Tränen der Göttin - Bettina Auer - E-Book
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Tränen der Göttin E-Book

Bettina Auer

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Beschreibung

Liebe gegen Wut
Freiheit gegen Pflicht

Dass dieser Tag kommen würde, stand für Káyra immer fest… aber so? Mitten in der Nacht wird sie von Semar, einem Priester, entführt und auf die Festung Lýdris verschleppt. Dort soll Semar sie auf ihre Aufgabe als Auserwählte der Heiligen Göttin vorbereiten. Was diese beinhaltet, vermag Káyra jedoch keiner zu sagen. Eines aber ist gewiss – ihr Überleben ist nicht eingeplant.

Es handelt sich hierbei um einen Sammelband.

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Bettina Auer

Tränen der Göttin

Sammelband

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Impressum

 

Neuauflage 01/2020

Alte Auflage: Zeilengold Verlag vom 14.12.2018

 

Copyright © 2020 Bettina Seidl

Rosenstraße 2

93086 Wörth an der Donau

[email protected]

www.bettinaauer.com

 

Umschlaggestaltung: Melanie Popp/MP-Buchcoverdesign & mehr, www.mpbuchcoverdesign.com 

Bildmaterial: @sliper84, @WarmTail/Depositphotos.com

 

Satz & Kapitelzierde: saje design, www.saje-design.de

 

Baumillustration: Andrea Hagenauer

 

Lektorat: Sabrina Uhlirsch, www.spreadandread.de

 

Korrektorat: Regina Meißner, www.semikolonundco.com

 

Teil I - Erwacht

Prolog

 

DER REGEN, DER auf Semar niederprasselte, kümmerte ihn nicht. Die Kapuze seines Umhanges verhüllte sein Gesicht und er spürte, wie das Wasser den Stoff beschwerte.

»Es ist leicht.«

Neben ihm erschien eine Gestalt, komplett in Schwarz gehüllt, genau wie er. Sie war etwas kleiner und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schornstein.

»Leicht ...«, wiederholte Semar und sprach das Wort aus, als würde er seine Bedeutung nicht verstehen. In dem Fall tat er das auch nicht.

»Ja, ganz leicht! Sie haben nicht einmal Wachen in dem Haus postiert. Du kannst ungehindert hinein und mit ihr wieder hinauskommen«, erklärte die Frau, die unter all dem Schwarz steckte.

Semar drehte sich zu ihr um, und obwohl sie seine Augen nicht sehen konnte, wusste sie, dass er verärgert war.

»Sie wird sich sicherlich wehren oder sogar schreien! Was soll ich dann machen? Sie bewusstlos schlagen?«, zischte er.

Die Frau verdrehte die Augen.

»Semar, es ist deine Aufgabe, schon vergessen? Wie du es anstellst, ist vollkommen gleichgültig – du musst das Mädchen nur herausholen. Du bist sein Beschützer, ob du willst oder nicht, es ist dein Problem – auf ewig.«

Semar seufzte genervt und fluchte. Er hasste es.

Seit er vor drei Jahren fünfzehn geworden war und das heilige Los gezogen hatte, war er sich seiner Aufgabe bewusst gewesen. Tag und Nacht hatte man ihn darauf vorbereitet. Doch jetzt, da der Tag, an dem es die Aufgabe zu erfüllen galt, so nahe war, hatte er Angst.

Angst, dass er es nicht schaffen würde. Angst, sie nicht beschützen zu können.

»Was ist, wenn ich versage?« Seine Stimme war hauchdünn und die Furcht darin hörbar.

»Du wirst nicht versagen, Semar. Noch nie hat ein Schützer der Berührten seine Aufgabe nicht erfüllt«, versuchte sie ihn aufzumuntern und legte ihm sanft die Hand auf den Rücken.

Semar beruhigte die Berührung jedoch nicht sonderlich. Er ballte die Hände zu Fäusten.

»Meine Aufgabe? Das klingt viel zu ehrenhaft für das, was mit ihr geschehen wird. Sie wird sterben und ich werde sie darauf vorbereiten!«

Wütend wandte er sich der verhüllten Frau zu. »Wie kann ich ihr je aufrichtig in die Augen sehen? Sag mir das, Ayleen!« Sein Gesicht war vor Zorn verzerrt und seine Hände zitterten.

Ayleen schwieg lange, bevor sie antwortete: »Du wirst es, Semar. Du musst es. Sie weiß, dass sie sterben wird, jeder weiß das. Nur du bist der Einzige, der das nicht akzeptieren will.«

Er machte ein abfälliges Geräusch und drehte Ayleen den Rücken zu. Das mulmige Gefühl in seinem Bauch ignorierte er und wandte den Blick dem Gebäude zu, in dem die Auserwählte war.

Es stand drei Häuserdächer von ihm entfernt und war aus Stein wie viele andere in der Stadt auch. Doch unter diesem Dach lebte eine Person, auf die ein grausames Schicksal wartete.

Ein Mädchen, an der Schwelle zur Frau, das nur ahnte, wie wertvoll es für den weiteren Erhalt dieser Welt war.

Und Semar musste es beschützen – bis zum bitteren Ende.

 

Kapitel 1

 

KÁYRA HATTE DIE Hände ineinander gefaltet und kniete auf dem Boden vor dem kleinen Altar in ihrem Zimmer. Stumm betete sie zur Heiligen Göttin und wünschte sich, heute Nacht Ruhe zu finden. Seit Wochen tat sie sich schwer damit, einzuschlafen. Die beruhigenden Tränke, die sie von ihrem Hausheiler erhalten hatte, machten sie nur dösig, brachten aber nicht den erholsamen Schlaf, den sie so dringend brauchte.

Káyra vollführte die segnende Abschlussgeste, sie fuhr sich mit dem Zeigefinger in einer geraden Linie über ihr Herz. Dann stand sie auf und schloss die vergoldeten Türen des Altars. Dieser war an sich schmucklos, nur in seiner Mitte stand die Porzellanfigur einer Frau, ganz in Weiß gehüllt. Ihren Kopf hielt sie gesenkt und die beiden Handflächen zeigten offen nach oben.

Es war eine einfache Machart der Göttin, die nicht viel Geld kostete. Káyras Eltern waren nicht arm, aber sie wollten das Geld nicht gedankenlos ausgeben, weshalb sie bei solchen Dingen oft die günstigere Variante wählten.

Káyra strich durch ihr rückenlanges, dunkelblondes Haar.

Sie hatte wie so oft vergessen, ihre gelockte Mähne vor dem Schlafengehen zu kämmen und behalf sich nun mit den Fingern. Anschließend legte sie sich ins Bett, blies die Kerze auf ihrem Nachttisch aus, schloss die Augen und versuchte, Schlaf zu finden.

 

 

 

Semars Ohren waren bis zum Äußersten gespitzt. Katzengleich schlich er durch das Haus und nutzte jeden Schatten zu seinen Gunsten. Es war für ihn das erste Mal, dass er irgendwo einbrach. Obwohl er auf jegliche Überraschungen gefasst war, war sein Körper zum Zerreißen gespannt. Immer wieder vergewisserte er sich, dass die Luft auch wirklich rein war. Schließlich ging es darum, ein Mädchen zu entführen. Endlich stand er vor Káyras Zimmer. Die Tür war nur leicht angelehnt und er hörte an dem Atem des Mädchens, dass es unruhig schlief. Seine Finger zuckten – ein Zeichen seiner Nervosität. Er schlüpfte in das Zimmer, schloss die Tür und versiegelte sie mit einem Zauber. Der Raum war klein. Auf der rechten Seite stand ein Kleiderschrank, daneben ein Holztisch, auf dem ein kleiner Hausaltar seinen Platz hatte. Links war ein Schreibtisch und dahinter grenzte das Bett an, in dem Káyra lag. Er blieb stehen. Er war nervös. Nervöser, als er je zugeben würde. Seine Hände zitterten vor Aufregung.

Dort lag sie – Káyra.

Die Auserwählte.

Als Kind von der Göttin berührt.

Semar schüttelte den Kopf. Er musste handeln. Er konnte nicht länger hierbleiben.

Zielsicher ging er auf sie zu und stellte sich neben ihr Bett, um sie zu betrachten. Er hatte sie nur einmal aus der Nähe gesehen und das war Jahre her. Ansonsten hatte er sich immer, wenn es die Situation erlaubte, von ihr ferngehalten. Die Jahre hatten sie verändert und Semars Hals zog sich zusammen, als er daran dachte, was er gleich tun würde.

Stell dich nicht so an!

Er streckte seine linke Hand nach ihr aus und berührte mit den Fingerspitzen ihre Stirn. Káyras Lider zuckten unwillkürlich und sie schlug die Augen auf. Er starrte in eine bernsteinfarbene und eine dunkelblaue Pupille. Keiner der beiden konnte in die- sem Moment sagen, wer mehr überrascht war.

Sie, dass ein Fremder in ihrem Zimmer stand und sie berührte. Oder er, dass sie aufgewacht war. Sie stieß einen hohen Schrei aus, doch er hielt ihr den Mund zu, um sie zum Schweigen zu bringen. Káyra ballte die Hände zu Fäusten und schlug zu. Sie traf ihn in der Brustgegend, worauf er sie stöhnend frei ließ.

Sie stieß ihn von sich. Schwer atmend sprang sie aus dem Bett, lief zur Tür und wollte sie aufreißen. Doch so sehr sie auch daran rüttelte, sie ließ sich nicht öffnen.

Im Hintergrund hörte sie den fremden Mann fluchen. Sie öffnete den Mund zu einem erneuten Schrei, doch schon war der Fremde hinter ihr, packte sie am Nacken und drückte zu. Sofort sank sie bewusstlos zusammen. Er fing sie auf und warf sie sich über die Schulter.

Semar öffnete das Fenster und sah hinauf zum Dach.

»Ayleen!«, rief er leise und ihr Gesicht erschien über ihm.

»Hilf mir.«

Sie hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Ihr feuerrotes Haar ging ihr bis zu den Schultern und kleine kunstvolle Zöpfe waren darin eingeflochten. Ihre Augen, die ungewöhnlich hellgrün waren, fixierten ihn.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?!«, warf sie ihm vor, doch Semar lächelte sie zerknirscht an.

»Bitte.«

Sie stöhnte auf und beugte sich über das Dach, darauf achtend, keine der lockeren Dachschindeln zu berühren. Mit einer Hand hielt sie sich fest, während sie die andere weit genug streckte, damit Semar sie ergreifen konnte.

Zu zweit schafften sie es, die bewusstlose Káyra auf das Dach zu hieven.

»Ich hab sie!«, sagte er grinsend, als er neben Ayleen auf dem Dach saß und sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte.

Ayleen schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Das sehe ich, du Vollidiot!« Ihr Blick huschte unruhig umher.

»Das ging ja schneller als gedacht. Und nun los, das Portal ist offen!« Sie nickte nach links und Semar folgte ihrem Blick. Am anderen Ende des Daches befand sich ein Loch. Es war mannesgroß und schimmerte silbern. Hinter den Wellen des magischen Eingangs konnte man ein hohes, weißes Gebäude inmitten einer farbenprächtigen Vegetation erkennen.

Er nahm Káyra wieder an sich, die etwas Unverständliches murmelte. Er durchschritt ohne zu zögern das Portal. Dabei stieß er gegen eine lockere Dachschindel, die mit einem Knall auf dem Kopfsteinpflaster zerbrach. Sie schüttelte den Kopf und folgte ihm, jedoch nicht ohne einen Blick nach unten zu werfen. Dort, wo die Schindel hinabgefallen war, stand ein Mann, ebenso in Schwarz gehüllt wie sie.

»Du«, wisperte sie. Sie kniff die Augen zusammen und der Mann nickte ihr kaum merklich zu. Dann spürte Ayleen, wie ein schwacher Wind aufzog. Dichter, schwarzer Nebel umspielte plötzlich den Mann auf der Straße und im nächsten Moment hatte er sich in Luft aufgelöst.

Kapitel 2

 

KÁYRA HÖRTE SCHRILLES Vogelgezwitscher, welches langsam so penetrant wurde, dass es schien, als hätten die Tiere nur ihre Stimmen erhoben, um sie zu nerven.

Widerwillig öffnete Káyra die Augen. Helles Licht blendete sie und sie kniff ihre Augen wieder zusammen. Sie murrte und drehte sich auf die rechte Seite. Den Kopf vergrub sie in ihrem Kissen.

»Schon wieder morgen«, murmelte Káyra und seufzte genervt. Sie hasste es, jeden Tag so früh aufzustehen. Wozu auch? Für nichts und wieder nichts. Sie langweilte sich sowieso den ganzen Tag, da sie keine wirkliche Aufgabe zu Hause hatte.

Sie beschloss dennoch aufzustehen und stellte ihre langen, schlanken Beine auf den kalten Fliesenboden.

Fliesen?!

Sie richtete ihren Blick nach unten und war hellwach. Ihre nackten Füße standen auf schneeweißen, blankpolierten Fliesen. Der ganze Raum bestand daraus. Das Zimmer war kahl, nirgendwo sah sie ein Bild oder eine Blumenvase. Sie saß außerdem auf dem einzigen Möbelstück, das der große, sterile Raum beherbergte.

»Wo bin ich?« Panik stieg in ihr auf, sammelte sich in ihrer Brust und ließ ihr kaum Luft zum Atmen. Sie stand langsam auf und sofort ergriff die Kälte von ihrem ganzen Körper Besitz. Sie wandte ihren Blick nach links, wo sie eine große Glastür ausmachen konnte.

Sie eilte darauf zu und öffnete sie.

Ein kühler Wind schlug ihr entgegen und die Vogelstimmen wurden lauter. Sie befand sich auf einem Balkon, der von einem marmorfarbenen Geländer aus kleinen Säulen umschlossen wurde. Sie trat näher heran, um hinabzusehen.

Ihr stockte der Atem.

Unter ihr befand sich ein atemberaubender, meergrüner See. Das Gebäude war genau in seiner Mitte erbaut worden. Im Wasser schwammen zahlreiche Seerosen und Káyra bemerkte voller Entsetzen die Spiegelung im Wasser, die ihr spitze, weiße Türme zeigte. Überall, wohin Káyra blickte, waren Wald und eine wunderschöne Pflanzenwelt in allen möglichen Farben zu sehen.

Was ist das für ein Ort?

Sie machte einen Satz rückwärts und rannte zurück ins Zimmer. Sie riss an der Tür, doch diese war verschlossen. Sie rüttelte daran und hämmerte wie wild dagegen.

»Lasst mich raus!«, schrie sie aus Leibeskräften.

Sie wütete wie eine Berserkerin, bis sie hörte, wie sich Schritte nährten. Schnell zog sie sich ein paar Meter zurück und begann nervös auf ihrer Unterlippe herumzukauen.

Die Tür ging auf und sie erhaschte einen Blick auf eine ebenfalls weiß geflieste Wand. Vor ihr stand eine Frau. Sie hatte ihr langes, feuerrotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und sah Káyra streng aus grünen Augen an. Ihre Kleidung war Schwarz gehalten und an ihrer Hüfte hatte sie zwei Kurzschwerter befestigt. Ihre Stiefel klackerten bei jedem Schritt. Káyra schluckte und versuchte ihrem Blick standzuhalten.

»Na endlich. Wir dachten schon, du würdest niemals wach werden«, sagte die Frau zur Begrüßung. Ihre Stimme klang rauchig und scharf. Sie war es offenbar gewohnt, Befehle zu erteilen.

»Was soll das? Wieso, und verdammt nochmal wo, bin ich hier?!«, fauchte sie die Fremde an und straffte dabei ihre Schultern. Sie wollte nicht hilflos oder verzweifelt wirken, auch wenn sie sich genau so fühlte.

Die Frau musterte sie immer noch streng und ließ ihren Blick neugierig über sie schweifen. Sie vergrub ihre Hände im knielangen Nachthemd.

»Du bist in der weißen Festung – auch Lýdris genannt. Mein Name ist Ayleen.«

Káyra sah sie an wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wurde. Ausdruckslos. Verständnislos.

»Lýdris?«, hauchte sie und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Nein, das kann nicht sein! Lýdris ist …«

»Lýdris ist der heiligste Ort in Mágra. Hier werden die Priester im Namen der Heiligen Göttin ausgebildet und die … Berührte«, erklärte Ayleen und wartete auf Káyras Reaktion.

Deren Gedanken rasten. Sie war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Ihr Blick schweifte in die Ferne und sie begann zu zittern.

»Ich bin in Lýdris«, flüsterte sie wieder und wieder. Ayleen seufzte.

»Ich bin nicht hier, um dir zuzusehen, wie du grübelst, sondern weil ich dich holen soll, Káyra. Du wirst in der Halle erwartet.«

Káyra atmete tief durch und folgte Ayleen ergeben. Sie hatte keine Zeit, auf die Umgebung zu achten, dafür arbeitete es zu sehr in ihrem Kopf.

Sie war in Lýdris, der weißen Festung.

Káyra kannte Geschichten über den Ort. Er war von der Göttin erschaffen worden, so hieß es. Der See, in dem die Festung lag, bestand angeblich aus den Tränen der Göttin und das Wasser besaß Heilkräfte.

Nirgendwo sonst in ganz Mágra erblühten die Pflanzen in sol- cher Pracht. Niemand wusste genau, wo Lýdris lag. Nur die Priester, die hier ausgebildet wurden, kannten die Lage der Festung.

Ja, die Priester und die Berührte. Ihr Magen zog sich zusammen.

Sie war ein Schützling, das war ihr nach Ayleens Worten klar gewesen. Sie würde nie mehr von diesem Ort wegkommen.

Die Frau war plötzlich stehen geblieben und Káyra prallte gegen ihren Rücken. Dafür kassierte sie einen giftigen Blick von Ayleen.

Die Priesterin war vor einer großen, hohen Tür stehen geblieben. Sie bestand aus weißem Holz, in das goldene Elemente eingelassen waren. Sie musste zugeben, dass es wohl die nobelste und größte Pforte war, die sie je gesehen hatte. Sie reichte vom Boden bis zur Decke, die sich mindestens zwanzig Schritte über ihr befand.

»Wir sind da«, sagte Ayleen unnötigerweise. Die Frau hielt es nicht für geboten, an der Tür zu klopfen, sondern öffnete sie einfach. Das Mädchen folgte ihr mit etwas Abstand und wurde bei jedem Schritt nervöser. Die Halle war riesig; ihr ganzes Elternhaus hätte darin Platz gefunden.

Die Halle schien aber ebenso schmucklos wie der Raum, in dem sie vor kurzem aufgewacht war. Der Weg durch den Saal kam ihr endlos vor, und als sich das Ende näherte, sah sie dort ein weißes, zweistufiges Podest. Darauf befand sich ein goldener Stuhl, auf dem jemand saß. Daneben stand ein ihr ebenfalls Unbekannter. Káyra konnte nicht anders. Sie musste ihn einfach anstarren.

Er schien etwa zwei Jahre älter als sie zu sein und trug ebenso schwarze Kleidung wie Ayleen. Sein silbernes Haar, das ihm leicht in die Stirn hing, die Augen, die von einem ungewöhnlichen Schwarzgrau waren, bescherten ihr eine Gänsehaut. Als sich ihre Augen trafen, zuckte er kurz zusammen und starrte sofort zu Boden.

Ihr Blick huschte nun zu der Person, die auf dem Stuhl saß. Es war eine Frau, die weiße Kleidung trug. Ihr langes blondes Haar fiel ihr den Rücken hinab wie ein Wasserfall und sie hatte stechende, hellblaue Augen. Um ihren Hals lag eine schlichte Goldkette und eine Vielzahl an Ringen blitzte an ihren Fingern. Ihre Hände waren runzelig und mit unzähligen Altersflecken übersät, doch ihr Gesicht war jugendlich glatt.

Káyra schluckte und senkte demütig das Haupt. Ayleen blieb vor dem Podest stehen und strich sich mit dem Zeigefinger geradlinig übers Herz.

»Meisterin Inei«, grüßte Ayleen die Frau ehrerbietig. Diese nickte knapp und sah dann zu Káyra, die noch immer den Blick gesenkt hielt.

»Káyra Evgres, sieh mich an«, befahl die Hohepriesterin und Káyra kam dem nach. Sie hob den Blick und sah der Frau in die Augen. Die musterte sie ihrerseits und hinterließ bei ihr ein mulmiges Gefühl.

»Káyra Evgres, du bist hier, weil du auserwählt wurdest, unsere Welt Mágra zu beschützen. Zusammen mit deinem Priester Semar, den das heilige Los gewählt hat, bist du bestimmt, die drohenden Gefahren zu bannen, die immer näher rücken. Bist du bereit, dein Schicksal anzunehmen?«

Sie sprach mit feierlicher Stimme und sicherlich erwartete sie die Antwort nicht, die jetzt von Káyra kam: »Nein, ganz und gar nicht.«

Semar begann wild zu husten, so sehr schockierten ihn Káyras Worte. Er bemerkte, dass sich auf Ayleens Gesicht Wut widerspiegelte und die Hohepriesterin verwirrt dreinblickte. Keiner von ihnen hatte mit dieser Art von Antwort gerechnet.

Scheu musterte er Káyra. Sie sah so verloren aus, wie sie inmitten des Saales stand, deutlich erkannte man, dass sie sich an einen ganz anderen Ort wünschte. Sie war aufgewühlt, er spürte es. Semar öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Káyra sagte: »Ich weiß, dass ich als Kind von der Göttin geheilt worden bin und dass dadurch mein Schicksal besiegelt worden ist, aber mich hat niemand gefragt, ob ich das will! Ich will nicht etwas tun, zu dem ich gezwungen wurde! Ich will noch nicht sterben. Ich will nach Hause, bitte!« Tränen schimmerten in ihren Augen.

»Du kannst nicht nach Hause, Káyra.«

Alle blickten Semar an, der wiederum nur Augen für Káyra hatte. »Káyra, du bist die neue Berührte. Du musst uns vor den Dämonen beschützen, die unsere Welt zerstören wollen. Es ist seit Jahrhunderten so, und das weißt du.« Er seufzte einmal tief.

»Keiner der anderen Berührten hatte je die Wahl, verstehst du? Es geschieht einfach, Káyra. Ich weiß, du fühlst dich überrannt und hilflos, aber glaube mir, das geht vorbei und ich werde dir dabei helfen. Vertraue mir.«

Káyra starrte Semar an. Der junge Mann rührte etwas in ihrem Herzen, was sie nicht beschreiben konnte. Sie schluckte schwer und wandte beschämt den Blick zu Boden. Sie wusste, dass er Recht hatte. Sie hatte keine Wahl. Es war ihr Schicksal – und sie musste es erfüllen.

Schwach nickte sie: »Ich … Ich werde mir Mühe geben, der Göttin zu dienen.« Ein Bild aus ihrer Kindheit flammte kurz auf, doch es entschwand, bevor sie es fassen konnte.

Sie hörte Schritte und Semar stand nun direkt vor ihr. Sie sah ihm an, dass er nervös war, aber das schmale Lächeln auf seinem Gesicht versuchte diesen Umstand zu überdecken.

»Ich bin Semar, dein Priester. Ich werde dir stets zu Diensten sein.« Der bohrende Blick seiner dunklen Augen ließ Káyra etwas erröten.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, erwiderte sie peinlich berührt. Ihr Herz begann plötzlich schneller zu schlagen und unbewusst machte sie einen Schritt näher auf ihn zu.

»Ayleen, bring Káyra auf ihr Zimmer zurück. Sie wird sich heute Abend noch ausruhen. Semar wird sich morgen ihrer annehmen«, befahl Inei plötzlich und zerstörte diesen intimen Moment. Die Rothaarige verbeugte sich leicht vor ihr, bevor sie Káyra mit einem Kopfnicken anwies, ihr zu folgen.

Auch Káyra verneigte sich vor Inei, selbige warf Semar einen prüfenden Blick zu. Er lächelte verlegen und Káyra sah ihn ein letztes Mal an, bevor sie Ayleen folgte und die Gefühle in ihrem Inneren zu kontrollieren versuchte.

Der heutige Tag war zu viel für sie gewesen. Sie wusste nicht, wie sie all die Geschehnisse in so kurzer Zeit verarbeiten sollte.

Die Priesterin öffnete Káyras Zimmertür und sah sie dann ernst an.

»Hör mir mal genau zu, Fräulein.«

Sie sah überrascht auf. Die Stimme der Priesterin war eiskalt, genau wie ihr Blick.

»Semar ist einer der ehrlichsten, nettesten … Menschen, die ich kenne und du wirst ihn nicht verletzen, hast du verstanden? Er würde für dich sterben, weil es seine Aufgabe als dein Priester ist, aber das hindert mich nicht daran, dir wehzutun, kapiert?«

Bevor sie etwas erwidern konnte, schob Ayleen Káyra grob in ihr Zimmer und verschloss sorgfältig die Tür.

Kapitel 3

 

DEN KOPF IN DEN den Nacken gelegt und mit geschlossenen Augen saß Semar auf dem Teppich. Die Beine zum Schneidersitz verschränkt, die Handrücken locker auf den Knien liegend, versuchte er zur Ruhe zu kommen.

Der heutige Tag und die vorherige Nacht waren aufregend gewesen und hatten ihn aus seinem inneren Gleichgewicht gebracht. Er musste seinen Ruhepol wiederfinden und sich erneut auf ihn einstellen, damit er den unruhigen Gedanken ein Ende setzen konnte.

Die Mediation war ihm noch nie so schwergefallen wie heute. Er seufzte und drückte sein Rückgrat durch, um wieder in die Ausgangsstellung zurückzukehren.

»Lass es sein, Semar. Heute wirst du keine Ruhe finden.«

Es war Ayleens Stimme, die ihn störte. Die Frau machte mit klackenden Schritten direkt hinter ihm Halt. Semar stöhnte und öffnete die Augen. Er drehte sich im Sitzen zu ihr um. Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm.

»Wieso störst du mich?«, fragte er leicht genervt.

»Was hältst du von ihr?«, kam prompt die Gegenfrage. Ihr Blick drang ihm durch Mark und Bein. Er hasste es, wenn sie ihn so ansah, doch Ayleen tat das ständig. Oft hatte Semar das Gefühl, es war ihr gar nicht möglich, anders dreinzublicken.

Er zuckte leichthin mit den Schultern.

»Sie ist ein einfaches Mädchen«, lautete seine gelangweilte Antwort. Ayleen strich sich nachdenklich übers Kinn.

»Mhm, schade. Ich dachte, sie gefällt dir.« Semar blinzelte und sah sie verständnislos an.

»Ähm … wieso?«

Ayleen grinste und Semar erinnerte sich nicht, sie jemals so amüsiert gesehen zu haben.

»Du bist ein junger, nicht gerade unansehnlicher Mann. Mir kannst du es doch sagen, Semar.«

Er lief leicht rot an und wandte den Blick ab.

»Lass mich in Frieden.« Ayleen sah ihn.

»Ich habe Cayem gesehen.«

Semar zuckte beim Klang des Namens zusammen und ruckartig sah er sie wieder an. Seine Augen weiteten sich.

»Wo?«, fragte er sichtlich schockiert.

»Als wir Káyra geholt haben. Er hat unten gestanden, wo die Schindel aufgeprallt ist.«

Mit ihrem Blick fixierte sie Semar. Sein Gesicht war für sie wie ein offenes Buch und es standen viele Emotionen darin: Angst, Verzweiflung, Unsicherheit und Wut.

»Hast du es Inei erzählt?«, wollte er mit leiser Stimme erfahren.

»Nein. Sie muss es nicht wissen. Semar, du kannst dir sicher vorstellen, wieso Cayem dort war.«

Sie hatte ihre Stimme ebenfalls gesenkt. Obwohl sie völlig allein im Meditationsraum waren, lag der Argwohn doch in Ayleens Natur.

»Ja«, antwortete er knapp und biss sich auf die Unterlippe.

»Wirst du es Káyra sagen?«

»Nein. Es geht sie nichts an – noch nicht«, erwiderte Semar schnell und Ayleen seufzte.

»Er ist immer noch wütend, oder? Ich verstehe das nicht. Es ist drei Jahre her, wie kann man nur so nachtragend sein?«, murmelte Ayleen und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen.

»Ich habe ihm seinen Platz weggenommen, das Einzige, was er sich je erhoffte. Es gibt keine zweite Chance und Cayem weiß das. Deswegen hasst er mich«, flüsterte Semar und warf ihr ein verkniffenes Lächeln zu.

»Manchmal wünsche ich mir, das Los wäre nie auf mich gefallen. Seien wir ehrlich, Ayleen, Cayem wäre die bessere Wahl.« Er erhob sich und strich seine Kleidung glatt.

»Aber das Los hat dich gewählt und nicht ihn. Die Heilige Göttin allein weiß, wieso. Du bist stärker als Cayem, Semar. Du musst es nur zulassen.«

Er sah sie traurig an.

»Ich weiß, dass du es gut meinst, Ayleen, aber ich bin heute nicht in der Stimmung dafür. Ich bin müde und möchte endlich etwas schlafen. Wir können morgen weiterreden, ja?«

Er klopfte ihr zum Abschied auf die rechte Schulter und ließ sie dann allein. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch sah sie ihm nach.

 

 

 

Káyra hatte die Beine angezogen und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf die kahlen Wände. Das Zimmer war ihr unheimlich. Es war viel zu leer.

Sie wusste nicht, wie sie sich in diesem Raum entfalten sollte. Zuhause hatte sie auch nicht gerade in Luxus gelebt, aber wenigstens hatte sie noch einen Schrank, einen Schreibtisch und Krimskrams besessen, um ihre Räumlichkeiten zu gestalten.

Hier jedoch hatte sie gar nichts.

Káyra seufzte. Sie musste an ihre Eltern denken. Als sie klein war, hatten sie ihr oft erzählt, warum sie zwei unterschiedliche Augen besaß. Sie war als Kind von einer Träne der Göttin berührt worden. Etwas, das nur alle neunzig Jahre passierte. Es war zugleich ein Segen und ein Fluch.

Sie hatte immer gewusst, dass man sie eines Tages holen würde, aber nicht auf diese Art und Weise. Ihre Eltern konnten sich sicher denken, was passiert war und waren gleichermaßen stolz und traurig über ihren Weggang.

Ihnen war von dem Moment, als die Göttin sich ihrer erbarmt hatte, bewusst gewesen, dass Káyra gehen würde, wenn die Zeit reif war. Nur wann es so weit sein würde, hatten sie nie gewusst. Doch eines war sicher, sie durfte nie wieder nach Hause.

Káyra fröstelte bei diesem Gedanken.

Die Heilige Göttin duldete es nicht, dass man sich von Lýdris entfernte, wenn man eine Berührte war.

Wütend ballte Káyra die Hände zu Fäusten. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen! Sie hatte sich ihr Schicksal nicht ausgesucht, aber sie würde das Beste daraus machen.

Und dieser Semar scheint ganz nett zu sein, meldete sich eine leise Stimme in ihrem Kopf, die Káyra am liebsten ignoriert hätte.

Semar.

Das war der junge Mann gewesen, der neben Inei gestanden hatte. Er war ihr Priester und würde ihr helfen, ihre Aufgabe gewissenhaft zu erledigen. Sie kannte ihn nicht, doch auf den ersten Blick hatte er sympathisch gewirkt. Außerdem war ihr aufgefallen, dass er sie unsicher angesehen hatte, so, als wüsste er selbst nicht genau, was er mit ihr anstellen sollte.

Sie seufzte und gähnte. Es war schon spät und sie sollte endlich schlafen, doch sie wollte nicht. Sie hatte Angst, wieder woanders aufzuwachen.

»Hey.«

Sie erschrak, als sie die fremde Stimme vernahm. Ihr Kopf wandte sich der offenen Tür zu. Auf ihrem Balkon stand jemand – ein junger Mann. Er lehnte an der Tür und lächelte freundlich. Sein schwarzes schulterlanges Haar schimmerte im Mondlicht und die grünbraunen Augen waren auf sie gerichtet.

Er trug die gleiche dunkle Kleidung wie Ayleen und Semar.

Eindeutig ein Priester.

Sie verkrampfte sich, als er auf sie zutrat.

»Was willst du hier?!«, fragte sie mit brüchiger Stimme und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Der Fremde musterte sie ungeniert.

»Ich wollte dich sehen. Nicht jeden Tag kommt jemand Neues«, erklärte er sein Auftauchen und lächelte wieder.

»Mein Name ist Cayem«, stellte er sich ihr vor und streckte ihr die Hand entgegen. Ihr fiel auf, dass er Handschuhe trug, bei denen die Finger frei blieben.

Zögerlich ergriff sie die Hand. Seine Finger waren warm und rau. Sie sah ihm ins Gesicht. Er wirkte nicht viel älter als sie selbst und die grünbraunen Augen hatten einen dunklen Ton.

»Káyra«, sagte sie und erwiderte endlich das Lächeln.

»Ich weiß, wer du bist. Hast du dich schon eingelebt?«, wollte er wissen und betrachtete das Zimmer abschätzig.

»Besonders wohnlich ist es hier ja nicht.«

»Nein, ist es nicht. Vielleicht kann ich morgen fragen, ob ich ein paar Möbel bekomme«, sagte sie und ließ Cayems Hand los.

»Du kannst es versuchen.«

Beide schwiegen eine Zeit lang und Káyra begann nervös, an ihrer Handfläche zu zupfen.

»Bist du auch ein Priester?«, fragte sie, um die Stille zu brechen. Ein Schatten huschte über Cayems Gesicht.

»Ja.«

Das Wort kam ihm schnell und harsch über die Lippen und Káyra bemerkte den zornigen Funken, der in seinen Augen aufblitzte.

»Bist du nicht gern Priester?«, stocherte sie ungeniert weiter und zuckte zusammen, als er ihr einen wütenden Blick zuwarf.

»Ich rede nicht darüber«, sagte er schließlich und versuchte, freundlich zu klingen, doch seine Augen waren noch immer zornig.

»Wie bist du auf den Balkon gekommen?«, fragte Káyra statt- dessen und Cayem grinste.

»Jeder Priester verfügt über eine besondere Fähigkeit. Meine ist es, dass ich mich von einem Ort zum anderen bewegen kann, ohne gesehen zu werden.«

Sie runzelte die Stirn.

»Was? Du spielst mir doch was vor!« Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Das ist unmöglich!«

Cayem beugte sich leicht vor. Sein warmer Atem streifte ihr Gesicht.

»Soll ich es dir zeigen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, löste er sich vor ihren Augen in schwarzen Rauch auf und erschien wenige Sekunden später auf der Balkonbrüstung.

Káyra starrte ihn verwirrt an.

»Was?!« Sie sprang vom Bett auf und lief auf den Balkon, wo ein grinsender Cayem sie empfing.

»Na?« Er zwinkerte ihr zu.

»Wie machst du das?«, wollte sie voller Neugier wissen. Er zuckte nur mit den Schultern.

»Ich kann es einfach. Jeder von uns hat eine besondere Fähigkeit.«

Er machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Semar wird es dir bestimmt morgen verraten.«

Káyras Augen waren weit aufgerissen und sie erinnerte ihn an ein kleines Kind. Er fand sie ziemlich süß. Schnell schüttelte er den Gedanken ab.

»Ich muss gehen. Wir sehen uns bald wieder.«

Er verneigte sich und schenkte ihr noch ein schelmisches Grinsen, bevor er sich erneut in Rauch auflöste und verschwand. Káyras Blick war immer noch an die Stelle geheftet, an der Cayem gewesen war. Ihr Herz klopfte dabei so schnell, dass sie das Gefühl hatte, es würde gleich zerspringen.

 

 

 

Nervös folgte Káyra der Dienerin durch die Festung. Erst jetzt achtete sie auf die Gänge und war enttäuscht, wie steril sie waren. Nirgends war ein Bild zu sehen, geschweige denn Blumen.

Die blankgeputzten Fliesen glänzten ebenso wie die schneeweißen Wände.

Sie fand alles recht befremdlich. So viel Marmor auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Bislang hatte sie geglaubt, dass ihr Onkel, der als Berater des Königs tätig war, viel Marmor und Prunk in seinem Herrenhaus gehortet hatte, doch gegen die Festung der Göttin verblasste es zu einer armen Hütte.

Káyra betrachtete die Dienerin unauffällig. Ihr Haar hatte sie zu einem Knoten nach oben gebunden und sie trug ein fließendes weißes Kleid, in das goldene Fäden eingewirkt waren. Ihre Bewegungen waren selbstbewusst, was man von Káyras nicht behaupten konnte. Sie folgte ihr auf wackeligen Beinen und sah sich unsicher um.

Lýdris war ein riesiges Gebäude und schüchterte sie mit jedem Schritt mehr ein. Ihr fiel auf, dass sie niemandem in den unzähligen Gängen begegneten. Auch hörte sie nirgends typische Geräusche wie lautes Reden, Lachen oder hin- und hereilende Schritte. Die Burg wirkte wie ausgestorben.

Die Dienerin blieb plötzlich vor einer unscheinbaren Tür stehen, drehte sich zu Káyra um und verneigte sich. Zögerlich erwiderte diese die Geste und wurde von dem Mädchen allein gelassen.

Káyra starrte auf den goldenen Knauf. Mit zittrigen Fingern drehte sie daran und öffnete die Tür. Sie kniff die Augen zusammen, als helles Sonnenlicht sie blendete, das durch ein riesiges Fenster fiel.

Ihre Augen gewöhnten sich bald an das Licht und erkannten Details in dem kleinen Raum. Sie blickte Semar an, der sich genau in der Mitte aufhielt. Der Boden bestand aus dunklem Holz und war mit einer Vielzahl von Teppichen und Kissen ausgelegt. In einer Ecke hing eine Fackel, die jedoch nicht angezündet war. Rechts und links neben dem Fenster sah Káyra dunkle Vorhänge. Semar hatte den Kopf gesenkt und die Finger ineinander verschränkt. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass ihnen ein Laut entwich.

»H … Hallo?«, setzte Káyra vorsichtig an.

Ruckartig hob er den Kopf und sah sie durch verschleierte Augen an. Es dauerte ein wenig, bis sich der trübe Schimmer auflöste und der Blick wieder klar wurde.

»Káyra. Da bist du ja«, sagte er und lächelte galant.

»Ich habe dich gar nicht bemerkt. Hast du geklopft?«

»Nein«, antwortete sie ehrlich.

»Gewöhne dir das bitte an. Es ist unhöflich, Räume zu betreten, ohne sich vorher bemerkbar zu machen.«

Sie errötete und senkte schnell den Blick.

»Ich verspreche es.«

Semar klatschte in die Hände. Sofort bewegten sich die Vorhänge und verdunkelten den Raum. Die Fackel erstrahlte im gleichen Augenblick. Erschrocken zuckte Káyra zusammen.

»Setz dich.«

Semar deutete auf eines der vielen Kissen und Káyra kam der Bitte nach. Kaum saß sie, hörte Káyra, wie die Tür geschlossen wurde, doch Semar stand immer noch vor ihr. Er konnte es nicht gewesen sein. Unruhig warf Káyra einen Blick über ihre Schulter.

»Ganz ruhig. Es ist alles in Ordnung«, redete Semar sanft auf sie ein und setzte sich ihr gegenüber. Er hatte sich im Schneidersitz niedergelassen, während Káyra die Knie angewinkelt hielt und auf ihnen saß.

Sie wurde immer nervöser, je länger sie ihn ansah und fühlte sich zunehmend unwohler, desto länger das Schweigen herrschte. Schließlich seufzte sie.

»Was soll ich hier, Semar?«

Er schloss die Augen und atmete tief aus.

»Du bist hier, weil dich die Heilige Göttin ausgewählt hat, Káyra. Es ist eine Ehre sondergleichen, die dir zuteilgeworden ist.«

Sie unterdrückte ein hysterisches Kichern.

»Entschuldigung, Semar. Aber ich sehe das nicht so. Mein ganzes Leben ist von einem Moment auf den anderen zerstört worden, weil sie mich auserwählt hat! Mich hat keiner gefragt, ob ich das will!«

Ihre Stimme hatte sie leise gehalten, doch ihre Augen funkelten vor Zorn. Semar betrachtete sie aufmerksam.

»Du hast keine andere Wahl, Káyra. Glaubst du, ich wurde gefragt, ob ich dein Priester sein möchte?«

Seine Stimme war auf einmal schneidend und Káyra räusperte sich verlegen.

»Es tut mir leid. Ich … das habe ich nicht so gemeint«, nuschelte sie eine Entschuldigung und Semar straffte die Schultern.

»Komm näher zu mir«, forderte er sie auf und sie rutschte mitsamt den Kissen näher an ihn heran. Wenige Zentimeter vor ihm blieb sie sitzen.

»Gib mir deine Hände.«

Semar streckte ihr seine entgegen und Káyra legte ihre hinein. Dabei fiel ihr auf, dass er geschlossene Handschuhe trug, die mit ledernen Bändern an den Handgelenken festgebunden waren. Sie fühlten sich rau und hart auf ihrer Haut an. Ein Blick in seine grauschwarzen Augen ließ sie frösteln.

Ungewöhnlich, dachte sie und schluckte schwer, als Semar ihr ebenfalls in die Augen sah.

»Schließe die Augen«, forderte er sie mit rauer Stimme auf. Káyra tat wie ihr geheißen. Erstaunt stellte sie fest, dass sie noch nie so viel auf andere gehört hatte wie heute. Der Druck um ihre Hände verstärkte sich.