Traumhaft - Henriette - Larissa Schwarz - E-Book

Traumhaft - Henriette E-Book

Larissa Schwarz

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Beschreibung

Henriette ist mit Björn verlobt und mit ihren Prinzipien verheiratet. Bis sie sich in Konstantin verliebt. Er erweckt sie zwar aus ihrem Dornröschenschlaf, aber präsentiert ihr gewisse Details über sich selbst nur peu à peu und Henriettes Fluchtinstinkt erwacht. Dennoch können sie keine getrennten Wege gehen und begegnen sich immer wieder mit Humor, Vorurteilen und vehementem Verlangen nacheinander. Während es Henriette nach Frankfurt und Paris verschlägt, erwacht ihr Bruder Nils in den USA aus seinem Lebenstraum. Ihn quälen Heimweh nach Deutschland und Sehnsucht nach Linda, seiner ersten großen Liebe. Aber wo setzt man an, wenn dreizehn Jahre und tausende Kilometer dazwischen liegen? Band vier der Eschberg-Reihe verbindet neues Glück mit alten Bekannten und führt an traumhafte Orte ­– atemberaubende Classic Cars und ein wehmütiger Weimaraner inklusive.

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Traumhaft – Henriette

Band 4 der Eschberg-Reihe

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.d-nb.de abrufbar.

Texte: © Larissa SchwarzUmschlaggestaltung: © Larissa Schwarz

Verlag:Edition Eschberg – Larissa Schwarz Heisterbusch 1

46539 [email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Liebe Lesende,

ich mach’s kurz, versprochen!

Normalerweise kommt die Eschberg-Reihe ohne Vorwort aus – für diesen Band scheint es allerdings notwendig. Weshalb?

Die Handlung knüpft diesmal nicht an den vorherigen Band an, sondern spielt zu weiten Teilen gleichzeitig. Wir steigen im selben Jahr ein, in dem Solveig und Matthias sich kennengelernt haben. An diesem eisigen Januarabend in Essen.

Henriettes Geschichte beginnt ein wenig später, erzählt aber einen parallelen Handlungsstrang, der in Band drei bereits angedeutet wurde und nun zur Entfaltung kommt. Einige Kapitel bzw. Tage werden also die Erinnerung auffrischen, aber womöglich einen anderen Verlauf nehmen und ein paar lose Fäden aus Band drei verweben.

Die Teilung der Geschichte war einerseits dem Umstand geschuldet, dass die Printversion sonst unhandlich geworden wäre, andererseits sind die beiden Frauen und ihre Wege so unterschiedlich, dass sie in einem gemeinsamen Band nicht wirklich zur Geltung gekommen wären.

Am Ende des Buches findet sich übrigens erstmals ein Personenverzeichnis, in dem die Hauptcharaktere aufgeführt sind.

Band fünf der Eschberg-Reihe wird an den Schluss von Band vier anknüpfen. Ich wünsche euch von ganzem Herzen viel Freude und eine traumhafte Zeit in Eschberg!

Montag, 07.04.

»Das wird ein persönliches Nachspiel für Sie haben!«

»Mhm«, machte sie und nickte stoisch.

»Ich verlange, dass meine Kreditkarte sofort wieder freigeschaltet wird. Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?«

Henriette streckte dem Telefon die Zunge entgegen, zeigte mit zwei Fingern eine Pistole und erschoss es.

»Herr Auenberg, ich habe Ihnen das bereits zweimal erklärt, das ist jetzt das dritte und letzte Mal. Ich werde Ihre Kreditkarte frühestens dann wieder aktivieren, wenn Sie das Konto ausgeglichen haben. Und noch mal, gern auch zum Mitschreiben: Die Kreditkartenrichtlinien gelten für alle Kunden gleichermaßen, auch für die, die behaupten, mit dem Bankvorstand befreundet zu sein. Welche Fragen, die ich nicht bereits beantwortet habe, möchten Sie jetzt noch stellen?«

»Keine. Wiederhören.«

»Einen schönen Tag noch, Herr Auenberg. Auf Wiederhören.«

Stummschalten. Kopf gegen den Tisch rammen. Grummeln. Durchatmen.

»Wer hat dich denn so aus der Ruhe gebracht?«, kicherte Silke.

»Frag nicht ... Frag lieber nicht«, antwortete Henriette, legte das Headset an die Seite und sah ihre Kollegin skeptisch an. »Eigentlich hatte er eine sehr nette Stimme, aber der war so aggressiv, dass ich dachte, der kommt mir gleich durch den Hörer.«

»Na, dafür warst du aber noch ruhig ...«

»Bin ich jemals laut?«, lachte Henriette und Silke schüttelte den Kopf.

»Nein, das stimmt wohl. Was hatte der denn für ein Problem? Ich hab immer nur Fremdbank und Kreditkarte gehört ...«

»Ach, eigentlich gab es kein Problem, er hat ein falsches Buchungskonto angegeben für seine Mastercard Platin und jetzt den Aufstand geprobt, weil wir ihn in die Kreditbetreuung übernommen und ihm mit SCHUFA und Inkasso gedroht haben.«

»Herrje ... Das Übliche also.« Silke schmunzelte und rollte mit ihrem Bürostuhl zu ihrer Kollegin. »Und das auch noch kurz vor Feierabend ...«

»Ach, was soll’s ...«, murmelte Henriette. »Wenn unsere Kunden meinen, sie müssten erst Frust loswerden, bevor sie vernünftig mit uns reden ...«

»Aber die Herren Platincard-Inhaber sind da ja sowieso immer sehr eigen ...«, entgegnete Silke und tippte mit dem Finger auf den Bildschirm, auf dem immer noch die Kundenakte des missgelaunten Anrufers von gerade geöffnet war. »Konstantin Auenberg ... Klingt schon so hochnäsig ...«

»Hm, wie gesagt, die Stimme war äußerst angenehm und es ist ja hin und wieder erquickend, wenn man mal jemanden am Telefon hat, der zwei ganze Sätze hintereinander fehlerfrei schimpft. Also mit Subjekt, Prädikat und Objekt ...«

»Ja, da hast du wohl recht. Nicht wie neunzig Prozent der anderen, die hier anrufen ...«

»Tja, mit denen darfst du dich noch bis 18 Uhr rumschlagen, ich habe Feierabend ... Adieu, meine Liebe. Bis morgen.« Ein letzter Blick auf den Monitor. Runterfahren. Schluss.

»Bis morgen, genieß die Sonne für mich mit ...«, winkte Silke ihr beim Hinausgehen.

Auf dem Weg vom Büro ins Parkhaus setzte Henriette die obligatorische SMS ab.

👗Bin unterwegs.

Björn bestand darauf und er wurde fuchsteufelswild, wenn sie sich verspätete oder er nicht wusste, wo genau sie war. Henriette lief die wenigen hundert Meter durch die Stadt, über die große Brücke und dann in das »Parkhaus des Grauens« wie sie es nannte. Es gab Kolleginnen, die es nur in Begleitung betraten, weil dort häufig Fahrzeuge aufgebrochen wurden; es war auch schon zu Pöbeleien und Raubüberfällen gekommen. Andererseits ließ es sich nirgends so günstig parken wie dort. Es ließ sich sowieso nirgends parken in der Stadt. Es war eine Notlösung. In der fünften Etage verließ sie mit einem Gemisch aus Ekel und Eile das Treppenhaus. Es roch dort immer äußerst unappetitlich und hin und wieder lag ein Junkie auf dem Treppenabsatz, die Nadel noch im Arm, Pupillen wie Stecknadelspitzen und feist grinsend.

*

»Herrje, wie oft denn noch? Stell bitte deine gebrauchten Kaffeebecher in die Spülmaschine und nicht auf die Spüle, das macht mich wahnsinnig ...«, rief Henriette, als sie in die Küche kam. Sie stellte die Einkäufe ab und seufzte.

»Sorry ... Ich dachte, wenn sie nur lange genug obendrauf stehen, diffundieren sie automatisch durch die Arbeitsplatte in den Geschirrspüler ...«

»Sehr witzig, wirklich wahnsinnig witzig ...«

»Ich hatte keine Zeit.«

»Björn, verarsch mich nicht. Wenn du von etwas annähernd so viel wie Geld hast, dann ist es Zeit. Und den Becher in die Maschine zu räumen dauert nur fünf Sekunden länger.«

»Fünf Sekunden sind aber bei Gran Turismo kriegsentscheidend«, belehrte er sie, stellte sein Glas auf die Spüle und verließ die Küche. Noch im Hinausgehen fragte er: »Was gibt es zu essen?«

Dienstag, 08.04.

»Jette, dein spezieller Freund hat gestern Abend nochmal angerufen.«

»Wer?«

»Der Aggro Auenberg.«

»Oh ... Na fein. Und?«

»Wollte mit niemandem anderem reden, als mit dir ... Ich hab versucht, ihm zu erklären, dass das bis heute dauert und wir ja eigentlich so was nicht machen, also persönliche Rückrufe ...«

»Aber?« Henriette grinste und stellte ihr leeres Glas ab.

»Pfft, der war auf einmal ganz nett ...«, antwortete Silke schulterzuckend.

»Auf einmal?«

»Ach, der meinte erst ganz überkandidelt, dass das mit der Kreditkarte Konsequenzen hätte, er kenne ja genügend Leute in Frankfurt und überhaupt, sein Vater sei ja mit dem CFO der Bank befreundet und er selbst würde ständig mit Vorstandsmitgliedern zu Mittag essen, bla bla ... Kennst das doch. Ich dann nur so: Jap, alles schön und gut, aber wenn Sie mir nicht sagen, was Sie möchten, kann ich höchstens Frau Thannert um einen Rückruf bitten.«

»Und?« Henriette kicherte. Für diese Art von Wichtigtuern hatte sie wenig übrig, also nahm sie es mit Humor und amüsierte sich darüber.

»Hab ich dir als Mail eingestellt.«

»Fein, dann rufen wir den Herrn Vorstandsfreund mal zurück ... Netter Kosename übrigens, Aggro Auenberg ...«, entgegnete sie.

»Hast du den mal gegoogelt?«

»Nein, sollte ich?«

»Mach mal, der Name klingt so nett ... Und die Stimme an sich auch ... Hätte ich nicht gedacht, nach dem, was du erzählt hast.« Fröhlich zwinkernd legte Silke ein paar Briefe in die Unterschriftenmappe.

»Lass mal lieber, ich hab heute Morgen schon wieder genug Irre um mich rum gehabt ...«, seufzte Henriette.

»Wieder so schlimm?«, flüsterte Silke mitleidig.

»Wieder? Immer noch ...« Henriette verzog den Mundwinkel und deutete Silke, mit in die Kaffeeküche zu kommen. Im Großraumbüro ließen sich manche Dinge einfach nur schwer unter vier Augen oder Ohren bewahren.

»Warum machst du nicht endlich einen Cut, Liebelein? Das hast du doch nicht nötig!?«, meinte Silke und stellte ihren Kaffeebecher in den Automaten.

»Was heißt ›nötig haben‹ ... Ich meine, das wirft man doch nicht einfach weg. Björn und ich sind seit vier Jahren zusammen, haben so viele Gemeinsamkeiten, sind durch dick und dünn gegangen. Nur weil jetzt mal eine Durstrecke ist ...«

»Liebelein, ich kenne dich seit fünf Jahren, Björn seit vier und eure Durststrecke seit drei. Wem machst du was vor?«

»Mir selbst. Ich weiß. Aber solange er noch Antidepressiva nimmt, bringe ich es nicht übers Herz und auch sein Therapeut hat mir davon abgeraten.«

»Sein Therapeut, der auf der Gehaltsliste seines Vaters steht ...« Silke blickte sie ernst an. »Jette, mal unter uns; dass du mit Björn nicht wegen des Geldes zusammen bist, weiß ich. Dafür hat er dir am Anfang zu lange den armen Schlucker vorgespielt. Eigentlich ist er ja ein Lieber. Aber woher nimmst du die Hoffnung, dass es jemals wieder besser wird?«

»Ich weiß es nicht ...«, murmelte Henriette und legte den zerteilten Apfel auf den Teller. »Es ist, als hätte vor drei Jahren jemand den Schalter umgelegt ... Über Nacht war er irgendwie anders.«

»Hm. Und du hoffst, dass den Schalter vielleicht endlich jemand zurücklegt?«

»Ja, so in etwa ...« Henriette sah Silke zögernd an. »Na ja, wenn ich ehrlich bin ... Ich denke, ich habe mich auch selbst verändert über die Zeit. Aus Rücksicht lasse ich mir eigentlich zu viel von ihm gefallen.«»Wenigstens das hast du erkannt. Und mal angenommen, du trennst dich tatsächlich von ihm; er ist schon in Behandlung und er hat bereits einen Draht zu seinem Therapeuten. Was Besseres kann ihm doch eigentlich nicht passieren. Hat er wenigstens mal neuen Stoff für eine Sitzung ...« Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas mussten beide lachen. Silke sprach aus Erfahrung, ihre Mutter litt jahrelang an Depressionen und hatte nur schwer den Weg heraus gefunden, ein neuer Job und viele kleine Veränderungen hatten ihr den neuen Antrieb gegeben. Daher wusste Silke, wie hart es für Henriette sein musste, tagtäglich damit konfrontiert zu sein.

»Hast du eigentlich schon was von deiner Bewerbung gehört?«, fragte Silke auf dem Flur.

»Nein, leider nicht. Aber die Frist endete auch erst am 03.04., so schnell sind die ja nicht.«

»Aber dafür wollen sie die Leute ziemlich kurzfristig in Frankfurt haben. Das sind nur knapp vier Wochen.«

»Deswegen wurden hauptsächlich Kollegen ohne oder mit erwachsenen Kindern angesprochen. Wäre schon schön, wenn es klappen würde, die paar Wochen Tapetenwechsel würden mir sicherlich auch in anderer Hinsicht ganz guttun.«

»Du meinst, dass du mit dem Abstand und der Projektarbeit auf andere Gedanken kommst und klarer siehst?«

»Ja, das war die Hoffnung.«

»Ich drück dir die Daumen, Süße.«

»Danke ...«, murmelte Henriette und setzte sich Silke gegenüber an den Schreibtisch. Jetzt musste sie erst einmal diesen Tag hinter sich bringen. Was in ein paar Wochen passieren würde, hatte gerade keinen Platz in ihrem Kopf. Dort blitzte just in diesem Moment etwas anderes auf. Der Rückrufwunsch. Na gut, dann eben zum Warmwerden einen Shitstorm, dachte Henriette und rief die Kundenakte von Konstantin Auenberg auf. Sie las sich kurz in die Historie ein und fasste für sich zusammen, was sie über ihn wusste. Es erschien ihr ziemlich wenig. Der Übernahmevermerk in der Betreuungsakte war dürftig.

Übernahme in die Kreditbetreuung / V. Wohlfahrt

Überziehung auf Girokonto durch Kreditkartenabrechnung. Keine regelmäßigen Eingänge von Lohn oder Gehalt. Dringend Rückführung erforderlich. Weitere Nutzung abstimmen.

Auch in den Stammdaten war nichts zu erkennen. Normalerweise mussten Kreditkunden ihren Familienstand, ihren Beruf und ihren Wohnstatus angeben. Wie, um alles in der Welt, war er dann an eine Mastercard mit einem Limit von 25.000 Euro gekommen? Die Adresse in Berlin war eine reine Postfachadresse, gemeldet war er in Dubai. Dubai? Henriette zog die Nase kraus. Der Verdacht, es mit einem Kreditbetrüger zu tun zu haben, beschlich sie und sie überprüfte, ob auf dem Abbuchungskonto bereits Geld eingegangen war. Fehlanzeige. Sie wählte die Telefonnummer von Konstantin Auenberg. Festnetz in Bad Soden. Hier passte rein gar nichts zusammen.

»Ja?«, tönte es genervt aus dem Kopfhörer. Henriette stellte den Ton leiser.

»Henriette Thannert. Spreche ich mit Herrn Auenberg?«

»Oh, Frau Thannert, guten Morgen.« Schlagartig hatte sich die Stimme verfreundlicht. »Danke, dass Sie zurückrufen.«

»Gern. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich versuche jetzt zum dritten Mal, das Geld auf das Konto zu transferieren und es funktioniert einfach nicht. Einmal kam es wieder zurück, beim zweiten Mal war angeblich die IBAN unvollständig und jetzt heißt es immer, die Prüfziffer wäre falsch.«

»Jaja, IBAN die Schreckliche ...«, seufzte Henriette. Sie ließ sich die Daten noch einmal durchgeben und stellte fest, dass es einen Zahlendreher gegeben hatte. »Aller guten Dinge sind drei, Herr Auenberg ...«

»Ja, ich hoffe es. Richten Sie Frau Schön noch ›schöne‹ Grüße aus, ich hab mich wieder eingekriegt.«

»Ah ja. Ich werde es ihr gleich erzählen.« Henriette schmunzelte. »Womit kann ich Ihnen sonst noch helfen?«

»Ich wüsste gern, welche Auswirkungen der Vorfall auf mein Scoring und das interne Rating bei Ihnen hat.«

Henriette wunderte sich – das war definitiv keine Standardfrage. »Moment bitte, ich sehe mir das gern an.« Sie legte ihn in die Warteschleife, beriet sich kurz mit Silke und überlegte, ob sie eventuell einen Testkunden am Telefon hatte. Es half alles nichts, eine Erklärung musste her. Konstantin Auenberg erwies sich als interessierter Zuhörer. Er stellte gezielte Nachfragen und erfasste die Situation ziemlich genau. Abschließend überlegte er laut: »Okay, das heißt, sobald der Saldo ausgeglichen ist, schicken Sie meine Kundenakte wieder zurück in die Filiale.«

»Genau, wobei es sich ja um eine elektronische Akte handelt und das Ganze virtuell per Mausklick funktioniert.«

»Fein. Ich kann also dann meine Kundenberaterin bitten, den Portfolioeinzug von meiner jetzigen Hausbank zu übernehmen.«

»Das können Sie gern auch jetzt schon tun, erfahrungsgemäß dauert so etwas ohnehin eine Weile.« Henriette grinste spöttisch. Er mochte ja viel erzählen und nett sein, aber dass er tatsächlich Vermögenswerte zu übertragen hätte, nahm sie ihm nach dem Theater nicht ab.

»Okay, danke für den Tipp.«

»Gern geschehen.«

»Und ... sorry nochmal, dass ich Sie gestern so angeranzt habe, ich stand am Flughafen und meine Kreditkarte funktionierte nicht, kein Bargeld dabei und in einem absoluten Blackout die PIN der ec-Karte vorübergehend vergessen. Blöde Situation ...«

Henriette verabschiedete ihn freundlich und sah sich dann noch einmal die Kartenumsätze an. Ein paar Umsätze von Amazon und iTunes, Belastungen durch Starbucks in Abu Dhabi, Restaurantrechnungen in Dubai und eine Abbuchung von Emirates, die beinahe das Limit gesprengt hätte. Schulterzuckend machte sie sich wieder an die Arbeit, verfasste einen Eintrag in die Akte und vergaß alsbald, dass sie am Tag zuvor beinahe die Fassung seinetwegen verloren hätte.

Mittwoch, 09.04.

Ein langgezogener Pfiff. Henriette sah nach links. Nach rechts. Niemand, der sich zu erkennen gab. Aber sie war wahrscheinlich auch gar nicht gemeint. Ein weiterer Pfiff. Lang. Laut. Erneut schaute sie nach rechts und links, dann jedoch blickte sie geradeaus, auf die andere Straßenseite. Ein Mann lehnte dort an der Sandsteinfassade des Bürogebäudes; Jeans, Sneakers, Hemd, Bikerjacke. Er hob die Augenbrauen und grinste sie an. Henriette blieb wie angewurzelt stehen. Sein Zeigefinger deutete auf ein Blatt Papier mit einem Schwarzweiß-Foto. Ihrem Foto. Aus dem Intranet der Bank. Vor Schreck hielt sie für einen Moment die Luft an. Wäre es nicht helllichter Tag und irgendetwas würde ihr sagen, dass von ihm keine Gefahr ausging, Henriette wäre geflüchtet. So jedoch überquerte sie die Straße und sah ihn skeptisch an. »Sollten Sie ein Auftragskiller sein, ist Ihr Vorgehen ziemlich dämlich, fast schon stümperhaft«, konstatierte sie.

Er grinste frech. »Ihnen auch einen schönen guten Tag, Frau Thannert.« Seine sommerblauen Augen leuchteten und kleine Lachfältchen bildeten sich in seinem Gesicht. »Scheint ein gefährlicher Job zu sein, den Sie da haben ...«Sie sah ihn belustigt an. »Weshalb?«

»Ins Gebäude kommt man nur mit Mitarbeiterausweis, Kunden werden ohnehin nicht vorgelassen und Sie vermuten in mir als Erstes einen Auftragskiller.«»Nicht?« Sie lachte. »Na gut. Dann bitte: Was kann ich für Sie tun?«

»Klingt schon besser«, sagte er und schmunzelte. »Guten Tag, mein Name ist Konstantin Auenberg und ich habe da ein Problem mit meiner Kreditkarte«, begann er wie automatisiert, zwinkerte und biss sich auf die Unterlippe.

»Ah, daher weht der Wind ...« Sie zwinkerte zurück. Die Stimme war ihr gleich so bekannt vorgekommen, auch wenn sie sie nur zweimal gehört hatte. So diskret wie möglich musterte Henriette ihn. Zu der netten Stimme gehörten ein sehr nettes Gesicht und ein sehr gefälliger Rest. »Und?«

»Und ... und ich wollte Sie um Entschuldigung bitten, dafür, dass ich so aufgebracht und kopflos reagiert habe, vorgestern.«

»Wollten Sie?«

»Ich bitte Sie darum ...« Er neigte den Kopf und lächelte sie an.

»Schon vergessen ... kommt leider häufiger vor, als man denkt ... Berufsrisiko«, winkte sie ab.

»Berufsrisiko?«»Ja, ständig im Shitstorm zu stehen. Aber lassen wir das. Ich mache den Job gern und das Schmerzensgeld am 15. jedes Monats ist nicht zu verachten.«

»Aber eine kleine Portion Nervennahrung kann nie schaden oder irre ich?« Er hielt ihr eine Packung Duplo und eine Packung Kinderriegel hin.

»Wie süß, wie sind Sie denn darauf gekommen?«

»Ich habe die Kollegin in der Filiale gebeten, mir zu verraten, was ich Ihnen mitbringen könnte und sie meinte, Kreditbetreuer würden liebend gern Duplo oder Kinderriegel essen. Die Nation sei da gespalten.«»Zu dumm, ich mag beides«, lachte Henriette.

»Hm ... Und wenn Sie entscheiden müssten?«

»Gebe ich Ihnen 2,39 € für die zweite Packung und nehme trotzdem beide.« Pokerface.

»Das ist unfair ...«, schmollte Konstantin.

»Weil es Ihnen keine Rückschlüsse erlaubt?«, fragte sie. Sein Blick war Antwort genug.

In diesem Moment klingelte Henriettes Handy. Hurts – Wonderful Life. Ihr Gesicht versteinerte und Konstantin zeigte, sie solle ruhig rangehen. Er ging ein paar Schritte zur Seite.

»Hi ... Mhm. Ja, ich bin gerade raus ... Hab noch was besprechen müssen ... Ja, sorry. Weiß ich ... Tiefkühlpizza, Bier und was noch? ... Schick mir das bitte als SMS, ich habe gerade nichts zu schreiben zur Hand ... Ja, mache ich ... Nein, kommt nicht wieder vor ... Bis nachher.« Henriette biss sich auf die Zunge. Es war eines dieser typischen Gespräche, die Björn und sie führten, wenn sie sich nach Feierabend nicht rechtzeitig meldete.

»Ich ... Ich wollte Sie nicht aufhalten ...« Konstantin sah sie entschuldigend an.

»Schon okay. Woher sollten Sie das wissen ...«, antwortete sie leise.

»Ein sehr trauriger Song ...«, entgegnete er. »So, wie Sie gerade schauen, brauchen Sie beides ...« Er hielt ihr die Packungen zusammen hin und nickte ihr zu.

»Vielen Dank ...«, winkte Henriette ab. »Wer weiß, ob die nicht vergiftet sind!?«

»Klingt ein bisschen nach Schneewittchen«, lachte er.

»Na ja, Sie sehen zwar nicht aus wie Maleficent, aber ...«

»Sie zwingen mich also dazu, die alle allein zu essen?« Dackelblick.

»Offensichtlich ...« Henriette sah ihn an. »Ich muss wirklich los. Sorry. Hat mich gefreut, Sie getroffen zu haben.«

»Mich auch ... Auf Wiedersehen!?«

»Wiedersehen? Wahrscheinlich nicht – wenn ich mich recht entsinne, wohnen Sie in Berlin oder Dubai oder Bad Soden oder sonst wo ...«

»Mhm. Aber das Eine schließt das Andere ja nicht aus ...« Er ließ nicht locker.

Warum ließ er nicht locker? »Nein ... Das nicht. Also, auf Wiedersehen.« Henriette drehte sich winkend um. Ihre Beine wurden schwer wie Blei. Statt zügig wie sonst, schlenderte sie langsam die Straße hinunter und atmete tief durch. Wieso wollte sie umdrehen? Wieso zog es sie zurück zum Mitarbeitereingang? Wieso hoffte sie, dass er dort noch auf sie warten würde? Innerlich mahnte sie sich, sich zusammenzureißen. Björn wartete. Und Björn wartete nicht gern. Die Welt raste. Alles schien im Eiltempo an ihr vorbeizufliegen. Auf der Brücke blieb sie stehen.

Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und fuhr blitzartig herum. Für einen Sekundenbruchteil kam Panik in ihr auf, legte sich aber sofort, als sie der Augen gewahr wurde, die sie gerade ernst anschauten.

»Bist du verheiratet?«

»Nein ...«, stutzte sie. »Verlobt.«

»Blöd. Für ihn«, entgegnete Konstantin und lächelte sie an. Mit seiner Hand fuhr er über ihre Wange, legte die andere um ihre Taille und zog sie zu sich heran. Dann schloss er die Augen, beschwichtigte ihre bebenden Lippen, küsste sie vorsichtig und nahm ihre Hand in seine. »O mein Gott, was tust du?«, flüsterte sie.

»Ich höre sofort auf, wenn du mir sagst, dass du das nicht willst«, antwortete er leise und sah sie für einen Moment an.

Keine Reaktion. Keine Gegenwehr.

Ein zärtlicher Kuss. Ein Hauch Leidenschaft. Mehr?

Mehr!, nahm er erleichtert zur Kenntnis, als sie langsam ihre Arme um seine Taille schlang.

Henriette schloss die Augen und vergaß die Welt um sich herum, versank in diesem Kuss, fand Halt in Konstantins Armen. Er schmeckte so süß und verheißungsvoll, dass sie sich kaum von ihm lösen konnte. Sie erwiderte seine kleinen Neckereien, knabberte an seiner Lippe und schauderte, als er mit seinen Fingern ihren Hals entlangfuhr. Als sie die Augen öffnete, sah er sie mitfühlend an.

»Ich weiß, du hast nichts von Aufhören gesagt ... Aber ...«

»Ich sollte gehen. Ja ...«, flüsterte sie. Ihre Blicke ruhten ineinander, eine kleine Ewigkeit lang. Konstantin nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust, ließ sie seinen Herzschlag spüren.

»Ich bring dich noch zum Auto?«, fragte er und küsste ihre Stirn. Henriette nickte stumm, hielt seine Hand fest und deutete auf das Parkhaus.

»Erschrick nicht, jetzt wird es eklig ...«, warnte sie ihn. Konstantin zog die Stirn kraus und folgte ihr. Dann rümpfte er die Nase und fragte: »Riecht es hier tatsächlich nach ...? Iiiiih.«

»Ja – und heute ist es noch harmlos. Im Hochsommer ... Lassen wir das.« Sie sprinteten die Treppenstufen hinauf und kamen leicht außer Atem in der fünften Etage an. Auf der Parkebene war die Luft besser und erlaubte ein Aufatmen. Henriette deutete auf einen buntbeklebten Smart mit Düsseldorfer Kennzeichen. »Leihwagen. Meiner ist in der Werkstatt, Steinschlag.«

»Oh. Ich dachte, so was repariert sich heutzutage wie von selbst.«»Mhm. Aber nicht bei meiner Möhre«, seufzte sie. »Ich fahre schon drei Tage mit dem Matchbox-Auto hier rum ...«

»Herrje.« Er grinste und küsste sie sanft. Ein Moment der Stille kehrte ein. Henriette konnte sich nicht erklären warum, aber sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust und legte ihre Arme um Konstantin. Er zog sie ganz nah an sich heran, fuhr mit seiner Nase durch ihr Haar und hielt sie fest.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Tiefkühlpizza und Bier nicht unbedingt deine erste Wahl sind?«, flüsterte er.

»Mhm ...«, machte sie und blickte zu ihm auf. Was hatte dieser Unbekannte angerichtet? Was hatte sie angerichtet? Konstantins Blick verriet ihr, dass ihn ähnliche Gedanken umtrieben. Als sie ihn erneut zaghaft küsste, fand sie zwar keine Antwort, aber ihr Gefühl bestätigte sich. Was auch immer sie angerichtet hatten, es war das Richtige.

»Du solltest eventuell doch die Schokolade mitnehmen«, flüsterte er. »Meine Handynummer steht auf der Verpackung.«

»Auf beiden?«

»Vorsichtshalber ...« Er grinste und schob die beiden Schachteln in ihre Handtasche. »Komm gut nach Hause ... und ...«

»Und?« Henriette spürte einen Kloß im Hals. Konstantin strich ihr zärtlich über die Wange und küsste sie auf die Stirn.

»Für den Fall, dass du einen Vorkoster haben möchtest, weil die Schokolade ja vergiftet sein könnte, biete ich gern meine Dienste an.«

Gelöst lächelte sie ihn an. Ein Wiedersehen.

»Werde ich tun ... Ich hab nur –«

»Einiges zu regeln?«

»Definitiv ... Ja.« Henriette kratzte sich an der Stirn und seufzte. »Ich komme mir gerade vor wie im Traum ...« Konstantin schlug die Augen nieder und strich ihr über den Rücken, flüsterte in ihr Ohr: »Ich mir auch ... Und mir graut davor, aufzuwachen.«

Als sie sich unter unzähligen kleinen Küssen und Seufzern dann schlussendlich doch voneinander gelöst hatten, nahm Konstantin den Weg zurück durch das Treppenhaus und Henriette ließ sich in den Autositz fallen. Geschockt blickte sie in den Innenspiegel, sagte zu sich selbst: »Tiefkühlpizza und Bier. Was hab ich mir nur dabei gedacht ...?« Gedankenversunken startete sie den Motor und fuhr die fünf Etagen nach unten. Von Konstantin war keine Spur mehr zu sehen. Dafür hatte er eine in ihrem Herzen hinterlassen. Sie malte sich keinerlei Chancen für eine weitere Begegnung mit ihm aus, zu surreal schien ihr das ganze Unterfangen. Eines hatte sich aber in ihrem Kopf manifestiert: Es würde an diesem Abend definitiv keine Tiefkühlkost geben. Dafür jedoch einen sehr bitteren Nachtisch.

Sie sprach Björn auf die Mailbox, dass sie sich verspäten würde. Nannte keinen Grund. Wozu auch? Hatte er wenigstens einen Anlass, sich vorab Gedanken zu machen. Plötzlich wurde ihr unbehaglich. Was, wenn Björn die Trennung nicht verkraften würde? War er stabil genug für diesen Schnitt? Er hatte bereits einmal versucht, sich mit Tabletten und Alkohol das Leben zu nehmen. Wieso habe ich mich darauf eingelassen? Wütend drückte sie den Fuß auf das Gaspedal. Henriette verfluchte sich, Konstantin nicht abgewimmelt zu haben. War sie denn von allen guten Geistern verlassen, einen Wildfremden aus heiterem Himmel zu küssen? Jemanden, den sie für einen Kreditbetrüger hielt, und der aus dem Nichts aufgetaucht war. Hatte Björn ihr heimlich von seinen Tabletten gegeben? Sonst war sie doch auch nicht so risikofreudig.

Aber wieso überhaupt Trennung? Weil die Beichte über das Vorgefallene sie so oder so nach sich ziehen würde? Oder weil du ohnehin gern von einem Extrem ins nächste fällst? Nein. Weil es längst überfällig ist und du diesen Kuss viel zu sehr genossen hast!

Die leise Hoffnung auf mehr schob Henriette gedanklich weit von sich, dennoch blitzten immer wieder dieses charismatische Lächeln und sein herzergreifender Blick in ihrer Erinnerung auf. Ob wir irgendwelche Gemeinsamkeiten haben?

*

Konstantin lehnte sich im Autositz zurück und atmete tief ein und aus. Sie hatte ihn um den Verstand gebracht. Schon als er ihr Bild in die Hände bekommen hatte, waren erste Aussetzer da gewesen und er hatte der Mitarbeiterin in der Filiale nur noch wirres Zeug entgegengestammelt. Als Henriette dann tatsächlich vor ihm gestanden hatte, war es um ihn geschehen. Dabei hatten sie noch kein persönliches Wort miteinander gewechselt. War es die berühmte Chemie, die einfach stimmte? Die sagenumwobene Liebe auf den ersten Blick? Bis vor ein paar Stunden hatte er so etwas für Märchen gehalten. Erzählungen Liebesverwirrter. Spinnerei. So schnell wie sein Herz gerade schlug und seine Gedanken um sie kreisten, revidierte er seine Meinung. Er zwang sich aber, einen kühlen Kopf zu bewahren. Jeder weitere Schritt wollte wohldurchdacht sein. Er würde ohnehin Federn lassen, wenn sie sich näher kennenlernten. Sie würde ihm Einiges übelnehmen.

Wer aber sagte überhaupt, dass sie sich wiedersehen würden? Sein Magen grummelte. Rumorte. Er wusste rein gar nichts von ihr. Verlobt? Mit wem? Wieso? Und warum war sie unglücklich? Eigentlich sahen Bräute in spe doch der Hochzeit freudig entgegen. Und küssten nicht wildfremde Männer im Feierabendverkehr auf der Hauptstraße. Zu allem Überfluss hatte er es nicht geschafft, ihre Handynummer zu ergattern.

*

An der roten Ampel schlug sich Henriette die Hand vor die Stirn und schrie verzweifelt das Lenkrad an. Die Stunde der Wahrheit war angebrochen. Von unterwegs hatte sie bei Luigi angerufen, Wein und Pizza zum Mitnehmen geordert. Sie müsste gleich nur zwei Straßen weiter anhalten, kurz in die Altstadt laufen und sie abholen, wenige Minuten später wäre sie zu Hause. Zu Hause? Mit einem Mal kam ihr alles so fremd und unwirtlich vor. Sie spürte eine Veränderung, positiv und negativ in Einem. Es tat sich etwas, aber der Ausgang dessen war ungewiss. Henriette bekam es mit der Angst zu tun, sagte sich selbst aber, dass es vorbeiginge. Morgen um diese Zeit hätte sie klare Verhältnisse.

*

»Notfalls rufe ich zwanzig Mal hintereinander die Hotline an, bis sie wieder drangeht«, hielt Konstantin schulterzuckend fest, als er eine Stunde später in der Abendsonne auf der Terrasse saß.

»Auch eine Lösung. Aber lass ihr ein bisschen Zeit, vielleicht meldet sie sich von sich aus.«

»Klang ja auch so ... Zumindest hat sie nicht direkt nein gesagt. Außerdem hat sie mich zum Abschied nochmal geküsst. Ganz spontan.« Betreten sah Konstantin Moritz an. Es tat gut, Beistand zu haben.

»Aber schon erstaunlich, wie sicher du dir bist ...«,stellte er freudig fest.

»Hm, dich erstaunt das?« Konstantin lachte. »Du bist doch selbst so ein verklärter Romantiker ...«

»Ich gestehe, ja. Ich habe dazugelernt. Aber von dir habe ich so was nicht erwartet.«

»Hm. Ich auch nicht. Aber es fühlt sich so richtig an.«

»Dann ist es das vermutlich auch.«

Donnerstag, 10.04.

Auf dem Tisch vibrierte Konstantins Handy. Das Gespräch hatte sich ohnehin undankbar in die Länge gezogen und zur Abwechslung griff er danach und sah auf das Display. Eine ihm unbekannte Nummer leuchtete auf. Sollte es Henriette sein? Er ließ sich entschuldigen und verließ den Konferenzraum.

»Ja, bitte.«

»Hi ... Hier ist Henriette«, antwortete sie leise.

»Hi, schön, dass du anrufst. Ähm ... Ist nur gerade ein bisschen ungünstig, ich bin noch in einem Meeting.«

»Meeting … Sicher, der Bankvorstand, ich vergaß ...« Sie kicherte.

»Ähm. Ja!?«, antwortete er verlegen. Wusste sie, wo er war und was er gerade tat? Oder mutmaßte sie?

»Schon okay, Mr. Wichtig. Ich wollte mich auch eigentlich nur kurz dafür bedanken, dass du Dornröschen aus ihrem hundertjährigen Schlaf erweckt hast. Dann bist du mich sofort wieder los.«

»Hey ... Vielleicht ist das falsch rübergekommen ...« Wimmelte sie ihn etwa ab? Konstantin suchte verzweifelt nach einem ruhigeren Platz. »Moment ...«

»Nein, alles fein. Ich komm schon klar.« In ihrer Fröhlichkeit schwang ein Unterton mit, der ihm nicht gefiel.

»Okay, das Gespräch geht in die falsche Richtung. Ich bin in etwa einer Stunde hier raus. Kann ich dich dann erreichen? Ich denke, wir sollten darüber in Ruhe reden.«

»Ja, kannst du ...«

Kaum hatten sie sich verabschiedet, zerbrach sie sich schon wieder den Kopf. Konstantin hatte tatsächlich sehr beschäftigt geklungen. Womit auch immer. Am frühen Nachmittag hatte Henriette das Büro verlassen und war nach Hause gefahren. Nach einem kurzen Gespräch mit ihrer Mutter hatte sie sich ein Herz gefasst und die Nummer von der Schokoriegel-Verpackung erst gespeichert und dann gewählt. Für den Fall, dass er seine Handlung bereute, wollte sie sich bewusst unverbindlich geben. Eigentlich fühlte sie sich erlöst und befreit, auch wenn ihr ein paar stressige Tage bevorstanden. Konstantins Verhalten gerade hatte sie aufgewühlt. In Ruhe reden. Es klang, als ließe es auch ihn nicht los. War sie nun froh darüber oder nicht? Henriette grübelte. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Kontext hätte sie sich sofort auf ihn eingelassen, trotz seiner geheimnisvollen Aura und der Kreditkartensache. Aber nach allem, was sie in den letzten vier Jahren erlebt hatte, stand ihr der Sinn nach Freiraum, Grenzenlosigkeit, Luft zum Atmen. Und nach seinen Küssen.

Hatte sie ein paar Tage zuvor ihre Situation noch als kompliziert eingeschätzt, war es jetzt umso diffiziler. Prinzipien versus Gefühle. Ein nervenaufreibender Kampf.

Eine knappe Stunde später klingelte ihr Handy, sie lachte und meldete sich.

»Da hat aber jemand gute Laune ... Hi ...«, freute er sich.

»Ja, ein neuer Klingelton kann Leben verändern.«

»So? Welchen hast du mir denn zugedacht?«

»Verrate ich nicht ...«, kicherte sie.

»Fängt ja gut an ...«, murmelte er ironisch.

»Herrje, da ist aber jemand zart besaitet ...«, beschwichtigte sie ihn. »Ich will nur nicht, dass du das in den falschen Hals bekommst ...«

»Raus mit der Sprache!«

»Hungry Eyes.«

Konstantin schluckte. Schmunzelte. Sein Herz begann zu rasen. »Faszinierend ...«

»Wieso faszinierend?«, fragte sie irritiert.

»Hm ... weil ich den zufälligerweise auch für dich hinterlegt habe ...«

»Oh«, fiepte sie. Mehr fiel ihr für den Moment nicht ein. Sie hatten nicht darüber geredet, er hatte nur das Handyklingeln von Björn mitbekommen. Und jetzt das. Eine echte Gemeinsamkeit oder gar Seelenverwandtschaft? Vermutlich nur Zufall.

»Ich würde dich gern sehen ...«, seufzte Konstantin. Henriette sah auf ihr Handydisplay. FaceTime. Wenige Sekunden später hatte sie es auf dem Tisch positioniert und blickte ihn an. »Na, besser?«

»Ein bisschen ...«, antwortete er, schmunzelte.

»Du siehst müde aus ...«, sorgte sich Henriette.

»Bin ich auch. Aber ich bin so wahnsinnig froh, dich zu hören und zu sehen ... Da vergesse ich das glatt.« Sein Lachen warf sie aus der Bahn. War sie gerade noch relativ gefasst, schlug ihr Herz plötzlich Purzelbäume.

»Was machst du eigentlich im Moment?«

»Packen ...«, seufzte Henriette und erlaubte dem Handy einen Blick durch den Raum.

»Was packen?« Konstantin legte die Stirn in Falten. Henriette konnte jedoch nicht abschätzen, welche weiteren Emotionen mit der Verwirrung verbunden waren.

»Wie ich bereits angedeutet habe ... Der Prinz hat Dornröschen aus ihrem hundertjährigen Schlaf erlöst.« Betreten blickte sie nach unten. »Es ... Der Kuss ...«, murmelte sie.

»Ja!? Der Kuss Punkt, Punkt, Punkt!?«

»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Er hat viel verändert.«

»Und? Ich meine, zum Positiven oder Negativen hin?« Konstantin war nervös, seine Stimme schwankte, aber Henriette schien es nicht zu bemerken. Was hatte der Kuss denn nun ausgelöst? Seine Welt war seit dem Moment auf der Brücke ins Wanken geraten, seine Sehnsucht nach ihr reichte, um ein ganzes Universum damit zu füllen, und er wollte nur zu gern wissen, was sie empfand.

»Hm. Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht genau. Es ist so viel passiert ...«

»Magst du erzählen? Ich meine, hast du Zeit und Lust?«

»Um ehrlich zu sein ... Hm. Zeit muss ich mir wohl nehmen und es wäre unfair, dir die Konsequenzen vorzuenthalten.«

»Klingt sehr bürokratisch, wie du das gerade formulierst ...«

»Sorry. Telefonieren ist nicht so meins ...« Henriette lachte aus vollem Herzen und zwinkerte ihm zu. Konstantin schmunzelte. »Also?«

»Na gut. Als ich nach Hause kam, war Björn erst tierisch sauer. Als er aber die beiden Pizzakartons von Luigi und die Flasche Chianti gesehen hat, war er schlagartig völlig verändert. Er wollte ja eigentlich Tiefkühlpizza und Bier. Er guckte mich an und meinte: ›Erst essen, dann reden?‹. Das war das erste Vernünftige, das ich seit drei Jahren von ihm gehört habe.«

»Oh.« Konstantin riss die Augen auf. »Also, dein Telefonat mit ihm und die Anrufermelodie ließen schon Schlüsse zu. Aber so schlimm?«

»Denk nicht drüber nach. Björn leidet seit drei Jahren an Depressionen und seit zweieinhalb Jahren versuche ich, ihn zu verlassen. Nun ja. Nach der Pizza, bei der wir wie früher über Gott und die Welt geredet und gelacht haben, ist er aufgestanden und hat mich in den Arm genommen.«»Oh.« In Konstantins Gesicht war die erneute Verblüffung kaum zu übersehen. Er spürte, dass er nicht verbergen konnte, wie sehr ihn das getroffen hatte. Allein die Vorstellung davon, sie in den Armen eines anderen zu sehen, verursachte ein Stechen in seiner Brust. Durfte er das überhaupt fühlen? Schließlich war er der Eindringling und sie in einer festen Beziehung. Aber wieso packte sie dann? Was packte sie?

»Der Reihe nach ...«, entgegnete sie. »Also ... Nach der Umarmung sah Björn mich an und meinte: ›Ich gehe ins Hotel. Lass dir Zeit. Melde dich einfach, wenn du eine Wohnung gefunden hast oder ich dir helfen soll.‹ Ich hab ihn ganz entgeistert angestarrt und mich gefragt, wie er das wissen konnte. Dann hat er sich ein Herz gefasst und mir erzählt, dass er sich in eine andere Frau verliebt hat. Elena und er hätten zwar keine Affäre, aber es bahne sich etwas an und er wolle lieber vorher Tabula rasa machen.«

»Das ist hart.«

»Hm. Einerseits schon ... Nur ... Wir haben beide total viel gelacht. Ehrlich. Irgendwie war es, als wäre viel Ballast von uns abgefallen und wir waren einander überhaupt nicht böse. Dass ich ebenfalls Schluss machen wollte, hatte er nur vermutet, da ich das erste Mal in vier Jahren etwas anderes getan habe, als er wollte.«

»Klingt nach Happy End.« Konstantin schmunzelte. Henriette schien wirklich gefasst. Aber was hieß das nun für sie beide?

»Irgendwie schon. Außer, dass der Prinz und die Prinzessin im Märchen heiraten und glücklich bis ans Ende ihrer Tage sind.« Sie rollte seufzend mit den Augen und sah zur Seite.

»Ich lenke nur ungern vom Thema ab ...« Gelogen. Notlüge. Er hätte sich zu gern weiter mit ihr darüber unterhalten, aber nicht am Telefon. Hier empfahl es sich, unter dem Radar zu bleiben. Ablenkungsmanöver einleiten. »Was war das gerade für ein Kleid, das ich da im Augenwinkel sehen konnte?« Offenbar funktionierte es.

»Du meinst ... das hier?« Henriette hielt ein kurzes, schwarzes Kleid in die Kamera, enganliegend mit kleinen Volants am Rockteil.

»Ein Salsakleid!?«

»Ja, woher ...«

»Ich tanze seit meinem achten Lebensjahr ...«, grinste er.

»Wow ... Ich habe mit elf angefangen ...« Henriette war verblüfft. Mit Björn verband sie diese Passion nicht, er war alles andere als rhythmisch begabt und entsprechend wenig tanzaffin. Sie war Ewigkeiten nicht mehr dazu gekommen. Eigentlich hätte es ihr schon auf der Brücke auffallen können, wie Konstantin sie mit dieser typischen Bewegung in seinen Arm gezogen hatte.

»Ziehst du es für mich an?«, bat er leise und lächelte sie an. Aufmerksam. Interessiert.

»Jetzt?«, fragte sie irritiert.

»Zieh es an ...«, antwortete er, grinste und nickte auffordernd.

Henriette wackelte ironisch mit dem Finger. »Du bist mir ja einer ...« Sie lief aus dem Bild, zog das Kleid an und ihre Tanzschuhe und drehte sich im Fokus der Kamera darin. »Zufrieden?«, fragte sie spöttisch.

»Traumhaft ...« Konstantin legt seine Arme auf den Tisch und den Kopf darauf. Erst jetzt fiel Henriette auf, dass sie von seiner Umgebung nichts sah. Nur ihn und eine hellgraue Wand.

»Was machst du eigentlich Schönes?«

»Meinst du generell oder heute Abend im Speziellen?«

»Wenn du schon so fragst: sowohl als auch.«

Schmunzelnd nahm Henriette dieselbe Haltung ein wie er. Es wirkte fast so, als lägen sie sich gegenüber, auf einer Wiese, im Bett.

»Hm. Was ich generell mache, ist nicht schön, denn momentan ist es irgendwie nichts.«

»Wow. So viel Weichspüler in einem Satz ...«, lachte Henriette.

»Na gut. Also, ich habe gerade einen Auslandsaufenthalt hinter mir, im Moment sitze ich meinen Urlaub ab und orientiere mich neu. Ich bin ein knappes Jahr in Dubai gewesen, habe bei einem Freund meines Cousins gearbeitet und weiß noch nicht, was ich jetzt konkret machen werde. Ergo: Ich mache gerade nichts und das finde ich nicht schön.«

»Verstehe. Und da fährst du einfach mal von Berlin oder Bad Soden oder sonst wo nach Essen, fängst eine arme, unschuldige Kreditbetreuerin vor dem Büro ab und stellst auch noch ihr Leben auf den Kopf!?«

»Das war nicht geplant ...« Dackelblick.

»Ah ja. Was dann?« Henriette wollte nur zu gern wissen, was ihn umgetrieben hatte.

»Geplant war, der Person hinter der Stimme und dem netten Gespräch meine Entschuldigung zu überbringen und ihr ein bisschen Nervennahrung zu bescheren. Ob sie nun jung oder alt, dick oder dünn, klein oder groß, verheiratet oder ...«

»Verlobt –«»– Single war, war mir egal. Ich wollte nett sein. Und der Trip nach Essen kommt auf die Liste der spontanen Dinge, die ich getan habe.«

»Aha. Und, bereust du es?«

»Hm. Bis gerade nicht. Aber wenn ich in dein Gesicht blicke, sehe ich, dass du leidest ... Und das schmerzt mich ein wenig.«

»Hm. Leide ich? Nein, ich habe drei Jahre lang gelitten. Was du siehst, sind die Spuren der letzten Nacht. Ich habe sofort mit der Wohnungssuche angefangen, ewig mit meinem Bruder telefoniert und meinen Eltern geschrieben.«

»Also packst du tatsächlich deine Sachen?«

»Ja.« Henriette schloss für einen Moment die Augen. »Für den Moment nur Zeug, das ich ohnehin nicht brauche und erst mal nur in Kartons. Die lagen noch auf dem Dachboden vom Einzug letztes Jahr und werden jetzt wohl recycelt.«

»Das verstehe ich jetzt nicht ganz. Du bist in einer für dich unglücklichen Situation noch mit ihm zusammengezogen?«

»Umgezogen. Wir hatten erst eine gemeinsame Wohnung und dann das Haus. Es gehört Björn. Von Beruf Sohn.« Konstantin schwieg. Die letzten beiden Äußerungen hatten etwas Verächtliches in ihrer Stimme anklingen lassen. Irgendetwas musste er aber antworten. »So, so.«

»Versteh das nicht falsch, ich habe nichts dagegen, dass er von seinen Eltern Geld annimmt, die wissen ohnehin nicht, wohin damit. Aber dass er so rein gar keine Gegenleistung dafür erbracht hat ... Er ist quasi nach der Uni Privatier geworden.«

»Süß ...«, murmelte Konstantin und versuchte zu kaschieren, dass es ihm heiß und kalt den Rücken hinunterlief. Nicht, dass man seine Situation direkt vergleichen konnte, aber er ahnte bereits etwas. »Und du gehörst zu denen, die nach der Uni erst mal ihre Studienkredite abbezahlen durften?«

»Ich gehöre zu denen, die es sich nicht leisten konnten, zu Ende zu studieren, und deswegen eine Ausbildung angefangen haben.« In ihrer Stimme überwog der Sarkasmus, aber so nett wie sie ihn dabei ansah, wollte sie ihn offenbar nur ein wenig für seine eigenen Worte sensibilisieren. Gelungen. Zumindest fühlte es sich nicht ganz an, wie eine Ohrfeige.

»Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Sorry.«

»Bist du nicht. So sollte das auch nicht rüberkommen. Mich hat es nicht gestört, dass ich aufgehört habe. Ich verdiene witzigerweise mehr, als viele meiner ehemaligen Kommilitonen«, sagte sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Na gut, dann hast du ja alles richtig gemacht!?«, grinste er.

»Na ja, alles wahrscheinlich nicht, aber ich bereue wenig von dem, was ich getan habe.«

»Isst du morgen mit mir zu Abend?«, fragte er sie plötzlich.

»Wie jetzt? Via FaceTime? Jeder kocht dasselbe und wir setzen uns gegenüber an den Tisch?«

»Nein, real.«

Henriette stutzte. »Will heißen?«

»Ich bin ab morgen für zwei Übernachtungen in Essen. Hängt noch indirekt mit Dubai zusammen, erzähle ich dir in Ruhe.«

»Hm ...« Henriette überlegte. Einerseits hatte sie gehofft, Konstantin wiederzusehen. Insbesondere, wenn sie an den Kuss dachte. Aber andererseits waren ihr seine Absichten nicht klar und überhaupt – »Wird das ein Date?«

»Du kannst es auch eine Verabredung, ein Treffen, einen Termin oder wie auch immer nennen.«

»Ich ...« Henriette zögerte. »Ich weiß nicht.« Sie hielt inne und sah Konstantin traurig an. »Ich bin sehr froh, dass du mich aufgeweckt hast. Ich möchte, dass du weißt, dass du zwar der Anlass, der Auslöser, aber nicht der Grund für die Trennung warst.«

»Das weiß ich, zumindest habe ich es geahnt. Aber es ist lieb, dass du das bestätigst. Bloooß, Henriette ...!?«

»Ja?«»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Ich weiß.«

»Also?«»Ich weiß nicht, was du dir erhoffst und was ich mir dabei denke, denken soll. Mir schwirrt gerade der Kopf und ich ...« Tränen schossen ihr in die Augen, sie schluchzte. »Ich möchte jetzt gern auflegen, sei mir nicht böse.«

»Böse nicht, aber ich finde es sehr schade.«

Weinend wandte sich Henriette ab und legte auf. Schluchzte in das Kleenex, nahm ein neues, noch eins und noch eines. Irgendwann war die Box leer und sie fühlte sich ebenfalls so. Blickte auf die Uhr. Es war Viertel nach neun. Laufschuhe an und los? Gute Idee.

*

Resigniert blickte Konstantin aus dem Fenster. Moritz hatte ihn gewarnt, er den Rat in den Wind geschlagen. Das hatte er nun davon. Er hatte sie gedrängt, ihr keine Ruhe gelassen. Dabei hatte sie doch klar formuliert, dass sie ihre Gefühle gerade nicht einordnen konnte. Was hatte er sich dabei gedacht? Sie jetzt wieder anzurufen würde das falsche Signal setzen, eine SMS könnte nicht zum Ausdruck bringen, was ihm wichtig war. Ein Brief würde sie viel zu spät erreichen. Aber eine E-Mail könnte einen Hoffnungsschimmer bringen. Dem Datenblatt der Bank konnte er ihre geschäftliche Mailadresse entnehmen. Eigentlich sträubte er sich dagegen, sie zu nutzen, aber er hatte keine andere. In der Hoffnung, dass niemand außer ihr diese Mail lesen würde, ging Konstantin in sein Arbeitszimmer, klappte den Laptop auf und sah auf das Hundebett in der Ecke des Raumes.

»Mephi, schnarch nicht so laut!«

Der Weimaraner hob kurz den Kopf, fiepte und setzte seinen Schlaf fort. Konstantin grinste. Mephistopheles gehörte eigentlich seinem Bruder Korbinian, aber immer wenn Konstantin im Haus war, kam er mitsamt seinem Kissen im Maul zu ihm gelaufen, wedelte mit dem Schwanz und begehrte ein Plätzchen in seiner Nähe. Die Familie spottete bereits seit einigen Jahren darüber, inzwischen hatten sich aber alle daran gewöhnt. So selten, wie Konstantin zu Hause war, konnte er kein eigenes Haustier halten, umso mehr freute ihn die Gesellschaft des großen Jagdhundes, wenn er mal wieder in den Schoß der Familie kehrte.

Relativ schnell tippte er die ersten Zeilen der Mail, redigierte im Verlauf einzelne Passagen, überlegte. Schlussendlich musste er sie irgendwann absenden, es war schon spät und er wurde langsam müde. Gegessen hatte er noch nichts, fühlte sich aber auch nicht so recht in der Lage dazu. Sollte es aus sein, bevor es angefangen hatte? Sollte ihm für den Rest seiner Tage nur diese eine süße Erinnerung bleiben?

Abgesendet.

Nur wenig erleichtert lehnte er sich zurück. Auch wenn er kaum etwas über sie wusste, sie noch keine ganze Stunde miteinander verbracht hatten, ließ sie ihn nicht los. Auf eine angenehm andere Art und Weise, als er es je zuvor erlebt hatte.

Ihm fiel die Geschichte von den Kugelwesen wieder ein, die Elisabeth ihm neulich erzählt hatte; sollte Henriette seine Seelenverwandte sein?

»Komm, Mephi, letzte Runde für heute!« Er scheuchte den Hund auf, hängte sich die Leine in den Nacken und nahm den Wohnungsschlüssel vom Haken. Bis zum Wald war es nicht weit und der Spaziergang würde ihn ablenken. Ablenken vom stumpfen Warten auf eine Antwort.

*

Nach dem Lauf und der Dusche fühlte sich Henriette wesentlich besser. Das schlechte Gewissen gegenüber Konstantin jedoch blieb. Sie hatte ihn nicht abservieren wollen. Ihre Emotionen hatten sie übermannt und dass sie sich so sehr zu ihm hingezogen fühlte, verursachte das reinste Chaos an Gedanken und Gefühlen. Ein Blick auf ihren E-Mail-Eingang verriet ihr, dass er vor ein paar Minuten noch wach gewesen sein musste; er hatte ihr geschrieben. Zwar an die Bankadresse, aber das war ihr in diesem Moment egal. Gerührt, allein über die Tatsache von ihm zu hören, begann sie zu lesen.

📧 Konstantin

Hey ...

Ich habe nachgedacht über unser Gespräch eben und die Situation auf der Brücke und generell.

Nachdem du gerade aufgelegt hast, waren noch so viele Fragen in meinem Kopf und ich habe versucht, mich in deine Situation zu versetzen. Ob ich die richtigen Antworten gefunden habe, weiß ich nicht, aber vielleicht möchtest du wissen, was mich umtreibt.

Als ich dich zum ersten Mal am Telefon hatte, war ich sauer und richtig mies drauf. Aber irgendwie hast du es geschafft, mich zur Ruhe zu bringen. Dass du mich einfach hast reden und schimpfen lassen, hat mir sehr geholfen, nur leider war das für dich nicht besonders schön. Selbst wenn so etwas an dir abprallt; es muss nicht sein. Am meisten ärgert mich aber, dass ich überhaupt so in Rage geraten bin; das ist definitiv nicht meine Art. Es kamen wohl einfach ein paar zu viele Kleinigkeiten zusammen, die dann in Summe nicht bewältigbar schienen.

Ich wollte dich danach so gern noch einmal sprechen, einerseits weil ich tatsächlich noch ein paar Fragen hatte, andererseits weil ich plötzlich ein Gefühl der Leere verspürt habe, das ich wirklich seltsam fand. Deine Kollegin war so nett, dich um den Rückruf zu bitten, und als ich dich dann am Telefon hatte, habe ich die Augen geschlossen und dir zugehört. Du hättest mir das Berliner Telefonbuch von der ersten bis zur letzten Seite vorlesen können; du warst da und es ging mir gut. Nach dem Auflegen war aber die Leere umso größer.

Ich weiß nicht warum, aber ich bin den Gedanken nicht mehr losgeworden, dass ich dich sehen musste.

Wie ich vorhin am Telefon schon gesagt habe: Es ging mir nur darum, nett zu sein. Und in der Hoffnung, entzaubert zu werden, damit ich wieder klar denken konnte. Ich habe allen Ernstes geglaubt, wenn ich dich sähe, verginge dieses diffuse Gefühl.

Was soll ich sagen? Es wurde noch schlimmer als zuvor.

In der Filiale bat ich die Mitarbeiterin darum, mir zu sagen, wie ich dich ausfindig machen könnte. Leider wollte mich niemand in das Gebäude lassen, aber um mir zu helfen, hat sie mir erst die Sache mit den Schokoriegeln erzählt und dann dein Bild ausgedruckt. Sie meinte: »Die Kollegen arbeiten bis spätestens 18 Uhr. Der Personaleingang ist ein Stück die Straße hinunter.«

Also hielt ich mit einem Mal das Gesicht zur Stimme in Händen und war sprachlos. Ich hatte keine Vorstellung, wie du aussehen würdest und plötzlich stellte ich fest, dass ich dich bereits hunderte Male in meinen Träumen gesehen habe.

Ich hatte nach dem Schokoladenkauf gerade eine knappe Stunde gewartet und überlegt, wie ich dich wohl ansprechen könnte. Mir fiel nichts Gescheites ein. Na ja, dann standest du plötzlich vor mir und alles, woran ich denken konnte, war, dich zu küssen.

Dein schmerzerfüllter Blick bei dem Anruf, deine traurige Stimme, der Song und die ganze Situation haben mich sehr berührt; ich wollte nicht, dass du leidest.

Was mich schlussendlich dazu bewogen hat, dir nachzulaufen und dich tatsächlich zu küssen, weiß ich ehrlich gesagt selbst nicht so genau. Alles? Einfach alles. Hättest du mir gesagt, dass du verheiratet bist, wäre ich gegangen. Ehrenwort. Aber verlobt war ich auch schon mal irgendwie. Davon werde ich dir gern in Ruhe erzählen, wenn du irgendwann magst. Nur so viel: Dein Blick hat Bände gesprochen und ich bin froh, einmal im Leben mutig genug gewesen zu sein, etwas zu tun, das ich sonst für ethisch-moralisch falsch erachtet hätte.

Ich ertappe mich ständig dabei, wie ich versuche, deinen Kuss nachzuschmecken, mir vorstelle, dich wieder im Arm zu halten. Und jedes Mal kommt in mir die Angst auf, dass dieses eine Mal gleichzeitig das letzte Mal war.

Du hast eine lange (oder zumindest längere) Beziehung hinter dir, geprägt von Kummer, Krankheit und wahrscheinlich auch Entbehrungen emotionaler Art. Plötzlich platze ich in dein Leben, beende diese Zeit und beginne – ja, was eigentlich?

Einen verzweifelten Versuch, noch so einen Kuss zu ergattern. Vielleicht mehr.

Aber dann mache ich mir bewusst, wie utopisch das alles klingt. Du in Essen, ich in Berlin, Dubai, Bad Soden. Du hast einen Job, ich bummle und faulenze gerade durch die Weltgeschichte. Du hast den Kopf voll mit Dingen, die zu regeln und organisieren sind, mein Kopf ist leer, frei. Dein Herz, hm. Gute Frage. Dein Herz leidet. Mit Sicherheit. Es sehnt sich vielleicht auch nach einer Zeit ohne Stress. Aber ... Es braucht Zeit. Und was macht mein Herz? Es ist ungeduldig. Sehnsüchtig. Verrät mich. Treibt mich in den Wahnsinn. Vom Verstand schweige ich jetzt lieber, da sieht es momentan ganz düster aus.

Worauf ich hinauswill?

Auf ein Date. Ja, ein echtes, klassisches Date. Bei dem wir den Kuss auf der Brücke vielleicht ausklammern können. Reden, lachen, Spaß haben ... Ein Date eben. Und wenn du magst, noch eins und noch eins und ...

Es würde mir angst machen, wenn wir da weitermachten, wo wir aufgehört haben. Es würde mich aber schachmatt setzen, wenn wir jetzt dort aufhören, wo wir anknüpfen können.

Ich bin mir der Umstände und Widrigkeiten bewusst und weiß, dass ich mich jetzt auf ganz dünnem Eis bewege ... Aber ich will diese Mail nicht abschicken, ohne dich wissen zu lassen, dass ich eines nicht will: eine Affäre. Für mich gibt es in dem Punkt nur schwarz oder weiß; wenn ich eine Frau küsse, will ich mit ihr zusammen sein.

Dass das jetzt reihenfolgetechnisch äußerst inkongruent mit meiner Überzeugung war, bedauere ich und bitte dich deswegen, den Kuss auf keinen Fall zu vergessen, aber unser Wiedersehen darüber entscheiden zu lassen, was DU willst. Denn darauf werde ich hören.

Es ist schon relativ spät jetzt und ich kann mir vorstellen, dass du bereits schläfst und selbst wenn nicht, wird dich diese Mail wahrscheinlich erst im Laufe des Tages erreichen. Morgen früh fliege ich nach Düsseldorf, bin dann ab Mittag in Essen.

Ich gehe mal davon aus, dass du morgen arbeiten musst. Keine Sorge, ich werde dir nicht auflauern ... Aber wenn du mich im Anschluss an die Arbeit zum Essen begleiten würdest, wäre mir das eine sehr große Freude. Lass mich einfach wissen, ob ich einen Tisch für 1 oder 2 Personen reservieren soll.

Ich wünsche dir jetzt wahlweise eine gute Nacht oder einen guten Morgen ... Du kannst mir übrigens immer schreiben, wann du magst und mich jederzeit (ja, auch nachts) anrufen.

Träum süß,

Konstantin

PS: Ich überlege noch, ob ich dir einen Gute-Nacht- oder Guten-Morgen-Kuss gebe. Wäre das okay?

Henriette schmunzelte. Öffnete WhatsApp auf dem Handy. Konstantin war noch online. Sie schrieb.

👗 Hey, danke für die süße Mail. Es tut mir leid, dass ich dich vorhin so abgekanzelt habe. Ich bin ein bisschen mitgenommen von allem momentan. Den Gute-Nacht-Kuss fange ich mir gern ein.

💳 Doch noch auf? 💋

👗 Ja, war Laufen und bin gerade aus der Dusche. Magst du noch telefonieren?

»Hey ...«, murmelte Konstantin.

»Hi ... Lieb, dass du anrufst. Alles okay bei dir?«

»Ja, kein Thema. Ich wollte dich nicht so drängen. Ich weiß halt ehrlich gesagt auch nicht so richtig, wo mir der Kopf steht.«

»Armer schwarzer Kater ...«

»Mhm ... Ganz arm«, antwortete er mitleidheischend.

»Ja, ich weiß, wie arm du bist. Für die Kreditkartenabrechnung reicht es schon mal nicht«, lachte sie laut.

»Das werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr los ...«, kicherte er.

»Hm. Schwierig. Aber für den Moment gibt es sicherlich bedeutsamere Themen«, lenkte sie ein. »Du kommst morgen also nach Essen ...«

»Mhm. Ich habe bis vier Uhr Termine, danach aber Zeit. Wenn du also magst ...«

»Ich mag«, antwortete sie leise.

»Fein. Ich schreib dir noch, wo. Wann magst du?«

»Ich hab Spätdienst, vor sechs Uhr bin ich nicht raus.«

»Dann um halb sieben? Oder willst du vorher nach Hause?«

»O je, dann würde es Mitternacht ... Halb sieben ist fein.«

»Ich freu mich ...«, murmelte er. »Warte mal bitte kurz ...«

»Ja!?«

Konstantin hielt das Mikrofon vom Kopf weg und rief nach dem Hund. »Meeephi ... Fuß.« Der Weimaraner kam angespurtet, gesellte sich an seine Seite und schnappte nach seinem Leckerchen.

»Fein, Dicker ... So, da bin ich wieder«, wandte er sich dem Handy zu und legte dem Hund die Leine an.

»Mephi? So wie Mephistopheles in Faust?«, lachte Henriette.»Ja, genau der. Wobei er alles andere als diabolische Charakterzüge hat.« Konstantin strich dem Hund über den Schädel.

»Wir reden hoffentlich nicht von einem Chihuahua!?«, fragte sie skeptisch und ergänzte: »Hund fängt für mich erst bei Widerrist 55 Zentimeter an.«

»Nein, alles gut. Ein Weimaraner. Ich glaub, Mephi hat so seine 68 Zentimeter und knapp 40 Kilogramm.«

»Oooooh, wie süüüüüß ...«, fiepte Henriette. »Zeig mal ...«

»Hm, für FaceTime ist die Verbindung hier zu schlecht. Ich schick dir nachher ein Bild von ihm ...«, entgegnete Konstantin kopfschüttelnd. Natürlich war Mephi niedlich, aber was wollte sie mit dem Foto eines wildfremden Hundes?

»Und eins von dir. Was soll ich mit deinem Hund allein, wenn ich nicht mehr weiß, wie du aussiehst?« Als sie es ausgesprochen hatte, biss sie sich auf die Zunge. Das war sehr direkt, Henriette. Aber es war ausgesprochen.

»Sehr gern.« Konstantin lachte und ging im Geiste bereits eine mögliche Auswahl durch. Und stolperte immer wieder über den Hinweis seines müden Hirns, dass der Hund offenbar nur vorgeschoben war.

»Bist du noch lang unterwegs?«, fragte sie gähnend. »Sorry, mir fallen die Augen zu.«

»Nein, wir sind fast zurück. Aber nur fürs Protokoll, Mephi gehört eigentlich meinem Bruder. Der Hund vergisst das nur immer gern, wenn ich da bin. Ich selbst hab leider zuletzt wenig Zeit für ein Haustier gehabt.«»Na ja, bei deiner Weltenbummelei auch kein Wunder«, hielt sie fest. »Wer hat ihm denn den Namen gegeben?«

»Das war mein anderer Bruder. Kornelius. Der hat manchmal solche Anwandlungen. Warum fragst du?«

»Nur so, ich hab im Deutsch-Leistungskurs Faust bis ins letzte Detail seziert und fand es irgendwie witzig, dass der Hund Mephi heißt. Nichts weiter.«

»Na dann ...« Er grinste hörbar. »So, wir sind jetzt an der Tür, ich muss dem Dicken schnell die Pfoten saubermachen. Schreiben wir gleich noch?«

»Mhm ... Wobei. Nicht wundern, wenn ich einschlafe. Ich bin hundemüde.«

»Kein Problem. Falls wir uns nicht mehr hören: Schlaf gut und träum süß!«

»Du auch!« Henriette warf ihm einen Kuss zu und legte auf.

Ein Hund, zwei Brüder, ein Zuhause. Mehr Fakten als am Vormittag. Mehr Fragen als zuvor. Normalerweise traf sie nie auf ihre Klienten, es lief alles über Telefon, Mails, Briefe, Faxe und SMS. Sie bekam allenfalls eine vage Vorstellung vom persönlichen Umfeld, nur selten googelten sie und Silke aus Neugier mal den einen oder anderen Namen. Konstantin war die Ausnahme. In allem. Und morgen hatte sie ein Date mit ihm. Nicht einmal 48 Stunden nach der Trennung von Björn. Irgendwie kam sie sich pietätlos vor, auch wenn es einvernehmlich war. Die letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen. Obwohl sie frei war, blockierte sie noch etwas.

Freitag, 11.04.

Am frühen Morgen sah sie als erstes auf ihr Handy. Konstantin hatte in der Nacht noch geschrieben.

👗 Guten Morgen ... habe leider schon geschlafen gestern. Hoffe, du hast was Schönes geträumt.

💳 Guten Morgen, Süße. Du hast mich in meinem Traum besucht ... Also war es definitiv etwas Schönes. Nur leider bist du weggelaufen und nicht mehr hier ...

👗 Herrje, das ist ja mal ein Omen ... Dann musst du mich wohl festhalten heute Abend.

💳 Nur zu gern ... Bin schon auf dem Weg zum Flughafen. Freu mich auf dich!

👗 Flieg vorsichtig! Bis später! 💋

*

»Schön dich zu sehen ...«, begrüßte Konstantin sie lächelnd. Er wartete wie verabredet vor dem »Müllers auf der Rü«. In seinem dunkelblauen Anzug mit dem weißen Shirt sah er hinreißend aus. Henriette konnte nur schwer verbergen, dass sie sich freute, ihn wiederzusehen.

»Hi«, antwortete sie schüchtern und leise, ging die wenigen restlichen Schritte auf ihn zu und blieb in mittelbarer Reichweite stehen.

Konstantin fasste ihre Hände und küsste sie behutsam auf die Wange. »Ich freu mich, dass du da bist ...« Aufmunternd blickte er sie an.

»Fragt sich, wie lange noch ...«, seufzte sie.

»Du noch da bist oder ich mich noch freue?«, lachte er, immer noch ihre linke Hand haltend, ihre Rechte hatte sie ihm entzogen und sich eine Haarsträhne hinter das Ohr gestrichen.

»Beides ...«, murmelte Henriette und blickte zu Boden. Ein Date. Warum, um alles in der Welt, hatte sie sich auf ein Date eingelassen? Und warum, zu allem Überfluss, fühlte sich seine Nähe so traumhaft an? Bulgari – Man in Black. Allein sein Parfum verursachte ihr Herzrasen und der flüchtige Wangenkuss hatte sie aus dem Konzept gebracht. Sein Blick hatte sie tödlich getroffen. Nervös zupfte sie am Saum des dunkelblauen Kleides mit den kleinen weißen Punkten. Ob es ihm gefiel? Warum sollte es ihm nicht gefallen? Warum wollte sie, dass es ihm gefiel? Unfähig, auch nur ein weiteres Wort zu sagen, wandte sie sich von ihm ab und entzog Konstantin auch ihre andere Hand.

Flucht. Jetzt.

Alarmiert machte er zwei Schritte auf sie zu und griff vorsichtig nach ihrem Arm. »Hiergeblieben ...«, flüsterte er. »Das mit dem Weglaufen hatten wir heute Morgen schon.«

Henriette drehte sich zu ihm und seufzte schwer. »Es liegt nicht an dir. Im Gegenteil ...«, wisperte sie traurig. Ihr war wenige Augenblicke zuvor bewusst geworden, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Unfreiwillig. Gegen jedes Prinzip und jede Prämisse.

»Das darfst du mir gern bei einem Glas Wein beim Essen erklären«, entgegnete er ruhig und führte sie ganz sachte die wenigen Meter zum Eingang zurück, ins Restaurant, an den Tisch, rückte ihr den Stuhl zurecht und platzierte sich selbst ihr gegenüber. Konstantin überlegte, ob er ihre Hand greifen sollte. Er wollte ihr gern zeigen, dass sie sich entspannen konnte, aber er fürchtete auch, dass sie es ihm übelnehmen könnte, vorsichtig wie sie gerade wirkte. »Oder ist Wein ungünstig? Musst du noch fahren?«

»Mhm ...« Henriette nickte. »Ich wohne eine ganze Ecke weit weg. Noch ... In Eschberg.«

Konstantin lachte laut auf. »Ernsthaft? Wieso treffen wir uns dann hier?«

»Du hast es vorgeschlagen«, entgegnete sie stirnrunzelnd. »Aber völlig in Ordnung.« Sie lächelte. Endlich.

Der Kellner nahm die Getränkebestellung auf und händigte ihnen die Karten aus. »Warst du schon mal hier?«, fragte Konstantin, als er bemerkte, dass Henriette die Auswahl nur kurz sondierte.

»Ja, eine Freundin arbeitet in der Bankfiliale auf der Rü, wir treffen uns hin und wieder zur Mittagspause hier. Ich nehme übrigens die Dorade. Sehr zu empfehlen ...« Über den Rand der geschlossenen Karte zwinkerte sie ihm zu.

»Hmmmm ... Ich hatte mich eigentlich auf die berühmte Currywurst eingeschossen, aber wenn du mir den Fisch nahelegst ...«»Die Currywurst ist gut, aber es gibt definitiv Spannendere.« Henriette mochte das Müllers und hatte sich gefreut, dass Konstantin es für den Abend vorgeschlagen hatte. Jetzt, da sie hier waren, war es ihr nicht ganz geheuer. Warum eigentlich? Selbst wenn sie tief in sich hineinhorchte, wusste sie keine Antwort.

»Okay, das heißt, ich bekomme mindestens ein weiteres Date und du weihst mich in die Currywurst-Geheimnisse Essens ein?« Konstantin grinste schelmisch.