Tochter des Metalls - A.L. Knorr - E-Book

Tochter des Metalls E-Book

A.L. Knorr

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Beschreibung

Die Töchter der Elemente - Die große Serie von A. L. Knorr  Ibby arbeitet als Archäologin in einem Museumsarchiv in London. Ihre Arbeit wirkt recht monoton. Nur ihr fürchterlicher Boss sorgt gelegentlich für Aufregung. Darum kann Ibby es kaum glauben, als sie im Museum ein nirgendwo registriertes Artefakt entdeckt. Ein Artefakt, das sich nicht nur nirgendwo einordnen lässt, sondern das Ibby auch seltsame Kräfte verleiht.

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TOCHTER DES METALLS

DIE TÖCHTER DER ELEMENTE

BUCH 14

A. L. KNORR

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

1

Ich überprüfte das Statussymbol neben Onkel Irshads lächelndem Gesicht.

Grau: inaktiv.

Ich stieß einen lang gezogenen Seufzer aus und sank zurück in meinen Lieblingssessel, wobei sich meine Finger um eine Tasse mit Tee schlossen.

"Keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten", sagte ich mir, aber ich hasste diese Worte, sobald ich sie ausgesprochen hatte.

Für Onkel Irshad Bashir - wie für so viele andere im Sudan - konnte keine Nachricht genauso gut etwas wirklich Schreckliches bedeuten. Milizen, Hungersnöte und Seuchen hatten so vielen Menschen in der Heimat meiner Eltern mehr genommen, als man sich vorstellen konnte. Obwohl Onkel Iry bei unseren Gesprächen immer lächelte, konnte auch er nicht so tun, als ob die Dinge nicht schlimm wären. Das war schließlich der Grund, warum meine Eltern weggegangen waren.

Je älter ich wurde, desto mehr bewunderte ich die Tapferkeit meiner Eltern. Den Sudan und alles, was sie kannten, zu verlassen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihr ungeborenes Kind (meine Wenigkeit), erforderte eine Menge Glauben und Mut.

Ich starrte das Symbol an, kniff die Augen zusammen und forderte ihn telepathisch auf, online zu gehen. Das graue Symbol blieb unverändert und rebellierte. Genervt gab ich auf. Ich sah auf die Uhr - 01:20 Uhr - und stöhnte.

Der morgige Tag wird die reinste Hölle werden.

Ich hätte schon vor Stunden ins Bett gehen sollen, aber ich wusste, ich würde nicht gut schlafen, solange nicht klar war, dass es Onkel Iry gut ging. Ich wagte nicht zu hoffen, dass er den Job bekommen hatte, aber vielleicht lag das daran, dass ich versuchte, nicht an die Arbeit zu denken. Mein Blick wanderte durch meine winzige Wohnung zu der Stelle, an der meine Arbeitsjacke an einem Haken neben meinem Bett hing. Mein lächelndes Gesicht grinste von dem Ausweis, der am Revers befestigt war.

Bashir, Ibukun

Katalogisierung

Britisches Museum

"Ein besseres Leben für dich, Ibby", hatte meine Mutter eines Abends gesagt. "Ein besseres Leben, in dem du ohne Angst vor bösen Männern mit Gewehren aufwachsen kannst."

"Du kennst Adrian Shelton nicht, Umm", murmelte ich, wobei ich das arabische Wort für "Mama" verwendete. "Es gibt Zeiten, in denen ich lieber bösen Männern mit Pistolen gegenüberstehen würde."

Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber mit meinem Vorgesetzten war nicht zu spaßen. Adrian Shelton war ein furchtbar anspruchsvoller und kritischer Mann. Es schien ihm eine besondere Freude zu sein, alles, was ich tat, genau unter die Lupe zu nehmen. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen. Ich brauchte das mickrige Gehalt, außerdem war das Praktikum meine beste Chance, nach dem Studium einen richtigen Job zu bekommen. Meine ganze Zukunft hing davon ab, Dr. Shelton glücklich zu machen. Dabei bezweifelte ich, dass der Mann überhaupt wusste, wie manglücklich war.

Noch wichtiger als meine Zukunft war das Leben meines Onkels, das von meinem Erfolg abhing. Jeder Tag, den er im Sudan blieb, war ein weiterer Tag, an dem sein Leben in Gefahr war. Ich brauchte Geld, um diesem Risiko ein Ende zu setzen. Geld, das ich verdienen könnte, wenn ich endlich einen gut bezahlten Job bekäme, idealerweise (wenn ich zu träumen wagte) beim Museum für Naturgeschichte.

Ich unterdrückte einen weiteren traurigen Seufzer und stand mit meiner inzwischen kalten Tasse Tee auf. Ich hüpfte über einen Stapel gefalteter Wäsche zur Arbeitsplatte, die meine gesamte Küchenzeile ausmachte, schaltete den Wasserkocher ein und starrte auf das blaue Licht, als das Gerät zu rumpeln und zu zischen begann.

Wie Reifen auf nassen Straßen. Wie in jener Nacht.

Der Gedanke traf mich bis ins Mark, sodass ich reflexartig die Arme um meine Brust schlang. Es war fast neun Monate her, dass ein Lastwagen an einer nassen Straßenecke zu schnell gefahren war und meine Eltern in ein frühes Grab geschickt hatte.

Sie waren ausgegangen, um den neuen Job meiner Mutter als Krankenschwester zu feiern, genau den Beruf, den sie jahrelang im Sudan ausgeübt hatte, bevor sie nach London kam. Es hatte fast zwei Jahrzehnte gedauert, aber jetzt hätte sie endlich wieder den Beruf ausüben können, für den sie geboren war.

Mein Vater hatte gewusst, dass meine Mutter mir die Nachricht selbst überbringen wollte, aber als ich an diesem Abend anrief, konnte er nicht anders.

Es war aus ihm herausgeplatzt: "Sie hat es geschafft, Ibby! Sie hat den Job!", rief er, bevor ich überhaupt ein Wort gesagt hatte.

Er hatte sich sofort danach bei meiner Mutter entschuldigt und ihr das Handy übergeben, aber sie war zu glücklich, um sich von seinem Ausbruch die Stimmung verderben zu lassen. Mein Vater war wie mein Onkel, der immer lächelte und viel lachte, ein Mann, der sein großes Herz auf der Zunge trug. Mutter war sanfter, ruhiger, aber irgendwie auch stärker als er gewesen. "Ja, Ibby", hatte sie mit ihrer tiefen, sanften Stimme gesagt. "Ich bin wieder eine Krankenschwester."

Das war eines der letzten Dinge, die meine Mutter je zu mir sagte. Das und ihre Pläne, meinen Onkel Iry mit dem Geld aus dem neuen Job nach Großbritannien zu holen.

Jetzt war ich Onkel Irys einzige Hoffnung.

Ich umklammerte meinen Oberkörper noch immer und warf einen Blick auf den Laptop-Bildschirm. Meine müden Augen glitten über das Statussymbol, aber als es aufblinkte, wurde ich munter.

Grün: aktiv.

Den Tee und den Wasserkocher vergessend, sprang ich über die Wäsche und wich einem abgelegten Paar Schuhe aus, während ich mich auf den Laptop stürzte. Mit der einen Hand klemmte ich das Headset ein, während ich mit der anderen die Maus bediente. Onkel Iry musste für jede Minute, die er in einem kleinen Internetcafé online war, bezahlen, also war jede Sekunde kostbar.

Die Statusleiste zeigte an, dass eine Verbindung hergestellt wurde, und ich führte einen kleinen Freudentanz auf.

Ein paar Sekunden später öffnete sich ein Fenster. Alles, was ich sah, war seine dunkle, kahle Kopfhaut unter einer Zimmerdecke mit abblätterndem Putz und grellen Leuchtstoffröhren.

"Ibby? Bist du da?" Die tiefe Stimme meines Onkels drang durch das Headset.

"Versuch, die Kamera nach unten zu richten, A'am", schlug ich vor. Mein Onkel hatte darum gebeten, dass wir uns immer auf Englisch unterhielten, damit er üben konnte, aber ich konnte mir nicht verkneifen, hier und da ein wenig Arabisch einzuschmuggeln.

Die Ansicht im Chat-Fenster verschob sich, verpixelte sich und nun sah ich Irshads gut aussehendes Gesicht mit dem gepflegten Bart und den bronzenen Augen unserer Familie. Als der Bildschirm schärfer wurde, runzelte er konzentriert die Stirn. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie hohl seine Wangen waren und wie sich die Falten um seinen Mund und seine Augen vertieften. Das alles verschwand, als er dieses riesige Grinsen aufsetzte. Mein Herz schmerzte. Er erinnerte mich so sehr an meinen Vater.

Jeder Tag mehr fordert seinen Preis.

"Was macht ein braves Mädchen wie du zu einer Zeit wie dieser?" Er klang ernst, aber er konnte sein Lächeln nicht unterdrücken.

"Ich konnte nicht schlafen", log ich und versuchte, mir nicht die brennenden Augen zu reiben. "Ich hatte gehofft, du würdest auftauchen. Es ist schon fast eine Woche her, A'am-mi."

Die Miene meines Onkels wurde zerknirscht, und er nickte. "Es tut mir leid, Ibby, ich hätte mich früher melden sollen. Die Dinge waren ... schwierig."

Ich ballte meine Faust und schlug mir die Knöchel auf den Oberschenkel, weil ich mich schämte, ihm Vorwürfe zu machen. Onkel Iry lebte nicht nur in einer der unruhigsten Regionen des Sudan, sondern musste auch viele Kilometer laufen, um ins Internetcafé zu kommen. Er hatte nur am späten Abend Zeit, weil er entweder auf der Suche nach Arbeit war oder die Arbeit erledigte, die er finden konnte. Auch wenn er es nicht sagte, wusste ich, dass er erschöpft war.

"Nein, es tut mir leid, es ist nur ..." Ich biss mir auf die Lippe, kämpfte um Worte und versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Das Letzte, was mein Onkel gebrauchen konnte, war, seine kostbaren Minuten damit zu verbringen, mir beim Weinen zuzusehen. Davon hatte er schon genug ertragen müssen, als meine Eltern gestorben waren.

"Aber ich habe gute Nachrichten, Ibby! Sehr gute Nachrichten!"

Onkel Iry, der mich sogar aus einer Entfernung von Tausenden von Kilometern tröstete.

Ich zwang mich, meine Stimme zu beruhigen. "Wirklich? Spuck schon aus. Weißt du nicht, wie spät es schon ist?"

Er gluckste, sein Lächeln wurde wieder breiter. "Ein Unternehmen expandiert und braucht Bauarbeiter. Ihr Vorarbeiter suchte nach Männern mit Schweißerfahrung, also habe ich Arbeit für die nächsten paar Monate. Möglicherweise auch länger!"

Das war keine gute, sondern eine großartige Nachricht. Mein Onkel und mein Vater hatten früher als Automechaniker in einer Werkstatt in Nyala gearbeitet. Als mein Vater den Wunsch äußerte, mit seiner hochschwangeren Frau nach Großbritannien zu gehen, hatte mein Onkel die wenigen Ersparnisse, die er besaß, dazu verwendet, dies zu ermöglichen. Kurz darauf hatten ihn die Gewalt und die anschwellende Flut von Vertriebenen aus Nyala zurück in ihr Heimatdorf im Buschland getrieben. Es hatte Jahre gedauert, bis die Brüder nach dem Chaos wieder zueinanderfanden, und beide hatten kaum genug zum Leben zusammenkratzen können. Seit Jahren schlug sich Onkel Iry mit jeder Arbeit durch, die er annehmen konnte. Eine Arbeit wie diese, qualifiziert und mit der Aussicht auf eine längere Tätigkeit, war sehr selten.

Aber irgendetwas erregte meine Aufmerksamkeit, und ich spürte, wie sich in meinem Bauch ein Gefühl des Misstrauens regte.

"A'am, du sagtest Unternehmen. Aber welche Firma? Was produzieren die?"

Onkel Irys Lächeln wurde ein wenig schwächer, und er wedelte mit einem Finger über den Bildschirm. "Also, Ibby, denk dran, nur Englisch."

Er hielt mich hin. Mein Magen verknotete sich. "Onkel ..."

Das Lächeln verwandelte sich in ein verlegenes Grinsen, das mich vielleicht überzeugt hätte, wenn ich nicht geahnt hätte, was jetzt kam.

"Greater Nile Petrol. Wir erweitern einige der Ölfelder."

Der Knoten wurde zu einem Gewicht, das mir den Boden unter dem Bauch wegzog. "Greater Nile ...! Oh, Iry, nein." Ich sank tief in meinen Stuhl.

"Ibby, das ist immer noch eine gute Nachricht. Es wird sicher sein, das verspreche ich."

Iry war immer ein ehrlicher Mann, aber in diesem Moment log er. Die GNP war nicht nur für ihre erbarmungslosen Arbeitsbedingungen berüchtigt, sondern auch ein beliebtes Ziel für jede bewaffnete Gangsterbande, die sich in der Gegend herumtrieb. Er konnte mir nicht versprechen, dass er sicher sein würde, denn die Ölfelder im Sudan gehörten zu den gefährlichsten Orten, an denen er sich aufhalten konnte.

Diesmal konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, die mir in die Augen stiegen.

"Ich weiß, dass es beängstigend ist, Ibby, aber wenn ich weitermache, bin ich meiner Familie bald ein großes Stück näher."

Er meinte mich. Das brutale Leben im Sudan hatte uns alles genommen. Auch unsere Verwandten.

Ich versuchte, die Gedanken, die Schuldgefühle und die Wünsche zu verdrängen, aber sie kamen wie eine Flut über mich. Es war ungerecht. Es war grausam, und ich war machtlos.

Nichts, was ich sagen konnte, nichts, was ich tun konnte, würde ihn von diesen Ölfeldern fernhalten, denn nichts war für uns beide so wichtig wie unser Zusammensein.

Weinen würde nicht helfen. Ich musste stark sein, egal was passierte. Ich wischte meine Tränen weg und versuchte, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. "Und schon bald wirst du eine kostenlose Führung durch das Naturkundemuseum von deiner Nichte, die bald dort arbeiten wird, bekommen."

Die letzten Worte blieben mir fast im Hals stecken, aber ich zwang sie heraus, ein leuchtendes Versprechen, für dessen Einhaltung ich alles tun würde.

Das strahlende Lächeln von Onkel Iry war es wert. "Ich kann diesen Tag kaum erwarten, Ibby. Sag mal, wie läuft denn das Praktikum?"

2

Das Wecksignal surrte wütend neben meinem Ohr. Ich schlug unbeholfen nach meinem Handy und warf es dabei auf den Boden, wo das Summen zu einem Rauschen wurde.

Halb stöhnend, halb knurrend warf ich mich über den Rand meiner Matratze, um das fiese Ding zu greifen. Meine schlaftrunkenen Finger fummelten an der Schlummertaste herum, während ich mit einem trüben Auge auf den Bildschirm starrte. Das Wecksignal verstummte, als das Display mein träges Hirn auf Trab brachte.

7:30 Uhr.

Ich war spät dran. Viel zu spät.

Ich hatte nicht darauf geachtet, wann ich das Gespräch mit Onkel Iry beendet hatte, aber es war viel später als sonst gewesen. Wegen seines neuen Jobs bei Greater Nile saß das Geld etwas lockerer bei ihm, und wie hätte ich ihn da abwimmeln können? Als wir uns schließlich verabschiedeten, hatte ich es gerade noch geschafft, das Headset abzunehmen, bevor ich auf meiner Matratze zusammensackte.

Ich setzte mich auf, rieb mir das Gesicht und zwang mein schlaftrunkenes Gehirn, zu arbeiten. Gab es noch eine Möglichkeit, pünktlich zur Arbeit zu kommen?

An einem guten Tag war ich um 6:40 Uhr vor der Tür und erreichte Mile End um 7, wo ich die Linie bis Tottenham Court Road nehmen konnte. Damit war ich um 7:40 Uhr im Museum. Früh genug, selbst für einen elenden Wichtigtuer wie Shelton.

An einem Tag, an dem ich etwas knapper dran war, würde ich nach Stepney Green laufen, mit der Hammersmith & City Line zur Liverpool Street fahren, die Central nach Holborn nehmen und dann wie verrückt rennen. So hatte ich die Chance, durch die Hintertüren zu kommen, wo Eddy, der Portier, mich heimlich hineinließ. Ich schlich mich rein und ging in die Katalogisierung, bevor Shelton kam und mich ausschimpfte. Wenn er seine Schnabelnase in den Sortierraum steckte, begrüßte ich ihn mit einem fröhlichen "Guten Morgen", und er schlich davon, um jemand anderen zu kritisieren.

Doch heute war ich viel zu spät dran.

Meine Hände glitten von meinem Gesicht zu meinen Schläfen, wo ein fieser Schmerz pochte, der von meiner Kopfhaut bis irgendwo hinter meine Augen lief.

Ich würde zu spät kommen. Shelton würde mit mir meckern, die ganze Zeit mit diesem Schimmer abscheulicher Freude in seinen Augen. Es gab keinen Ausweg.

Nach einem weiteren Stöhnen machte ich mich fertig und war froh, dass ich meine Haare am Vorabend bereits zu Zöpfen geflochten hatte. Ich brachte den Wasserkocher zum Kochen und nahm eine Dusche, die zu schnell war, um warm oder entspannend zu sein, bevor ich meinen Kaffee aufbrühte. Das Gute an der Arbeit in der Katalogisierung war, dass die Wahl meiner Garderobe einfach war. Eine dunkle Hose, ein dezentes Oberteil und eine schlichte Uniformjacke, an deren Revers ein Ausweis hing.

Ich schnappte mir meine Tasche und meinen Kaffee und machte mir nicht die Mühe, mich im Spiegel zu betrachten. Shelton würde meinen Anblick einfach ertragen müssen.

Auf dem Weg nach Mile End tauchte ich in die unaufhörlich laute und geschäftige Welt der Londoner U-Bahn ein. Die Geräuschkulisse des ärmeren Viertels im Osten Londons bestand aus einem Mischmasch aus jahrhundertealter Cockney-Mundart, Hindi-Dialekten und einer Vielzahl anderer Sprachen. Es war die Hintergrundmusik meines gesamten Lebens. Meine Eltern hatten sich nie daran gewöhnen können, aber ich war eine geborene Londonerin. Das Summen der U-Bahn war wie eine alte Wolldecke. An manchen Stellen kratzig, aber doch vertraut.

Ich ließ mich in diese Decke fallen, als ich ein Lehrbuch aus meiner Tasche holte. Die Pendler um mich herum schrieben SMS, lasen, hörten Musik. Ich blätterte in meinem Buch und las einen Bericht darüber, wie Metallgegenstände einem aufmerksamen Archäologen nicht nur verraten konnten, "wann" etwas hergestellt wurde, sondern auch "wo", bis hin zu dem Hügel oder Felsen, aus dem es abgebaut wurde. Dies wiederum verriet viel über die Menschen, die es hergestellt hatten, ihre Vorgehensweise und ihren Platz in der Geschichte der Menschheit. Ein paar Spurenelemente hier, ein paar Untersuchungen dort, und ein einziger Gegenstand konnte unser Wissen über die Menschen, die vor Hunderten oder Tausenden von Jahren lebten, neu gestalten.

Es war wie Magie, und ich liebte es.

Das war der Grund, warum ich ein Praktikum im Museum machte, aber auch, warum ich frustriert war, dass man mich in die Katalogisierung versetzt hatte. Ich wollte Artefakte untersuchen, ihre Eigenschaften beurteilen, ihre Herkunft prüfen. Besonders Felsbrocken, Metalle und Steine faszinierten mich und je älter sie waren, desto besser.

In der Katalogisierung sortierte ich Kartons und gab Zahlen in einen Computer ein. Das war eine staubtrockene Arbeit. Das Museum verfügte über eine riesige Auswahl an Antiquitäten, und die Exponate wurden ständig aus den Archiven auf den Boden und wieder zurückgebracht. Meine Abteilung hatte die Aufgabe, den Papierkram zu erledigen und dafür zu sorgen, dass nichts falsch abgelegt wurde oder verloren ging. Es war nicht so, dass die Arbeit keine Relevanz hatte. Schließlich wäre es tragisch, eine Kiste mit antiken Artefakten zu verlegen, aber es war die Art von Arbeit, die ein trainierter Affe erledigen konnte. Überprüfen Sie die Nummer auf Ihrem Bildschirm, überprüfen Sie die Nummer auf der Schachtel, überprüfen Sie das Siegel, stempeln Sie es ab. Wiederholen Sie diesen Vorgang.

Ich hatte mich fast ein Jahr lang damit herumgeplagt, ohne die Artefakte jemals wirklich in die Hand nehmen zu können.

Ich blickte von meinem Buch auf, verdrängte die düsteren Gedanken und sah, dass meine Haltestelle die nächste war. Ich schaute auf meinem Handy nach der Uhrzeit.

8:22 Uhr

Ich packte meine Sachen, straffte die Schultern und stieg in der Tottenham Court Road aus. Ich wollte Adrian Shelton mit erhobenem Haupt gegenübertreten.

Diese Einstellung hielt an, bis ich den Sicherheitsschalter am Personaleingang erreichte. Tariq, einer der beiden dort stationierten Pförtner, warf mir einen mitleidigen Blick zu.

"Vorsichtig, Miss Ibby. Dr. Shelton ist auf der Jagd, und er ist hungrig."

Meine Schultern sackten herab. Ich hielt mich nicht für einen Schwächling. Schließlich war ich im East End aufgewachsen, aber die Erschöpfung, gepaart mit der latenten Angst um Onkel Iry, forderten ihren Tribut. Shelton erschien mir plötzlich wie Goliath, und ich war beileibe kein David.

Ein Hauch von Angst machte sich in mir breit, als ich mich in der Lobby umsah und mich Tariq zuwandte. Er fing meinen Blick auf und beugte sich vor.

"Weißt du vielleicht, wo er sich gerade herumtreibt?", murmelte ich.

Tariq warf einen Seitenblick auf seinen Kollegen, einen Mann, den wir nur als McPhee kannten, der mit den Schultern zuckte und wieder auf seinen Monitor starrte. Tariq rückte etwas näher heran.

Ich fragte mich unwillkürlich: Ist mein Kaffee-Atem so schlimm wie der des Pförtners?

"Er hat uns gebeten, ihn zu informieren, sobald du auftauchst, und ist dann in die Verwaltung gegangen", flüsterte er mir zu. "Wahrscheinlich schärft er seine Eckzähne. Du weißt ja, wie sehr er Blut liebt, frisch aus der Halsschlagader."

Ich kämpfte gegen den Drang an, in banger Erwartung in Richtung des linken Korridors zu starren. Meine Stimme erhob sich um eine Oktave. "Wann war das?"

Tariq sah zu McPhee hinüber, der den Blick nicht von seinem Bildschirm abwandte, sondern hilfsbereit vier Finger hochhielt. Tariq nickte und verstand die Geste des schweigsamen Pförtners.

"Vor zwanzig Minuten."

Ich zuckte zusammen. Er konnte inzwischen überall sein. Er könnte gleich um die Ecke kommen, neben dem Aufzug auf der Lauer liegen, in meiner Ecke kauern und zum Angriff übergehen. Ich begann, die Paranoia von Bürgern aus diktatorischen Ländern besser zu verstehen. In Momenten wie diesen war mein Leben voller Angst und Unsicherheit. Zum Glück musste ich nicht lange warten, bis der Stein ins Rollen geriet.

McPhee stieß ein warnendes Grunzen aus. "Er ist im Anflug."

Tariq drehte sich in seinem Stuhl, während wir McPhee anstarrten. Ein Vibrieren kam aus meiner Tasche, aber ich ignorierte mein Handy, meine Handflächen schwitzten.

Eine scharfe Zunge mit schottischem Akzent erklang in meinem Rücken, und ich zuckte zusammen.

"Frau Bashir, wie schön, dass Sie heute Morgen zu uns kommen", sagte Shelton süffisant. "Ich musste auf die Uhr schauen, um mich zu vergewissern, dass es noch Morgen ist."

Mein Herz hüpfte, als Tariq und ich Blickkontakt aufnahmen. In seinen Augen war so viel Weiß zu sehen, dass es fast schon komisch war. Selbst Tariq, der seit Jahren hier arbeitete, hatte immer noch Angst vor Adrian Shelton.

Ich setzte meinen besten, zerknirschten Blick auf und drehte mich mit gesenktem Kopf und den Händen auf dem Rücken zu meinem Verhängnis um.

Dr. Adrian Shelton war groß, sommersprossig und ebenso steif wie sein gestärkter Anzugskittel. Wenn jemals ein Mann Selbstgefälligkeit ausgestrahlt hatte, dann er. Er starrte mich durch eine Brille mit Drahtbügeln an. Seine schmalen Lippen pressten sich zu etwas zusammen, das weder ein Lächeln noch ein Grinsen war, sondern irgendetwas dazwischen.

Beteuerungen, nie wieder zu spät zu kommen, wurden von ihm nur mit Spott quittiert.

"Guten Morgen, Sir. Entschuldigen Sie bitte meine Verspätung."

Dr. Shelton wischte meine Worte mit einem verächtlichen Heben des Kinns beiseite. "Wie ich sehe, begnügen Sie sich nicht damit, sich Ihrer Verantwortung zu entziehen, sondern befanden es für nötig, diese Männer in einen Vertuschungsversuch zu verwickeln." Sein anklagender Blick galt nun auch den beiden Männern.

Am Rande beobachtete ich, wie McPhee und Tariq sich einen besorgten Blick zuwarfen. Es schien, als würde Shelton heute Morgen zu einem Rundumschlag ausholen. Tariqs Mund öffnete sich, um die Anschuldigung abzuweisen, aber ich kam ihm zuvor.

"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Dr. Shelton. Diese Männer sind so unbestechlich wie immer."

Mit meiner versteckten Hand zeigte ich beiden Männern heimlich einen Daumen nach oben, während sich in meiner Brust ein wenig Kampfgeist regte. Wenn Shelton mich über den Haufen schießen wollte, war das in Ordnung. Onkel hin oder her, ich war zu spät zur Arbeit gekommen, und ich würde alles hinnehmen. Aber auf zwei Personen loszugehen, die kaum mehr als Zuschauer waren, das war Mobbing.

"Das bleibt abzuwarten." Shelton blickte die Männer an. "Im Moment muss ich mich noch mit Ihrem unverantwortlichen Verhalten auseinandersetzen."

Wenigstens schien Shelton die Absicht zu haben, sich zuerst an mir abzureagieren. Dieser kleine Sieg verlieh mir einen gefährlichen Schub an Selbstvertrauen.

"Am besten schicken Sie mich gleich nach unten, Sir." Ich zeigte auf den Aufzug, falls er sich Sorgen machte, ich hätte vergessen, wie man in den Keller kommt. "Mit etwas Glück kann ich bis zum Mittag alles nachholen."

Sheltons wässrig-blaue Augen blitzten bei meinem Ton gefährlich auf. Ich war zu weit gegangen. Für einen Moment fühlte es sich gut an, aber das böse Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, verursachte mir ein mulmiges Gefühl.

"Als Ihr Vorgesetzter entscheide ich, was das Beste ist, aber bitte gehen Sie auf jeden Fall in Ihre Abteilung. Ich werde dafür sorgen, dass es Ihnen nicht an Gelegenheit mangelt, den Rückstand aufzuholen, aber zuerst muss ich in die Verwaltung zurückkehren und einen Vermerk in Ihrer Akte hinterlassen."

Ich weigerte mich, ihm zu zeigen, wie sehr mir das wehtat. Eine schlechter Eintrag in meiner Akte könnte mich verfolgen, vor allem, wenn ich später eine richtige Arbeit in diesem Bereich finden wollte. Ich nickte zaghaft. "Wäre das alles, Dr. Shelton?"

Shelton winkte abwesend ab. "Gehen Sie, Ms. Bashir, Sie sind mit Ihren Pflichten entsetzlich im Rückstand. Vielleicht verschafft Ihnen die Arbeit Zeit, den Kopf freizubekommen für das Gespräch, das Sie zweifellos mit Ihrer Tutorin führen werden."

Ich wollte schon gehen, aber seine Worte schleuderten mich herum und trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Tutorin? Wollte er sich wirklich wegen dieser Sache an die Universität wenden? Ein schlechter Vermerk in meiner Akte war eine Sache, aber ein Anruf beim akademischen Arbeitsbereich eine andere. Das Museum und die Universität arbeiteten eng zusammen, und das bedeutete, dass ein solcher Anruf weitreichende Folgen haben konnte.

Ich begegnete Sheltons Blick, der mich herausforderte, etwas zu sagen, irgendetwas, das er gegen mich verwenden konnte. Nur der Gedanke an Onkel Iry hielt mich davon ab, ihm zu geben, was er wollte.

"In Ordnung, Sir. Dann sollte ich jetzt gehen."

Er schien regelrecht enttäuscht von meiner Antwort zu sein.

Ich spürte die mitleidigen Blicke von Tariq und McPhee auf mir, aber ich schaute nicht zurück. Ich konnte es nicht. Ich versuchte angestrengt, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich war mir nicht sicher, ob ich Shelton die Nase brechen oder in Tränen ausbrechen wollte.

Onkel Iry, erinnerte ich mich. Für ihn. Dafür, dass wir wieder eine Familie sein können.

Ich wählte den Aufzug und musste zum Glück nicht länger als ein paar Sekunden warten, bis die Türen aufgingen. Ein großer, silberhaariger Herr mit einer Brille mit Drahtbügeln wie aus den Dreißigern stieg aus und warf mir einen neugierigen Blick zu. Ich ignorierte ihn.

Ich trat ein und weigerte mich, irgendetwas anderes, als das Bedienfeld anzuschauen. Die Türen schlossen sich. Der Aufzug setzte sich mit einem kleinen Ruck in Bewegung, und ich ließ mich gegen die Rückwand der Kabine sinken. Mit einem schaudernden Seufzer erinnerte ich mich an das vorherige Vibrieren meines Handys.

Reflexartig holte ich es heraus und schaltete den Bildschirm ein.

Jackie D.

Hey Liebes, hast du Lust auf eine Nacht im Hen mit deiner besten Freundin? Bitte, ich muss dich unbedingt treffen!

Auf den Text folgte eine Reihe von Emojis mit flehenden Augen, und trotz allem, was ich gerade durchgemacht hatte, musste ich lächeln, wenigstens ein bisschen. Ich tippte eine Antwort ein. Der Aufzug kam zum Stehen, und die Türen öffneten sich. Ich trat heraus und drückte auf "Antworten".

Klar. Ich brauche unbedingt etwas Spaß.

Als ich meine kleine dunkle Ecke erreichte, flimmerte ein Trio von animierten Feuerwerkskörpern über meinen Bildschirm.

Liebes, das wollte ich hören!!! XOXO! Wir sehen uns um 8.

Jackie und ich waren seit Beginn unserer gemeinsamen Unizeit befreundet. Wenn ich irgendetwas über sie gelernt hatte, dann war es, dass sie wirklich nur Spaß im Sinn hatte. Auf die beste und die schlimmste Art und Weise.

Ich war mir nicht sicher, ob ein Abend mit ihr das Richtige für mich war, aber in diesem Moment war es das, was ich brauchte.

3

Die Etage, in der sich die Archive befanden, wurde Kerker genannt, obwohl sie nicht die unterste Ebene des Museums war. Vielleicht lag es daran, dass die ganze Etage ständig dunkel war und nur kleine Lichtinseln an den einzelnen Arbeitsplätzen zu sehen waren. Vielleicht lag es aber auch daran, dass jeder, der das Pech hatte, hier unten zu arbeiten, die gleichen Erwartungen hatte wie jeder Gefangene: Er kam nicht weit.

Ich fand den Lichtschalter für meinen Arbeitsplatz und stöhnte auf, als mein Schreibtisch mit Licht geflutet wurde. Ich hatte gedacht, Dr. Shelton sei nur gemein, als er gesagt hatte, ich sei entsetzlich im Rückstand mit meiner Arbeit. Es stellte sich heraus, dass er mehr wusste als ich.

Wie gewohnt hatte Dr. Shelton mir alle Exponate aus zwei Abteilungen zukommen lassen. Sie lagen in ungeordneten Stapeln auf Rollwagen aus Edelstahl, aufgereiht wie eine Flotte von Bombern mit schlechten Nachrichten. Auf dem einen stand "Französische Revolution; Kontinentale Geschichte", auf dem anderen "Updates; Archive".

Das war eine Gemeinheit von Shelton, mir Stücke aus dem Archiv zu schicken. Die Stücke aus den Archiven wurden nicht für eine Ausstellung in Betracht gezogen und hatten seit ihrer letzten Bearbeitung nichts anderes getan, als zu ruhen. Sie zu überprüfen war reine Formalität. So konnte sich die Archivabteilung davon überzeugen, dass niemand mit einer Scherbe oder so abgehauen war. Abgesehen davon, dass diese Stücke nutzlos waren, waren sie auch berüchtigt dafür, schwer zu bearbeiten zu sein. Die meisten Stücke im Archiv hatten keinen Eintrag im Computersystem. Das bedeutete, dass ich höchstwahrscheinlich einen völlig neuen Eintrag erstellen musste.

Wie ich schon sagte, Shelton war ein Idiot.

Ich zog meinen Hocker heran und schaltete den Computer und den Monitor ein. Das Surren eines uralten Lüfters kämpfte darum, den schrulligen Prozessor kühl zu halten. Der Monitor blinkte einen Moment lang SIGNALSUCHE, und die Statusanzeige wechselte von orange auf grün, als das System hochfuhr.

Das war eine Erleichterung.

Manchmal weigerten sich die jahrzehntealten Computer, die wir benutzten, überhaupt zu arbeiten, blieben hängen, wie störrische Maultiere, und gaben auf halber Strecke eines Bergpfades auf. Wenn die Verbindung des Computers mit dem Netzwerk des Museums durch einen Mikrochip gestört wurde, der einen altersbedingten Husten ausstieß, konnte man den gesamten Eintrag verlieren und musste von vorn beginnen.

Es war einfach nur mühsam. Ich hatte das monatelang gemacht, und - wenn dieser Morgen ein Hinweis auf meine Zukunft war - würde ich es noch viele Monate lang tun.

Nachdem der Computer endlich hochgefahren war, rief ich das Archiv auf und fand das Verzeichnis für Aktualisierungen. Das Fenster füllte sich bald mit einer Reihe von Einträgen. Ein kurzer Blick ließ mich ein verzweifeltes Stöhnen unterdrücken. Viele von ihnen trugen alte Bezeichnungen aus der Zeit vor den letzten Aktualisierungen des Systems. Während ich die Kisten betrachtete, fragte ich mich, ob ich bei so viel Arbeit überhaupt noch Zeit haben würde, zu meinen Nachmittagsvorlesungen zu gehen.

Das Mantra meines Vaters kam mir in den Sinn: Keine Arbeit ist jemals durch Selbstmitleid erledigt worden.

Ich ging zu dem am weitesten entfernten Wagen, schnappte mir den ersten Karton und schleppte ihn zu meinem Schreibtisch.

Obwohl er ein verdammt guter Automechaniker war, hatte mein Vater seit seiner Ankunft im Vereinigten Königreich fast jeden Tag mit den am schlechtesten bezahltesten Jobs verbracht, die es gab. Jeder Arbeitgeber ging davon aus, dass die Zeugnisse meines Vaters aufgrund der Armut im Sudan und seiner bewegten Geschichte entweder wertlos oder eine glatte Lüge waren. Trotzdem hatte er sich nie beklagt und immer gesagt, dass er jeden Job gern annehmen würde, wenn er seine Familie damit ernähren könnte.

Familie war das Einzige, was zählte, und so verarbeitete ich für meine Familie oder das, was von ihr übrig war, diesen Stapel. Dann den nächsten Stapel und den nächsten. Bald würden sie ins Archiv gerollt werden müssen. Der Gedanke, zumindest für eine Viertelstunde hinter meinem Computerbildschirm hervorzukommen, verlieh mir einen neuen Motivationsschub.

Ich war so begeistert von dem Gedanken an eine kurze Pause, dass ich nicht darauf achtete, wie voll mein Arbeitsplatz wurde.

Mein Ellbogen streifte einen der letzten drei Kartons. Ich sah plötzlich hilflos zu, wie er über den Schreibtisch rutschte. Ich war schon in Bewegung, aber nicht schnell genug. Die Schachtel schlug mit einem schweren Knirschen auf dem Boden auf. Das Siegel brach, und schwarzes Pulver explodierte daraus hervor.

Einen Augenblick später wurde die ganze Etage dunkel. Das Fehlen von unzufriedenem Gemurmel an den anderen Arbeitsplätzen bedeutete, dass ich die Mittagspause durchgearbeitet hatte und es nicht einmal bemerkt hatte. Als ob er mich dafür bestrafen wollte, meldete sich mein Magen mit einem lauten Grummeln.

Die undurchdringliche Dunkelheit war ein Schock, aber einen Moment später kramte ich mein Handy aus der Tasche. Stromschwankungen waren hier unten so normal wie der Klatsch und Tratsch im Verwaltungsbüro. Irgendjemand, irgendwo hatte das System überlastet. Wir waren die Ersten, die die Auswirkungen zu spüren bekamen. Manchmal fragte ich mich, ob die ganze verdammte Sache so geplant war. Schließlich war unsere Arbeit die unwichtigste. An jedem anderen Tag hätte ich vielleicht nur dagesessen und gewartet, aber ich hatte zu viel zu tun, und jetzt musste ich auch noch ein Chaos beseitigen.

Das Licht des Handys stach hell durch die Dunkelheit. Mehrere schmutzige Keramik- und Metallstücke lagen auf dem Boden, auf einem dünnen Bett von dunkler Erde. Ich fluchte leise über die Keramik- und Metallfragmente und war mir ziemlich sicher, dass sie ursprünglich nicht „kaputt“ gewesen waren.

Ich hatte noch nie ein Artefakt beschädigt und fragte mich verschwommen, ob Shelton mich auf der Stelle feuern würde. Allein die Unordnung würde ihn zur Weißglut treiben, ganz zu schweigen davon, dass ich etwas Jahrhundertealtes zerstört hatte.

Mit finsterer Miene schlich ich zur Abstellkammer und war plötzlich froh über den Schutz der Dunkelheit. Ich musste das Chaos aufräumen und die Sachen ins Archiv bringen. Ich würde Meredith fragen, was zu tun war.

Meredith Janssen, eine leitende Forschungsassistentin, war für mich so etwas wie eine Vertraute bei der Arbeit. Wir unterhielten uns oft, wenn ich dort war, um etwas aus einer laufenden Ausstellung abzuholen. Sie hatte angedeutet, dass sie seit Jahren mit Shelton "zu tun" hatte, und Mitleid mit mir habe. Ich hatte nie näher nachgefragt, aber ich hoffte, da ich jetzt eine echte Krise hatte, dass sie mir vielleicht helfen konnte.

Ich schnappte mir einen Besen und eine Kehrschaufel und kehrte zu meinem Arbeitsplatz zurück, gerade als der Strom wieder da war.

Im grellen Licht der Deckenbeleuchtung wurde das Ausmaß des Durcheinanders deutlich, und ich stand fassungslos da, weil so viel Schmutz den Boden bedeckte. Es schien unmöglich, dass eine so kleine Schachtel so viel fassen konnte. Resigniert begann ich zu fegen. Fünfzehn Minuten später hatte ich fast den gesamten Schmutz in die Schachtel zurückbefördert, und musste nur noch das zerbrochene Artefakt einsammeln - oder das, was davon übrig war. Ich nahm mir eine Rolle Verpackungsklebeband, um den Karton wieder zu verschließen, aber dann fragte ich mich, ob das Wiederverschließen einer Vertuschung gleichkam.

Eine wütendere, hässlichere Seite von mir antwortete: Wen juckts? Aber am Ende entschied ich mich, an meinem Plan festzuhalten. Frag Meredith.

Ich wollte die Scherben gerade zurück in den Behälter werfen, als mir etwas ins Auge fiel. Ein glänzendes Metall hob sich von den zerbrochenen Tonscherben ab. Die Art des Metalls war nicht sofort ersichtlich, aber auf den ersten Blick vermutete ich, dass es sich um eine Kupferlegierung handelte. Ein kurzer Blick auf das Etikett des Behälters verriet mir, dass es sich um frühe hethitische Töpferwaren handelte - Metalle wurden nicht erwähnt.

Jetzt war meine Neugier geweckt.

Ich legte die Kehrschaufel auf meinem Arbeitstisch ab und kniete mich hin. Vorsichtig schob ich mit einem Stift das Durcheinander umher, um einen besseren Blick auf die Metallfragmente zu bekommen.

Bald wurde klar, dass es sich nicht um Fragmente handelte, sondern um dicke Ringe, zwei davon, die aus einem einzigen Stück Metall gearbeitet waren, sodass sie miteinander verbunden waren. Jeder Ring hatte ein breites Band, in das Keilschrift eingraviert war, die eher Sumerisch oder Akkadisch als Hethitisch aussah. Eine Seite der Ringe war uneben, und das hellere Grau des freiliegenden Metalls deutete darauf hin, dass etwas davon abgebrochen worden war. Wenn sie getragen würden, würden die Ringe zwei Finger von der Mitte bis zum unteren Knöchel vollständig bedecken. Das seltsame Metall wies schwache, kräuselnde Rillen auf. Beweise für einen Schmiedeprozess, den ich selbst nach langem Studium der Metallurgietechniken alter Kulturen nicht gesehen hatte.

Ich überprüfte die Schachtel noch einmal und suchte nach etwas, das ein so aufregendes und einzigartiges Artefakt definierte. Es gab nirgendwo in oder auf der Schachtel eine Erklärung für die beiden Ringe.

Es sah so aus, als hätte ich mit Meredith mehr, als nur mein Missgeschick zu besprechen.

* * *

Ich rief ihren Namen leise von der Tür des Katalogisierungslabors D aus.

Eine kleine, stämmige Frau mit einem Wirrwarr aus braunen Locken trat von einem Labortisch weg, an dem sie und zwei weitere Kollegen standen. Sie blinzelte eulenhaft hinter ihrer großen Brille, und ihr Lächeln leuchtete auf.

"Ibby, ich habe dich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen", sagte sie freundlich, als sie zur Tür herüberkam.

Meredith war immer fröhlich und neigte zu Cockney-Slang, auch wenn das die hochnäsigen Mitarbeiter irritierte, nicht zuletzt einen gewissen Vorgesetzten. Das war vielleicht der Grund, warum wir uns so gut verstanden.

"Ich habe dich auch vermisst. Ich störe doch nicht bei etwas Wichtigem, oder?"

Meredith winkte abweisend ab. "Denk nicht darüber nach, meine Liebe. Ich lasse die Jungs einfach eine Weile ihren Schwänzen hinterherjagen." Sie trat näher heran und senkte ihre Stimme. "Unter uns gesagt, wir beide zusammen könnten die Arbeit von drein dieser Knallköpfe erledigen."

Ich bedeckte meinen Mund, um ein Lächeln zu verbergen. Es war unmöglich, Meredith nicht zu mögen. "Ein echtes Kompliment, wenn ich je eines gehört habe." Ich deutete auf den Flur. "Darf ich dir hier draußen etwas zeigen?"

Meredith nickte, und gemeinsam gingen wir in den Flur, wo ich den mit Kisten beladenen Wagen abgestellt hatte. Ich nahm die Schachtel mit den seltsamen Ringen von oben, schaute den Flur auf und ab und warf über Merediths Schulter einen Blick auf die beiden Männer. Sie schenkten uns keine Beachtung.

"Mir ist ein Malheur passiert, als der Strom vorhin ausging", sagte ich mit leiser Stimme, "aber das hat mich zu einer faszinierenden Entdeckung geführt."

Ich öffnete die Schachtel, nahm den Stift, den ich mir hinters Ohr gesteckt hatte, und griff hinein, um die Ringe damit anzuheben. Meredith sah wortlos zu, wie sie vor ihrem Gesicht in der Luft hingen und im gedämpften Licht des Flurs glitzerten.

"Diese Schachtel ist als frühe hethitische Töpferware gekennzeichnet, aber sieh dir das an. So etwas habe ich noch nie gesehen. Wenn diese Markierungen hethitisch sind, dann bin ich eine Pusteblume."

Meredith holte einen Latexhandschuh aus ihrer Jackentasche und nahm die Ringe in die Hand, wobei sich Neugier auf ihren Gesichtszüge zeigte. Ein paar Mal hob sie mit der freien Hand ihre Brille auf den Kopf und wieder herunter. Während sie die Ringe begutachtete, murmelte sie, ohne mir in die Augen zu sehen: "Was für ein Malheur ist denn genau passiert?"

Irgendetwas in Merediths Tonfall löste in mir Unbehagen aus, aber ich erinnerte mich daran, wie ernst sie ihren Job nahm, und ich nahm an, dass sie nur versuchte, professionell zu sein. Ich erzählte ihr, dass Shelton die ganze zusätzliche Arbeit auf mich abgewälzt hatte. Das hatte dazu geführt, dass mein Arbeitsplatz überfüllt war und ich versehentlich die Schachtel von meinem Schreibtisch gestoßen hatte, als der Strom ausgefallen war und was ich dann entdeckt hatte. Meredith hörte zu, ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.

"Jetzt habe ich zwei Probleme: Erstens, was soll ich mit dem Artefakt machen, und zweitens, wem soll ich das melden? Ich vermute, dass Shelton das als Vorwand benutzen wird, um mich zu entlassen."

Sie runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und nahm mir den Karton ab. Kurzerhand ließ sie die Ringe wieder hineinfallen und verschloss ihn. Sie hielt ihn mir in Armeslänge entgegen.

"Verschließ ihn und leg ihn zurück ins Archiv zu den anderen Teilen, die du dort hast." Sie wies mit dem Kinn auf den Wagen.

Ungläubig blinzelte ich sie an. Wollte sie mir wirklich sagen, ich solle es vertuschen? Es ignorieren? Es niemandem erzählen? Sollte ich so tun, als hätte ich keine neuen, möglicherweise einzigartigen metallurgischen Hinweise in einigen vergessenen Keramikfragmenten gefunden?

"Wirklich?"