Trail to Heka - Melanie Vogltanz - E-Book
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Trail to Heka E-Book

Melanie Vogltanz

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Beschreibung

»Ich bin Seth, Herr von Ombos, Sohn von Nut. Herrscher über Deshret, Erschaffer von Feuer und Chaos – und Barkeeper in Nevada. Zumindest war ich das, bevor ich am Arsch der Welt einem Wichser nachstellen musste, der mein Zeug geklaut hat.« »Sie haben etwas, das dir gehört :( Hole es zurück, oder sie werden es benutzen!« Die Nachricht einer alten Feindin führt den gefallenen Chaosgott Seth nach Kanada. Fernab seiner Wahlheimat begibt Seth sich auf die Suche nach einem zerstörerischen Teil seiner Kräfte, von dem er sich vor Langem losgesagt hat. Der Schaden, den sein Heka in falschen Händen anrichten könnte, gefährdet diese neue faszinierende Welt, die er gerade erst für sich entdeckt hat. Doch sind seine eigenen Hände tatsächlich die richtigen? Auf seiner Reise muss Seth sich nicht nur mächtigen Feinden stellen, sondern seiner eigenen Vergangenheit – und der alten Versuchung einer weltenverbrennenden Kraft. Ein brandneuer Roadtrip aus dem Kemet-Universum quer durch die Wildnis Kanadas, mit neuen und alten Freunden – und dem Versprechen auf eine zweite Chance.

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Trail to Heka
Über die Autorin
Impressum
Content Notes
Kapitel 1
1
2
3
4
5
Kapitel 2
1
2
3
4
5
Kapitel 3
1
2
3
4
5
6
Kapitel 4
1
2
3
4
Kapitel 5
1
2
3
4
Kapitel 6
1
2
3
4
5
Kapitel 7
1
2
3
4
5
Kapitel 8
1
2
3
4
5
6
Kapitel 9
1
2
3
4
Kapitel 10
1
2
3
4
Kapitel 11
1
2
3
Nachwort und Danksagung
Über den Verlag

Melanie Vogltanz

Trail to Heka

Seth auf der Suche

Über die Autorin

Melanie Vogltanz wurde 1992 in Wien geboren und hat ihren Magister in Deutscher Philologie, Anglistik und Lehrer*innenbildung an der Universität Wien gemacht. Aktuell ist sie als selbstständige Lektorin und Korrektorin tätig und macht gute Bücher mit großartigen Menschen. 2007 veröffentlichte sie ihr Romandebüt; weitere Veröffentlichungen im Bereich der Dunklen Phantastik folgten. 2016 wurde sie mit dem »Encouragement Award« der European Science Fiction Society ausgezeichnet. Ihr Roman »Shape Me« wurde für den Deutschen Science Fiction-Preis und den Kurd Laßwitz-Preis nominiert. Mehr Informationen auf: www.melanie-vogltanz.net und www.lektoratvogltanz.com

Impressum

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

Copyright © 2023 Art Skript Phantastik Verlag

1. Auflage 2023

Art Skript Phantastik Verlag | Salach

Lektorat » Isa Theobald

Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Druck » BookPress | www.bookpress.eu

ISBN » 978-3-949880-04-9

Auch als eBook erhältlich

Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Content Notes

Wir möchten unseren Lesenden den Genuss dieses Buches so angenehm wie möglich machen. Daher nutzen wir Content Notes, um auf eventuell problematische Stellen hinzuweisen. Da es keine allgemeinen Regelungen zum Umgang mit Inhaltswarnungen gibt, entstand die folgende Liste in enger Zusammenarbeit zwischen Verlegerin und den Autorinnen der Geschichte. Solltest du Stellen finden, die nicht mit Content Note versehen sind, zögere nicht dies mitzuteilen. Schreib gerne eine Mail an Verlegerin Grit Richter unter [email protected]

Vielen Dank

Ableismus/ableistische Sprache

Alkohol

Armut und Obdachlosigkeit

Blitzeinschlag

Blut und Verletzungen

Bodyhorror (Verwandlung und grafische Darstellung veränderter Körper)

Depression

Erbrechen

Erschöpfung und (freiwilliger) Schlafentzug

Ertrinken

Explizite Sprache

Feuer und Verbrennungen

Gewalt gegen Erwachsene und Tiere (explizit)

Haft (erwähnt)

Halluzinogene und Rauschzustände

Hunger und (freiwilliger) Nahrungsentzug

Isolation

Kämpfe (explizit)

Krankheit und medizinische Behandlung

Mord

Nacktheit

Narben

Naturgewalt und -katastrophen (Stürme und Überschwemmungen)

Othering und Fremdenfeindlichkeit

Probleme bei der Geburt (Kaiserschnitt)

PTSD

Suizid und parasuizidales Verhalten

Tabak

Tod wichtiger Figuren

Vergiftung

Verstümmelung

Waffen (Speere, Klingen)

Bitte achte beim Lesen auf dich und dein Wohlbefinden.

Ein Glossar befindet sich am Ende des Romans.

Hier geht es zur Spotify Playlist

Ombos ist niedergerissen.

Seine Tempel sind vernichtet.

Alle, die zu ihm gehörten, sind nicht mehr.

Ihr Gott ist nicht mehr.

Verfluchungstext aus der altägyptischen Spätzeit

Kapitel 1

Roadtrip

1

Wie ein Pfeil aus Feuer schneidet es durch das Land.

Wo es seine Schritte setzt, wird wüst, was grünte.

Die Quellen, aus denen es trinkt, färben sich rot.

O Isis. O Osiris. O Horus!

Gewährt uns euren Schutz!

Das Chaostier ist nah.

2

Der Sturm zerrte an dem Stück Fotopapier in Seths Händen und drohte, es ihm zu entreißen. Er schloss die Finger fester darum und zog die Schultern hoch, um sich gegen den Wind abzuschirmen. Unangenehm peitschte sein Haar ihm ins Gesicht und erzeugte ein schwarzes Schneegestöber vor seinen Augen.

War das seine dritte Nacht auf der Straße? Seine vierte? Es fiel ihm zunehmend schwerer, das Verstreichen der Zeit zu überblicken. Die Tage bestanden aus endlosen grauen Linien niemals endenden Asphalts und dem monotonen Knattern und Dröhnen seines Motors. Die Nächte waren erfüllt von trüben Gedanken, erschöpften Gliedern – und nun auch noch Kälte. Es war immer noch später Sommer, doch über Dakota fegte ein heftiges Gewitter. Fast war es, als wollte die Natur selbst Seth zurücktreiben. Als wollte etwas ihn zum Umkehren bewegen.

Doch Seth konnte nicht zurück.

Der ungepflasterte Platz, auf dem tagsüber die Autos von Ausflüglern und Wanderern parkten und den Seth sich in dieser Nacht als Schlafplatz auserkoren hatte, war von der nahen Baumlinie kaum vor Wind und Wetter geschützt. Als würden sie in Missfallen die Köpfe schütteln, beugten die Wipfel sich unter der Kraft des Sturms. Seth drehte den Oberkörper, sodass seine Jacke und sein Rücken das Foto in seinen Händen notdürftig gegen den Wind abschirmten, und betrachtete es durch das Flattern seiner Haare hindurch. Es zeigte das Leben, das er zurückgelassen hatte. Tara und Billy, Arm in Arm vor dem Heliopolis, die beide breit in die Kamera grinsten. Die Traurigkeit auf ihren Mienen war erst auf den zweiten Blick erkennbar. Vielleicht sah Seth sie aber auch nur, weil er sie sehen wollte.

Er selbst hatte dieses Foto geschossen – mit der Polaroidkamera, die die Sterblichen ihm vor seiner Reise geschenkt hatten. Es schien ein halbes Leben zurückzuliegen, dass Tara ihm das schlampig verpackte Päckchen in die Hände gedrückt hatte.

Ich habe doch schon ein Telefon, war seine irritierte Antwort gewesen, nachdem er das Paket von seinem Papier befreit hatte.

Und Tara und Billy hatten ihn ausgelacht und ihm gezeigt, wie man das Gerät bediente.

Es ist ganz einfach, hatte Billy gesagt. So einfach, dass sogar du das hinkriegst, Boss.

Und wenn du zurückkommst, wollen wir viele Bilder von deiner Reise sehen, hatte Tara sich eingeschaltet. Dann ist es fast so, als wären wir dabei gewesen.

In einem Punkt sollten die beiden rechtbehalten: Seth durchschaute schnell, wie er dem kleinen Kasten die stabilen Schwarz-Weiß-Fotos abringen konnte, die er mit einem leisen, freundlichen Surren ausspuckte. Das erste Foto – jenes, das er nun in Händen hielt – war ganz einfach gewesen.

Was darauf folgte, war deutlich schwerer.

Seth schüttelte unwillig den Kopf und schob das Foto zurück in die Innentasche seiner Lederjacke, an jenen sicheren Ort, an dem sich auch der unselige Briefumschlag befand, der ihn quer durch die Vereinigten Staaten getrieben hatte. Wenn sein Orientierungssinn nicht bereits komplett bei Apophis war, dann musste er morgen die Grenze erreichen.

Kanada. Ein Teil von Seth begriff es immer noch nicht. So viel in seinem Leben hatte sich in so kurzer Zeit verändert, und vieles davon war positiv gewesen. Und dann war alles so dramatisch schief gegangen.

Seth versuchte sich eine Zigarette anzuzünden, aber der Wind machte es ihm unmöglich. Nicht einmal die Flamme, die sein eigenes Heka erzeugte, vermochte den Tabak in Brand zu setzen, ehe der Sturm sie wieder ausstieß. Schließlich fluchte Seth lange und anhaltend, steckte die Zigarette zurück in seine Jacke und suchte seine Satteltasche nach einem Bier ab, in der Hoffnung, dass ihn der Alkohol ein wenig wärmen und ihm das Einschlafen erleichtern würde. Seine Finger fanden nichts. Offenbar hatte er seinen Reiseproviant bereits aufgebraucht.

Schaudernd zog Seth den Schlafsack, auf dem er bislang gesessen hatte, höher und schob ihn über seinen Körper im vergeblichen Versuch, es sich bequem zu machen. Mit einem kriechenden Gefühl des Unbehagens stellte er fest, dass er bald Geld brauchen würde. Er hatte unterschätzt, wie schnell das Benzin ein Loch in seine spärliche Reisekasse brennen würde. Als er für seine Reise gepackt hatte, da hatte er gedacht, ein Schlafsack und seine Harley wären alles, was er benötigte. Es war das erste Mal seit seinem Fall, dass er so weit weg vom Heliopolis war, so weit weg von … nun, warum es nicht einfach sagen? Von zu Hause.

Seit tausend Meilen versuchte Seth all diese Gedanken zu unterdrücken. Die Einsamkeit zu ersticken, und die Zweifel. Er fuhr den Erinnerungen auf seiner Harley davon, indem er Motor und Reifen zu Höchstleistungen antrieb. Doch nachts, im Stillstand, holten sie ihn stets wieder ein. Vielleicht lag es am Schlafsack und der Kälte – Dinge, die ihn zu jener Zeit unter der Brücke in Vegas zurückwarfen, als er und die Sterblichen noch heimatlos gewesen waren, als sie noch von einem Tag zum anderen gelebt hatten, ohne zu wissen, wo die nächste Mahlzeit, das nächste Bier herkommen würde. Niemals hätte Seth gedacht, dass er jemals wieder zu diesem Zustand zurückkehren würde – schon gar nicht allein.

Seths Hand zuckte zu seinem Mobiltelefon, das er ebenfalls in seiner Satteltasche verwahrte. Doch wie all die Male davor zog er sie zurück, ohne das Gerät hervorgeholt zu haben. Seit er unterwegs war, hielt er es abgeschaltet. Um Strom zu sparen, aber auch, weil er den Kontakt zu seinem alten Leben so gering wie möglich halten musste, wenn er sich selbst und die anderen nicht in Gefahr bringen wollte. So sehr er sich wünschte, vertraute Stimmen zu hören – er durfte dem Drang nicht nachgeben.

Er war doch noch gar nicht lange fort. Er musste stärker sein als das.

Unwillig schnaubte Seth. Scheiße, er war der gottverdammte Herrscher des Chaos – kein Hund, den man vor die Tür gejagt hatte! Warum also konnte er nicht einfach abschließen mit dem, was hinter ihm lag, und nach vorne blicken? Nut wusste, dass er all seine Kraft brauchen würde für das, was vor ihm lag.

Seth zog den Schlafsack über den Kopf. Der Wind hörte auf, an seinem Haar zu zerren, und der robuste Polyester um ihn erzeugte fast so etwas wie Stille in dem künstlichen Kokon. Die Anstrengung der vergangenen Tage verlangte ihren Tribut. Seth spürte, wie seine Gedanken träger wurden, seine Glieder schwer.

Morgen würde er in Kanada sein. Und dann …

Dann werde ich kämpfen. Denn das ist es, was ich kann. Das ist es, was ich immer schon getan habe und wohl immer tun werde.

Da, ganz plötzlich: eine andere Stimme als seine eigene – samtig-weich in seinen Erinnerungen, schmeichelnd, warm, umtanzt von einem East Coast-Akzent. Eine Erinnerung, die wie mit Klauen in seinen müden Verstand schlug, bevor er im erstickenden Schwarz des erschöpften Schlafes versank.

Aber nicht für immer. Richtig?

3

»Reid Sejad.«

Seth nahm den druckfrischen US-amerikanischen Pass wieder entgegen, den die Grenzpolizistin mit der neongelben Warnweste ihm reichte, nachdem sie das Foto darin lange und intensiv mit seinem Gesicht verglichen hatte. »Haben Sie irgendwelche zollfähige oder genehmigungspflichtige Ware bei sich? Alkohol, Waffen, Medikamente oder Rauschgift?«

»Schön wär’s«, murmelte Seth.

Die Grenzpolizistin zog die Brauen hoch.

»Nein«, sagte Seth. »Nichts davon.« Er griff nach hinten zu seiner Satteltasche und hob das abgewetzte Leder an, damit sie einen Blick auf den spärlichen Inhalt werfen konnte.

Die Uniformierte winkte ab. »Danke, das reicht mir schon. Herzlich willkommen in Emerson, Manitoba, Mister Sejad! Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Kanada.« Und dann lächelte sie.

Es war das erste Mal, dass Seth von einem Bundesbeamten ehrlich angelächelt wurde, und es irritierte ihn. Mit einem knappen Nicken ließ er seinen Motor wieder an und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, der hier an der Grenze leicht ins Stocken gekommen war. Die meisten Fahrzeuge wurden jedoch, ebenso wie Seth selbst, rasch durchgewunken.

Reid Sejad. Seth hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich an diesen neuen Namen zu gewöhnen, den er trug, seit sein früheres Alter Ego der Sterblichenwelt, ein gewisser Seth Ombos, offiziell in einem spektakulären flammenden Akt der Selbsttötung im North Nevada Correctional Center ums Leben gekommen war. Er hatte den Namen nicht selbst ausgewählt – das hatte Mafed für ihn übernommen. Seth wusste sehr genau, dass nichts von alldem ohne die tatkräftige Hilfe des Totengotts aus New York möglich gewesen wäre: Seths Reise hätte spätestens an der Landesgrenze geendet. Natürlich war ihm das erst klar geworden, als er gesehen hatte, wie viel bürokratischen Aufwand es kostete, von einem Flecken Land zum anderen zu wechseln. Für Seth waren diese Grenzen, die die Sterblichen zogen, willkürlich und unverständlich, und das waren sie bereits in den Alten Zeiten gewesen.

Da Mafed im Moment mit seinen eigenen Problemen kämpfte und Seth nicht begleiten konnte, hatte er, ganz wie es nun einmal seine enervierend hilfsbereite Art war, sein Bestes getan, den Chaosgott mit Geld und Einfluss zu unterstützen, wo es ihm möglich war. Er hatte ihm seine Computerpriesterin zur Seite gestellt, eine Frau namens Zero, die in für Seth fast unverständlichem Kauderwelsch sprach, aber über die seltsame Gabe verfügte, Menschen aus dem Nichts erscheinen zu lassen. Mit ihrer Magie hatte Mafed Seth einen gültigen US-amerikanischen Pass und einige andere Dokumente besorgt, die auf seinen neuen Namen liefen. Auch eine nicht geringe Summe Geld hatte er Seth überlassen, eine Wiedergutmachung des Staates Nevada, nachdem eine windige Schlange namens Jerry einen von zwei Morden gestanden hatte, für die Seth verurteilt worden war. Seth, der den Yuppie mittlerweile gut genug kannte, um zu wissen, dass er kein Nein akzeptiert hätte, hatte so getan, als würde er die Unterstützung annehmen. In Wahrheit weigerte er sich aus Prinzip, irgendetwas von diesen paragraphenreitenden, heuchlerischen Anzugträgern anzunehmen. Deshalb hatte er das gesamte gutgefüllte Konto Billy und Tara überlassen. Nur zweihundert Dollar Benzingeld hatte er selbst behalten und in seine Jackentasche gestopft. So viel Geld hatte Seth nicht mehr besessen, seit er mit einem unrechtmäßig erworbenen Vermögen das ursprüngliche Heliopolis gekauft hatte. Ihm war nicht klar gewesen, wie rasch es aufgebraucht sein würde. Das bedeutete jedoch nicht, dass er seinen Schritt bereute. Billy und Tara brauchten das Geld dringender. Ihnen war die undankbare Aufgabe zugefallen, in seiner Abwesenheit die Bar zu leiten. Das wäre eigentlich Seths Job gewesen. Wenn er den schon nicht erfüllen konnte, dann wollte er wenigstens dafür sorgen, dass die Sterblichen finanziell abgesichert waren, solange er fort war.

Schließlich wusste keiner von ihnen, wie lange das dauern würde …

Nicht für immer – richtig?

Das rote Blinken der Warnleuchte an der Tankanzeige riss Seth unsanft aus seinen Gedanken. »Fuck.« Er lenkte die Maschine an den Straßenrand, tastete seine Lederjacke nach dem verbliebenen Geld ab und zählte die Dollarscheine. So gründlich er auch suchte: Mehr als sieben Dollar und ein paar Cents konnte er nicht finden. Das würde niemals für eine Tankladung reichen. Dabei war er noch nicht einmal in der Nähe der Adresse auf dem Umschlag.

Sein Blick fiel auf den kleinen Laden, neben dem er sein Motorrad abgestellt hatte: Es handelte sich um eine Bar oder ein Diner mit dem Namen Times Change, deren pinke Leuchtreklame schwach im Licht des fortgeschrittenen Nachmittags flackerte. Seth verzog säuerlich die Lippen, dann zog er den Zündschlüssel an seiner Maschine ab.

Vor dem Laden holte er seine Polaroidkamera aus der Tasche und schoss ein Foto von der Leuchtreklame mit der vielsagenden Botschaft. Auch wenn sie die Farben in silberne Schatten verwandelte, wollte er diese Erinnerung konservieren. Die Kamera spuckte Papier, das Seth abzog. Er wedelte mit dem kleinen Papierrechteck, bis es ein Bild gebar, dann steckte er es zu den wenigen anderen Fotos, die er bislang geschossen hatte, und trat ein.

Bis vor wenigen Tagen hätte Seth niemals gedacht, dass ihm die Zeit auf der Straße jemals zu lang werden könnte. Doch vor vierhundert oder fünfhundert Meilen waren seine Augen von der Eintönigkeit des grauen Asphalts müde geworden, und das weiche Leder des Sitzes seiner Harley fühlte sich zunehmend wie Stein an seinem wundgesessenen Arsch an. Zigaretten und ein starker Drink, oder zwei oder fünf – das war es, was Seth nach Tagen des Rumfahrens jetzt dringend brauchte. Und zur Duat damit, dass er sein knappes Geld wohl lieber für Benzin hätte ausgeben sollen.

Das Innere des Times Change wirkte auf den ersten Blick einladend: rustikales Holz, weißes und rotes Kunstleder, eine Deko, die anheimelnd, aber nicht kitschig wirkte. Hier konnte Seth es durchaus aushalten. Er zog sich auf einen Hocker direkt an der Theke und ließ den Blick über die Karte wandern, die über dem Regal angebracht war, in dem sich verschiedene Flaschen sammelten und auf ihren Einsatz warteten.

»Tag, Buddy.« Ein Barkeeper mit Karohemd und Vollbart winkte Seth von der anderen Seite des Schankraums zu, wo er gerade mit dem Wischen von Tischen beschäftigt war. »Gib mir nur eine Minute, ich bin gleich bei dir.«

Seth nickte knapp. Die Auswahl auf der Karte war bescheiden, doch das war in Ordnung. Seth hatte Konkurrenzunternehmen, die mit hochtrabenden Namen und schwindelerregenden Angeboten protzten, stets mit Misstrauen beäugt. Niemand konnte alles gut – nicht einmal eine Bar. Und sehr viel mehr als drei oder vier Sorten Alkohol brauchte man ohnehin nicht.

»Was darf’s sein, Buddy?« Der Barkeeper legte im Vorbeigehen seinen Lappen beiseite und ging um den Tresen herum. Der Mann hatte einen melodischen Akzent, der Konsonanten rundete wie ein Fluss die Steine auf seinem Grund.

»Wie ist euer Whiskey?«, fragte Seth.

Der Barkeeper lachte. »Stark.«

»Dann den. Doppelt.«

»Kommt sofort, Buddy.«

Seth zog eine Zigarette aus der Jackentasche – es war das bereits zerknautschte Exemplar, das er in der Nacht zuvor vergeblich anzuzünden versucht hatte. Suchend blickte er sich nach einem Aschenbecher um.

»Sorry, das geht hier nicht«, informierte ihn der Barkeeper, als er über dem Einschenken einen Blick zu Seth hinüberwarf. »Rauchverbot.«

»Scheiße? Im Ernst? Ist doch niemand sonst hier.«

Der Barkeeper hob die Schultern. »Ich mach die Regeln nicht, Buddy.«

»Irgendwie schon«, murmelte Seth und sah sich demonstrativ um. »Ist ja deine Bar hier …« Als sein Blick zurückschweifte und dabei dem des Barkeepers begegnete, stellte er fest, dass das freundliche Grinsen aus dem bärtigen Gesicht verschwunden war.

Seth zerbiss einen Fluch auf den Lippen und schob die Zigarette wieder zurück an ihren Platz.

»Amerikaner?«, fragte der Barkeeper beiläufig und schob Seth seine Bestellung zu.

Seth stürzte das Glas in einem Zug. Trocken und bitter brannte der reichhalte Rye Whiskey sich durch seine Kehle. Der Mann hatte nicht gelogen – er war stark. Und verdammt gut.

Aber wahrscheinlich hätte Seth nach der langen Fahrt sogar schalen Tütenwein genossen wie pure Ambrosia.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Seth, nachdem er mit einer knappen Geste Nachschub gefordert hatte.

»Ist nicht so schwer zu durchschauen«, meinte der Barkeeper und schenkte schwungvoll nach. »Kein Gruß, kein Bitte, kein Danke. Keine Rücksicht auf andere – und keinen blassen Dunst von unseren Gesetzen. Du würdest nur noch lauter Amerikaner schreien, wenn du hier mit einer Knarre am Gürtel reinspaziert wärst. Buddy.« Das letzte Buddy klang längst nicht mehr so freundlich.

Seth schloss die Hand um das aufgefüllte Glas, trank aber nicht. »Wenn du es genau wissen willst – ich bin …« kein Amerikaner, hätte er beinahe gesagt. Doch er biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. Denn der Pass, den er mit sich herumtrug, behauptete etwas anderes. Er setzte neu an: »Ich bin nur auf der Durchreise. War eine beschissen lange Fahrt bis hierher. Ist mein erstes Mal in Kanada – und meine erste Bar hier. Ist noch alles neu für mich.«

Der Barkeeper nickte. Es wirkte deutlich versöhnlicher. »Wohin geht’s denn, Buddy? Wenn ich so offen fragen darf.«

Seth unterdrückte den Drang, nach dem Briefumschlag in seiner Innentasche zu fassen. »Winnipeg. Erst mal.«

»Da hast du ja schon ein gutes Stück Weg geschafft. Winnipeg liegt nur noch knappe zwei Stunden von hier. Und woher kommst du ursprünglich?«

Seth schloss die Augen und nippte an seinem Drink. Ursprünglich. Buddy – ursprünglich komme ich von einem Ort, der unerreichbar weit entfernt liegt. Einem Ort, den du dir nicht einmal in deinen wildesten Träumen ausmalen könntest. Und der mir und den meinen für immer verschlossen ist.

»Nevada«, sagte Seth stattdessen. Das entsprach ebenfalls nicht der Information auf seinem Pass, doch Seth kümmerte es nicht. Er war müde, und der Alkohol half nicht gerade dabei, seine Konzentration zu fördern.

»Aus der Wüste!« Der Barkeeper stieß einen leisen Pfiff aus. »Mann, da hast du wirklich eine ordentliche Strecke hinter dir. Und du bist all das gefahren? Mit dem Auto?«

»Motorrad«, verbesserte Seth.

Ungläubig schüttelte der Barkeeper den Kopf. »Habt ihr keine Flughäfen drüben in Nevada?«

Seth trank einen deutlich größeren Schluck von seinem Whiskey. »Ich fahre gern.« Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und machte Seth unangenehm bewusst, dass die letzte Mahlzeit bereits zwei Tage zurücklag. Von der letzten warmen Mahlzeit gar nicht zu reden. Er warf einen neuerlichen Blick auf die Karte an der Wand, aber die Buchstaben weigerten sich, in seinem Kopf anzukommen. »Habt ihr auch irgendwas Essbares? Was isst man denn so in Kanada?«

Der Barkeeper warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Karibuzungen und Fischlaich, Buddy.«

»Dann nehm ich das wohl.«

Der Barkeeper lachte. »Buddy, das war ein Witz! Du bist echt durch, hm? Wie wär’s mit ’nem Burger?«

Seth nickte. »Ja. Das klingt gut.«

Während der Bärtige sich umwandte und in die Küche ging, zog Seth erneut seine wenigen verbliebenen Dollarnoten hervor und versuchte im Kopf die Preise zu überschlagen. Der Whiskey hatte bereits begonnen, seine Wirkung zu entfalten, und das erschwerte ihm diese Aufgabe erheblich. Doch wie er es auch drehte und wendete – er befürchtete, dass er gerade auf dem besten Weg war, sich einen Abend als Tellerwäscher zu verdienen.

»Scheiß drauf«, murmelte er und kippte den Rest des Whiskeys energisch in einem Zug.

Das Klappern von Geschirr setzte ein, und kurz darauf auch leise Popmusik. Der Barkeeper hatte offenbar für Seth die Anlage angeworfen. Was er vermutlich für einen Gefallen hielt, jagte Seth Schauer des Grauens über den Rücken. Seit Tagen hatte er keine Musik mehr hören können. Nun mit diesem seichten Gitarrenzupfen und der von Alter rauen Stimme konfrontiert zu werden, war ein harter Kulturschock.

»Gefällt dir Neil Young, Buddy?«, rief ihm der Barkeeper über das regelmäßige Klopfen einer Klinge auf einem Schneidbrett zu.

Seth schüttelte sich. »Fuck, erschieß mich.«

»Was?«

»Er klingt … krank«, befand Seth und meinte den Gesundheitszustand des Sängers.

»Nicht wahr? Kranker Scheiß! Siehst du, Buddy, ich kann auch Yankee-Slang! Schnappt man so dicht an der Grenze automatisch auf. Du bist nicht der einzige Amerikaner, der hier durchrauscht. Wirst auch nicht der Letzte sein!«

Seth entging einer Antwort, indem er sich die Whiskeyflasche vom Tresen griff und sich selbst nachschenkte. Wenigstens war die Anlage leise genug, dass er das schiefe Gejaule dieses Musikers, der entgegen seiner Selbstbezeichnung ganz und gar nicht mehr »young« klang, einigermaßen ausblenden konnte.

Zumindest … versuchte er es.

Seth räusperte sich. »Ich geh mal ein paar Minuten raus, ich brauch dringend ’ne Kippe. Meine Schlüssel lass ich hier, damit du weißt, dass ich nicht die Zeche prelle.«

»Das ist doch nicht nötig, Buddy!«, rief der Barkeeper gut gelaunt aus der Küche. »Geh einfach! Bis du wieder da bist, ist dein Burger sicher auch schon bereit. Danke, dass du Rücksicht auf unsere Hausordnung nimmst!«

Seth verzog säuerlich das Gesicht. Was bei den Feuern Deshrets stimmte eigentlich mit den Menschen hier nicht? Das war keine Höflichkeit – das war scheißunheimlich. Niemand, der so freundlich war, tat das ohne Hintergedanken.

Kopfschüttelnd stieß Seth sich vom Tresen ab, holte seine mittlerweile stark in Mitleidenschaft gezogene Zigarette heraus und ging damit vor die Tür. Die zahlreichen Drinks machten seine Schritte beschwingt und angenehm weich.

Noch bevor er die Tür erreicht hatte, entzündete sich die Zigarette in seinem Mund. Tief inhalierte er den Rauch, den er so lange hatte missen müssen, behielt ihn für die Dauer mehrerer Schritte in der Lunge und blies ihn aus, als er die mit Glas eingelassene Eingangstür aufstieß. Augenblicklich fühlte er sich besser. Er setzte sich auf den Vorsprung, der sich unter dem sorgsam geputzten Schaufenster befand, durch das man die gemütlichen Sitzecken des Times Change von der Straße aus sehen konnte, streckte die Beine mit den schweren Stiefeln aus und schloss die Augen. Der Whiskey summte angenehm in seinem Kopf, und der Qualm in seinem System beruhigte ihn.

Ein hässliches metallisches Quietschen, gefolgt von einem widerlichen Krachen, riss ihn abrupt aus seinem Zustand der Entspannung.

»Oh. Du meine Güte. Ach herrje.«

Seth öffnete die Augen und knurrte unvermittelt, als er den dünnen Hänfling erblickte, der gerade aus seinem Pickup-Truck geklettert kam – und ebenso verzweifelt wie völlig ergebnislos versuchte, Seths fünfhundert Kilo schwere Maschine wieder aufzurichten, die er bei seinem abenteuerlichen Parkmanöver umgenietet hatte.

»Hey.« Seth erhob sich von seinem Platz am Fenster. »Pisser.« Er schnippte die Kippe weg. »Was soll das werden?«

Der Sterbliche, irgendwo zwischen Mitte dreißig und Bahre, wurde schlagartig bleich, als Seth auf ihn zusteuerte. Er hatte braunes, graumeliertes Haar, das in einem akribischen und grässlichen Bürstenschnitt gestaltet war, und trug einen hellblauen Anzug, der die Blässe seiner Haut unvorteilhaft betonte. Auf Seth wirkte sein Gesicht wie der Unterbauch eines toten Karpfens. Die übergroße Brille auf seiner Nase ließ seine Augen winzig erscheinen.

»Oh! Es tut mir so furchtbar leid, Sir, ich habe nicht gesehen, dass Sie da stehen, ich meine, dass Ihr Fahrzeug da steht, ich wollte bestimmt nicht, ich meine, ich bin ganz untröstlich!«

Seth marschierte auf den Mann zu, der hastig rückwärts stolperte. Doch Seths Ziel war gar nicht der Hänfling, sondern seine Harley, die traurig auf der Seite lag. Er schluckte all die Schimpfnamen hinunter, die ihm auf der Zunge lagen, und ballte die Hände, in denen sein Heka unangenehm zu kribbeln begonnen hatte, zu Fäusten.

Scheiße. Ich bin nicht mal mehr wirklich überrascht.

Er stieß die Luft aus, und mit ihr die Anspannung, die sich in ihm hatte aufbauen wollen.

»Anpacken.«

»Was?«, fragte der Mann mit angstgeweiteten Augen.

»Anpacken. Hier.« Seth deutete auf den Lenker. »Das Ding wiegt eine halbe Tonne, ich krieg die nicht allein wieder hoch.«

»Oh. Natürlich, selbstverständlich, sofort!« Der andere beeilte sich zuzugreifen. »Auf drei?«, fragte er.

»Drei«, brummte Seth.

Gemeinsam stemmten sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Monstrum aus Metall, Leder und Chrom. Seth konnte sehen, wie dem dünnen Mann im Anzug der Schweiß ausbrach. Mit der zugegeben kümmerlichen Unterstützung des Sterblichen gelang es Seth, seine Harley wieder aufzurichten. Er bockte sie sorgsam auf ihrem Ständer auf und versuchte, den Schaden einzuschätzen. Das Heck des Trucks hatte die Maschine offenbar nur gestreift, doch ein hässlicher, langer Kratzer im schwarzen Lack zeigte, wo die beiden Fahrzeuge aufeinandergetroffen waren. Seths Gesicht verzog sich wie unter Schmerzen, als er mit den Fingern behutsam über die zerschundene Lackierung tastete. Mit ein wenig Polieren würde das nicht getan sein.

Ausgerechnet die Harley … Scheiße.

»Das tut mir … so unendlich leid«, stotterte der Fremde neben ihm. »Ich bezahle den Schaden selbstredend, ich …«

Seth seufzte schwer und zog eine neue Zigarette aus der Jackentasche. »Vergiss es.« Der Sterbliche sah nicht danach aus, als könnte er sonderlich viel Geld entbehren. Sein altersschwacher Truck war von Rost zerfressen, das linke Seitenfenster mit Panzertape verklebt – vielleicht, weil es nicht mehr ganz schloss, vielleicht wegen eines Schadens im Glas. Seth schüttelte den Kopf. »Ist sowieso egal.«

Im Umdrehen zündete er seine neue Zigarette an. Durch das Schaufenster des Times Change konnte er sehen, dass der Barkeeper sie angespannt beobachtete. Hatte er sich darauf eingestellt, Seth die Bullen auf den Hals zu hetzen, sollte er sich auf den Hänfling stürzen? Bei dem Gedanken fühlte Seth eine erdrückende Schwere in sich. Ja, er kannte diese Blicke. Er kannte sie allzu gut. Am Ende war es doch überall das Gleiche, egal, welche Bezeichnungen auf den Karten standen.

»Ihr Kennzeichen – was ist das? Ausland, richtig?« Der dünne Kanadier war ihm unbemerkt nachgelaufen. »Wo kommen Sie her?«

»Von weit weg«, sagte Seth.

»Sie kommen von außerhalb! Wissen Sie, das dachte ich mir schon. Also«, seine Miene drückte Erschrecken aus, als ihm klar wurde, was er da eben gesagt hatte, »nicht wegen Ihres Aussehens, das wollte ich damit auf keinen Fall andeuten! Sie sehen nicht fremd aus, wegen Ihrer Hautfarbe oder … ich meine … Sie sehen sehr nett aus, richtig sympathisch, und so, als würden Sie hier absolut hingehören, ich meinte nur, wegen … der Piercings und des Halstattoos und … Nicht, dass daran irgendetwas nicht in Ordnung wäre! Es steht Ihnen, sieht man nur nicht allzu oft, das wollte ich sagen, und …«

»Redest du immer so viel?«, fragte Seth.

»Nur, wenn ich nervös bin«, murmelte der Mann geschlagen.

»Bist du oft nervös?«

Darauf antwortete der andere nicht. Stattdessen räusperte er sich umständlich. »Mein … mein Name ist übrigens Ned. Ned Thibault. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, auch wenn die Umstände etwas … unglücklich waren. Ich wollte hier gerade eine kleine Rast einlegen, ich bin seit Wochen unterwegs und schon ein wenig, na ja, Sie wissen schon.« Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Finger an seiner Schläfe. »Wenn man so lang mit sich allein ist, so lange auf der Straße, da wird man wunderlich. Ich wollte gerade da rein und mir einen Kaffee holen, und einen großen Donut mit Jelly, wenn die sowas haben, und was ich eigentlich sagen will, Sir –« Er lief beinahe in Seth hinein, als dieser abrupt anhielt und sich zu ihm umdrehte. Gerade rechtzeitig gelang es ihm, abzubremsen. Unter Seths stoischem Blick versiegte sein Wortschwall.

Bemüht aufgeräumt fragte Ned: »Darf ich Ihnen da drinnen irgendetwas ausgeben, als kleine Wiedergutmachung für den Schaden, den ich verursacht habe? Ich weiß, es ist nicht viel und kann die Reparaturkosten sicher nicht aufwiegen. Aber … ich würde mich dann besser fühlen.«

Seth seufzte. Er hatte nicht sonderlich viel Interesse daran, diesen plappernden Vogel noch länger in seiner Nähe zu haben. Doch jemand, der seine Rechnung begleichen würde, käme ihm gerade nicht ungelegen.

»Von mir aus«, sagte Seth. »Aber versuch zwischendurch auch mal Luft zu holen, ja? Nicht, dass du noch erstickst.« Obwohl es dann wenigstens himmlisch still wäre, fügte er in Gedanken hinzu.

»Okay.« Ned lächelte, offensichtlich erleichtert. »Und wie heißen Sie?«

Seth schüttelte den Kopf, schnippte seine Kippe weg und ging zurück in die Bar.

4

Nach einem mehr als passablen Burger und etwas, das sich Poutine nannte und das Ned Seth mit aufdringlicher Höflichkeit empfohlen hatte, fühlte Seth sich zum ersten Mal seit Tagen wieder angenehm gesättigt. Bei Neds Empfehlung handelte es sich um in Soße und Käse ertränkte Fritten, und obwohl die Mischung auf den ersten Blick wie bereits einmal gegessen und verdaut aussah, war es genau das, was Seth nach den Tagen auf der Straße und der nicht gerade geringen Menge an hochprozentigem Rye Whiskey gebraucht hatte.

Als das Essen gekommen war, hatten sie sich vom Tresen in eine der dank der großen Seitenfenster sonnendurchfluteten Sitzecken zurückgezogen. Kaffee und Jellydonut hatten dazu beigetragen, Neds niemals stillstehenden Mund für kurze Zeit anderweitig zu beschäftigen, doch nun, da der Donut verschwunden war, schien er wieder an Fahrt zu gewinnen.

Während Seth die letzten labberigen Kartoffelstäbchen benutzte, um damit die braune, zähflüssige Soße auf seinem Teller aufzutunken, war Ned wieder auf dem besten Weg, ihm eines seiner gepiercten Ohren abzukauen.

»Ich hab seit fast zwei Monaten nichts anderes mehr gegessen als diesen Restaurantfraß. Nicht, dass es nicht vorzüglich wäre«, bemerkte Ned in Richtung des Barkeepers, der ihm zur Antwort ein gezwungenes Lächeln schenkte, »aber es wird doch ein wenig eintönig mit der Zeit. Ich war drüben in Toronto, beim großen Filmfestival, falls Sie das kennen. Und davor war ich … na ja, überall im Land, mal hier, mal da. Im Juli war die Calgary Stampede, das ist immer nett, aber … lang, wissen Sie? Unten in Alberta. Dort ist es wirklich schön. Und als ich auf dem Heimweg war, da dachte ich mir, warum nicht Toronto auch noch mitnehmen, wenn man schon unterwegs ist? Das zusätzliche Geld kann ich ganz gut gebrauchen, dachte ich mir, also bin ich dort auch noch vorbeigefahren, und jetzt … Tja, jetzt sind mir langsam wohl die Festivals ausgegangen und ich bin wieder auf dem Heimweg.«

Seth runzelte die Stirn. »Bist du …«, Seth musterte den biederen Aufzug des Mannes zweifelnd, »ein Künstler?«

Ned lachte und trank von seinem Milchkaffee. »Ähm, nein, das nun wirklich nicht. Obwohl, das könnte man vielleicht schon sagen, also, wenn man großzügig ist mit meinem Broterwerb, ein bisschen kreative Energie ist sicher dabei. Sie lachen jetzt nicht über den Teil mit dem Broterwerb, aber nur, weil Sie die Hintergründe noch nicht kennen! Meine Kollegen lachen sich darüber immer kaputt, und …« Er räusperte sich, als er sich Seths steinerner Miene bewusstwurde. »Ich backe«, kam er endlich zum Ende.

»Du backst?«, wiederholte Seth.

»Aber ja! Ich bin Konditor. Ich mache Kuchen, Plätzchen, Torten, was Sie wollen! Einheimische Spezialitäten überwiegend, wir haben hier eine Schwäche für sowas. Und die verkaufe ich, meistens über einen kleinen Stand bei Festen und Paraden. Ein Vermögen kann man damit nicht verdienen, sicherlich, aber ich lerne interessante Menschen kennen, und ich komme viel herum, sehe schöne Orte … Mögen Sie Süßes?«

»Nein.«

Neds Miene fiel in sich zusammen. »Oh. Schade.« Er rührte in seinem Kaffee, in dem er eine widerlich große Menge Zucker versenkt hatte. Noch immer konnte Seth eine feine Schicht der Kristallkrümel am Rand des Porzellans sehen. »Und … was ist mit Ihnen? Sie fahren nur so rum, mit Ihrem Motorrad, und … sehen, wo es Sie hintreibt? Oder was genau ist Ihr Ding?«

Seth rief zur Theke hinüber: »Ich brauch noch ’nen Drink!«

Ned zog die Brauen zusammen. »Sie haben einen … gesunden Durst. Verzeihen Sie, wenn ich jetzt meine Grenzen überschreite, es geht mich ja eigentlich gar nichts an. Aber nur um sicherzugehen: Sie wollen heute hoffentlich nicht mehr fahren, oder?«

Seth verzog säuerlich die Lippen. »Liegt nicht wirklich an mir.«

»Wieso denn nicht, wenn ich fragen darf?«

Seth strich sich das lange Haar aus der Stirn. Sein Widerstand gegenüber den unablässigen Fragen seines neuen Bekannten begann, nun, da er satt und auch ein wenig betrunken war, zunehmend zu bröckeln. »Bin liegengeblieben. Der verfickte Tank ist leer, und ich … ich hab’ mein Benzingeld schon vor der Grenze durchgebracht.«

»Oh. Das ist ja eine Schande. Blöde Situation.« Sorgfältig sammelte Ned mit dem Finger die Krümel seines Donuts vom Teller und steckte sie in den Mund. »Wo wollten Sie denn ursprünglich hin?«

»Winnipeg, sagt er«, antwortete der Barkeeper für Seth, der ihm gerade seinen bestellten Drink hinstellte.

Seth warf dem Bärtigen einen scharfen Blick zu. Hatte der Typ nichts Besseres zu tun, als sich in seine Angelegenheiten einzumischen?

»Winnipeg! Oh, das ist ja perfekt!«, rief Ned aus.

»Ja, zum Knochenkotzen«, knurrte Seth und vernichtete seinen Whiskey. »So dicht am Ziel, und dann doch aufgelaufen.«

»Nein, Sir, Sie verstehen nicht!«, widersprach Ned, der kurz davor schien, sich vor Aufregung zu überschlagen. »Ich wohne in Winnipeg! Ich kann Ihr Motorrad auf meinen Truck packen und Sie mitnehmen, gar kein Problem! Es wäre nicht einmal ein Umweg für mich.«

Seth musterte den Kanadier misstrauisch. »Warum solltest du sowas tun?«

Der Mann lächelte verwirrt. »Warum denn nicht? Wenn wir doch denselben Weg haben. Mir macht das keine Umstände, und Ihnen wäre geholfen. Außerdem«, sein Lächeln wurde ein wenig gequält, »habe ich dann eine Möglichkeit, mein unglückliches Missgeschick von vorhin wiedergutzumachen. Also, was sagen Sie, Mister … Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Ich hab’ ihn nicht genannt.« Seth seufzte resigniert. Ihm blieb aber auch gar nichts erspart. »Se–« Er stockte. Um ein Haar hätte er sich verraten. »Sejad«, endete er. »Reid Sejad.«

»Oh. Was ist da der Vorname, und was der Nachname? War das jetzt eine unsensible Frage? Ich will nur nicht, ich meine, ich wollte nur sichergehen, wenn ich Sie anspreche, dass ich nichts verkehrt mache oder …«

»Such dir einfach einen aus«, unterbrach Seth den neuerlichen Redeschwall, bevor der Sterbliche ihn wieder mit Worten ertränken konnte.

»Oh. Na gut. Dann also … Sejad. Freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen.« Ned lächelte überglücklich und streckte ihm eine weiße, schmale Hand entgegen. »Ich bin Ned.«

Seth ignorierte die Geste. »Das sagtest du schon.«

»Ja. Richtig.« Verlegen ließ Ned seine Hand wieder sinken. Er wandte sich an den Barkeeper. »Mein Freund, könnten wir bitte die Rechnung haben?«

Kurz darauf kam der bärtige Sterbliche mit einem Stück Papier zurück und legte es auf ihren Tisch. »Schön, dass es euch geschmeckt hat. Wann immer ihr so weit seid, Buddy«, kommentierte er. Dann sammelte er die geleerten Teller und Gläser ein und verschwand wieder Richtung Tresen.

Als Neds Blick auf die Rechnungssumme fiel, wurde er zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit aschfahl. »Sie … vertragen ganz ordentlich was, wie es aussieht.«

Offenbar hatte Seth mit seiner Einschätzung, was die Zahlungsfähigkeit seines neuen Bekannten betraf, richtig gelegen. Resigniert begann er, seine verbliebenen Dollarnoten herauszukramen. »Bisschen was hab’ ich noch übrig, lass mich sehen, was wir gemeinsam zusammenbekommen …«

»Nein!«, sagte Ned schnell. Sein Lächeln kehrte zurück. »Nein, bitte. So habe ich das nicht gemeint. Ich bestehe darauf, das zu übernehmen. Wirklich.« Er warf einen interessierten Blick auf Seths Geld. »Oh, Sie … also du … du kamst noch nicht einmal zum Wechseln, hm? Dann bist du also Amerikaner. Sieh mal einer an.« Aus seiner Brieftasche holte er einen stechend grünen und mehrere violette Scheine, die nicht nur mit den Gesichtern fremder greiser Sterblicher, sondern auch jeweils einem funkelnden Ahornblatt verziert waren. Seth beugte sich vor und betrachtete die Scheine fasziniert. Sie waren bedeutend schöner und farbenfroher als jene, die er aus den USA kannte.

»Die sind hübsch«, sagte er, ohne nachzudenken.

Ned blickte auf und lächelte. Diesmal wirkte es nicht wie ein Verlegenheitslächeln, sondern aufrichtig erfreut. »Die meisten Amerikaner, die ich kenne, machen sich über unsere Währung lustig.«

»Klingt, als wären die meisten Amerikaner, die du kennst, Idioten«, befand Seth.

»Soll ich euch Jungs mal eben schnell helfen, das Motorrad auf den Truck zu bekommen?«, bot der Barkeeper an, nachdem er zurück an ihren Tisch gekommen war und das Geld eingesammelt hatte. »Hier herrscht sowieso gerade Flaute.«

Seth starrte ihn an.

Der Barkeeper lachte herzlich, als er seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Willkommen in Kanada, Buddy.«

5

»Kannst du mal diese Scheißmusik abschalten?«, knurrte Seth. Missmutig starrte er auf das Panzertape am Seitenfenster, das verhinderte, dass er es runterkurbelte – und ihn damit auch von einer dringend notwendigen Zigarette abhielt.

Ned schien seine Bemerkung für einen köstlichen Witz zu halten, denn er lachte nur und machte keine Anstalten, das Gewimmer aus dem Radio zu beenden. Ungerührt fixierte er die Straße vor ihnen durch die riesige, ungeputzte Scheibe seines altersschwachen Trucks.

»Haben alle Kanadier so einen miesen Musikgeschmack?«, hakte Seth nach.

»Oh, du meinst das ernst!« Die Erkenntnis hielt Ned nicht davon ab, erneut zu lachen. »Weißt du, Sejad, was den Geschmack angeht, kann ich das nicht wirklich beurteilen. Aber was wir haben, sind die CanCons.«

Seth zog die Brauen zusammen. »Was?«

»Ähm, die … die CanCons, Sejad! Die CanCon Laws. Das sagt dir wirklich nichts? Also, CanCon, das steht für … für Canadian Content, und das bedeutet, der Staat schreibt vor, dass Radiostationen und das Fernsehen einen gewissen Prozentsatz an – na du weißt schon, an kanadischem Content senden müssen. Das ist Pflicht bei uns. Als das eingeführt wurde, waren viele Broadcaster … nun, sagen wir mal untergeistert, aber es hat sich als wirklich sinnvoll herausgestellt, um hiesige Kunstschaffende zu fördern und unsere Kulturszene lebendig zu halten und außerdem …«

Seth bereute die Frage längst und tat sein Bestes, Neds plappernde Stimme auszublenden. Für die Zukunft sollte er wohl vermeiden, jemals wieder nachzubohren, wenn Ned ihm etwas erzählte, das er nicht verstand.

Immerhin verhieß ein Schild, das sie eben passierten, dass er diesen Vogel nur noch für kurze Zeit ertragen musste. Winnipeg war endlich in Reichweite, und was danach geschah, würde den gesprächigen Sterblichen mit Sicherheit nicht einschließen.

Stattdessen würde Seth sich anderen unangenehmen Dingen widmen müssen. Der Gedanke schlang sich mit kurzer, aber überraschend heftiger Deutlichkeit um seinen Magen wie eine heiße Drahtschlinge.

Vielleicht lag es aber auch am Poutine.

»Sejad? Alles in Ordnung? Du bist etwas grau um die Nase. Ist auch kein Wunder, du hattest eine Menge Whiskey. Falls ich mal kurz ranfahren soll …«

Seth schüttelte müde den Kopf.

Fürsorglich ließ Ned sein Seitenfenster hinunter, um frische Luft in die Fahrerkanzel strömen zu lassen. »Nun erzähl doch mal. Was führt dich in unser schönes Land? Verwandtschaft? Oder …«, er konnte den Zweifel nicht gänzlich aus seiner Stimme heraushalten, »Geschäftliches?«

»Beides, in gewisser Weise«, murmelte Seth. Der Fahrtwind, der durch Neds Fenster hereinströmte, half gegen die aufkommende Übelkeit. Er entschied sich, doch noch eine Zigarette anzuzünden. Langsam sog er den Rauch ein und lehnte die Schläfe gegen die provisorisch reparierte Scheibe. »Vor einiger Zeit bekam ich einen Brief …« Seth brach ab. »Aber eigentlich spielt der nur eine geringe Rolle. Natürlich ist wichtig, dass ich dieser Sache nachgehe – mir bleibt kaum eine Wahl. Aber wäre es nicht der Brief gewesen, hätte ich einen anderen Grund finden müssen, um zu gehen. Dort, wo ich war, konnte ich nicht bleiben.«

»Das klingt schwierig«, kommentierte Ned mitfühlend.

»Ist es nicht«, widersprach Seth und betrachtete die glimmende Spitze seiner Kippe. »Es ist sehr einfach. Ich hab’ Scheiße gebaut und die Rechnung präsentiert bekommen. Und jetzt … jetzt hab’ ich mein Zuhause verloren.«

Nicht für immer, wandte die vertraute Stimme sanft ein.

»Nicht für immer«, ergänzte Seth bereitwillig. »Hoffe ich. Aber auf jeden Fall für die nächsten paar Monate. Wenn ich zurückgehe, bevor sich der Staub gelegt hat, dann … dann bringe ich Menschen, die mir etwas bedeuten, in eine beschissene Lage, und das … das möchte ich nicht. Sie sollen nicht darunter leiden müssen, dass ich verkackt habe.«

Plötzlich war es bedrückend still in der Fahrerkanzel des Trucks. Seth glaubte nicht, dass er Ned seit ihrer kurzen Bekanntschaft schon einmal so lange am Stück hatte schweigen hören.

»Sejad …«, begann er nach mehreren Minuten, die nur vom Brummen des Motors und dem Rauschen des Fahrtwinds durchbrochen wurden. »Bist du … ein Krimineller?«

Seth zog energisch an seiner Zigarette und stieß den Qualm durch die Nase aus. »Du kannst mich hier an der Ecke rauslassen. Mit den Notreserven in meiner Maschine komme ich vermutlich noch ein Stück. Sollte bis Winnipeg reichen. Und wenn nicht, geh ich den Rest zu Fuß.«

»Nein, ich …« Ned schüttelte den Kopf. »Entschuldige, das war forsch. Es geht mich nichts an, was du drüben in den Staaten für Probleme hattest. Du bist jetzt hier. Und hier – hier hast du noch nichts falsch gemacht. Richtig?«

Seths Mundwinkel verzogen sich zu einem müden Lächeln. »Fuck. Das stimmt wohl. Aber ich bin auch erst seit vier Stunden oder sowas über der Grenze, also ist das noch keine so verdammt große Leistung.«

»Es ist auf jeden Fall schon mal ein guter Anfang! Weißt du, Sejad …« Ned wechselte die Spur, um sich auf die Abfahrt vorzubereiten. »Ich bin seit Monaten auf der Straße, weit weg von zu Hause. Ich will meine Lage jetzt natürlich nicht mit deiner vergleichen, auf gar keinen Fall, aber … ich denke, ich verstehe ein wenig, wie du dich gerade fühlst. Heimat, das ist … das ist so eine Sache. Die Menschen dort kennen dich, und das ist großartig, das ist wunderbar! Aber es kann auch schwierig sein, denn … sie kennen dich. Zuhause hat man nie die Möglichkeit, sich wirklich zu entwickeln, ein anderer zu werden, jemand, der über sich selbst hinauswächst oder alte Probleme abwirft, weil da immer diese … diese Menschen sind, die dieses bestimmte Bild von dir verinnerlicht haben, und das speichern sie ab und das behalten sie auf ewig in ihren Köpfen, und wenn du versuchst, davon abzuweichen, dann … dann sehen sie es gar nicht, oder sie biegen es so zurecht, dass es auf ihre starren Vorstellungen von dir passt, oder sie …« Neds Stimme verlor sich unsicher im Rauschen des Fahrtwinds.

»Die Fremde ist manchmal beängstigend«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Aber sie gibt uns auch die Chance, uns selbst neu zu erfinden. Etwas besser zu machen, vielleicht. Ich …« Ned suchte nach einem besseren Griff um das große Lenkrad. »Ich … finde, man muss nicht immer zurück nach Hause wollen.«

Seth schwieg.

»Oh, sieh nur!«, rief Ned mit aufgesetzter Fröhlichkeit aus. »Ein Karibu! Oh. Nein, es ist nur eine Pelzhaube auf einem Strommast. Schade. Wer trägt denn im September Pelzhauben? Also … abgesehen von Strommasten. Ha.« Er lachte nervös.

Seth schüttelte stumm den Kopf.

Ned lenkte den Truck vom Highway hinunter auf die gebogene Landstraße. Sein sinnleeres Geplapper hatte wieder eingesetzt, aber Seth konzentrierte sich gänzlich auf die Landschaft ringsum. Blau- und Grüntöne dominierten, durchsetzt von den noch zögerlich auftretenden gelben und orangen Sprenkeln welkender Blätter: Vorboten des Herbstes, die sich bereits in den Wipfeln der Bäume auszubreiten begannen. Hier war es so gänzlich anders als in Nevada – ein schillerndes Meer an Farben, an Pflanzen, an Gewässern umspülte sie. Seth konnte niemals lange hinsehen, bevor er fürchtete, von der Intensität der Eindrücke ringsum erschlagen zu werden. Eine große Fläche Manitobas bestand aus Prärie, doch diese Abschnitte Grasland hatten kaum etwas mit der endlos scheinenden Weite der Mojave gemein, in der Seth sich in den letzten Monaten immer am heimischsten gefühlt hatte.

Deshret war endlos weit fort.

Umso überraschter war Seth, als sie Winnipeg erreichten und er sah, dass es sich um eine typische Großstadt handelte. Zwar hatte sie nicht einmal annähernd die Ausmaße von Vegas, doch auch hier gab es Wolkenkratzer, die sich in einer sonnenglänzenden Verbindung aus Stahl und Glas in einen stechend blauen Himmel bohrten. Die Straßen waren voll von Fahrzeugen und Menschen, und die Häuser standen dicht an dicht, sodass sich die Stirnen ihrer Fassaden beinahe berührten.

»Hier ist ja ordentlich was los«, murmelte Seth. Er stellte fest, dass er immer noch den Filter seiner abgebrannten Zigarette in der Hand hielt, und ließ sie unauffällig unter den Sitz fallen.

»Du dachtest doch hoffentlich nicht, Kanada besteht nur aus Schnee und Holzfällern?«, bemerkte Ned amüsiert. »Hey, wir sind ein sehr fortschrittliches Land!«

»Ich dachte … gar nichts«, erwiderte Seth. Wahrscheinlich war es naiv von ihm gewesen, blindlings in ein Land aufzubrechen, von dem er nicht das Geringste wusste. Wenn er es so betrachtete, war seine Begegnung mit Ned ein Glücksfall gewesen – trotz des Kratzers in seinem Lack, mit dem er dieses Glück bezahlt hatte.

Seth zog seine Polaroidkamera aus der Tasche und knipste ein Foto durch die Windschutzscheibe, um die Skyline von Winnipeg einzufangen.

Neben ihm zuckte Ned bei dem Geräusch zusammen. »Oh! Du meine Güte.« Er warf Seth einen Seitenblick zu, dann konzentrierte er sich rasch wieder auf die Straße. »Wohin musst du denn jetzt, Sejad? Du sagtest Winnipeg, aber du nanntest keine Adresse.«

»Du hast genug getan«, wehrte Seth ab. Er wedelte mit dem kleinen Papierstück, sah den Linien darauf dabei zu, wie sie aus dem Nichts erschienen. »Ab hier komme ich allein klar.«

»Sei nicht albern. Die Stadt ist groß – was wäre ich denn für ein Mensch, wenn ich dich einfach hier irgendwo abladen würde? Du kennst dich hier doch gar nicht aus. Was, wenn du dich verläufst?«

Ich … finde, man muss nicht immer zurück nach Hause wollen. Allmählich bekam Seth den Eindruck, dass es Ned keineswegs um ihn ging. Er war für ihn wie der Brief für Seth – nur ein Vorwand, der ihn von der Heimat fernhielt, in die er noch nicht zurückkehren konnte oder wollte.

Seth fasste in seine Jacke, um das neue Foto zu verstauen und den Umschlag hervorzuholen. Von den vielen Malen, die er ihn bereits in der Hand gehalten hatte, war das Papier knittrig und weich wie Leinen. Er hielt Ned die Adresse des Absenders hin.

Der wartete pflichtbewusst auf eine rote Ampel, ehe er einen Blick darauf warf. Unvermittelt furchte sich seine hohe Stirn vor Sorge. »Oh. Das liegt in … in Elmwood? Sejad, das … das ist keine sonderlich gute Gegend. Bist du sicher, dass du dorthin musst? Vielleicht suchen wir dir vorher ein nettes Hotel in der Innenstadt, dort kannst du dich akklimatisieren, deinen … Rausch ausschlafen – nichts für ungut – und …«

»Ich sagte schon«, unterbrach Seth ihn. »Ich komme zurecht. Wenn du mich nicht dort hinbringen kannst, dann lass mich einfach hier aussteigen.«

Ned schüttelte den Kopf, aber sein Unbehagen war ihm deutlich anzumerken. »Nein, wir … wir machen das schon. Ich fahre dich. Kein Thema.« Doch in Seths Ohren klang es nach einem erheblichen Thema.

Die Ampel schaltete auf Grün, und Ned fuhr an. »Wir werden noch etwas unterwegs sein, das liegt auf der anderen Seite des Red Rivers. Willst du nicht doch noch eine kleine Pause machen? Wir könnten uns gemütlich in ein Tim Horton setzen, einen Kaffee trinken, ein paar Donuts essen und …« Er spürte Seths Blick auf sich und seufzte. »Okay, du hast gewonnen. Ich schätze, der heutige Tag ist so gut wie jeder andere auch, um sich abstechen und ausrauben zu lassen.«

»Wenn ich bei dir bin, sticht dich schon niemand ab«, sagte Seth. »Niemand außer mir, wenn du mir zu sehr auf den Sack gehst.«

Zu Seths Erleichterung lachte Ned. »Dann bin ich ja beruhigt.«

Kapitel 2

Winnipeg und Wadjet

1

Seth warf einen Blick über die Schulter zurück, um sich zu versichern, dass Ned nicht auf die hirnverbrannte Idee kommen würde, seinen Truck zu verlassen. Sie waren beide darin übereingekommen, dass er in der Fahrerkanzel mit versperrten Türen am besten aufgehoben sein würde. Seths Vorschlag, ihn und seine Harley einfach abzuladen und dann wegzufahren, hatte der Kanadier energisch abgelehnt.

Ich muss doch sichergehen, dass alles in Ordnung ist und dir da drin nichts zustößt!, hatte er behauptet.Was auch immer ihn davon abhielt, nach Hause zu fahren, schien ihm erheblich mehr Angst einzujagen als die hohe Kriminalitätsrate dieses Viertels, die er auf der Herfahrt für Seth in allen Einzelheiten referierte.

Seth hatte Ned angehalten, in ein paar Querstraßen Entfernung zu parken. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass der Sterbliche versehentlich ins Kreuzfeuer geriet. Noch wusste Seth nicht genau, was ihn bei dieser Adresse erwartete, doch dass es kein entspanntes Kaffeekränzchen sein würde, stand für ihn fest. Seine Befürchtungen hatten allerdings nur wenig mit gierigen Menschen und Raubüberfällen in finsteren Gassen zu tun, vor denen Ned zitterte.

An den »Herrn« von Ombos! :)

Sie haben etwas, das dir gehört :( Hole es zurück, oder sie werden es benutzen!!!

XOXO

So lautete der spärliche Inhalt des Schreibens, das Seth über mehrere Umwege vor fast drei Wochen erreicht und ihm seitdem wie schleichendes, ätzendes Gift unter der Haut gebrannt hatte. Unterzeichnet war die Botschaft mit einer Hieroglyphe, die Seth aus den alten Tagen gut kannte: eine Kobra, die auf dem Neb-Zeichen thronte.

Das Symbol der Göttin Wadjet.

Nicht nur Seth, auch die anderen Götter seines Pantheons waren vor mittlerweile einem knappen Jahr in dieses Zeitalter geschleudert worden. Manche von ihnen hatten sich schnell in dieser neuen, fremden und schnelllebigen Welt zurechtgefunden. Andere, so vermutete Seth, kauerten immer noch in irgendwelchen trüben Winkeln und Ecken der Erde, krampfhaft nach einer Erklärung für dieses weltenumstürzende Ereignis suchend, das ihnen auf einen Schlag alles genommen hatte, was sie gewesen waren und das sie besessen hatten. Manche waren wütend und ließen das an den völlig unschuldigen Sterblichen aus, die ebenso wenig für diese Entwicklung konnten wie die Gottheiten selbst. Andere, so wie Seth, genossen die Möglichkeiten, die diese Zeit und ihre Wunder für sie bereithielten. Und wieder andere – und Seths Erfahrung nach waren dies die gefährlichsten Vertreter seiner Art – setzten alles daran, den alten Glanz wieder zurückzubringen. Dabei hatten sie keine Skrupel, über die Leichen von Sterblichen und Gottheiten gleichermaßen zu wandeln, um ihre Ziele zu erreichen.

Noch wusste Seth nicht, welcher Gruppe Wadjet zuzuordnen war. Dass sie sich an ihn wendete, war ein Zeichen des Entgegenkommens, so schien es ihm. Doch wie mit den meisten anderen Gottheiten des Pantheons hatte Seth auch mit der Herrin von Dep seinen Hader gehabt, ehe er durch die Zeiten und die Welten in einen widerlich kalten Kanal in Las Vegas gestürzt war. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie diese Zeiten vergessen hatte.

Sie vergaßen nie.

Als er das heruntergekommene Fachwerkhaus betrat, dessen Adresse auf dem Briefumschlag angegeben war, spürte Seth, wie sein Heka dicht unter seiner Haut nervös zu sieden begann. Die vertraute Hitze Deshrets wallte durch seine Adern – doch sie war, so weit entfernt vom Roten Land, ungewöhnlich schwach.

Die Eingangstür war kaum hinter Seth zugefallen, als er sich bereits in diesigem, staubdurchsetztem Halbdunkel wiederfand. Die Holzdielen unter seinen schweren Bikerstiefeln waren teilweise gesplittert, die hässliche Blumentapete schälte sich in Streifen von der Wand. Die zerbrochenen Fenster waren nachlässig mit Brettern vernagelt.

Seth schnippte sich eine Zigarette in den Mund und zündete sie an, ehe er weiterging.

Offensichtlich handelte es sich um eine Art Wohnkomplex. Sein Blick wanderte über die Nummern an den Türen, die Klingelschilder und Namenskärtchen daran. Lebten hier etwa noch Menschen? Seth hatte schon unter widrigen Umständen gewohnt – doch das stieß selbst ihm sauer auf. Der Unterschied zu kalten Nächten zwischen Containern und Pappkartons war nicht mehr besonders groß. Bedeutete das etwa, Wadjet hatte Schwierigkeiten, in dieser Welt Fuß zu fassen?

Im dritten Stockwerk schließlich wurde Seth fündig: Die Zahl, die auch in der Anschrift vorkam, sowie ein Klingelschild mit der bereits vertrauten Hieroglyphe empfingen ihn. An der Tür klebte ein faustgroßer Sticker, der einen freudestrahlenden, dottergelben Smiley darstellte. Seth, für einen Moment heftig vor den Kopf gestoßen, musterte das Grinsegesicht irritiert. Schon bei dem Brief war ihm aufgefallen, dass Wadjet offenbar über einen speziellen Sinn für Humor verfügte – und das schien erst die Spitze der Pyramide gewesen zu sein.

Seth sog heftig an seiner Zigarette, dann betätigte er die Klingel.

Für einen Moment geschah nichts. Seth wurde unangenehm bewusst, dass die zahlreichen Poststempel auf dem Brief verrieten, dass die ursprüngliche Aufgabe des Schreibens bereits knappe zwei Monate zurücklag. Wurde er gar nicht mehr benötigt?

Doch etwas sagte ihm: Wenn das Problem, über das Wadjet ihn informiert hatte, sich von selbst gelöst hätte, dann wäre das nicht ohne eine Katastrophe von internationalem Ausmaß vonstatten gegangen. Selbst Seth, der nur selten Nachrichten konsumierte, hätte das wohl oder übel mitbekommen.

Da hörte er Bewegung in der Wohnung hinter der Tür. Schritte erklangen, ein helles Klirren und ein Scharren verrieten, dass jemand die Kette von der Tür entfernte. Ihm wurde geöffnet.

»Typhon!«, begrüßte Wadjet ihn strahlend. Ihr grasgrün gefärbtes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht in zahlreichen kaum fingerdicken, formvollendet geflochtenen Zöpfen, die sich unter ihrer violetten Strickhaube hervorschlängelten. Sie trug eine starr geschnittene Jeans, die ihre nackten Knöchel freiließ und deren Bund weit über ihren Nabel reichte, ein schlichtes weißes T-Shirt und darüber eine übergroße Jeansjacke mit verschiedenen bunten Aufnähern. Hipster, hätte Billy diesen Aufzug vermutlich genannt. »Schön, dass du endlich mal Zeit gefunden hast! Ich dachte schon, du bist zu beschäftigt für ein Treffen mit alten Freundinnen.«

Seth schnaubte. Typhon. War das ihr verfickter Ernst? Mit einem Kopfschütteln wandte er sich ab und ging den Flur zurück Richtung Treppe. Dann war er eben tausendzweihundert Meilen umsonst gefahren. Scheiße, sollte sie doch sehen, wie sie allein klarkam – das hier hatte er nicht nötig.

»Ach, nun sei doch nicht gleich beleidigt!«, rief Wadjet ihm nach. »Ich habe auch etwas für dich – das wird dir gefallen!« Das letzte Wort zog sie neckisch in die Länge.

Seth hielt an. Reglos stand er im Flur und rauchte, ohne sich umzudrehen oder etwas zu sagen.

»Du bist doch nicht immer noch nachtragend?«, fuhr Wadjet fort.

»Ich bin niemals nachtragend«, widersprach Seth. »Aber ich schätze diesen Namen nicht.«

»Was – Typhon? Ach, das ist doch schon alles eine Ewigkeit her. Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass dir das immer noch querliegt?« In ihrer Stimme klang etwas mit, das an sadistische Schadenfreude grenzte. Ein Teil von ihr schien sich daran zu weiden, dass es ihr gelungen war, Seth mit nur einem Wort zu irritieren.

Er starrte auf das vernagelte Fenster an der Seite. »Was willst du, Viper?«, murmelte er halblaut.

»Komm rein«, riet Wadjet. »Und find es heraus, Herr von Ombos.«