Unheimliche Geschichten - Fjodor Sologub - E-Book

Unheimliche Geschichten E-Book

Fjodor Sologub

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Beschreibung

In Fjodor Sologubs Werk 'Unheimliche Geschichten' taucht der Leser in eine düstere und faszinierende Welt ein, in der das Übernatürliche und das Psyche verwoben sind. Sologub präsentiert eine Sammlung von Erzählungen, die von unheimlichen Begegnungen, mysteriösen Ereignissen und psychologischen Abgründen handeln. Sein literarischer Stil ist geprägt von einer finsteren Atmosphäre und einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit menschlichen Ängsten und Abgründen. Diese Geschichten, die im russischen Symbolismus verwurzelt sind, bieten eine einzigartige und faszinierende Lektüre. Fjodor Sologub, ein bekannter russischer Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, war selbst von düsteren Gedanken und pessimistischen Weltanschauungen geprägt. Seine eigenen inneren Konflikte spiegeln sich in den Geschichten wider, die er in 'Unheimliche Geschichten' erzählt. Sologubs Werk ist geprägt von einer tiefen psychologischen Analyse der menschlichen Natur und bietet dem Leser Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele. 'Unheimliche Geschichten' ist ein fesselndes Buch für Leser, die sich für dunkle Literatur und psychologische Thriller interessieren. Diese Sammlung von Erzählungen wird Sie in ihren Bann ziehen und Ihnen unvergessliche Lesestunden bescheren.

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Fjodor Sologub

Unheimliche Geschichten

Charaktergemälde aus dem Ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-152-1

Inhaltsverzeichnis

Schatten
Der Stachel des Todes
Der Kuß des Ungeborenen
Die trauernde Braut
Raja
In der Menge

Schatten

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Vlll.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIll.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
XXIX.
XXX.
XXXI. Abend.

I.

Inhaltsverzeichnis

Wolodja Lowljew, ein schmächtiger, blasser Junge von etwa zwölf Jahren, war soeben aus dem Gymnasium heimgekommen. In Erwartung des Mittagessens stand er im Eßzimmer am Klavier und blätterte im neuesten Hefte der ›Niwa‹, das heute früh mit der Post gekommen war.

Aus der Zeitung, die neben der ›Niwa‹ lag und eine ihrer Seiten zudeckte, fiel ein kleines Heft aus dünnem grauem Papier heraus, – der Prospekt irgendeiner illustrierten Zeitschrift. Der Herausgeber zählte darin die zukünftigen Mitarbeiter auf – es waren an die fünfzig bekannte literarische Namen – pries in schönen Worten die Zeitschrift als Ganzes wie auch jede ihrer Abteilungen für sich und gab auch einige Illustrationen als Probe. Wolodja sah sich das graue Heft und die kleinen Bildchen näher an. Seine großen Augen im blassen Gesicht mit der breit entwickelten Stirne blickten müde.

Eine Seite des Prospekts zog seine Aufmerksamkeit besonders an, und seine großen Augen wurden noch größer. Neben den Lobhymnen auf eine der Abteilungen der Zeitschrift waren auf dieser Seite sechs Abbildungen, untereinander angeordnet, abgedruckt. Sie stellten auf verschiedene Art zusammengelegte Hände dar, die schwarze Silhouetten auf eine weiße Wand warfen: das Köpfchen eines jungen Mädchens in komischem gehörnten Hut, einen Eselskopf, einen Ochsenkopf, ein sitzendes Eichhörnchen und noch etwas von der gleichen Art.

Wolodja vertiefte sich lächelnd in die Betrachtung der Bilder. Er kannte diesen Zeitvertreib und verstand, die Hände so zusammenzulegen, daß an der Wand ein Hasenkopf erschien. Hier war aber etwas, was er noch nie gesehen hatte; vor allem waren es sehr komplizierte Figuren, zu denen man immer beide Hände brauchte.

Wolodja bekam Lust, diese Schatten nachzubilden. Aber um diese Stunde, im zerstreuten Lichte des sterbenden Herbsttages würde natürlich nichts gelingen.

»Ich werde das Heft mit auf mein Zimmer nehmen, niemand braucht es ja!« sagte er sich.

Plötzlich hörte er die Schritte und die Stimme seiner Mutter, die sich aus dem Nebenzimmer näherte. Er errötete, steckte das Heft schnell in die Tasche, wandte sich vom Klavier weg und ging auf seine Mutter zu, die ihm mild lächelnd entgegen kam. Sie sah ihm sehr ähnlich und hatte dieselben großen Augen im blassen, schönen Gesicht.

Die Mutter fragte ihn wie jedesmal.

»Was gibt's Neues in der Schule?«

»Es gibt nichts Neues,« sagte Wolodja etwas unwirsch.

Es kam ihm aber gleich zum Bewußtsein, daß er mit seiner Mutter nicht höflich genug sprach, und er schämte sich. Nun lächelte er ihr freundlich zu und versuchte sich zu besinnen, was es in der Schule gegeben hatte; er fühlte aber dabei einen neuen Ärger in sich aufsteigen.

»Der Pruschinin hat sich wieder einmal ausgezeichnet,« begann er von einem Lehrer zu erzählen, der wegen seiner Grobheit bei den Schülern höchst unbeliebt war. »Unser Leontjew sagte die Aufgabe auf und kam etwas aus dem Konzept. Und der Pruschinin sagte ihm: Genug, setzen Sie sich, Holz falle auf Holz!«

»Und ihr merkt euch alles gleich!« sagte die Mutter lächelnd. »Er ist überhaupt furchtbar grob!«

Wolodja schwieg eine Weile, seufzte und fügte mit klagender Stimme hinzu:

»Und sie haben immer solche Eile!«

»Wer denn?« fragte die Mutter.

»Ach, die Lehrer... Ein jeder will den ganzen Lehrstoff so schnell als möglich erledigen und vor den Prüfungen alles noch wiederholen. Und wenn man sie irgendwas fragt, so glauben sie gleich, man wolle sie ablenken, damit die Stunde schneller vergeht und der Lehrer nicht mehr Zeit hat, die Aufgaben abzuhören.«

»Kommt dann mit euren Fragen nach der Stunde!«

»Ja, nach der Stunde haben sie auch immer Eile: da müssen sie nach Hause oder ins Mädchengymnasium. Und alles geht so schnell: erst Geometrie und dann gleich Griechisch.«

»Man muß eben aufpassen!«

»Ja, aufpassen! Wie ein Eichhörnchen im Rad... Es regt mich wirklich furchtbar auf!«

Die Mutter verzog den Mund zu einem leisen Lächeln.

II.

Inhaltsverzeichnis

Nach dem Mittagessen ging Wolodja auf sein Zimmer, um die Aufgaben zu machen. Sein Zimmer liegt abseits und ist so eingerichtet, wie wenn er der Herr im Hause wäre. Die Mutter will, daß ihr Wolodja es bequem habe, – und sein Zimmer enthält alles, was ein Arbeitszimmer enthalten soll. Niemand stört ihn hier, auch die Mutter kommt nicht herein, wenn er seine Aufgaben macht. Sie kommt erst später, um ihm zu helfen, falls er ihre Hilfe braucht.

Wolodja war ein fleißiger Schüler und hatte, wie es hieß, gute Fähigkeiten. Heute wollte aber die Arbeit nicht recht vonstatten gehen. Was er auch vornahm, immer fiel ihm gleich irgend etwas Unangenehmes ein: er mußte an den Lehrer für den betreffenden Gegenstand und an seine beißenden oder rohen Worte denken, die er nur so nebenbei hingeworfen, die sich aber in die Seele des empfindlichen Jungen tief eingruben.

Die letzten Stunden waren aus irgendeinem Grunde nicht gut ausgefallen: die Lehrer waren unzufrieden in die Schule gekommen, und die Arbeit ging schlecht vorwärts. Die Lehrer hatten Wolodja mit ihrer schlechten Stimmung angesteckt, und von den Seiten der Bücher und Hefte, die vor ihm lagen, wehte ihm eine dunkle, unbestimmte Unruhe entgegen.

Er ging von einem Gegenstand schnell zum zweiten und zum dritten über, und dieses schnelle Vorübergleiten der kleinen Dinge, die man bewältigen muß, um nicht morgen »wie Holz auf Holz« zu sitzen, dieses sinnlose und zwecklose Vorübergleiten ärgerte ihn. Vor Verdruß und Langeweile fing er sogar an zu gähnen, ungeduldig mit den Füßen zu scharren und auf dem Stuhle hin und her zu rücken.

Aber er wußte, daß alle diese Gegenstände erlernt sein müssen, daß sie sehr wichtig sind, und daß von ihnen seine Zukunft abhängt,– und er erledigte gewissenhaft die ihm so langweilig erscheinende Arbeit.

Plötzlich machte er in seinem Heft einen kleinen Klecks und legte die Feder weg. Er sah sich den Klecks genauer an und beschloß, ihn mit dem Federmesser auszuradieren. Er freute sich schon über diese Arbeit, die einige Abwechselung bringen würde.

Auf dem Tisch war kein Messer zu finden. Wolodja suchte eine Weile in der Tasche und fand es unter den verschiedenen unnützen Dingen, die er, wie alle Jungen, ständig mit sich herumschleppte. Als er es herauszog, kam zugleich auch irgendein Heftchen zum Vorschein.

Im ersten Augenblick wußte er noch nicht, was es für ein Heftchen war; als er es aber herauszog, erinnerte er sich an den Prospekt mit den Schattenbildern und wurde sofort lustig und lebhaft.

Das war wirklich das Heft, an das er nicht mehr gedacht hatte, als er sich mit seinen Aufgaben beschäftigte.

Er sprang flink vom Stuhl, rückte die Lampe näher zur Wand und blickte ängstlich auf die verschlossene Türe, ob nicht jemand käme. Dann schlug er das Heft auf der wohlbekannten Seite auf, studierte aufmerksam die erste Zeichnung und versuchte, die Hände auf die angegebene Art zusammenzulegen. Der Schatten geriet zuerst undeutlich, nicht so, wie er sein sollte. Wolodja rückte die Lampe hin und her und krümmte und spreizte die Finger so lange, bis endlich auf der weißen Wand der Mädchenkopf mit dem gehörnten Hute erschien.

Wolodja war es nun lustig zumute. Er neigte die Hände und bewegte leise die Finger, und der Kopf nickte, lächelte und zeigte komische Grimassen.

Wolodja ging dann zu der zweiten Figur über und nach dieser zu den übrigen. Sie alle wollten anfangs nicht recht gelingen, aber Wolodja brachte sie schließlich doch fertig.

So verging eine halbe Stunde, und er hatte die Aufgaben, das Gymnasium und die ganze Welt vergessen.

Plötzlich erklangen hinter der Türe wohlbekannte Schritte. Wolodja errötete, steckte das Heft in die Tasche, stellte die Lampe auf ihren Platz, so schnell, daß sie beinahe umfiel, und beugte sich über das Heft. Seine Mutter trat ins Zimmer.

»Wolodja, komm Tee trinken,« sagte sie.

Wolodja tat so, als ob er den Klecks betrachtete und das Messer öffnen wollte. Die Mutter legte ihm ihre Hände liebevoll auf den Kopf. Wolodja legte das Messer weg und schmiegte sich errötend an die Mutter. Sie schien nichts bemerkt zu haben, und Wolodja war froh darüber. Und doch schämte er sich, wie wenn man ihn an einem dummen Streich ertappt hätte.

III.

Inhaltsverzeichnis

Auf dem runden Tisch im Eßzimmer sang der Samowar sein leises Lied. Die Hängelampe ergoß über die weiße Tischdecke und die dunklen Tapeten eine sanfte, müde Stimmung.

Die Mutter hatte ihr schönes, blasses Gesicht tief geneigt und war in Gedanken versunken. Wolodja hatte beide Hände auf dem Tische liegen und rührte den Tee mit dem Löffel um. Süße Ströme zogen durch die Flüssigkeit, und kleine Bläschen stiegen an die Oberfläche. Der silberne Löffel klirrte leise...

Das kochende Wasser tropfte aus dem Samowarhahn in die Tasse der Mutter...

Der Löffel warf auf die Untertasse und das Tischtuch einen leichten, im Tee aufgelösten Schatten. Wolodja betrachtete ihn aufmerksam: der Schatten des Löffels inmitten der Schatten der süßen Ströme und der Luftbläschen erinnerte ihn an etwas, er wußte aber selbst noch nicht, woran. Er drehte den Löffel hin und her, trommelte auf ihn leise mit den Fingern, es kam aber nichts heraus.

»Es muß aber gehen!« sagte er sich trotzig: »Man kann Schatten nicht nur mit den Fingern machen. Es geht auch mit allen anderen Dingen, es gehört nur eine gewisse Geschicklichkeit dazu.«

Wolodja betrachtete genau die Schatten des Samowars, der Stühle, des Kopfes seiner Mutter und des Teegeschirrs und suchte in ihnen die Ähnlichkeit mit anderen Dingen zu finden. Die Mutter sagte etwas, und Wolodja hörte kaum zu. »Wie lernt jetzt Ljoscha Siinikow?« fragte die Mutter.

Wolodja betrachtete gerade den Schatten der Milchkanne. Er fuhr plötzlich zusammen und antwortete schnell:

»Wie ein Kater!«

»Wolodja, du schläfst ja!« sagte die Mutter erstaunt.

»Was für ein Kater?«

Wolodja errötete.

»Ich weiß nicht, wie ich daraufkomme,« sagte er. »Verzeihe, Mutter, ich habe schlecht gehört.«

IV.

Inhaltsverzeichnis

Am nächsten Abend vor der Teestunde erinnerte sich Wolodja wieder an die Schatten und machte sich wieder an diesen Zeitvertreib. Ein bestimmtes Bild wollte ihm immer nicht gelingen, was er mit seinen Fingern auch anfangen mochte.

Wolodja war in diese Beschäftigung so vertieft, daß er gar nicht merkte, wie die Mutter ins Zimmer trat. Als er die Türe knarren hörte, steckte er das Heft schnell in die Tasche und wandte sich verlegen von der Wand weg. Die Mutter blickte aber schon auf seine Hände, und ein leiser Argwohn durchzuckte ihre großen Augen.

»Was treibst du hier, Wolodja? Was hast du eben versteckt?«

»Es ist nichts!« stammelte Wolodja errötend und verlegen.

Die Mutter glaubte, daß Wolodja eben rauchen wollte und die Zigarette versteckt habe.

»Wolodja, zeig mir sofort, was du eben in die Tasche gesteckt hast!« sagte sie erschrocken.

»Wirklich, Mutter...«

Die Mutter faßte ihn am Ellbogen.

»Soll ich vielleicht selbst in deiner Tasche nachsehen?«

Wolodja errötete noch mehr und zog aus der Tasche das Heftchen heraus.

»Hier!« sagte er, es der Mutter reichend.

»Was ist das?«

»Es sind Bildchen darin,« erklärte Wolodja, »siehst du, Schatten. Ich wollte sie auf die Wand werfen, aber sie gerieten mir nicht recht.«

»Nun, was gibt's denn da zu verstecken?« sagte die Mutter beruhigt. »Was sind's für Schatten? Zeig sie mir einmal!«

Wolodja schämte sich, gehorchte aber der Mutter und begann die Schatten vorzuführen.

»Siehst du, das ist der Kopf eines Herrn mit einer Glatze, und das da – ein Hasenkopf!«

»Ach du!« sagte die Mutter. »So machst du also deine Aufgaben!«

»Ich habe mich nur ein wenig damit abgegeben, Mutter.«

»Ja, ein wenig! Warum bist du aber so rot geworden, mein Lieber? Ich weiß zwar, daß du alles, was du mußt, gewissenhaft machst.«

Die Mutter fuhr ihm mit der Hand in seine kurzen Haare. Wolodja lachte und barg sein glühendes Gesicht zwischen ihren Armen.

Die Mutter ging hinaus, und Wolodja fühlte sich noch immer beschämt und etwas ungemütlich. Die Mutter hatte ihn bei einem Zeitvertreib erwischt, über den er wohl selbst lachen würde, wenn einer seiner Schulkameraden sich damit abgegeben hätte.

Wolodja wußte, daß er ein kluger Junge war, und hielt sich selbst für sehr ernst. Und doch gab er sich mit einer Sache ab, die für ein Mädchenkränzchen passen würde.

Er steckte das Heft mit den Schatten tief in die Schublade seines Tisches und nahm es mehr als acht Tage nicht heraus. Acht Tage dachte er sogar fast nie an die Schatten. Höchstens ab und zu am Abend, wenn er seine Aufgaben machte und von einem Gegenstand zum andern überging, lächelte er beim Gedanken an den gehörnten Mädchenkopf, wollte sogar das Heft wieder herausholen, erinnerte sich aber gleich daran, wie ihn die Mutter neulich ertappt hatte, schämte sich und lernte weiter.

V.

Inhaltsverzeichnis

Wolodja und seine Mutter, Jewgenia Stepanowna, wohnten am Ende der Gouvernementsstadt im eigenen Hause. Jewgenia Stepanowna war seit neun Jahren Witwe. Nun war sie fünfunddreißig Jahre alt, noch immer jugendlich und schön, und Wolodja hing an ihr mit zärtlicher Liebe. Sie lebte ganz für den Sohn, erlernte zugleich mit ihm die alten Sprachen und teilte alle seine Schulsorgen. Sanft, freundlich und ein wenig ängstlich, blickte sie in die Welt mit ihren großen Augen, die mild in ihrem blassen, schönen Gesichte strahlten.

Sie hatten nur einen Dienstboten: Praskowja, eine mürrische, doch rüstige und kräftige Witwe. Sie war vielleicht fünfundvierzig Jahre alt, aber so schweigsam, daß man sie für hundertjährig halten konnte.

Wenn Wolodja ihr finsteres, wie aus Stein gemeißeltes Gesicht ansah, fragte er sich oft, woran sie in ihrer Küche an den langen Winterabenden wohl denken möge, wenn die kalten Stricknadeln in ihren knöchernen Händen eintönig klirren und die trockenen Lippen lautlos Rechnungen murmeln ... Denkt sie da an ihren Mann, den Trunkenbold? Oder an ihre früh verstorbenen Kinder? Oder an ihr eigenes einsames und heimloses Alter? ...

Hoffnungslos traurig und ernst ist ihr versteinertes Gesicht ...

VI.

Inhaltsverzeichnis

Ein langer Herbstabend. Draußen Regen und Wind.

Langweilig und gleichgültig brennt die Lampe.

Wolodja stützt den Kopf in die Hände, neigt sich über den Tisch nach links und schaut auf die weiße Tapete und auf den weißen Fenstervorhang.

Die bleichen Blumen des Tapetenmusters sind nicht zu sehen ... Es ist eine so langweilige weiße Farbe.

Der weiße Lampenschirm hält einen Teil der Lichtstrahlen zurück. Die ganze obere Hälfte des Zimmers liegt im Halbdunkel.

Wolodja streckt die rechte Hand aus. Auf der vom gedämpften Licht schwach beleuchteten Wand erscheint ein langer, verschwommener Schatten ...

Der Schatten eines Engels, der von dieser sündhaften, traurigen Welt in den Himmel stiegt, ein durchsichtiger Schatten mit breiten Flügeln und auf die Brust gesenktem Haupt...

Trägt nicht der Engel in seinen zarten Händen etwas Wichtiges, doch von den Menschen Unbeachtetes aus dieser Welt fort?

Wolodja holt schwer Atem. Er läßt die Hand träge sinken und blickt gelangweilt in das Lehrbuch.

Ein langweiliger Abend ... Eine langweilige Farbe ... Draußen weint und schluchzt es ...

VII.

Inhaltsverzeichnis

Die Mutter ertappte Wolodja zum zweitenmal bei den Schatten.

Diesmal war ihm der Ochsenkopf gelungen. Er bewunderte ihn und ließ den Ochsen den Hals recken und brüllen.

Die Mutter aber war sehr unzufrieden.

»So lernst du also!« sagte sie vorwurfsvoll.

»Nur ein klein wenig, Mutter!« flüsterte Wolodja verlegen.

»Du kannst dich ja damit ln deiner freien Zeit abgeben,« sagte sie. »Du bist kein kleines Kind mehr! Wie schämst du dich nicht, die Zeit mit solchem Unsinn zu verbringen?«

»Mutter, ich will es nicht wieder tun!«

»Du verdirbst dir die Augen dabei!«

»Ich tue es wirklich nicht wieder!«

Er hatte aber nicht die Kraft, das Versprechen zu halten. Die Schatten gefielen ihm zu gut, und während mancher uninteressanten Stunde in der Schule spürte er Lust, sich mit ihnen abzugeben.

Diese Beschäftigung nahm ihm an manchen Abenden so viel Zeit weg, daß er seine Aufgaben nicht ordentlich machen konnte. Um das Versäumte nachzuholen, mußte er später als sonst zu Bett gehen. Aber wie sollte er diese Beschäftigung ganz aufgeben?

Er erfand einige neue Figuren und machte die Schatten nicht nur mit den Fingern. Die Schatten lebten an der Wand, und Wolodja schien es, daß sie ihm viele interessante Dinge erzählten.

Er war ja immer ein Träumer gewesen.

Vlll.

Inhaltsverzeichnis

Es ist Nacht. In Wolodjas Zimmer ist es finster. Wolodja liegt in seinem Bett, kann aber nicht einschlafen. Er liegt auf dem Rücken und blickt zur Decke hinauf.

Draußen auf der Straße geht jemand mit einer Laterne vorbei. Über die Zimmerdecke läuft sein Schatten inmitten der roten Reflexe der Laterne. Die Laterne pendelt offenbar in den Händen des Mannes, der sie trägt, denn der Schatten bewegt sich ungleichmäßig und zitternd.

Wolodja ist es auf einmal ängstlich und bange zumute. Er zieht die Decke schnell über den Kopf, dreht sich hastig und zitternd auf die andere Seite um und beginnt zu träumen.

Es ist ihm so warm und wohlig. Schöne, einfältige Gedanken, wie sie ihm immer vor dem Einschlafen kommen, ziehen ihm durch den Sinn.

Wenn er so im Bette liegt, ist es ihm oft bange zumute, er wird gleichsam kleiner und schwächer; er vergräbt den Kopf in die Kissen, vergißt alle seine Knabenmanieren, wird zärtlich und liebevoll und hat das Bedürfnis, seine Mutter zu umarmen und zu küssen.

IX.

Inhaltsverzeichnis

Die graue Dämmerung wurde dichter. Die Schatten schwammen ineinander. Wolodja war es so traurig ums Herz.

Da ist aber die Lampe... Ihr Licht fließt auf das grüne Tuch des Tisches, und über die Wand huschen unbestimmte liebe Schatten.

Wolodja fühlt sich von Freude beseelt, er wird lebhaft und holt schnell das Heft heraus.

Der Ochse brüllt... Das junge Mädchen lacht hell... Was für böse runde Augen hat doch dieser Herr!

Jetzt kommt etwas Eigenes.

Eine Steppe. Ein Wanderer mit einem Sack. Ein trauriges, gedehntes Wanderlied scheint zu klingen...

Wolodja ist es froh und traurig zumute.

X.

Inhaltsverzeichnis

»Wolodja, ich sehe dieses Heft nun schon zum drittenmal in deinen Händen. Bewunderst du nun wirklich jeden Abend deine Finger?«

Wolodja stand verlegen am Tisch, wie wenn man ihn auf einem üblen Streich ertappt hätte, und drehte das Heft in den heißen und feuchten Fingern.

»Gib es her!« sagte die Mutter.

Wolodja reichte ihr verwirrt das Heft. Die Mutter nahm es und ging schweigend aus dem Zimmer. Er setzte sich wieder an seine Schulaufgaben.

Er schämte sich, mit seinem Eigensinn der Mutter Kummer gemacht zu haben, und ärgerte sich, daß sie ihm das Heft weggenommen hatte, und daß es mit ihm so weit gekommen war. Er fühlte sich recht unbehaglich und ärgerte sich über die Mutter. Er schämte sich, ihr zu zürnen, konnte aber nicht anders. Und weil er sich seines Ärgers schämte, wurde dieser noch größer. Er wurde böse.

»Es macht nichts, daß sie es mir weggenommen hat,« sagte er sich schließlich. »Ich werde mich auch ohne das Heft behelfen können.«

Wolodja hatte ja schon sowieso alle Figuren im Kopfe und brauchte das Heft nur manchmal zur Kontrolle.

XI.

Inhaltsverzeichnis

Die Mutter nahm das Heft mit den Schatten zu sich ins Zimmer, schlug es auf und wurde nachdenklich.

»Was ist denn Verlockendes darin?« dachte sie. »Er ist doch ein vernünftiger, lieber Junge und gibt sich mit solchem Unsinn ab!«

»Nein, es wird wohl kein Unsinn sein!«

»Was mag denn dahinterstecken?« fragte sie sich beharrlich.

Eine seltsame Furcht stieg in ihr auf: die schwarzen Bilder flößten ihr ein feindseliges, ängstliches Gefühl ein.

Sie stand auf und zündete eine Kerze an. Sie trat mit dem grauen Heft vor die Wand und blieb, von einer bangen Furcht ergriffen, stehen.

»Ich muß doch endlich erfahren, was daran ist!« sagte sie sich und begann die Schatten, einen nach dem andern nachzubilden.

Sie legte die Finger aufmerksam und gewissenhaft zusammen und drehte die Hände so lange, bis sie die Figur erhielt, die sie brauchte. Eine unklare Angst regte sich in ihr. Sie versuchte, sie niederzukämpfen. Die Angst wurde aber immer größer und ließ sie nicht aus ihrem Bann. Ihre Hände zitterten, und die durch die Dämmerung des Lebens eingeschüchterten Gedanken eilten drohenden Qualen entgegen...

Plötzlich hörte sie die Schritte ihres Sohnes. Sie fuhr zusammen, versteckte das Heft und blies die Kerze aus.

Wolodja blieb an der Schwelle stehen. Der strenge Blick der Mutter und ihre ungeschickte, sonderbare Stellung vor der Wand verwirrten ihn.

»Was willst du?« fragte die Mutter mit strenger, unnatürlich gespannter Stimme.

Eine dunkle Ahnung durchzuckte Wolodja. Er wollte sie von sich abschütteln und begann mit der Mutter irgendein Gespräch.

XII.

Inhaltsverzeichnis

Wolodja verließ das Zimmer.

Die Mutter ging einigemal auf und ab. Sie merkte, daß ihr auf dem Fußboden ihr Schatten folgte, und – seltsam! – dies weckte in ihr zum erstenmal in ihrem Leben ein seltsames Unbehagen. Der Gedanke, einen Schatten zu haben, ließ sie nicht los. Jewgenia Stepanowna fürchtete aber diesen Gedanken und bemühte sich, den Schatten nicht mehr zu beachten.

Der Schatten aber schlich ihr nach und neckte sie. Jewgenia Stepanowna bemühte sich, an etwas anderes zu denken, – es war umsonst!

Plötzlich blieb sie blaß und erregt stehen.

»Na ja, Schatten!« rief sie laut aus, in seltsamer Erregung mit den Füßen stampfend. »Was ist denn dabei? Was ist denn dabei?«

Sie sagte sich aber gleich, daß es keinen Sinn habe, zu schreien und mit den Füßen zu stampfen, und wurde still.

Sie trat vor den Spiegel. Ihr schönes Gesicht war blasser als sonst, und ihre Lippen zitterten vor Angst und Zorn.

»Es sind die Nerven,« sagte sie sich. »Ich muß mich zusammennehmen, sonst gehe ich ganz aus dem Leim...«

XIII.

Inhaltsverzeichnis

Die Dämmerung senkte sich. Wolodja war in seine Gedanken vertieft.

»Wolodja komm, wir wollen etwas ausgehen!« sagte die Mutter.

Aber auch auf der Straße waren überall Schatten, abendliche, geheimnisvolle flüchtige Schatten, und auch sie raunten Wolodja etwas Vertrautes und unsagbar Trauriges zu.

Am trüben Himmel leuchteten einige Sterne auf. So fern und fremd waren sie Wolodja und den Schatten, die ihn umdrängten. Er wollte seiner Mutter eine Freude machen und bemühte sich, nur an die Sterne zu denken: nur sie allein waren den Schatten fremd.

»Mutter,« begann er, sie, ohne es selbst zu merken, unterbrechend, »wie schade ist es doch, daß man zu den Sternen nicht hinauf kann!«

Die Mutter schaute zum Himmel empor und antwortete:

»Es ist auch gar nicht nötig. Nur auf dieser Erde geht es uns gut, dort oben ist es ganz anders.«

»Wie schwach sie leuchten! Aber es ist so besser.«

»Warum?«

»Wenn sie stärker leuchteten, würden auch sie Schatten werfen.«

»Wolodja, warum denkst du nur an die Schatten?« »Ich tat es aus Versehen,« sagte Wolodja reumütig.

XIV.

Inhaltsverzeichnis

Wolodja gab sich noch immer Mühe, seine Aufgaben möglichst gut zu machen, er wollte die Mutter nicht durch seine Faulheit kränken. Aber er gebrauchte seine ganze Einbildungskraft dazu, um jeden Abend auf seinem Tische einen Haufen Dinge so aufzustellen, daß er einen neuen seltsamen Schatten auf die Wand warf. Er legte und stellte die Gegenstände immer um und freute sich, wenn an der weißen Wand Gebilde erschienen, in die er irgendeinen Sinn hineinlegen konnte. Er hing an den Schattenbildern mit großer Liebe. Sie waren für ihn nicht stumm, sie erzählten ihm etwas, und Wolodja verstand ihr Stammeln. Er verstand, was der traurige Wanderer, der im Herbstregen mit dem Stecken in der zitternden Hand und dem Sack auf dem gebeugten Rücken durch die Landstraße ziehen muß, murrt.

Er verstand, worüber sich der schneeverwehte, in der Winterstille trauernde Wald beklagt, wenn seine Äste vor Frost krache; was der schwerfällige Rabe auf der vor Alter grauen Eiche mit seinem Krächzen sagen will; worüber das lebhafte Eichhörnchen, vor der leeren Höhlung im Baume sitzend, trauert.

Er verstand, weshalb die alten heimatlosen, zerlumpten Bettlerinnen, im heulenden Herbstwind auf dem engen Friedhofe zitternd, zwischen schwankenden Kreuzen und schwarzen Gräbern weinen.

Vergessenheit und verzehrende Trauer!

XV.

Inhaltsverzeichnis

Die Mutter merkte, daß Wolodja auch weiter sein Spiel betrieb.

Sie sagte ihm beim Mittagessen:

»Wolodja, wenn du dich doch für etwas anderes interessieren wolltest!'

»Für was denn, Mutter?«

»Lies doch etwas!«

»Wenn ich lese, zieht es mich immer zu den Schatten hin.«

»Versuch es mit irgendeinem andern Spiel, vielleicht mit Seifenblasen.«

Wolodja lächelte traurig:

»Die Seifenblasen fliegen davon und mit ihnen auch ihre Schatten an der Wand.«

»Wolodja, du ruinierst dir ja schließlich die Nerven! Ich sehe es, du bist auch abgemagert!«

»Mutter, du übertreibst!«

»Ich bitte dich!... Ich weiß, du schläfst schlecht in der Nacht und sprichst oft aus dem Schlafe. Denke dir nur, wenn du krank wirst...«

»Warum nicht gar!«

»Wenn du, Gott behüte, verrückt wirst oder stirbst, bedenke doch, wie groß mein Schmerz sein wird!«

Wolodja lachte auf und fiel der Mutter um den Hals.

»Mutter, ich sterbe nicht. Ich will es nie wieder tun!«

Die Mutter sah, daß Wolodja weinte.

»Hör auf!« sagte sie, »Gott ist barmherzig. Schau nur, wie nervös du geworden bist: du lachst und weinst zugleich.«

XVI.

Inhaltsverzeichnis

Die Mutter beobachtete Wolodja aufmerksam und voller Angst. Jede Kleinigkeit regte sie auf.

Sie merkte plötzlich, daß Wolodjas Kopf nicht ganz symmetrisch war: ein Ohr stand viel höher als das andere, und das Kinn war etwas schief. Die Mutter betrachtete sich selbst im Spiegel und stellte fest, daß Wolodja ja ihr auch darin ähnlich sah.

»Vielleicht ist es das Anzeichen einer erblichen Belastung oder Degeneration. Und wo ist die Wurzel des Übels? Bin ich ohne innern Halt, oder war es sein Vater?«

Jewgenia Stepanowna dachte an ihren verstorbenen Gatten. Er war der beste und liebenswürdigste Mensch, willensschwach, von ohnmächtigem Streben nach unklaren Zielen erfüllt, manchmal verzückt und manchmal von mystischer Trauer ergriffen, von Gedanken an eine bessere Gesellschaftsordnung und vom Streben beseelt, dem Volke zu dienen, und am Ende seines Lebens Quartalsäufer.

Er starb jung, erst fünfunddreißig Jahre alt...

Die Mutter ging mit Wolodja zum Arzt und schilderte diesem sein Leiden. Der Arzt, ein lebenslustiger junger Herr, hörte ihr mit einem leisen spöttischen Lächeln zu, gab einige Ratschläge wegen der Diät und der Lebensweise, machte einige Witze, schrieb vergnügt ein Rezeptchen, klopfte Wolodja wohlwollend auf die Schulter und sagte:

»Aber die beste Arznei wäre eine Rute!«

Die Mutter fühlte sich für Wolodja beleidigt, folgte aber sonst den Vorschriften des Arztes.

XVII.

Inhaltsverzeichnis

Wolodja saß in der Schule. Er langweilte sich und hörte kaum zu...

Er blickte auf: von der Decke zur vordern Wand des Klassenzimmers glitt ein Schatten. Wolodja stellte fest, daß der Schatten vom ersten Fenster kam. Er fiel durch das Fenster zuerst in die Mitte der Klasse und glitt dann an Wolodja vorbei nach vorn: offenbar ging jemand durch die Straße. Als dieser Schatten sich noch bewegte, fiel durch das zweite Fenster ein anderer Schatten, der anfangs auch über die hintere Wand huschte und dann schnell zu der vordern hinüberglitt. Ebenso war es auch am dritten und am vierten Fenster. Die Schatten fielen auf die Decke und die Wände des Klassenzimmers und bewegten sich in entgegengesetzter Richtung, als die Leute durch die Straße gingen.

»Hier ist es also anders als im Freien, wo der Schatten dem Menschen folgt,» wenn der Mensch nach rechts geht, bewegt sich hier sein Schatten nach links, und andere Schatten kommen ihm entgegen!«

Wolodja warf einen Blick auf den ausgemergelten Lehrer. Sein kaltes, gelbes Gesicht ärgerte ihn. Er suchte seinen Schatten und fand ihn auch an der Wand hinter dem Sessel. Der Schatten machte zwar alle die häßlichen Bewegungen des Lehrers mit, hatte aber weder das gelbe Gesicht noch das beißende Lächeln, und Wolodja betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Seine Gedanken waren weit weg, und er hörte überhaupt nichts mehr.

»Lowljew!« rief ihn der Lehrer an.

Wolodja stand mechanisch auf und starrte den Lehrer blöde an. Er hatte dabei einen so geistesabwesenden Gesichtsausdruck, daß die Mitschüler auflachten und der Lehrer eine strenge Miene aufsetzte.

Wolodja hörte darauf, wie der Lehrer ihn höflich und beißend verhöhnte. Er zitterte vor Kränkung und Ohnmacht. Der Lehrer erklärte schließlich, daß er ihm für sein Nichtwissen und seine Unaufmerksamkeit einen Vierer geben müsse, und forderte ihn auf, sich wieder hinzusetzen.

Wolodja lächelte blöde, setzte sich hin und begann über das Vorgefallene nachzudenken.

XVIll.

Inhaltsverzeichnis

Ein Vierer, der erste in seinem Leben!

Das kommt ihm so sonderbar vor!

»Lowljew,« necken ihn lachend die Mitschüler und stoßen ihn an, »du hast einen Vierer gekriegt! Wohl bekomm's!«

Er fühlt sich recht ungemütlich, denn er weiß noch nicht, wie man sich in solchen Fällen zu benehmen hat.

»Nun, und wenn schon?« sagt er geärgert, »was geht's dich an?«

»Lowljew,« ruft ihm der faule Snegirjow zu, »jetzt gehörst du zu uns!«

Der erste Vierer! Und er muß ihn der Mutter zeigen.

Er schämt sich und empfindet es als eine Erniedrigung. Es ist ihm, als ob der Ranzen auf seinem Rücken schwerer geworden wäre, der Vierer sitzt ihm so unbequem und lästig in den Gedanken, und er kann ihn mit seinem Verstand gar nicht fassen.

Ein Vierer!

Er konnte sich mit ihm unmöglich abfinden und mußte fortwährend an ihn denken. Als der Schutzmann, der auf seinem Posten vor dem Gymnasium stand, ihn wie immer streng ansah, dachte sich Wolodja gleich:

»Wenn du erst wüßtest, daß ich einen Vierer habe!«

Das Gefühl war ihm ganz neu und höchst unbehaglich. Er wußte nicht, wie er den Kopf halten und was er mit seinen Händen anfangen sollte – das unbehagliche Gefühl hatte seinen ganzen Körper ergriffen.

Dabei mußte er seinen Mitschülern ein sorgloses Gesicht zeigen und von anderen Dingen sprechen!

Ja, die Mitschüler! Wolodja war überzeugt, daß sie sich alle über seinen Vierer freuten.

XIX.

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Als die Mutter den Vierer sah, blickte sie erst Wolodja und dann wieder den Vierer verständnislos an und sagte leise:

»Wolodja!«

Wolodja stand vor ihr und wollte in die Erde versinken. Er sah auf die Falten ihres Kleides und auf ihre blassen Hände und fühlte auf seinen zitternden Augenlidern ihre bestürzten Blicke.

»Was ist denn das?« fragte die Mutter.

»Das macht doch nichts, Mutter,« sagte Wolodja plötzlich, »das ist doch der erste!«

»Der erste!«

»Nun, es kann doch einem jeden passieren. Es kam ganz zufällig.«

»Ach, Wolodja, Wolodja!«

Wolodja weinte und schmierte sich die Tränen wie ein kleines Kind mit der flachen Hand über die Wangen.

»Mutter, sei mir nicht böse!« flüsterte er.

»Das hast du von deinen Schatten!« sagte die Mutter.

Wolodja hörte in ihrer Stimme Tränen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er blickte die Mutter an: sie weinte. Er stürzte zu ihr hin.

»Mutter, Mutter,« wiederholte er, ihre Hände küssend, »jetzt lass´ ich sie sein! Ich lasse die Schatten sein...«

XX.

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Wolodja nahm seine ganze Willenskraft zusammen und gab sich eine Zeitlang mit den Schatten, so sehr sie ihn auch anzogen, nicht mehr ab. Er versuchte das Versäumte nachzuholen.

Aber die Schatten verfolgten ihn hartnäckig. Und wenn er sie auch gar nicht rief, wenn er auch die Finger gar nicht zusammenlegte und die Gegenstände auf seinem Tische gar nicht ordnete, damit sie Schatten auf die Wand werfen, – die zudringlichen Schatten kamen von selbst und ließen ihn nicht in Ruhe.

Wolodja interessierte sich nicht mehr für die Dinge selbst, er sah sie fast gar nicht mehr an, seine ganze Aufmerksamkeit galt ihren Schatten.

Wenn er nach Hause ging, und die Sonne, wenn auch in einen Nebelschleier gekleidet, durch die Herbstwolken durchbrach, freute er sich, wenn überall flüchtige Schatten huschten.

Und wenn er abends zu Hause war, drängten sich um ihn die Schatten, die von der Lampe kamen.

Überall waren Schatten: scharf umrissene Schatten von Lampen und Kerzen, verschwommene Schatten vom zerstreuten Tageslicht, – sie umdrängten Wolodja, durchkreuzten sich und verstrickten ihn in ein unzerreißbares Netz.

Die einen waren unergründlich, rätselhaft, die andern erinnerten an etwas, wiesen auf etwas hin. Gewisse Schatten waren seine lieben, vertrauten Bekannten, und Wolodja suchte sie, wenn auch ohne es selbst zu wollen, und haschte nach ihnen im Gewirr der fremden Schatten.

Aber diese lieben, vertrauten Schatten waren immer traurig...

Wenn Wolodja sich auf der Suche nach diesen Schatten ertappte, fühlte er Gewissensbisse und ging zu seiner Mutter, um ihr zu beichten.

Einmal konnte Wolodja der Versuchung nicht mehr widerstehen: er trat vor die Wand und machte den Schatten eines Kalbes. Die Mutter überraschte ihn bel dieser Beschäftigung.

»Schon wieder!« rief sie zornig aus. »Ich will den Direktor bitten, daß er dich in den Karzer sperrt.«

Wolodja errötete und sagte finster:

»Auch im Karzer ist eine Wand... Überall sind Wände.«

»Wolodja!« rief die Mutter bekümmert aus: »Was sagst du?« Wolodja bereute aber schon seine rasche Bemerkung und fing zu weinen an.

»Mutter, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist!«

XXI.

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Die Mutter kann aber ihre abergläubische Angst vor den Schatten noch immer nicht niederkämpfen. Oft kommt ihr der Gedanke, daß auch sie einmal in den Bann der Schatten geraten wird, und sie versucht sich zu trösten.

»Was für Dummheiten mir doch in den Sinn kommen!« sagt sie sich. »So Gott will, wird alles gut enden. Wolodja wird sich so lange mit ihnen abgeben, bis er sie einmal selbst satt hat!«

Doch ihr Herz ist von einem heimlichen Schrecken gelähmt, und ihre Gedanken, die vor dem Leben solche Angst haben, eilen voraus, um die künftigen Qualen zu erfassen.

In den bangen Morgenstunden prüft sie ihre Seele, läßt ihr ganzes Leben an sich vorüberziehen und sieht, wie leer, unbrauchbar und zwecklos es ist... Es ist nur ein sinnloses Dahingleiten von Schatten, die in der sich verdichtenden Dämmerung zusammenfließen.

»Wozu habe ich gelebt?« fragt sie sich. »Für den Sohn? Wozu? Damit auch er der Gewalt der Schatten verfällt, ein Besessener mit engem Horizont, an Illusionen, an sinnlose Spiegelbilder auf der leblosen Wand gekettet? Auch er wird ins Leben treten, auch er wird neuen Wesen das Leben schenken, unnütz und schattenhaft wie ein Traum.«

Sie setzt sich ln den Sessel am Fenster und denkt und denkt.

Bitter und endlos sind ihre Gedanken.

Sie ringt verzweifelnd die blassen schönen Hände.

Die Gedanken zerrinnen. Sie blickt auf ihre zurückgebogenen Hände und versucht zu erraten, was für Schatten sie auf die Wand werfen würden. Sie ertappt sich dabei und fährt erschrocken auf.

»Gott, Gott,« ruft sie aus, »das ist ja Wahnsinn!«

XXII.

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Die Mutter beobachtet Wolodja beim Mittagessen.

»Er ist blaß geworden und hat abgenommen, seit er das unglückselige Heft in die Hand bekommen hat. Er ist ein anderer geworden, sein Charakter und alles hat sich verändert.

Es heißt, daß der Charakter des Menschen sich vor dem Tode ändert... Und wenn Wolodja stirbt?

Ach nein, nein, behüte Gott!«

Der Löffel zitterte in ihrer Hand. Sie richtete die erschrockenen Augen auf das Heiligenbild.

»Wolodja, warum ißt du die Suppe nicht?« fragt sie besorgt.

»Ich habe keine Lust, Mutter.«