man denn einen Anhaltspunkt, eine Ahnung, warum?« — »Nein. Nichts.«