Und niemand half mir auszubrechen - Kirsten Reko - E-Book

Und niemand half mir auszubrechen E-Book

Kirsten Reko

0,0

Beschreibung

Als Elke ihren Traummann heiratet ist sie überglücklich. Doch schnell wird die Ehe für sie zum Alptraum. Ihr Mann ist jähzronig und gewalttätig. Täglich werden die Übergriffe brutaler und häufiger, vor allem, als sie kurz vor der Niederkunft steht. Jeder Versuch sich ihrer persönlichen Hölle zu entziehen missling kläglich. Schafft er es Elkes Selbstwertgefühl und eigenen Willen gänzlich zu brechen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Und niemand half mir auszubrechen

1.Impressum

1.

und niemand half mir

auszubrechen

ein erschütternder Lebensbericht

Für Elke

Dir,

und allen Frauen, die Ähnliches erleiden mussten,

möchte ich dieses Buch widmen -

denn auch ich habe nicht geholfen

Ich liege ganz still da, nicht fähig mich zu bewegen oder zu sprechen. Ich bin nicht einmal in der Lage, meine Augen zu öffnen. Es ist mir einfach nicht möglich. Wo ich liege? Im Krankenhaus. Ja, ich bin im Krankenhaus. Meine Umgebung nehme ich wie durch einen Nebel wahr. Manchmal höre ich Stimmen, die ich kenne. Es sind die Stimmen von meinen Söhnen, meinen Töchtern und von meinen Schwestern. Auch seine Stimme dringt manchmal zu mir vor, doch seine Stimme höre ich kaum, und wenn ich sie höre, dann höre ich die Stimme, die aus der Vergangenheit auf mich eindringt.

Ich höre seine Stimme aus meiner Erinnerung, die schreit:

„Das wird so gemacht, wie ich das sage!"

„Du hast zu gehorchen, und wenn Du nicht gehorchst, dann bringe ich es Dir eben bei!"

„Ich bin der Herr im Haus und was ich sage ist richtig!"

„Ihr Weiber wollt doch genommen werden!"

„Wenn ihr Weiber 'nein' sagt, dann meint ihr sowieso 'ja'!"

„Ihr Weiber wollt doch gar nichts anderes!"

„Schade um jeden Schlag, der daneben geht!"

„Ich schlag Dich grün und blau!"

„Jetzt schlag ich Dich zum Krüppel!"

„Ich schlag Dich tot!"

Ja, das sind die Worte, die ich höre, die ich immer gehört habe. Sie sind mir schon vertrauter geworden, als der Klang meiner eigenen Stimme. Doch dann verhallt seine Stimme wieder, und ich entspanne mich.

Sehen kann ich niemanden, denn ich liege in einer Art Koma.

„Selbst Schuld", werden jetzt viele sagen.

Bin ich das? Bin immer ich an allem schuld? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal. Ich habe mich daran gewöhnt an allem Schuld zu sein. Warum nicht auch daran? Doch eigentlich ist ER daran schuld. Meine Schwester, Renate, hat es gesagt, als sie an meinem Bett geweint hat. Ich habe ihre Stimme gehört. Nicht richtig, wieder, wie durch einen Nebel, aber ich habe es genau verstanden. Sie sagte: "Winfried hat meine kleine Schwester fertig gemacht!"

Sie hat Recht, aber auch sie trifft einen Teil der Schuld. Jeden trifft einen Teil der Schuld. Denn niemand half mir auszubrechen.

Ich habe um Hilfe geschrien. Nicht so, wie man es sich gewünscht hätte, denn das konnte ich nicht. Einmal aus Scham, und einmal aus Angst. Außerdem hätte sich ja ohnehin niemand dafür interessiert. Mein ganzes Leben lang habe ich mir gewünscht, es würde jemand bemerken, mir zuhören und mir helfen. Doch es hat nie jemand getan. Niemals! Nicht meine Schwester Renate, die selbst genug Probleme hatte, nicht meine Schwester Eva, die nur an das Geld ihres Mannes dachte, nicht mein Schwager Helmut, der schon immer die Augen verdrehte, wen er mich nur sah, nicht meine Freundin Vera, die es mir wohl insgeheim gegönnt hatte, dass es mir so schlecht erging, nicht ein einziger Arzt oder eine Krankenschwester, die ich im Laufe der Jahre konsultiert hatte, nicht die Lehrer meiner Kinder und auch nicht die Polizei. Die am wenigsten, und selbst meine eigenen Kinder halfen mir nicht, als sie es hätten tun können. Sie halfen nur sich selbst, wenigstens das.

Die einzige, die es wenigstens versucht hatte, war eine wildfremde Frau namens Marianne, doch auch sie hatte mich im Stich gelassen. Auch sie hatte ihr Leben weitergelebt, ohne mir wirkliche Hilfe zu leisten. Verlange ich zu viel?

Jetzt liege ich im Koma, und mein Leben zieht noch einmal an mir vorbei. Ich sehe mich wieder, wie ich noch jung und unschuldig war. Als alles begann...

2.

Ich war ein ganz normales junges Mädchen. Mein Vater war früh gestorben; ich kannte ihn kaum. Meine Mutter hatte es sehr schwer, allein mit drei Töchtern. Sie nahm Tabletten, solange ich denken konnte. Tabletten gegen Kopfschmerzen, Tabletten zur Beruhigung, Tabletten um wieder wach zu werden und so weiter. Meine Schwestern waren wie Schwerstern in dem Alter nun einmal waren. Sie hatten ihre eigenen Probleme und für die kleine Schwester kaum Zeit. Eva, die älteste, war schon seit einem Jahr verheiratet und lebte im Ausland. Renate war verlobt.

Als ich Winfried kennenlernte war ich gerade süße achtzehn Jahre jung. Jung, unschuldig und unerfahren. Es war an einem Samstagabend, als meine Freundin, Vera, mich zu einem Kinobesuch abholte. Ich wollte eigentlich nicht, weil Vera sich mit ihrem neuen Freund treffen wollte. Ich war also die dritte im Bunde und überflüssig. Trotzdem hatte sie mich überreden können. Ich konnte einfach nicht nein zu ihr sagen, wenn sie mich um etwas bat.

Als ich ihn sah, vergaß ich zu atmen. Er war ein Bild von einem Mann. Ein Seemann im dunkelblauem Troyer und enger Jeans. Durch den wollenen Pullover ließen sich ansatzweise seine Muskeln erkennen. Sein Haar war füllig und kurz geschnitten. Es wirkte sehr gepflegt, dunkel, fast schwarz. Seine Augen leuchteten mich in einem Blau an, das ich nie zuvor gesehen hatte. Ich war hin und weg. Zur Begrüßung brachte ich nur ein leises Krächzen heraus. Kurz danach saßen wir im Kino, und ich konnte an nichts anderes denken, als an diesen tollen Mann. An den Freund meiner Freundin. Vom Film bekam ich überhaupt nichts mit.

Ich dachte fortwährend: der oder keiner! Das ist der absolute Traumprinz. Doch ich war realistisch genug, um zu wissen, dass er sicher nicht auf eine kleine graue Maus wie mich achten würde. Sicher würde er am nächsten Tag gar nicht mehr wissen, wer die Freundin von Vera war. Kunststück - mit meinem unscheinbaren Aussehen. Ich bin klein und zierlich, eher viel zu dünn, wenn ich ehrlich bin, habe keinen besonders schönen Mund, eine kleine halbschiefe Stupsnase und auch meine Augen machen nicht besonders viel her. Sie sind eigentlich viel zu klein, und die Farbe ist auch nichts Besonderes. Graugrünblaue Augen hat doch schließlich jede zweite. Auch meine Haarfarbe hat jede zweite: Mittel- bis Dunkelblond. "Straßenköterfarben".

Doch das Unglaubliche geschah. Ich kann bis heute nicht sagen wie es kam, aber er brachte mich nach Hause. Mich - nicht Vera.

„Mit Vera ist es nichts Festes", versicherte Winfried mir.

So ließ ich es zu, dass er mich zum Abschied küsste und verabredete mich für den nächsten Samstag mit ihm. Allein, ohne Vera.

Die ganze Woche über dachte ich an nichts anderes. Die Arbeit in der Farbenfabrik erledigte ich wie in Trance. Meine Hände arbeiteten von allein, während in meinem Kopf nur der gutaussehende und sehr charmante Winfried herumschwirrte. Der Samstag zog sich unglaublich in die Länge. Es wollte einfach nicht Abend werden. Als es dann an der Zeit war, zog ich mich an. Ich wollte natürlich besonders hübsch aussehen. Dreimal zog ich mich um, bis ich mich endlich für ein leichtes Sommerkleid entschieden hatte. Meine Haare waren frisch gewaschen und frisiert, und von Renate borgte ich mir ohne ihr Wissen den Lippenstift. So aufgeregt wie an diesem Abend war ich noch nie zuvor in meinem Leben.

Winfried kam eine halbe Stunde zu spät aber dafür mit einem Auto vorgefahren. Ich war beeindruckt, und sein Zuspätkommen war mir ganz egal. Hauptsache er war überhaupt da. Ich war verliebt, und das zum ersten Mal in meinem Leben. Ich hing an jedem Wort, das er von sich gab. Er war eine so stattliche Erscheinung. Es war mir völlig unklar, was er an mir, dem hässlichen Entlein, überhaupt finden konnte und konnte mein Glück kaum fassen.

Winfried erzählte nicht sehr viel von sich. Ich wusste nur, dass er schon sehr viel herumgekommen war in der Welt. Er fuhr seit vier Jahren zur See. Hauptsächlich nach Afrika. An diesem Abend erfuhr ich alles über seine Kameraden auf dem Bananenfrachter, doch über ihn erfuhr ich kaum etwas. Er erzählte nur, dass er sich das Auto, in dem wir umherfuhren, von seinem Bruder geliehen hatte, und dass sein Vater, der auch zur See gefahren war, bereits sehr früh gestorben war. Genauso wie meiner. Unsere erste große Gemeinsamkeit.

Irgendwann parkten wir irgendwo in einer finsteren Gegend. Es war stockdunkel, und ich fragte mich, was er hier wohl wollte, als er auch schon den Arm um mich legte.

„Wir stechen morgen wieder in See."

Sein Atem brannte dabei heiß auf meinem Hals. In mir kribbelte es überall, so dass ich eine Gänsehaut bekam. Jetzt wusste ich, was er wollte. In mir ging alles drunter und drüber. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Wollte ich, oder wollte ich noch nicht? Im Grunde genommen wollte ich es wissen, und ich war sehr sehr verliebt. Also war ich geneigt, ihm seinen Willen zu lassen. Letztendlich hatte ich gar keine Wahl. Winfried war ein erfahrener Mann, Anfang zwanzig. Es war sein letzter Abend an Land, und er wusste, was er wollte.

Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich in einer ziemlich ungemütlichen Haltung auf dem Liegesitz gelegen habe. Er war über mir und stöhnte und seufzte leise. Sein schwerer Körper ging auf und ab; schien mich mal zu erdrücken und verschaffte mir dann eine winzige Atempause. In mir war ein großer Druck, den sein Penis verursachte. Ein Druck, nicht mehr und nicht weniger. Kein Gefühl, keine Lust oder dergleichen. Ich empfand nichts außer der Genugtuung, dass ich es nun endlich auch einmal gemacht hatte. So wartete ich, bis es vorbei war - bis er fertig war. Mit einem großen Seufzer kam er zur Ruhe, ließ sich auf mich fallen und drohte mich nun wirklich zu ersticken. Doch bevor es soweit war, zog er sich wieder zurück auf den Fahrersitz. Er zog seine Hose hoch und schloss seinen Schlitz. Dann sah er zu mir herüber.

Ich fingerte noch immer an den Knöpfen meines Kleides herum und traute mich gar nicht in seine Richtung zu blicken. Ich schämte mich. Nicht für das, was wir getan hatten. Nein, ich schämte mich, weil ich enttäuscht war. Ich hatte es mir ganz anders vorgestellt. Nicht so schnell und vor allem nicht in einem Auto. Ich hatte eigentlich bis zur Hochzeitsnacht warten wollen. Doch nun war es für Reue zu spät. Es war geschehen. Er würde morgen früh in See stechen und ich würde wieder allein sein.

„Mein Mäuschen", begann Winfried plötzlich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich gelöst hatte.

Endlich sah ich ihn an. Sah in seine unglaublich blauen Augen und war sofort wieder im siebten Himmel.

„Ich hab Dich sehr lieb", sagte er unerwartet.

Es war genau das, was ich jetzt hören wollte. Wir küssten uns, und ich genoss es. Dieser Kuss war für mich schöner als alles andere zuvor. Ich wusste, wir gehörten zusammen.

3.

Einen Monat später war die Hochzeit meiner Lieblingsschwester. Renate und Ludwig wollten also endlich heiraten. Die Hochzeit war einfach zu beschreiben. Ein Traum in weiß. Ludwig war nicht richtig reich, doch für unsere Verhältnisse schon. Er hatte ein Restaurant an der Ostsee in Travemünde und eines in Timmendorf. So konnte er es sich leisten, dass Renate und er in einem wirklichen Traumkleid und dazugehörigen Smoking heirateten. Die ganze Zeit über in der der Pfarrer meine Schwester nach ihrem Jawort fragte, als das Konfetti über das glückliche Brautpaar geworfen wurde, als in einem schönen Lokal gegessen, getrunken und getanzt wurde, dachte ich nur an eines: Wie würde es wohl sein, wenn ich die Braut und Winfried der Bräutigam wären? Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren, denn er hatte mich sicher schon vergessen.

*

Winfrieds Seefahrt dauerte drei Monate. Ich weiß nicht, wie ich diese drei Monate überlebt hatte. Es kam nicht eine Nachricht von ihm, nicht ein einziger Brief. Inzwischen war ich beinahe sicher, dass er mich vergessen hatte. Ich ihn jedoch nicht. Wie könnte ich?

Dann endlich eines Tages stand er vor mir. Ich hatte gerade Feierabend und knöpfte mir beim Gehen die Jacke zu. Es war kühl, und ich fror ein wenig. Da stand er bei einem Zeitungskiosk, hatte die Hände in den Taschen und lehnte lässig gegen einen Laternenmast. Mein Herz begann sofort zu rasen. Es überschlug sich förmlich. Am liebsten wäre ich losgerannt und hätte mich in seine Arme geworfen, doch ich war noch immer unsicher. Vielleicht war er ja wegen Vera hier?

„Hallo Mäuschen", sprach er mich dann direkt an, und ich sank in seine starken Arme.

Es dauerte eine Ewigkeit, ehe wir uns voneinander lösten. Dann gingen wir eine Weile wortlos nebeneinander her, und er hielt meine Hand. Ein Kribbeln ging von meiner Hand durch meinen ganzen Körper. Es war die Freude und das Glück, dass er zurück war. Er kam zurück zu mir. Er hatte mich nicht vergessen.

„Was ist mit Dir, Du sagst ja gar nichts", fiel ihm nach einer Weile auf.

„Ich freue mich so, dass Du zurück bist, und dass Du mich nicht vergessen hast", flüsterte ich.

Winfried blieb stehen, drehte mich zu sich und sah mir tief in die Augen.

„Ich halte Dich jetzt, und ich werde Dich nie mehr loslassen. Ist das klar?"

Mein Herz raste wie verrückt. Ich konnte gar nicht begreifen, dass ich so viel Glück verdient hatte. Dass ich diesen unglaublich gutaussehenden Mann verdient hatte, und dass er bei mir bleiben wollte. Er, der jede andere hätte haben können.

Am selben Abend nahm er mich mit zu sich nach Hause. Er stellte mich seiner Mutter vor. Sie war eine unglaublich starke Persönlichkeit. Winfried hatte einen Bruder, wie sie berichtete.

„Meene Sieße", sagte sie zu mir, womit natürlich 'Meine Süße' gemeint war.

Ich fühlte mich sehr wohl dabei. Es war immer gut zur Schwiegermutter ein gutes Verhältnis zu haben. Dennoch ängstigte sie mich, schüchterte mich ein. So war ich froh, als Winfried mich mit in sein Zimmer nahm. Es war ein kleines, unaufgeräumtes Zimmer mit einem ungemachten Bett, einem Nachttisch, auf der eine Lampe stand, einem Kleiderschrank, zwei Holzstühlen, an denen der Lack abplatzte und einem dazugehörigen Tisch. Überall lag schmutzige Wäsche herum. Es roch nach Männerschweiß und Zigarettenrauch. Es roch nach ihm.

Das anfängliche Zögern, den Raum zu betreten, überwand ich schnell, da Winfried mich sofort nach seinem Eintritt küsste und mich mit sich auf das Bett zog. Ich hörte nur noch die Tür hinter uns ins Schloss fallen. Dann schmusten und küssten wir uns lang und ausgiebig, und ich empfand zum ersten Mal in meinem Leben wirkliche Lust. Winfried war ein guter Liebhaber. Sicher lag das auch daran, dass ich bereit war. Ich hatte mich sogar darauf gefreut. Ganze drei Monate hatte ich mich auf diesen Augenblick vorbereitet, doch das tolle Gefühl, dass man bei einem Höhepunkt empfinden sollte, blieb auch diesmal aus. Ich hatte keinen Höhepunkt, aber dennoch war es schön. Viel schöner, als zuvor im Auto.

Wir trafen uns jeden Abend. Er holte mich von der Fabrik ab. Es war ein tolles Gefühl, von diesem gutaussehenden Mann abgeholt zu werden. Meine Kolleginnen staunten und beneideten mich beinahe. Vera war mir nicht mehr böse, denn sie hatte bereits einen neuen Freund und wollte sich verloben. Darüber war ich sehr erleichtert, denn ich mochte Vera sehr.

An einigen Abenden wartete Winfried nicht am Kiosk, obwohl wir uns verabredet hatten. Ich machte mir jedes Mal große Sorgen, ihm könne etwas zugestoßen sein. Ich hatte schreckliche Angst um ihn. Ich wartete ungeduldig. Einmal wartete ich vier Stunden in der Kälte. Es hat sich jedes Mal gelohnt. Er kam immer. Darauf konnte ich mich verlassen. Er kam immer, und er hatte immer einen guten Grund für sein Zuspätkommen.

*

Nach drei Wochen stach er wieder in See. Ich war unendlich traurig, fühlte mich allein und hatte Angst, er könnte nicht mehr zurückkehren. Die Wochen, die er Landurlaub hatte, hatten wir beinahe ständig in seinem kleinen Zimmer verbracht, das mir schon so vertraut war. Ich hatte es ein wenig gemütlicher gemacht, hatte aufgeräumt, Staub gewischt, das Bett gemacht und sogar Gardinen an das kleine Fenster mit den verschmierten Scheiben angebracht. Dann war er fort und ich musste wieder warten. Es sollten wieder drei Monate vergehen, ehe ich ihn wiedersah.

Unser Wiedersehen war ebenso schön und lang ersehnt, wie beim ersten Mal. Ich war überglücklich, ihn wieder bei mir zu haben. Vor allem, da etwas Schwerwiegendes geschehen war. Ich war schwanger. Gleich zehn Minuten nach unserem Wiedersehen habe ich es ihm gesagt. Ich war so glücklich und freute mich schon auf unser Baby, auf unser gemeinsames Familienleben. Ich hatte auch schon mit meiner Schwiegermutter alles vereinbart. Sie wollte uns vorerst in ihrer Garage, die nur als Abstellraum genutzt wurde, wohnen lassen. Sicher könnten wir uns dort ein erstes schönes Heim bereiten. Ich war glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Doch Winfried reagierte ganz unerwartet. Er stieß mich regelrecht von sich und starrte mich aus seltsam dunklen Augen an.

„Winfried, was ist denn? Freust Du Dich gar nicht?"

„Freuen? Über ein Balg, das Du mir anhängen willst?"

„Aber Winfried, es ist doch Dein Kind. Glaubst Du mir nicht, dass es Dein Kind ist?"

Ich konnte es nicht glauben, meine Lippen bebten. Winfried schwieg einen Moment und starrte durch mich hindurch. Er war gar nicht mehr er selbst. Ich kannte ihn nicht wieder.

„Natürlich glaube ich, dass es mein Kind ist", sagte er plötzlich wieder etwas sanfter, "aber, Mäuschen, das geht einfach nicht. Wir können jetzt kein Kind haben. Wie soll das denn gehen, wenn ich auf Fahrt bin?"

Meine Tränen verwischten meinen Blick. Ich hatte mir diesen Moment tausendfach ausgemalt, und niemals hatte ich daran gedacht, dass er unser Kind nicht will. Ich war wie erschlagen.

„Sieh mal. Ich bin nicht geschaffen für ein Leben an Land. Ich bin ein unruhiger Geist, der immer auf Wanderschaft gehen muss. Ich halte es nicht aus an ein und demselben Ort zu sein. Ich bin ein Seemann und ich werde mein Leben lang einer bleiben, verstehst Du das?"

Ich nickte, obwohl ich nicht ein Wort von dem verstand, was er zu mir sagte. Ich wusste nur, dass mir mein Glück durch die Finger schlüpfte. Als ich ahnte, dass ich schwanger war, war ich zuerst verzweifelt, weil ich befürchtete Winfried könnte etwas zugestoßen sein. Doch ich wusste immer, dass, wenn er zurückkehrt, er mich heirate würde und wir glücklich bis ans Ende unserer Tage miteinander leben würden. Doch so war es nicht.

In meiner Verzweiflung blieb mir nur eines übrig. Ich ging zu meiner Schwiegermutter. Nachts, nachdem Winfried eingeschlafen war, schlich ich in ihr Zimmer. Sie war noch wach und bereitete die Steuererklärung für ihren kleinen Gemüsestand, der vor einem großen Kaufhaus stand, vor.

„Na, meene Sieße? Kannst nich schlafn?"

Ich schüttelte den Kopf, und im selben Moment brach ich auch schon unter Tränen aus und berichtete ihr alles. Sie saß eine lange Zeit still da, ehe sie wieder etwas sagte. Sie glaubte auch es sei an der Zeit, dass Winfried sich verheiratete und einen eigenen Gemüsestand hatte. Er sollte eine Familie gründen und hier, bei ihr sein. Nicht so wie sein verstorbener Vater, der auch zur See gefahren und früh gestorben war. Die ganzen Jahre schon hatte sie sich um das Geschäft kümmern müssen. Nein, ich sollte es besser haben, versprach sie mir, und sie hatte auch schon einen Plan.

4.

Dann war der Landurlaub vorüber. Schweren Herzens begleitete ich Winfried zum Hafen. Er versprach zwar zurückzukommen, doch tief in meinem Herzen wusste ich, dass er es gar nicht vorhatte. Er brachte es nur nicht übers Herz es mir ehrlich zu sagen. Der Abschied dauerte lange, weil ich weinte und weinte, doch schließlich umfasste er meine Handgelenke und zog sie fast gewaltsam zurück, so dass ich ihn nicht mehr halten konnte. Als er auf das Schiff gehen wollte, blickte er sich noch einmal um, und ich war einer Ohnmacht nahe. Wie sollte es denn nur weitergehen mit mir und dem Kind? Würde er vielleicht doch zurückkommen und aus mir eine ehrbare Frau machen? Und wenn nicht? Wo sollte ich hin? Nach Hause zu meiner Mutter konnte ich nicht. Sie glaubte noch immer, dass ich das brave jungfräuliche Töchterchen war. Außerdem war sie ständig im Rausch ihrer Tabletten. Ich konnte doch mein Kind nicht dort zur Welt bringen. Und bei Winfrieds Mutter konnte ich auch nicht bleiben. Das wollte ich nicht. Ich fürchtete mich noch immer vor dieser Frau und außerdem hatte sie mich enttäuscht. Sie hatte mir versprochen, dass Winfried mich heiraten würde. Er würde nie wieder zur See fahren, hatte sie sogar gewagt zu behaupten. Und nun stand er an der Passkontrolle und würde bald für immer aus meinem Leben verschwunden sein.

Gerade als ich mich zum Gehen umdrehen wollte, wurde ich wieder auf Winfried aufmerksam. Er schien sich mit seinem Gegenüber zu streiten. Langsam ging ich näher, um zu hören, um was es ging. Doch noch ehe ich bei ihnen angekommen war, stampfte Winfried wutentbrannt auf mich zu.

„Winfried, was ist denn?"

Er blieb bei mir stehen und sah mich an, mit einem Blick, den ich niemals vergessen habe.

„Meine Papiere, mein Pass, mein Soldbuch... alles ist weg. Hast Du es eingesteckt?"

„Nein" schüttelte ich fast lautlos den Kopf.

Da packte er mich an dem Oberarm und drückte so sehr zu, dass ich glaubte, er würde ihn wirklich und wahrhaftig zerquetschen. Ich jammerte und schrie auf, doch er schien es gar nicht zu bemerken.

„Sei ehrlich", schrie er, wobei sich seine laute, dunkle Stimme beinahe überschlug.

„Hast Du meine Papiere versteckt, damit ich hierbleiben muss?"

Wieder schüttelte ich verneinend den Kopf und sah ihn ängstlich in die Augen. Und mit einem Male wusste ich, was meine Schwiegermutter für mich getan hatte. Ich war sicher, sie hatte seine Papiere, und jetzt konnte er nicht auf diesen Frachter anheuern. Es war ein genialer Schachzug von ihr, doch heute weiß ich, dass es der größte Fehler war, den sie begehen konnte. Den wir begehen konnten. Die Schuld, die ich mir aufgeladen hatte, indem ich Winfried nichts von meinem Verdacht gesagt hatte, sollte zehnfach gesühnt werden.

*

Die Zeit bis zur Hochzeit kam mir unendlich vor. Minuten zogen sich wie Stunden dahin und Stunden wie Tage, wenn nicht sogar Wochen. Ich war so aufgeregt, wie ich es nur sein konnte. Es würde ein Tag der Freude werden. Ein Tag, der mein Leben verändern würde. Es würde der schönste Tag in meinem Leben werden. Nur eines stimmte mich traurig. Meine Schwestern würden nicht dabei sein. Es war hart, doch so war es nun einmal. Renate musste in Travemünde arbeiten, und Eva war noch immer in Dubai, bei ihrem Mann.

Auch sollten wir keine kirchliche Trauung bekommen. Es war zu teuer und vor allem zu unanständig. Wie konnte ich auf den Altar zugehen und mein Kind bereits unter dem Herzen tragen? Mittlerweile war es schon zu sehen. Ich war im sechsten Monat, und da ich sehr zierlich war, sah man es doppelt genau. Die Zeremonie beim hiesigen Standesamt war kurz und bündig. Ich stand in meinem geblümten Sonntagskleid auf der linken Seite und Winfried neben mir in seinem Sonntagsanzug vor dem Standesbeamten. Er fragte uns nach unserem Jawort, wir mussten unterschreiben und das war es. Nur die engsten Verwandten waren anwesend. Meine Mutter hatte in der Fabrik einen Tag frei bekommen, und meine Schwiegermutter hatte den Gemüsestand für eine Stunde geschlossen. Helmut, Winfrieds Bruder, konnte auch nicht dabei sein, da er seinen Gemüsestand, den er erst kürzlich eröffnet hatte, nicht schließen konnte.

Das war es also. Der Traum meines Lebens. Das einzig Schöne war mein Ehemann. Er sah strahlend gut aus, obwohl er ein wenig niedergeschlagen wirkte, doch ich würde uns schon ein schönes Leben bereiten. Alles würde gut werden, wenn wir nur beisammen waren.

*

Meine Schwiegermutter stellte uns die Garage ihres kleinen Hauses zur Verfügung. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang. Ich versuchte es uns so gemütlich wie möglich zu machen. Vor meinem Arbeitsbeginn in der Fabrik durchstöberte ich die Sperrmüllstraßen, am Wochenende ging ich auf den Flohmarkt. Ich fand viele Dinge, die wir gut gebrauchen konnten. Ich fand sehr viel Stoff für Gardinen, Tischdecken, Bettbezüge und unbrauchbaren, dicken Stoff, den ich vor die Garagentore hängte, damit der Wind nicht mehr so sehr hereinfegte. Es wurde von Tag zu Tag anheimelnder, und ich war zufrieden. Ich hatte ein eigenes Heim. Ich liebte es, darin herumzuwirbeln. Ich hielt die Garagenwohnung sauber. Es war sauberer darin, als in mancher Arztpraxis. Beinahe steril. Lag irgendwo ein Fussel auf dem alten Teppich, den Winfried vom Sperrmüll mitgebracht hatte, dann bückte ich mich danach, um ihn aufzuheben.

Winfried ging es nicht so gut. Er hatte keine Arbeit und kein Geld. Er fühlte sich minderwertig, weil ich für unseren Lebensunterhalt sorgte. Oft sagte er morgens, wenn der Wecker klingelte: "Bleib doch heute einfach liegen, Mäuschen."

Anfangs freute ich mich darüber, dass er mich offensichtlich lieber bei sich haben wollte. Doch bald merkte ich, dass es ihm gar nicht darum ging. Er versuchte fast alles, mich von der Fabrik fernzuhalten. Es war ihm nicht recht, dass ich das Geld verdiente und er mir nur auf der Tasche lag. Ich habe das nie so empfunden. Es störte mich auch nicht, dass ich den Einkauf, das Kochen und das Saubermachen allein erledigen musste. Winfried packte zu Hause nicht mit an. Er stöberte meistens tagsüber im Sperrmüll herum oder ging in die Kneipe. Aber gegen Feierabend stand er immer lässig angelehnt am Zeitungskiosk.

Manchmal half er bei seiner Mutter aus. Dann kam er immer sehr schlecht gelaunt nach Hause. Es war nicht so schön, wenn wir uns stritten. Ich litt sehr darunter. Ich war ein Mensch, der es Zuhause harmonisch haben wollte. Streit und Stress hatte ich daheim bei meiner Mutter genug gehabt. Sie war ständig im Tablettenrausch und dadurch oft sehr ungerecht. Besonders zu mir. Wahrscheinlich wollte ich darum in meinem eigenen Heim immer Frieden haben. Ich war regelrecht krank, wenn Winfried einmal lauter wurde und mit mir schimpfte. Natürlich versuchte ich ihm alles recht zu machen, damit wir uns wieder lieb hatten und alles schön ruhig war.

5.

Unseren ersten großen Streit werde ich wohl nie vergessen. Es war schon spät abends. Ich hatte eine Überstunde gemacht und Winfried war sehr böse darüber.

Er schrie mich an: "Ich hab Dich nicht geheiratet, damit ich hier abends allein sitze."

Ich fand das richtig lieb. Er vermisste mich, selbst wenn es nur um eine Stunde ging. Das hatte mir sehr gefallen. Er konnte sich anscheinend ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen, und darüber war ich sehr glücklich, weil wir doch dabei waren eine Familie zu gründen.

Nachdem wir an jenem Abend gegessen hatten ging ich hinüber in den Keller von meiner Schwiegermutter, um dort meine Wäsche zu waschen. Ab und an durfte ich ihre Maschine benutzen. Eigentlich wusch ich mit der Hand, aber an jenem Abend, weil es doch schon so spät war und ich Winfried schon so vernachlässigt hatte, wollte ich auf ihr Angebot zurückkommen. Ich stellte die Maschine an und ging wieder hinüber. Alles war in bester Ordnung, obwohl ich merkte, dass es Winfried nicht recht war, dass ich unsere Wäsche mit Schwiegermutters Maschine wusch. Kurz vor dem Schlafengehen ging ich wieder hinüber, um die Maschine auszustellen und die Wäsche aufzuhängen. Es war kalt und der Keller war nur spärlich beleuchtet. Richtig unheimlich war mir zumute. Dann drückte ich auf den Knopf der Waschmaschine, doch die Tür öffnete sich nicht. Ich bekam die Tür einfach nicht auf. Also ging ich wieder in die Garagenwohnung und habe es Winfried erzählt.

„Du bist aber auch zu nichts zu gebrauchen. Typisch. Kannst nicht mal so'ne blöde Tür aufmachen", murrte er sofort, kam aber mit mir mit.

Auch er bekam die Tür nicht auf. Doch mein Winfried war schlau. Er fand schnell die Klappe für die Notöffnung. Im selben Moment, in dem er die Klappe geöffnet hatte, schoss auch schon das Wasser heraus. Ich stand da, unfähig mich zu bewegen, so sehr erschrocken war ich. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet. Winfried reagierte sofort und schloss die Klappe wieder. Dann schrie er mich an: "Was stehst Du da so dämlich, blöde Kuh! Hol mal Handtücher oder so was!"

Ich zuckte zusammen und machte mich kopflos auf die Suche nach einem Handtuch. Endlich fand ich ein altes von Schwiegermutter und reichte es Winfried. Er murmelte etwas vor sich hin und breitete dann das Handtuch auf der Pfütze am Boden aus.

„Soll ich eine Schüssel holen?" fragte ich ganz kleinlaut.

„Frag doch nicht so dumm. Hol einfach eine!"

Ich lief sofort hinüber zu uns, um irgendeine Schüssel zu holen. Egal welche. In der Dunkelheit auf dem Hof stieß ich mir noch das Bein. Ich jaulte einmal auf und rannte dann schnell weiter, weil ich ja wusste, dass Winfried wartete. Und er war ohnehin schon wütend, also wollte ich ihn nicht noch unnötig verärgern. Wie es immer so ist, wenn man sich beeilen will, klappte auch bei mir nichts. Ich öffnete alle Schränke, doch meine Waschschüssel war wie vom Erdboden verschluckt. Dann fiel mir ein, dass ich sie im Badezimmer hatte.

Nach relativ kurzer Zeit traf ich, mit der Schüssel in der Hand, im Keller ein. Winfried saß vor der Waschmaschine in einer Wasserlache. Er hatte natürlich nicht abwarten können, bis ich zurück war. Sofort schrie er mich an, ich sei eine blöde Kuh und ich könnte auch gar nichts und überhaupt ist alles meine Schuld. Ich sei sogar zu dumm, um mit einer Waschmaschine umzugehen. Mir schossen sofort die Tränen in die Augen. Ich hockte mich auf den Boden und begann alles aufzuwischen. Innerlich ärgerte ich mich über ihn, dass er nicht gewartet hatte, bis ich mit der Schüssel zurück war. Eigentlich war er doch Schuld an der ganzen Misere. Also fragte ich ihn, nachdem ich mich einigermaßen beruhigt und aufgehört hatte zu weinen.

„Warum hast Du nicht auf die Schüssel gewartet?"

„Soll ich hier den ganzen Abend warten? Sag bloß noch, dass es meine Schuld ist, dass hier jetzt alles unter Wasser ist. Wenn Du nicht gleich Dein Maul hältst, dann scheuer ich Dir eine!" schrie Winfried wutentbrannt.

Ich hatte ihn noch nie zuvor so wütend gesehen. ich war total geschockt und verunsichert. Ich hatte ehrlich Angst, er könnte wirklich zuschlagen. Also hielt ich meinen Mund und wischte weiter den Boden. Winfried ging dann hinüber in unsere Garagenwohnung. Als ich dann fertig war, lag er schon im Bett und schlief. Ich wusch meine Wäsche nie wieder mit Schwiegermutters Waschmaschine.

*

Meine Schwiegermutter tröstete mich manchmal. Sie sagte dann: "Ich weiß, der Winfried ist manchmal schwierig. Aber das wird sich wieder geben. Musst nur Geduld haben, meene Sieße. In seinem Herz ist der Winfried ein guter Mensch. Wirst auch noch sehen."

Natürlich wusste ich, dass er ein gutes Herz hatte. Ich wusste, dass er auch schwierig sein konnte, und ich hoffte, dass es sich wieder geben würde. Immerhin stand er mächtig unter Druck, weil er keine Arbeit fand.

Seit diesem Vorkommnis machte er mich fertig, wo er nur konnte. Er behandelte mich, als wäre ich der letzte Dreck und sagte ständig, ich könnte froh sein, dass ich so einen tollen Kerl wie ihn bekommen hätte. War ich ja auch. Ich liebte ihn und war stolz auf sein ungeheuer gutes Aussehen. Dennoch machte es mich traurig, wenn er mir sagte, wie hässlich ich doch eigentlich sei, und dass er jede Frau kriegen würde, so wie er aussah. Ich sollte Dankbarkeit zeigen, dass er mich genommen hatte, vor allem mit dem Balg in meinem Bauch. Auf offener Straße sah er anderen Frauen nach und sagte mir dann immer wieder, wie toll die aussahen, und ich solle mich dagegen einmal ansehen.

Er machte Witze über meine Figur. Ich war dürr und hatte diesen dicken Bauch. Es sah ja auch wirklich komisch aus, doch nach einer Weile konnte ich nicht darüber lachen. Ich weinte jedes Mal, wenn er mich so heruntermachte. Bis ich mich irgendwann schon beinahe daran gewöhnte. Anfangs weinte ich viel, aber irgendwann sah ich es ein. Ich fand mich selbst ja schon immer unglaublich hässlich. Als ich es jetzt beinahe jeden Tag zu hören bekam, gewöhnte ich mich daran und fand mich schließlich damit ab. Es berührte mich nicht mehr, wenn er sagte ich sei viel zu dürr, hätte klapprige Stelzen als Beine, ein unglaublich hässliches Gesicht und keinen Busen. Und dann noch mein dicker, fetter, aufgeblähter Bauch. Es sei ihm ja schon peinlich mit mir gesehen zu werden. Daran gewöhnte ich mich und weinte nicht mehr. Er konnte mich damit nicht mehr kleinmachen und quälen.

*

Langsam fing er an, wenn er wütend war, Sachen auf den Boden zu werfen. Ich hasste das. Ich bückte mich dann sofort und hob es wieder auf, weil ich es nicht ertragen konnte, wenn es unordentlich war. Ich wollte das perfekte Zuhause und keine Rumpelbude. Winfried merkte schnell, wie er mich runtermachen konnte. Er brauchte nur etwas unordentlich zu machen. Einmal kam er angetrunken nach Hause. Er hatte wieder bei seiner Mutter geholfen und war sehr aggressiv.

„Was gibt's denn zu essen?"

Den Tonfall kannte ich. Das verhieß nichts Gutes. Meine Hände zitterten leicht und ich überlegte mir genau, was ich sagte. Ein schlechtes Gewissen hatte ich ohnehin. Weil das Essen nicht fertig war. Ich wusste ja nicht, wann er heimkommen würde.

„Ich mache Dir schnell eine Scheibe Brot, ja?"

„Was? Gibt's nichts Warmes?"

Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf, während ich versuchte es ihm zu erklären.

„Wir mussten heute zwei Überstunden machen. Die hatten einen ganz eiligen Auftrag. Dafür kann ich dann morgen früher nach Hause kommen. Jedenfalls hatten die Geschäfte schon zu, und ich konnte nichts mehr einkaufen."

Winfried sah mich mit einem seltsamen Blick an. Seine Augen zogen sich zu bösartigen kleinen Schlitzen zusammen. Ich wusste sofort, dass gleich ein Sturm losbrechen würde. Also duckte ich mich schnell vor den Kühlschrank und nahm mit zittrigen Händen die Wurst, Butter und das Brot heraus, um ihm sein Brot möglichst schnell zu machen.

„Verdammt noch mal. Da schufte ich den ganzen Tag und bekomme nicht mal was Warmes zu essen. Ich hab' die Schnauze voll von dieser Scheiß Fabrik. Du gehst da morgen nicht mehr hin. Du bleibst hier und machst mir was zu essen. Du bleibst von jetzt an immer hier!"

Dann ließ er seine Jacke einfach auf den Boden fallen und latschte mit seinen matschigen Schuhen quer über den Teppichboden.

Als ich das sah, schossen mir sofort die Tränen in die Augen. Der schöne Teppichboden war total verdreckt. Ich würde sicher eine ganze Stunde brauchen, um die Flecken wieder auszubürsten. Es war so gemein von ihm. Am liebsten hätte ich es ihm gesagt, wie gemein er war, aber dann würde er nur noch wütender werden. So brachte ich ihm wortlos sein Essen zum Tisch, bückte mich und zog ihm die Schuhe aus. Dann stellte ich sie ordentlich in die Ecke und hängte seine nasse Jacke auf. Auf dem Teppich hinterließ sie einen großen Fleck. Wieder stiegen die Tränen in mir hoch, doch ich beruhigte mich selbst, denn es war ja nur Wasser. Der Fleck würde ja wieder trocknen.

Winfried saß mit seinem bösen Blick und grinsendem Mundwinkeln vor seinem Brot und beobachtete mich lauernd. Ich fühlte mich unbehaglich. Diese Momente häuften sich in letzter Zeit, und es gefiel mir gar nicht. Manchmal bekam ich richtige Angst vor ihm, obwohl er mir, seinem Mäuschen, noch nie etwas getan hatte. Dennoch war es eigenartig. Zwar hatte Ich gelernt damit umzugehen, doch es schien immer schlimmer zu werden. Er ließ sich immer schwerer beruhigen. Da stand ich nun mit meiner aufkommenden Angst und wusste nicht, was ich als nächstes tun sollte. Ich entschloss mich für einen Frontalangriff. Ich ging strahlend auf ihn zu, setzte mich auf seine Stuhllehne und umarmte ihn.

„Du, es hat gerade wieder gestrampelt", teilte ich ihm voller Stolz mit und legte seine Hand auf meinen runden Bauch.

Winfried zog sie sofort wieder zurück und begann sein Brot zu essen.

„Mensch, rück mir nicht immer so auf die Pelle!" schrie er mich an und schubste mich mit dem Ellenbogen von der Stuhllehne herunter.

Ich musste aufpassen. Er war in einer schlechteren Stimmung, als je zuvor.

„Soll ich Dir den Fernseher anschalten?" fragte ich also schnell.

„Ja!"

Der Fernseher war sein ganzer Stolz. Er hatte ihn vor einigen Tagen auf dem Sperrmüll gefunden und selbst repariert. Mein Winfried war ein geschickter Handwerker. Er konnte beinahe alles wieder heil machen, was er auf dem Sperrmüll fand. Es war toll und wir sparten sehr viel Geld dadurch. Ich schaltete also schnell den Fernseher an, um ihn abzulenken. Dann ging ich in die Küchenecke und räumte die Sachen in den Kühlschrank zurück. Für heute hatte ich wieder Frieden gestiftet. Ich war nicht glücklich aber dennoch nicht unzufrieden. Er war wirklich kein schlechter Mensch. Eigentlich war er ein guter Ehemann. Er war lieb zu mir, reparierte viel im Haushalt und brachte immer tolle Sachen vom Sperrmüll mit. Es machte mir Spaß ihn zu umsorgen. Sicher, ich verwöhnte ihn, doch ich hatte schließlich auch nur ihn. Und ich wollte ihn nicht verlieren - um keinen Preis. Er war als wir uns kennenlernten so lieb und zärtlich. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass das alles weg war. Er steckte eben in einer Krise, weil er nicht mehr zur See fahren konnte. Und ich war schuld daran. Ich hatte ungeheure Schuldgefühle deswegen und ertrug seine Launen daher kommentarlos.

*

Eine Woche später waren wir abends mit seinen Freunden in der Kneipe. Ich fühlte mich nicht gut. Mir war ganz schlecht vom vielen Rauch und den Bierfahnen. Aber ich beschwerte mich nicht. Ich war ja froh einmal nicht Zuhause zu sitzen. Die Freunde waren recht nett und unterhielten sich mit mir. Das schien Winfried nicht zu passen. Er wurde immer mürrischer, doch ich achtete absichtlich nicht darauf. Ich wollte mir diesen Abend nicht auch noch verderben lassen. Winfried trank mehr und mehr und war recht früh schon sehr angetrunken, um nicht zu sagen betrunken. Also fing er an mit regelrecht Befehle zu geben, wie: "Du setzt Dich jetzt hier hin!", "Du hörst mir jetzt zu!" oder "Du holst mir jetzt noch ein Bier!"

Natürlich bin ich darauf sofort eingegangen und habe versucht ihn zu beruhigen, wie ich es immer tat. Seine Freunde sollten sehen, was für ein schönes Paar wir waren. Ich setzte mich zu ihm, hörte ihm zu und holte ihm sein Bier. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wollte ihn nicht verärgern. Ich wollte einen schönen Abend haben. Nicht nur für mich sollte es schön sein, auch für ihn. Also ging ich auf seine Bedürfnisse ein.

Im Laufe des Abends wurde ich dann doch langsam böse. Richtig zickig wurde ich, denn ich fand es nicht in Ordnung, wenn er mich in Gegenwart seiner Freunde derart herumkommandierte. Was sollte die denn denken? Schließlich verlangte er nach einem neuen Bier.

„Hol es Dir doch mal selbst. Ich kann nicht immer mit dem dicken Bauch zum Tresen schieben."