Tochter des Eisens - A.L. Knorr - E-Book

Tochter des Eisens E-Book

A.L. Knorr

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Beschreibung

 Die Töchter der Elemente - Die große Serie von A. L. Knorr Der finale Band!  Ibby bereitet sich auf eine Schlacht mit dem Schöpfer ihrer Kraft vor. Doch dieser ist nicht so einfach zu besiegen. Wenn Ibby eine Chance haben will, dann braucht sie vertrauenswürdige Verbündete. Leider stehen solche nicht zur Auswahl, darum bleibt Ibby nichts anderes übrig, als sich mit der sehr undurchsichtigen Gruppe von Ms. Marks zu verbünden.

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TOCHTER DES EISENS

DIE TÖCHTER DER ELEMENTE

BUCH 16

A. L. KNORR

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

1

"Alles klar für den Eintritt." Die geflüsterten Worte drangen durch meinen Kopfhörer. "Los gehts, Ms. Bashir."

Ich holte tief Luft und schlug mit den verschmolzenen Ringen zu, wobei ich meinen Willen wie einen Durchschlagbolzen ausstieß. Auf der anderen Seite der Gasse flog die rostbesetzte Tür aus den Angeln hinein in die gähnende Dunkelheit. Das markerschütternde Geräusch des Aufpralls war noch nicht einmal verklungen, als das TNC-Sicherheitsteam mit entsicherten Waffen hineinstürmte.

Einen Herzschlag später, ohne dass Widerstand geleistet oder Schüsse abgefeuert wurden, gab Sergeant Stewart der Vorhut die Erlaubnis, vorzurücken, und gab dann dem Rest von uns ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich legte meine Hand auf Stewarts straffe Schulter, wie es mir vor weniger als einer Woche beigebracht worden war, und folgte ihm über die gepflasterte Straße und durch das klaffende Portal, das ich geschaffen hatte.

Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, aber dann kribbelte meine Haut vor Entsetzen. Dieser Unterschlupf war zu einer Gruft geworden.

Im ersten Raum lagen drei Leichen auf dem Boden verstreut, und die Wände waren blutverschmiert. Durch die Türöffnungen zu meiner Linken und Rechten sah ich weitere Szenen des Gemetzels. Die Tür geradeaus war nur ein ahnungsvoller Schatten.

Mehr Leichen, mehr Blut. Männer und Frauen, die auf dem Boden lagen oder an Wänden lehnten. Einige trugen legere Geschäftskleidung, Khakis und leichte Polos, während andere eher die traditionelle Gandoura oder Djellaba Nordafrikas trugen. Wie auch immer sie gekleidet waren, ihre Kleidung war mit karmesinroten Flecken übersät, die zu Schwarz- und Brauntönen getrocknet waren, und jeder Einzelne von ihnen schien bewaffnet gewesen zu sein.

Später würden mich die emotionalen Auswirkungen dessen, was ich sah, verfolgen, aber was mir jetzt auffiel, war, wie ... normal das alles erschien.

Wir waren in diese Ecke Marokkos entsandt worden, nachdem bekannt geworden war, dass in einem bekannten Unterschlupf von Winterthür etwas Seltsames und Gewalttätiges geschehen war. Marks hatte darauf bestanden, dass es sich um Sark handeln musste. Bevor ich groß darüber nachdenken konnte, fand ich mich in einem gecharterten Flugzeug nach Fes wieder, zusammen mit einem Team von gut bewaffneten Männern.

Drei Stunden in der Luft hatten mir gerade genug Zeit gegeben, um zu begreifen, was vor sich ging, bevor ich in einen Jeep geworfen wurde und dann mit dem Team durch heiße, staubige Straßen schlich. Ich hatte mich auf eine direkte Konfrontation mit Sark vorbereitet oder zumindest darauf, sein hässliches Werk zu sehen, aber jetzt - in einem Gebäude voller Leichen - war ich perplex. Diese Menschen waren erschossen worden. Kugeln waren nicht Sarks Art.

"Ich glaube nicht, dass ..." Ich verschluckte meine Worte, als Stewart mit strengem Blick einen Finger an seine Lippen legte.

"Entschuldigung", murmelte ich. Der eisige Blick wurde weicher, und der alte Soldat zwinkerte mir zu, bevor er in das Gebäude blickte, um zu sehen, wie der Rest des Gebäudes durchsucht wurde.

Mit ein paar scharfen Handbewegungen ließ er zwei Mitglieder des zweiten oder „Aufräumteams“ bei mir und nahm die anderen beiden mit. Einer bewachte den Eingang, während der andere mir ein Zeichen gab, mich zu ihm an die Innenwand zu begeben.

In dem schwachen Licht war es schwer zu erkennen, wer hier wer war. Es half auch nicht, dass sie alle einem ähnlichen Typus zu entsprechen schienen. Kompakt und muskulös. Keiner von ihnen war groß - so wie Marcus - außer vielleicht Stewart, der einen breiteren Brustkorb hatte als die anderen, aber sie bewegten sich alle zielstrebig, kraftvoll und effizient.

Als ich mich neben den mir zugewiesenen Begleiter kauerte, schwenkte sein Kopf hin und her, und der Lauf seines Kampfgewehrs folgte seinem Blick. Seine haselnussbraunen Augen nahmen alles mit einer Intensität auf, die an einen Falken erinnerte, und sein Blick war unermüdlich. Selbst als er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, nickte er mir nur kurz zu, während sein Blick bereits weiterwanderte.

Ich wünschte, ich könnte mich so gut konzentrieren. Jetzt, da der erste Ansturm vorbei war, hatte ich Zeit, den Geruch zu verarbeiten. Die Informationen mussten gut gewesen sein, denn die Leichen waren wahrscheinlich erst wenige Stunden alt, aber das bedeutete auch, dass ihr Geruch frisch war. Die schiere Entschlossenheit, mich nicht vor dem Sicherheitsteam zu blamieren, hielt den Inhalt meines Magens an Ort und Stelle, aber es stand auf Messers Schneide, bis Stewarts starker Akzent in mein Ohr drang.

"Gut, bringen wir das Chaos in Ordnung."

Der Mann an der Außentür hielt weiter Wache, aber mein Wächter entspannte sich sichtlich und erhob sich aus seiner Hocke, um zu der Tür zu gehen, die tiefer ins Gebäude führte.

"Gehen Sie nur, aber leise." Er nickte in Richtung Tür.

Ich hatte das Gefühl, als würden sich die Wände an mir vorbeidrehen, während ich stand und darum kämpfte, trotz des Schwindels ruhig zu bleiben. Übelkeit nagte an meinem Magen wie ein mürrischer, alter Köter. Ich schaffte ein paar Schritte, bevor mein Fuß an einem Körper hängen blieb und mich mit ausgestreckten Händen gegen die blutige Wand schleuderte.

Ich zog mich zurück und sah entsetzt auf meine Hände hinunter.

"Keine Sorge." Mein Begleiter fischte etwas aus einer seiner vielen Hosentaschen. Bevor ich merkte, was er tat, drückte etwas Feuchtes und Weiches in meine besudelten Hände. In der Dunkelheit sah es verdächtig nach ein paar Babyfeuchttüchern aus.

"Wirklich?" Meine nervenlosen Finger falteten sich um den nassen Stoff. Ich schenkte ihm ein schiefes Lächeln, wobei meine Mundwinkel zitterten, und begann, das Blut an meinen Händen wegzuschrubben.

"Der beste Freund des Soldaten." Er gluckste mit offenem Mund. "Neben der Ersatzmunition, natürlich." Er streichelte liebevoll über die zusätzlichen Magazine.

"Danke." Ich betrachtete meine Hände und war froh, dass sie sauber waren.

"Natürlich." Er schnappte sich die benutzten Tücher und verstaute sie in einer, wie ich hoffte, leeren Tasche.

"Ms. Bashir!" Stewarts Stimme erklang wie ein Grollen in meinem Ohr. "Warten Sie auf eine Einladung?"

Peinlich berührt ging ich durch die Tür in einen schwach beleuchteten Gang, an dessen Ende sich eine weitere Tür befand. So schnell ich mich traute, durchquerte ich den Zwischenraum, dankbar, nicht über weitere Leichen zu stolpern.

Im nächsten, weitaus größeren Raum lagen mehrere Leichen, die zur Seite geschoben waren. Geschwärzte Schlieren verschmierten den Boden. Die Leichen hier waren schon länger tot.

"... wahrscheinlich wollten sie auf die anderen warten", sagte einer aus dem Sicherheitsteam zu Stewart. "Wollten sie reinkommen lassen und dann in einen einfachen Hinterhalt laufen lassen."

Stewarts Blick tastete den Boden und den Leichenhaufen ab, bis mein Soldat das Wort ergriff.

"Vielleicht hier drin, aber nicht da oben." Er wies mit einer behandschuhten Hand den Weg zurück, den ich gekommen war. "Die Leichen und Einschusslöcher deuten darauf hin, dass diese Leute eine blutige Schießerei hatten."

Derjenige, der zuerst gesprochen hatte, nickte und zog die Stirn in Falten. "Sie sind noch nicht ganz so kalt."

"Genau." Alle Augen richteten sich auf Stewart, der die Stirn runzelte.

Ich stand außerhalb des Rings bewaffneter Männer und war mir nicht sicher, wie ich mich verhalten sollte, geschweige denn, welchen Einblick ich geben konnte. Für mich sah alles wie ein Gemetzel aus.

"Ms. Bashir?" Stewart sah mich an. "Was halten Sie davon?"

Erwartungsvolle Blicke erdrückten mich schier. Ich schluckte hart und zwang mich, nicht auf einen Fleck zu schauen, auf dem Fliegen schwirrten und fröhlich vor sich hin brummten. "Was auch immer hier passiert ist, es war nicht Sark."

"Nein?"

Die Frage war weder böswillig noch anklagend gestellt, aber sie brachte mich dennoch aus dem Konzept.

"Die, äh ... die Leichen", schluckte ich. "Sie wurden erschossen. Sark hätte keine Waffen gebraucht, und es wäre wahrscheinlich, äh ... chaotischer gewesen."

Stewarts Team sah sich aufmerksam um, und in ihren stählernen Blicken glitzerte so etwas wie Respekt.

"Der verdammte Ort ist schon chaotisch genug", sagte einer von ihnen.

"Also, was genau ist hier passiert?" Stewart runzelte die Stirn und stemmte die Hände in die Hüften. "Der Konflikt scheint intern zu sein, nicht extern."

Ein paar aus dem Team nickten, aber ich zog verwirrt die Stirn in Falten.

"Ich kann Ihnen nicht folgen, Sir", gestand ich.

"Es heißt Sergeant, Ms. Bashir", sagte er frostig Ton.

Ich neigte den Kopf in respektvoller Anerkennung.

"Verzeihen Sie, Sergeant. Können Sie mir helfen, zu verstehen, was Sie mit intern gemeint haben?"

Stewart öffnete den Mund, aber mein Kopfhörer gab ein warnendes Klicken von sich, bevor eine scharfe Stimme über die Leitung kam.

"Searg, wir haben hier ein Zed, zweiter Stock."

"Bestätigt. Bin auf dem Weg." Er ging auf eine schmale Treppe im hinteren Teil des Raumes zu. "Hoffen wir auf Antworten."

Ich sah ihm nach und fragte mich, ob ich hier warten oder zurück in den vorderen Raum gehen sollte, als er mir einen bösen Blick zuwarf.

"Doppeltes Tempo, Ms. Bashir, bitte", bellte der Sergeant und deutete die Treppe hinauf. "Sonst ist der arme Kerl tot, bevor wir ankommen."

Das Grinsen in den Gesichtern des Teams entging mir nicht, aber im Vergleich zu Adrian Shelton war Stewart ein Teddybär. Mit erhobenem Kopf und gemessenen Schrittes ging ich zur Treppe.

Das zweite Stockwerk war ein einziger quadratischer Raum mit großen Fenstern in der Mitte jeder Wand. Am südlichen Fenster lagen zwei Leichen, wobei sich eine der beiden Leichen wie ein Raubtier an der Fensterbank festhielt.

Eine weitere Gestalt lag in der Mitte des Raumes, wo ein Sicherheitsbeamter mit vorgehaltener Waffe stand. Hinter den beiden standen zwei L-förmig angeordnete Tische, die sich unter dem Gewicht von Monitoren, Computertürmen und Druckern bogen. In dem Gewirr aus Kabeln und Schnüren lagen mehrere Mobiltelefone, von modernen Smartphones bis hin zu etwas, das wie ein Ziegelstein mit einer Antenne aussah. Alles war unordentlich, und als wir näher kamen, konnte ich sehen, dass alles mit Blut bedeckt war. "Wurde es gesichert?" Stewart hielt zwei Schritte von der Leiche entfernt inne.

"Ja, Sergeant." Ein Soldat wich von der liegenden Gestalt zurück, einer Frau in einem kakifarbenen Anzug und Wanderstiefeln. "Sie hat ein paar Schläge eingesteckt und sich dann den Kopf angeschlagen, als sie fiel."

Drei Blutrosen blühten auf ihrer Brust. Ihre Haut war fahl und wächsern, was in krassem Gegensatz zu den rosafarbenen Flecken stand, die an einem Mundwinkel verschmiert waren. Ihre leblosen Augen starrten an die Decke, und obwohl ich wusste, für wen sie arbeitete, fragte ich mich, wer diese Frau war und wie ihr Leben hätte aussehen können, wenn sie nicht erschossen worden wäre.

"Was macht sie zu einer Zed?", fragte ich und gab mir Mühe, das Wort so auszusprechen, wie ich es gehört hatte.

Die Leiche der Frau gab einen rasselnden Husten von sich und schäumte aus den Mundwinkeln, bevor sich die Augen langsam zu meinem Gesicht bewegten.

Ich taumelte zurück, mein Herz schlug im Galopp, meine Ringe zur Verteidigung erhoben.

"Das", schnaubte Stewart erfreut. Er hockte sich neben die fast tote Frau und schnippte mit den Fingern, um ihren Blick auf sich zu ziehen.

"Was ist passiert?", fragte er mit leiser, neutraler Stimme.

Der Mund der Frau bewegte sich einige Male, wobei seltsame klickende und saugende Geräusche zu hören waren. Sie holte langsam Luft und hustete erneut, diesmal so heftig, dass sie sich auf ihre linke Schulter drehte. Stewart rutschte einen Schritt zurück, während der Soldat sich vorwärts bewegte, aber die einzige Gefahr bestand darin, dass die Frau die Stiefel des Sergeants verschmierte, während sie würgte und spuckte.

Sie ließ sich zurückfallen, und ihre Brust stieß einen zitternden Atemzug nach dem anderen aus. Sie sah Stewart immer noch an, aber ihre Augenlider waren auf halbmast gesunken.

Stewart runzelte die Stirn und war gerade dabei, seine Frage zu wiederholen, als sich ihre Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen.

"Der Anfang", keuchte sie mit leiser Stimme. "Wir sind die ersten Märtyrer des neuen Zeitalters."

Stewart sah mich mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue an, aber ich schaffte es gerade noch, mit den Schultern zu zucken. Im verblassenden Blick der Frau schimmerte etwas Fesselndes und Beunruhigendes.

"Arbeiten Sie für Winterthür?", fragte Stewart.

Ein Lächeln breitete sich auf den Zügen der Frau aus, das durch ihre unnatürliche Blässe noch ätherischer wirkte. Ihr Blick wanderte zurück an die Decke, und einen langen Moment lang dachte ich, sie hätte ihr Leben ausgehaucht.

"Ich bin keine Sklavin mehr", keuchte sie, während ihr Körper zitterte. "Ich wurde befreit."

Stewarts finsterer Blick vertiefte sich, aber als er sprach, war seine Stimme die gleiche sanft drängende.

"Wer hat Sie befreit?"

Sie schaute an Stewart vorbei, mit einer beunruhigenden, fast puppenhaften Bewegung verrenkte sie den Hals, um mich direkt anzusehen. Das Lächeln wurde wahnsinnig breit, bis ich dachte, ihr Gesicht könnte sich spalten. Jetzt erkannte ich den Blick in ihren Augen, und etwas Eisiges schlich sich in meinen Unterleib. Das war Fanatismus. Die Frau war eine Fanatikerin.

"Der unbefleckte König", krächzte sie. "Er, der war, und Er, der wiedergekommen ist!"

Trotz der stickigen Luft lief mir eine Gänsehaut über die Arme. Ich wollte weglaufen, mich verstecken, aber ich stand wie gebannt vor dem sterbenden Blick der Verrückten.

"Ninurta kehrt zurück, und er wird alles neu machen! Wir haben das heilige Werk begonnen, aber er wird es zu Ende führen. Diejenigen, die sich uns in den Weg stellen, werden sich den vergessenen Toten anschließen!"

2

"Was soll dasbedeuten?" Jody Marks verschränkte die Arme, als sie am Fenster stand und auf die belebte Themse blickte. "Abgesehen von der apokalyptischen Theatralik."

Wir hatten den Geruch des Todes in Marokko zurückgelassen, aber das Gefühl des drohenden Schreckens war uns nach London gefolgt.

Stewart und ich tauschten einen Blick aus, seine Schultern zuckten ein wenig, bevor er mir noch leichter nickte.

Danke für die Unterstützung, Soldat.

"Wollen Sie meine Vermutung oder nur das, was wir sicher wissen?" Ich verlagerte mein Gewicht und verschränkte die Arme. "Denn ein Schlachthof in Fes scheint kaum ein schlüssiger Beweis für irgendetwas zu sein."

Marks warf mir einen abwägenden Blick zu, wobei das reflektierte Licht der Stadt und des Wassers ihr graues Haar in eine silberne Krone verwandelte. Ich erwiderte den Blick und spürte ein Kribbeln der Unruhe in meinem Rücken. War ich aufmüpfig? War es mir egal? Bis jetzt gab es keine klare Hierarchie, nur Marks Angebot, mich an den Dingen teilhaben zu lassen, und ich nahm jede Gelegenheit wahr, die sie mir bot. Wir mussten noch herausfinden, ob wir Verbündete waren oder ob ich eine Angestellte war.

"Was immer Sie für angebracht halten, Ms. Bashir." In ihrer Stimme lag keine Herausforderung, aber ihr wachsamer Blick ließ nicht nach.

Marks hat uns zwar gerettet, als Daria die Museumsstation überfiel, aber keiner von uns beiden hat sich der Illusion hingegeben, dass sie nicht etwas im Schilde führte. Die Frage, die immer noch nicht beantwortet war, war, was genau das war.

"Ich vermute, dass Ninurta in irgendeiner Form erwacht ist", sagte ich. "Diese Art von Fanatismus ist ein hundertprozentiger Personenkult, und den würde es nicht geben, wenn man keine Person hat, um die man sich scharen kann. Einige fügen sich ein, andere nicht, und das verursacht ... Probleme."

Ich erinnerte mich an das Summen der Fliegen und den Geruch von Blut und musste ein Schaudern unterdrücken.

Stewarts Blick wanderte zu mir.

"Was meinen Sie mit 'in irgendeiner Form'?" Sein Highland-Akzent war außerhalb der knappen Kommunikation im Feld viel stärker ausgeprägt.

"Sie brauchen eine Person, aber das bedeutet nicht, dass Ninurta physisch aufgewacht ist. Kezsarak konnte mich im Traum angreifen, und er war gefangen, also kann ich mir nur vorstellen, was ein so mächtiges Wesen wie Ninurta tun könnte. Einen Wirt besetzen, seinen Geist aussenden, wer weiß? Ich sage nur, dass sein mumifizierter Körper nicht herumschlurfen muss, damit er eine Bedrohung darstellt."

"Offensichtlich", grunzte Stewart mit ungläubiger Miene.

Ich schüttelte den Kopf, hob die Hände und bemühte mich, die Irritation aus meiner Stimme herauszuhalten.

"Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet." Ich schob den plötzlichen Stich beiseite, als ich mich an den erinnerte, der Experte war. „Wir sollten unsere Perspektive offen halten.“

Marks nickte, bevor sie sich geschickt umdrehte und drei langbeinige Schritte zu ihrem Schreibtisch machte. Sie setzte sich nicht, sondern beugte sich vor, um ein paar Tasten auf ihrer Tastatur zu drücken.

"So oder so", sagte sie und richtete sich auf. "Es scheint, dass die Operationen der Gruppe von Winterthür im Moment sehr verwundbar sind, eine Gelegenheit, die wir nicht verpassen dürfen. Wir haben die Informationen, die Sie über den Irak mitgebracht haben, mit einigen operativen Datensammlungen kombiniert, um Ihr nächstes Ziel zu finden. Ein Briefing liegt in Ihrer Operationsmappe zur Durchsicht bereit."

Stewart nickte, aber ich war verwirrt.

"Was für eine Operationsmappe?"

"Das ist etwas, worüber wir reden müssen", sagte Marks, als sie an die Vorderseite ihres Schreibtisches trat. "Aber ich glaube nicht, dass der Sergeant bei diesem Gespräch dabei sein muss."

Sie nickte Stewart zu, der uns beiden ein knappes "Ma'am" zuwarf, bevor er kerzengerade aus dem Büro marschierte.

"Wenn dieser Mann jemals lächeln würde, könnte sein Gesicht zerspringen", bemerkte Marks und sah dem alten Soldaten mit einem Augenzwinkern hinterher. Wir lachten gemeinsam halbherzig, ein misslungener Versuch, die wachsende Spannung zu entschärfen. Es gab einen langen Moment, in dem sie mich musterte, und ich tat mein Bestes, um entschlossen zu wirken und abzuwarten.

Sie sprach in der Sekunde, bevor ich aufgeben wollte.

"Unsere Beziehung war bis jetzt ... vage." Sie lehnte sich an der Vorderseite ihres Schreibtisches zurück. "Ich würde gerne weiter mit Ihnen zusammenarbeiten, aber ich bin Teil einer Organisation, einer Hierarchie, und Ihre Rolle innerhalb ist noch nicht definiert."

Wir waren endlich auf der gleichen Wellenlänge.

"Ich dachte, wir wären Verbündete." Meine Fäuste glitten in meine Hüften. "Partner im Kampf gegen Winterthür."

Marks nickte. "Verbündete? Partner?" Ihre manikürten Nägel trommelten auf den Schreibtisch. "Ja, aber leider braucht die Nakesh Corporation etwas Offizielleres, etwas Konkreteres."

Instinktiv glitt mein Blick unter ihren Arm und erblickte eine aufgeschlagene Mappe, in der sich Seiten mit getipptem Text befanden, deren Unterschriftslinien sich am unteren Rand des Papiers entlang zogen.

"Ein Vertrag?"

"Ja." Ihr Blick war aufmerksam, ihr Tonfall unaufgeregt. "Ein Vertrag, der Ihre Position und Ihren Schutz als Angestellte der Nakesh Corporation sichert. Er würde nichts an dem Ziel ändern, Ninurta und die Gruppe von Winterthür zu jagen, sondern Sie nur eindeutiger mit der Organisation verbinden."

Ich verhielt mich neutral, obwohl mich die Neugierde, das Dokument zu lesen, übermannte.

Sie schnappte sich die Mappe und hielt sie mir dann hin. "Bitte sehen Sie sich an, was wir Ihnen anbieten, und überlegen Sie, was wir gemeinsam erreichen könnten. Ich weiß, es ist schon viel passiert, aber wir sind schnell dabei, die Dienste von fantastisch begabten Leuten zu sichern. Schließlich stellt Ninurta eine außergewöhnliche Bedrohung dar. Außergewöhnliche Leute im Team zu haben, ist die Lösung."

Ich nahm die Papiere und spürte, wie sie mich ansah. "Darf ich ein paar Fragen stellen?"

"Natürlich." Marks brach den Blickkontakt ab, als sie sich auf ihren Stuhl hinter dem Schreibtisch setzte. "Obwohl ich mir vorstellen kann, dass einige Ihrer Fragen durch das, was in dieser Mappe steht, beantwortet werden könnten."

Ich legte meine Hände flach auf den schweren, glatten Schaft und wog meine Worte sorgfältig ab.

"TNC ist eine multinationale Organisation, die in einem geheimen Krieg, okkulte Schurken bekämpft." Ich hoffte, dass ihr der Vergleich nicht zu krass vorkam. "Ist juristischer Papierkram nicht ... ich weiß nicht ... banal?"

Marks verschränkte ihre Finger. "Die Nakesh Corporation mag Teil des Kampfes um die Rettung der Welt sein, aber wir müssen immer noch Steuern zahlen, unsere Mitarbeiter entlohnen und Konflikte am Arbeitsplatz lösen. Bei solch banalen Dingen hilft der Papierkram, dass die Maschine reibungslos läuft. Schließlich ist das verdammte Zeug ja genau dafür geschaffen worden." Sie lächelte.

Gut und schön, aber die Frage, wie man ein Unternehmen finanzierte, das seine Zeit und sein Vermögen für die Rettung einer unwissenden Welt einsetzte, beschäftigte mich sehr. Ich schob diese Sorge für den Moment beiseite und nutzte ihre Worte als Sprungbrett für meine nächste Frage.

"Apropos Mitarbeiter und Konflikte am Arbeitsplatz." Mir drehte sich der Magen um, während ich ihre Reaktion abwartete. "Werde ich eine Mitarbeiterin von TNC sein, und wenn ja, bin ich Ihnen unterstellt?"

Marks nickte leicht, als würde sie auf eine Schlussfolgerung hinarbeiten. "Ja. Und in gewisser Weise, ja." Ihr Ton war entwaffnend sachlich. "Sie wären eine Angestellte und Mitarbeiterin von TNC und hätten eine großzügig vergütete Position. Nochmals, lesen Sie den Vertrag."

Die Mappe schien plötzlich schwerer zu sein, und es juckte mich in den Fingern, nachzusehen, was genau "gut vergütet" bedeutete. Ich unterdrückte den Drang, indem ich den Rest meiner Frage noch einmal überdachte.

"Was genau bedeutet in gewisser Weise?"

Die gespreizten Finger verschränkten sich zu einem zarten Gebilde aus polierten Nägeln und gut gepflegten Knöcheln.

"Jeder unserer Agenten arbeitet nach strategischen Vorgaben und taktischer Treue. Sie wählen die Missionen aus, an denen sie teilnehmen, aber sobald eine Mission begonnen hat, müssen sie sich an die Methoden und Vorgaben ihrer Vorgesetzten halten. Auf diese Weise werden zwei Dinge sichergestellt: Unsere Agenten nehmen nur Aufträge an, die sie wollen, und es gibt eine klare Befehlskette. Als Einsatzleiter in dieser Region bin ich diejenige, die diese Kette anführt."

Das schien vernünftig und besser als das, was die meisten erwartet hätten, aber ich konnte mich der Realität dessen, was sie sagte, nicht entziehen.

"Sobald ich das unterschreibe, bin ich bei jedem Auftrag, den wir zusammen ausführen, an Ihrer Leine?"

Marks' Augen verengten sich, aber dann warf sie mir ein strahlendes Lächeln zu und lachte kurz auf.

"Sehr clever, Ms. Bashir. Ich ziehe es vor, mich als Koordinatorin zu betrachten. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass die besten Leute für den Job da sind, wo sie sein müssen, damit die Dinge erledigt werden und jeder sicher nach Hause kommt. Wenn das die Ausübung von Autorität erfordert, ist das ein kleiner Preis, der zu zahlen ist."

Es fiel mir schwer, nicht von den sanften und vernünftigen Antworten von Marks beeindruckt zu sein, aber ich war mir sicher, dass die nächste Frage der Dreh- und Angelpunkt sein würde.

"Was passiert, wenn ich nicht unterschreiben will?" Ich unterstrich die Frage mit einem kräftigen Schlag auf die Mappe.

Marks sah mir noch einige Sekunden lang in die Augen, bevor sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte.

"Abgesehen von meinem persönlichen Kummer und dem Gefühl des Versagens?" Sie schüttelte den Kopf, um die rhetorische Ausschmückung zu vertreiben. "Natürlich nichts. Sie können gerne in unseren Einrichtungen bleiben, bis Ihr Onkel und Ms. Davies in eine Langzeitpflegeeinrichtung verlegt werden können, und dann werden wir Sie dorthin bringen, wohin Sie wollen."

"Und wäre ich dannein Feind von TNC?"

"Natürlich nicht." In ihrem Tonfall lag ein Hauch von Vorwurf. "Sie können gerne zurückkommen, wenn Sie es sich anders überlegen, aber selbst wenn Sie es nicht tun, wird Ihnen niemand in der Organisation etwas übel nehmen."

Marks schüttelte den Kopf, und ein weiteres festes, aber wissendes Lächeln umspielte ihre Lippen.

"Wir haben schon genug Feinde, ohne aus alten Verbündeten neue Feinde zu machen."

Ich musterte sie genau, aber sie wirkte ehrlich.

"Sie würden uns also gehen lassen?" Ich war offen leichtgläubig, in der verzweifelten Hoffnung, eine dunkle Absicht zu enthüllen. "Einfach so?"

Marks nickte langsam und warf mir den vielleicht aufrichtigsten Blick des Mitleids zu, den ich je erhalten habe.

"Ja, Ibby." Ihr Ton war sanft, aber eindringlich. "Das ist nicht das, was wir wollen, aber wie ich schon sagte, haben wir genug Arbeit, ohne uns mit denen anzulegen, die unsere Interessen teilen. Sie sind nicht unser Feind, und wir werden Sie immer nur mit Respekt behandeln, aber lassen Sie mich Sie bitten, eine Sache zu bedenken." Ich wartete.

"Wie gut lief es in Ihrem Krieg gegen Ninurta und Winterthür, bevor wir auftauchten?"

3

"Sie hat nicht unrecht." Ich lehnte mich im Stuhl zurück, während ich Jackies Hand hielt.

Ihre Finger waren kalt und schlaff in meinem Griff, weg war die warme Kraft, die sie immer gehabt hatte.

Bei jedem Besuch nahm ich ihre Hand und sprach mit ihr, erzählte ihr, was mir durch den Kopf ging. Ich wollte sie wissen lassen, dass sie nicht allein war. Meine Angewohnheit, mit meiner besten Freundin über meine Sorgen und Nöte zu sprechen, würde ich nicht aufgeben, selbst wenn sie im Koma lag. Ich wollte glauben, dass sie wusste, dass ich bei ihr war, dass sie mich verstand, dass sie meine Anwesenheit spürte.

"Ich weiß, dass es nicht gut ist, Was-wäre-wenn zu spielen, aber ich denke, du wärst nicht in dieser Lage, wenn wir ihnen früher begegnet wären. Wenn sie aufgetaucht wären, bevor wir zu Pierres Anwesen gefahren sind, oder sogar vor Sark ... dann wärst du nicht ... Na ja, es wäre anders gewesen."

Das Beatmungsgerät zischte und schnaufte im Takt mit dem Heben und Senken ihres Brustkorbs. Schläuche quollen aus ihrem Mund und ihrer Nase.

Infusionen liefen aus ihren Händen und Drähte verbanden die Pads, die ihre Brust unter dem Krankenhauskittel bedeckten. Maschinen piepsten, während Zahlen und Codes auf den Bildschirmen blinkten. Meine Freundin schien weniger eine einzelne Person als ein biomechanisches Ökosystem zu sein, ihr Körper der zentrale Wirt für eine Fülle von elektronischer Fauna.

"Trotzdem", schluckte ich gegen den Kloß in meinem Hals an, "in letzter Minute gerettet zu werden ist eine Sache, aber sich bei Marks zu verpflichten eine andere. Die Frau ist furchteinflößend."

Das Trauma und der Blutverlust durch Jackies Verletzungen waren beträchtlich, und obwohl die Einrichtungen in den Stockwerken hinter Nakeshs öffentlichem Gesicht außergewöhnlich waren, konnten sie nur sehr wenig tun. Der Unfallchirurg, der Jackie behandelt hatte, sagte mir, die Tatsache, dass Jackie überhaupt noch lebte, sei ein Beweis für ihre Widerstandsfähigkeit. Selbst nach stundenlanger Arbeit an ihr war das Beste, was sie tun konnten, ein Notbehelf. Jackies Herz schlug, ihr Gehirn zeigte geringe Anzeichen von Aktivität, aber sie wachte nicht auf und atmete nicht von selbst.

"Ich glaube, dass Marks weiß, was sie tut." Ich zuckte mit den Schultern und spürte, wie sich ein neues Gewicht auf mich legte. "Aber was sie kompetent macht, macht sie auch rücksichtslos. Wir wissen, wie es gelaufen ist, als wir das letzte Mal einen solchen Verbündeten hatten."

Der Chirurg hatte mir auch gesagt, dass es möglich sei, dass Jackie wieder aufwachte, dass ihr Körper genug heilen würde, um seine eigenen Funktionen zu übernehmen, während sich ihr Gehirn von der langen Zeit mit so wenig Blut erholte. Das könnte passieren, aber er hatte mir auch gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie nie wieder aufwachen würde, viel größer sei.

Je länger Jackie in diesem Zustand blieb, desto unwahrscheinlicher wurde ihre Genesung, und schließlich versagte ein Körper ohne ein funktionierendes Gehirn. Sie erwähnte Organversagen und Nekrose, solch präzise, sterile Worte für eine hässliche Realität. Trotz meiner Hoffnungen und Überzeugungen könnte meine Freundin schon jetzt tot sein. Und ich klammerte mich an eine Hülle.

"Trotzdem glaube ich, dass wir mit ihrer Hilfe mehr erreichen können." Ich lehnte mich vor und stützte meinen Kopf auf meinen ausgestreckten Arm. "Ich mag es einfach nicht, Befehle zu befolgen. Wir haben es so weit gebracht, weil wir unserem Instinkt vertraut haben."

Meine Stimme verstummte, als ich zu Jackie aufsah. Meine Sicht verschwamm, als die Tränen aufstiegen und heiße, vertraute Bahnen über mein Gesicht zogen. Ich unterdrückte ein Schluchzen.

Das Beatmungsgerät gab weiterhin seine reptilienartigen Laute von sich, während der vogelartige Chor der Überwachungsgeräte weiterspielte.

"Vielleicht hast du recht." Ich schniefte und hob einen kalten Finger, um ihn gegen meine Stirn zu drücken. "Vielleicht muss ich den Tatsachen ins Auge sehen. Aus meiner Führung ist nicht viel geworden. Vielleicht sollte ich mal jemand anderem eine Chance geben."

* * *

"Bist du dir da sicher, Ibby?"

Onkel Iry saß im Hof der Nakesh Corporation in seinem Rollstuhl.

"A'am, wenn ich mir sicher wäre, wäre ich nicht hier, um dich zu fragen." Ich senkte mein Gesicht und starrte auf den kleinen Kaffeetisch zwischen uns. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein bockiges Kind, aber das war mir egal. Ich konnte immer noch die salzigen Tränen in meinen Mundwinkeln schmecken.

"Ich sehe Gründe, das Angebot anzunehmen", murmelte ich. "Aber ich sehe auch Gründe, warum wir nicht bei einer zwielichtigen Firma unterschreiben sollten, die behauptet, alle ihre verdeckten Operationen dienten dem Kampf gegen einen rivalisierenden Geheimbund."

Ich spürte, wie sich ein großer, schwieliger Griff um meine Hand legte und sah zu Onkel Iry auf.

"Ibby, ich bin mir nicht sicher, ob es eine richtige Antwort gibt." Er drückte meine Hand ein wenig. "Wir sind so weit von dem entfernt, was einer von uns beiden je gekannt hat. Ich könnte dir sagen, dass du dieses oder jenes tun sollst, aber das wäre kaum mehr als eine Vermutung, kein Rat oder eine Weisheit."

Ich drückte seine Hand zurück und stützte mich mit dem anderen Ellbogen ab.

"An diesem Punkt nehme ich sowohl Vermutungen als auch Ratschläge an. Aber nur einen pro Kunde."

Ein Lächeln kroch über seine wettergegerbten Züge, die Falten in seinem Gesicht waren tiefer und zahlreicher als je zuvor.

"Na dann." Er stöhnte leise auf, als er sich zurücksinken ließ und meine Hand freigab. "Ich gebe mir Mühe."

Ich verschränkte die Arme, stützte mich auf beide Ellbogen und fühlte mich ein wenig jünger, ein wenig leichter, während ich auf den Rat eines Älteren wartete. Er behauptete, nur zu raten, aber Onkel Iry war die Stimme der Weisheit in meinem Leben. Seine Geduld, seine ständige Weigerung, vor den bitteren Schwierigkeiten zu kapitulieren, die er ertragen hatte, seine sanfte Art, die Wahrheit zu sagen, all das verband sich zu einer wunderschönen Seele. Die Vermutungen von Irshad Bashir waren mehr wert als eine Legion weiser Männer.

"Was soll ich tun, A'am?"

Onkel Iry blickte sich um, der kleine Hof war von leuchtenden Pflanzen an Pfahlspalieren umgeben, die fast bis an die Glasfenster des Komplexes heranreichten. Er schaute nach oben und blinzelte, als die Sonne auf den Fenstern, die sich über Dutzende von Stockwerken in den Himmel reckten, glitzerte. Schließlich blickte er auf den Rollstuhl hinunter, in dem ein Bein auf einem Pedal ruhte, während das andere vor ihm lag und von der Wade bis zur Mitte des Oberschenkels in einen Gipsverband gehüllt war. Der Gips stabilisierte den Oberschenkelbruch, den er erlitten hatte, als Sark uns verriet und Daria die Geister-Museumsstation zerstörte. Die Ärzte, die von TNC gestellt wurden, waren optimistisch, dass er wieder fast voll funktionsfähig sein würde, was angesichts der Schwere des Bruchs fantastisch war. In den überwältigenden ersten Tagen bei TNC war dies eine willkommene Nachricht gewesen, da Jackies Situation so unbeständig war.

"All das ist besorgniserregend", sagte Iry schließlich und winkte mit der Hand zum Innenhof und den riesigen Büroflächen um uns herum. "Es ist alles eine Illusion, eine Maske, hinter der sich eine Gruppe von Menschen verbirgt, die ganz anders leben als die, die an diesem Gebäude vorbeigehen."

Ich öffnete den Mund, um darauf hinzuweisen, dass sie kein Schild mit der Aufschrift WIR BEKÄMPFEN BÖSE JUNGS an die Eingangstür hängen konnten, aber die erhobene Hand meines Onkels hielt mich davon ab. Ich hatte ihn gefragt, also sollte ich ihn auch zu Wort kommen lassen.

"Ich weiß." Er nickte langsam. "Sie haben guten Grund, Geheimnisse zu bewahren, aber Männer, die gut darin sind, Geheimnisse zu bewahren, sind auch gut darin, noch mehr Geheimnisse zu schaffen. Sie züchten sie, wie ein Hirte Schafe züchtet, und ich frage mich, welche anderen Geheimnisse sie haben. Hinter diesen glänzenden Fenstern könnten Grausamkeiten verborgen sein, und wir würden es nie erfahren."

Ich konnte seinen Standpunkt verstehen. Mit der schmerzlichen Ausnahme von Sark waren alle anderen in unserer kleinen Gruppe von Kämpfern gegen Winterthür Leute, die wir kannten und denen wir vertrauten. Jackie war meine beste Freundin, Lowe ein durch Blut und Schicksal verbundener Mentor, und Onkel Iry war das einzig lebende Familienmitglied, das ich noch hatte. Sogar Marcus, der Nachzügler, war ein Kollege und Freund, der alles getan hatte, um mich zu retten. TNC hatte nichts von alledem, und selbst in den wenigen Wochen, seit sie uns gerettet hatten, war klar geworden, dass viel mehr dahinter steckte.

"Wir können ihnen nicht trauen." Ich spürte, wie sich eine Entscheidung in meinem Kopf festsetzte. "Wie können wir also unser Leben in ihre Hände legen?"

Iry warf mir einen langen Seitenblick zu. "Moment mal." Er wedelte mit einem Finger. "Ich war noch nicht fertig."

Ich warf meine Hände in die Luft. "A'am, bitte! Erlöse mich von meinem Elend."

"Ungeduldiges Kind", brummte er spöttisch, und seine Mundwinkel zuckten nach oben. "Hör geduldig zu und sprich weniger, vor allem, wenn du um Rat fragst."

Ich verdrehte die Augen und warf ihm dann einen verschmitzten Blick zu. "Ich dachte, das wäre nur eine Vermutung?"

"Wechsele nicht das Thema." Er machte eine Show daraus, den Sitz des Rollstuhls einzustellen. Als er damit fertig war, griff er nach unten und tippte mit einem Finger auf den Gips an seinem Bein.

"Das ist es, was mir zu denken gibt." Er deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Türen, die aus dem Innenhof zum Aufzug hinunter zu den medizinischen Bereichen führten. "Und die Sorgfalt, die sie bei Jackie an den Tag legen. Beides deutet darauf hin, dass diese geheimnisvollen Leute Rohdiamanten sein könnten."

Ich blieb gebeugt sitzen, beobachtete meinen Onkel aufmerksam und saugte jedes Wort auf wie einen Schatz.

"Wir müssen ihnen nun schon seit vielen Tagen vertrauen. Was haben wir dafür vorzuweisen?"

Eine kleine, hässliche Stimme in mir wollte eine abfällige Bemerkung über Jackies Zustand machen, aber ich unterdrückte sie aus Prinzip. Ich konnte die Schuld für die Verletzungen meiner Freundin nicht TNC in die Schuhe schieben. Es war Daria, die dafür verantwortlich war. Meine Backenzähne knirschten bei dem Gedanken daran.

"Wenn diese Frau - Ms. Marks - so ruchlos und skrupellos ist, wie wir annehmen, warum sollte sie sich dann die Mühe machen, uns zu pflegen? Wir hätten bei minderwertiger Pflege sterben können. In Wahrheit hätte sie uns umbringen lassen können, und es wäre unwahrscheinlich, dass du etwas anderem als unseren Verletzungen die Schuld dafür gegeben hättest, insbesondere bei Jackie."