Unter Tränen gelacht - Bettina Tietjen - E-Book
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Unter Tränen gelacht E-Book

Bettina Tietjen

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Beschreibung

In diesem sehr persönlichen Buch erzählt Bettina Tietjen von der Demenzerkrankung ihres Vaters, vom ersten „Tüdeln“ bis zur totalen Orientierungslosigkeit. Offen und liebevoll beschreibt sie die Achterbahn ihrer Gefühle, einen geliebten Menschen zu verlieren, aber auch ganz neu kennenzulernen, und die vielen komischen Momente, in denen sie trotz allem herzhaft zusammen lachen konnten. Bettina Tietjen musste lernen, dass Demenz ein Zustand ist, der ganz allmählich von einem vertrauten Menschen Besitz ergreift. Zuerst merkt man es nicht, dann will man es nicht wahrhaben. Schließlich muss man lernen, es zu akzeptieren. Denn trotz aller Herausforderungen ist Bettina Tietjen überzeugt: Demenz ist nicht nur zum Heulen, sondern kann auch Denkanstoß und Kraftquell sein.

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Es war mein Anliegen, die Erlebnisse so authentisch wie möglich zu erzählen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte habe ich Namen, Begebenheiten und Personen leicht verfremdet, was jedoch an dem Gesamteindruck, wie ich alles erlebt habe, nichts ändert.

ISBN 978-3-492-97031-0 Juni 2016 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015 Die Zeichnungen hat Burchard Schniewind, Bettina Tietjens Vater, in seinen letzten Lebensjahren angefertigt. Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Covermotiv: Bettina Tietjen privat Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Für meine Eltern.  

Prolog

Als am Sonntagabend gegen 22Uhr mein Handy klingelt, weiß ich noch nicht, dass dieser Anruf mein Leben verändern wird. Ich bin müde, habe sieben Tage am Stück moderiert und freue mich auf mein Sofa.

Die Mailbox piept. Na und? Wer stört schon um diese Zeit. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, es herauszufinden, greife aber aus Gewohnheit trotzdem nach meinem Handy und höre mir die Nachricht an.

»Guten Abend, Frau Tietjen, hier spricht die Polizei Wuppertal. Wir befinden uns im Haus Ihres Vaters. Es gab einen … Zwischenfall. Wir bitten dringend um Rückruf.«

Ich starre fassungslos mein Handy an. Mein Vater ist zu diesem Zeitpunkt 86Jahre alt. Er hat Demenz im fortgeschrittenen Stadium, lebt aber noch in seinem Reihenhaus in Wuppertal und wird rund um die Uhr von zwei lettischen Frauen betreut, die sich abwechseln. Zwei Häuser weiter wohnt meine jüngere Schwester Dagmar, die aber momentan in Afrika im Urlaub ist und dort meistens kein Netz hat. Vor einer Woche war ich noch bei ihm, um nach dem Rechten zu sehen. Da war alles noch so weit in Ordnung.

Und jetzt das. Ich rufe zurück. Mein Herz klopft. Ich befürchte das Schlimmste.

»Frau Tietjen? Die Nachbarn Ihres Vaters haben uns benachrichtigt. Wir haben seine Betreuerin hier bewusstlos vorgefunden, sie war volltrunken und hat sich mehrfach im Wohnzimmer übergeben. Sie wurde ins Krankenhaus abtransportiert. Ihr Vater wird gerade von der Nachbarin ins Bett gebracht. Können Sie bitte sofort kommen?«

Gott sei Dank! Er lebt noch.

»Äh, ich wohne in Hamburg, das kann dauern …«, höre ich mich stammeln.

»Das ist schlecht. Die Nachbarn sind alle hier, möchten Sie jemanden sprechen?«

Ich verlange nach dem einzigen Nachbarn, den ich näher kenne. Er erklärt mir, so knapp es geht, was passiert ist: Mein Vater hat gegen 21Uhr völlig verwirrt bei der Nachbarin zur Linken geklingelt und gesagt, er wolle ins Bett. Als sie ihn zurückbringen wollte, war die Haustür ins Schloss gefallen, und niemand öffnete, obwohl innen alles hell erleuchtet war.

Eine kleine Delegation von eilig zusammengerufenen Nachbarn schlich sich daraufhin durch den Garten an und entdeckte beim Blick durchs Wohnzimmerfenster Fürchterliches. Auf dem Teppich lag ein regloser Frauenkörper. Zu sehen waren nur die Beine – der Rest war vom Sofa verdeckt. Es half kein Klopfen, kein Rufen und kein Hämmern – da regte sich nichts. Nach kurzem Beratschlagen (meine Schwester war ja nicht zu erreichen) wählten sie die 110. Und die Polizei tat, was in so einem Fall getan werden muss.

Eine Viertelstunde später sah die kleine Siedlung aus wie ein Tatort: Polizei, Blaulicht, Feuerwehr, Notarzt. Alle Nachbarn auf den Beinen. Im Handumdrehen wurde die Tür aufgebrochen – und da lag sie. Zum Glück nicht tot, aber so betrunken, dass sie nicht mehr ansprechbar war.

Mein armer Vater war in seiner Verwirrung natürlich als Zeuge völlig ungeeignet. Also wurde getratscht und spekuliert und währenddessen hektisch nach meiner Telefonnummer gesucht.

Ich bitte den netten Nachbarn, so lange bei meinem Vater zu bleiben, bis wir da sind, lasse mir von der strengen Polizistin noch nahelegen, »dieses Arbeitsverhältnis so schnell wie möglich zu beenden …«, und springe mit meinem Mann ins Auto.

Als wir gegen zwei Uhr nachts in Wuppertal ankommen, öffnet uns überraschenderweise die Missetäterin höchstpersönlich die Tür. Anna ist völlig zerknautscht und zerknirscht. Sie hat schon alle Spuren beseitigt. Offenbar hat sie sich aus dem Krankenhaus still und heimlich weggeschlichen. Der Nachbar guckt ratlos, mein Vater schläft.

»Ich nix wissen, was passiert. Haben getrunken Brandy mit Freundin. Ich sonst nie trinken. Ehrlich!« Sie schluchzt. »Nach Trinken ich noch mit Opa spazieren. Danach ich nix mehr wissen.« Ein klarer Fall von Filmriss. Todmüde nehme ich sie in den Arm, dann gehen wir alle schlafen.

Am nächsten Morgen berate ich mich mit meinem Mann. Mein Vater steht seit fast einem Jahr auf der Warteliste eines Hamburger Seniorenheims ganz bei mir in der Nähe. Meine Schwester drängt schon länger darauf, dass ich ihn zu mir hole. Seit dem Tod unserer Mutter vor mehr als 20Jahren kümmert sie sich um ihn. Die fortschreitende Demenz, das ständige Kontrollieren der sprachlich und fachlich oft überforderten Pflegerinnen, das Gefühl, dass die ganze Verantwortung auf ihren Schultern lastet – all das macht ihr zu schaffen und zehrt an ihren Kräften. Dass sich etwas ändern muss, war schon länger klar. Über den Zeitpunkt hat jetzt der Zufall entschieden.

Ich rufe im Altenheim an und schildere den Fall. Eine Stunde später der Rückruf: »Sie können Ihren Vater mitbringen, wir haben einen Platz zur Kurzzeitpflege für ihn.«

Anna ist fassungslos und kaum zu trösten. Ich erkläre ihr, dass die Situation nach diesem Zwischenfall nicht zu halten und das Vertrauensverhältnis massiv gestört sei. Sie versteht das nicht und will nicht zurück nach Lettland. »Wir uns immer kümmern um Opa. Opa nix Heim. Lieber hier mit Anna bleiben.«

Es bricht mir fast das Herz, aber ich sehe keine andere Lösung. Sympathie hin oder her, ich kann meinen alten orientierungslosen Vater nicht länger mit einer Frau alleine lassen, die mal eben so an einem Sonntagnachmittag eine Flasche Brandy kippt und danach komplett die Kontrolle über sich und ihren Schützling verliert. Ich gebe ihr das Geld für den Bus nach Hause, packe meinem Vater den Koffer und ihn ins Auto.

Bei herrlichem Wetter drehen wir noch mal eine Runde durch das wunderschöne Bergische Land, meine Heimat und auch die meines Vaters. Sein ganzes Leben hat er hier verbracht. Was wir, mein Mann und ich, in diesem Moment wissen, ahnt mein Vater nicht: All das hier sieht er wahrscheinlich zum letzten Mal. Schluss, aus, vorbei. Zu Lebzeiten wird er hierher wohl nicht zurückkehren. Das hier ist ein Aufbruch ins Unbekannte.

Es treibt mir die Tränen in die Augen. Mein Vater dagegen sitzt ganz entspannt auf dem Beifahrersitz neben meinem Mann und betrachtet die grünen Hügel mit den Fachwerkhäusern.

»Schön hier«, sagt er. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich hier schon mal war.«

Was ich in diesem Moment noch nicht ahne: Sein Umzug nach Hamburg wird mein Leben nicht nur sehr verändern, sondern auch bereichern. Wir werden eng zusammenrücken, mein Vater und ich, enger als jemals zuvor. Wir werden viel Spaß miteinander haben. Aber mir steht auch eine große Herausforderung bevor. Meine Nerven werden starken Belastungsproben standhalten müssen, mein gewohnter Lebensrhythmus wird aus dem Takt geraten. Und auch für meine Familie wird es keine leichte Zeit werden.

Ein neuer Abschnitt beginnt. Für zwei Jahre und sieben Monate.

Kommt denn hier keiner?

Das Foyer des Seniorenheims ist hell und einladend, durch eine breite Fensterfront sieht man den bunt bepflanzten Garten. »Willkommen bei uns!«, steht auf dem Plakat am Eingang neben dem Zeitungsständer mit der Heimzeitschrift. Tüdelig – na und? heißt das Monatsblättchen. Na, die nehmen es hier offenbar mit Humor.

Wir werden gebeten, in einer Sitzecke Platz zu nehmen. Während wir warten, studiere ich die gerahmten Bilder an der Wand gegenüber. Alle leitenden Angestellten sind dort mit Foto abgebildet, daneben hängen jede Menge Zertifikate, die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung regelmäßig an alle Pflegeeinrichtungen vergeben werden. Ich sehe nur »sehr gut« in allen Bereichen, was mich in diesem Moment beruhigt. Wie diese Noten zustande kommen und dass sie ihren Zweck, Transparenz zu schaffen, nur bedingt erfüllen, werde ich erst später lernen.

All das hatte ich mir schon einmal aufmerksam angesehen, vor einem Jahr, als ich nach einer Unterkunft für meinen Vater in meiner Nähe suchte. Auf den Internetseiten der Hamburger Gesundheitsbehörde wurden unter der Rubrik »spezielle Demenzbetreuung« in meiner unmittelbaren Umgebung nur zwei Heime aufgeführt, eins davon war dieses hier. Bei der Besichtigung fiel mir neben der angenehmen Atmosphäre vor allem eins auf: Es roch nirgendwo nach Urin. Und das ist in einem Altersheim leider ganz und gar nicht selbstverständlich.

»Kommt denn hier keiner?«, fragt mein Vater leicht ungehalten. Er weiß zwar nicht, wo er ist, erwartet aber, dass sich jemand um ihn kümmert. In seiner Jugend hatte man Personal: Köchin, Kindermädchen, Gärtner, Putzfrau. Die wohlhabenden Eltern machten sich selbst nicht die Finger schmutzig. Den leicht arroganten Befehlston hat er sich wohl schon als Kind angewöhnt. Der Dünkel kam immer mal durch, im Restaurant zum Beispiel rief er gern, noch bevor er sich gesetzt hatte: »Hallo? Bekommt man hier mal was zu essen?« Die Demenz hat ihn zwar sehr viel weicher und nachgiebiger werden lassen, aber ein bisschen Herrenreiter blitzt gelegentlich noch auf.

»Herzlich willkommen in unserem Haus, Herr Schniewind!«

Eine kleine, durchtrainierte Frau um die 40 hat sich neben meinen Vater gehockt. Ihre schwarz gefärbten Haare sind raspelkurz geschnitten, die Schläfen sind rasiert. Sie hat auffällig blaue Augen und einen offenen, klaren Blick. Leise, aber deutlich und freundlich spricht sie meinen Vater an und fragt, wie es ihm gehe. Er sei sicher noch müde von der langen Fahrt und brauche erst mal ein bisschen Ruhe. Sie stellt sich vor als Frau Platt, Heimleitung, und legt ihre Hand auf seinen Arm. Mein Vater lächelt. Er scheint sie sympathisch zu finden. Und das, obwohl ihre Fingernägel schwarz lackiert sind und sie einen dicken silbernen Totenkopfring am Mittelfinger trägt. Eine solche Erscheinung hätte ihn früher gleich skeptisch gemacht.

Frau Platt erklärt kurz, was jetzt auf uns zukommt: Mein Vater bekommt erst einmal ein Doppelzimmer zugewiesen, das er alleine nutzen kann. Für vier Wochen – die sogenannte Kurzzeitpflege.

»Verstehen Sie, Herr Schniewind? Damit Sie erst mal sehen können, ob es Ihnen hier überhaupt gefällt!«

Mein Vater schaut etwas irritiert und nickt. Die Chefin lächelt und stellt uns dann eine attraktive junge Frau vor, die sich gerade zu uns gesellt hat: »Das ist Frau Fedder, unsere Pflegedienstleiterin. Sie ist meine wichtigste Kraft hier und wird Sie jetzt zum Wohnbereich bringen.«

Frau Fedder ist groß und kräftig, hat einen wilden blonden Lockenkopf und fröhliche braune Augen. In der einen Hand hält sie eine Tüte mit Weingummis und ein Handy, mit der anderen schüttelt sie meine Rechte. Ich muss einen Schmerzensschrei unterdrücken, so einen Händedruck haben sonst nur Bodyguards.

»Herzlich willkommen!« Als sie den Blick meines Vaters sieht, der sich an die Weingummis geheftet hat, hält sie ihm die Tüte hin. »Die hab ich immer dabei«, sagt sie grinsend, »kommt super an bei Menschen jeden Alters!«

Wir fahren mit dem Aufzug in die zweite Etage: Wohnbereich 2.

»Das ist der sogenannte beschützte Bereich«, erklärt die Pflegedienstleiterin. »Hier leben 34 demenziell veränderte Menschen in Doppel- oder Einzelzimmern in einer Art Wohngemeinschaft. Der Jüngste ist erst 47Jahre alt, die Älteste 101.«

Auch hier ist alles modern und geschmackvoll eingerichtet, es gibt zwei große Aufenthaltsräume mit Küchenbereich, Esstisch und Sitzgruppe. Alles ist liebevoll dekoriert im Retrostil: hier ein altes Transistorradio, da ein Herd aus Omas Zeiten, ich sehe auch ein Grammofon, ein Klavier und Blumen auf den Tischen.

Mein erster Blick fällt auf einen alten Mann im Rollstuhl. Er ist an eine Art Tropf angeschlossen, guckt apathisch, sein Mund steht offen. Er sieht aus wie ein Gespenst.

Oh mein Gott, denke ich, hoffentlich bleibt das meinem Vater erspart.

Frau Fedder sieht meinen Blick, streichelt dem Mann liebevoll über die Wange und beugt sich zu ihm hinunter: »Na, Herr Subowski, Sie sehen ja wieder fit aus! Immer schön aufpassen, dass hier kein Unbefugter den Flur betritt.«

Der Mann hebt kurz die Hand und verzieht den Mund zu etwas, das man mit viel Phantasie als Lächeln interpretieren könnte. »Herr Subowski ist schon 92«, sagt sie, während sie mit großen, energischen Schritten den Flur entlanggeht, »er hat vor Kurzem eine PEG, also eine Magensonde, gelegt bekommen. Seit er künstlich ernährt wird, ist er wieder richtig aufgeblüht.« Ich drehe mich vorsichtig noch mal um. Also, wenn so »aufgeblüht« aussieht, befindet sich mein Vater ja offensichtlich noch in Höchstform.

Auf dem Weg zum Zimmer rollt uns ein anderer Mitbewohner entgegen und strahlt mich an.

»Hallooooo!«, ruft er. »Kannst du mir helfen?«

»Was möchten Sie denn?«, frage ich leicht verunsichert.

»Zigaretten!«, ruft er fröhlich und krallt sich an meinem Arm fest.

»Nun lass mal los, Arthur!«, sagt Frau Fedder lachend und schiebt uns weiter den Flur entlang. »Das ist unser Schwerenöter Arthur. Er quatscht jede Frau an, entweder will er rauchen oder heiraten.«

Das Zimmer ist groß und fast leer. Bett, Nachttisch, Kleiderschrank, Stuhl. Na ja, es ist ja nur vorübergehend. Nachdem wir von den Pflegern begrüßt und eingewiesen wurden, kehrt erst einmal Ruhe ein. Ich beobachte meinen Vater. Wie nimmt er das hier auf? Versteht er, was gerade passiert? Ist er traurig, böse, durcheinander? Ist er so weit, den Umzug ins Altersheim zu akzeptieren?

Er sitzt auf dem einzigen Stuhl und guckt aus dem Fenster in den Garten. Dann dreht er sich zu mir um.

»Scheiße!«, sagt er.

Ich bin nie ganz sicher, was er meint, wenn er flucht. Das ist eine Angewohnheit, die mit fortschreitender Demenz immer schlimmer geworden ist. Niemals hätte er solche Ausdrücke in seinem früheren Leben benutzt, nur nachts, in seinen Albträumen, brach es manchmal aus ihm heraus. Tagsüber aber war alles, was sich »nicht gehörte«, tabu.

»Ach was, Vati, alles wird gut. Guck mal, wie schön die Sonne scheint! Ich packe jetzt erst mal deinen Koffer aus.«

Ich täusche gute Laune vor, trotzdem bin ich irgendwie deprimiert. Das hier ist jetzt also sein Zuhause. 47Jahre hat er in seinem Reihenhaus gewohnt, seit dem Tod meiner Mutter vor über 20Jahren allein, mal abgesehen von dem Jahr mit Iveta und Anna, den beiden Lettinnen. 47Jahre umgeben von den vertrauten Möbeln, den Bildern an den Wänden, dieselbe Straße, derselbe Garten, derselbe Blick aus dem Fenster. Und jetzt diese Entwurzelung. Habe ich das richtig gemacht? Hätten wir uns nicht doch nach neuen Betreuerinnen umsehen müssen? Hätten wir möglicherweise mehrere Fachkräfte fest anstellen müssen, die 24Stunden für ihn da gewesen wären? Das wäre allerdings finanziell kaum zu stemmen gewesen. Oder doch ein Heim im vertrauten Wuppertal?

Diese Zweifel werden mir von jetzt an immer wieder kommen. Aber immer sind auch schnell die Gegenargumente bei der Hand: Er merkt nicht mehr wirklich, wo er ist. Für ihn sind (fast) alle Menschen immer wieder neu und fremd. Die Gruppe und das umfangreiche Unterhaltungsprogramm werden ihn aufmuntern. Er ist hier umgeben von Fachkräften, die etwas von Demenz verstehen, dazu gehören Ergotherapeuten, Musiktherapeuten, Logopäden und Krankengymnasten. Es gibt Vorträge, Filmvorführungen, Spiele, Ausflüge und Feste. Es ist das Konzept dieses Seniorenheims, die alten Menschen nicht zu isolieren, sondern sie am sozialen Leben teilhaben zu lassen, wann immer es geht. Direkt neben dem Haus fließt ein kleiner Bach, über den eine Holzbrücke führt, am Ufer steht eine einladende Bank. Gegenüber ist ein großer Park, da kann ich mit ihm spazieren gehen.

Und das Wichtigste: Er ist jetzt hier bei mir. Ich kann mich kümmern und muss nicht ständig mit schlechtem Gewissen bei meiner Schwester anrufen und meinen übervollen Terminkalender nach Tagen durchforsten, an denen ich mich nach Wuppertal absetzen kann.

»So, Vati. Morgen mache ich dir erst mal einen schönen Osterstrauch. Und in zwei Wochen holen wir deine Möbel, damit du es hier richtig gemütlich hast!« Er guckt teilnahmslos. Eine hübsche Pflegerin steckt den Kopf durch die Tür:

»Herr Schniewind? Möchten Sie etwas essen? Es gibt Schnitzel mit Bratkartoffeln.«

Sofort hellt sich sein Blick auf.

»Essen gut! Ich Hunger«, sagt er und folgt der Pflegerin in den Aufenthaltsraum, ohne sich nach mir umzudrehen.

Schon wenige Tage nachdem Lettland bei meinem Vater eingezogen war, hatte er das gebrochene Deutsch der beiden Frauen übernommen, als handelte es sich um eine neue Fremdsprache. Er redet seitdem fast nur noch so, was zwar irgendwie komisch, aber angesichts seiner humanistischen Bildung und seines recht differenzierten Wortschatzes auch schade ist.

Nachmittags setzen wir uns in den Garten in die Sonne und füllen gemeinsam den umfangreichen »Biografie-Bogen« aus, den hier jeder neue Bewohner beim Einzug bekommt. »Um eine individuelle Pflege für Ihren Angehörigen gewährleisten zu können, sind sowohl medizinische Daten als auch Angaben zu Lebenseinstellung, Lebensgeschichte, Erlebnissen und Erfahrungen sowie Wünschen und besonderen Gewohnheiten hilfreich.« Also vermerke ich unter anderem, dass mein Vater gern klassische Musik hört, Zeitung liest, Schlips trägt, regelmäßig den Gottesdienst besucht, jeden Morgen duscht, gerne Schokolade isst und mit Leib und Seele Architekt war.

Was ich zuerst für eine etwas lästige Formsache gehalten habe, hat sich im Lauf seines Aufenthalts vielfach bewährt. Bis zuletzt wurde mein Vater zum Beispiel mit Zeichenblock und Stiften ausgestattet und zum Skizzieren animiert, ein Angebot, das er immer gern annahm. Sein Nachbar, Herr Schultze, ein ehemaliger Busfahrer, saß dagegen oft stundenlang mit einem Autoschlüssel in der Hand im Sessel und fuhr im Geiste glücklich die A7 rauf und runter.

»Vati, hier wird nach deinem Kindheitshobby gefragt. Was hast du als kleiner Junge am liebsten gemacht?«

Das Beantworten der Fragen dauert. Mein Vater schweift immer wieder ab, betrachtet das Haus und den Garten und vergisst nach zwei Sekunden schon wieder, was ich gerade gefragt habe.

»Radfahren!«, sagt er auf einmal. »Und mit Bauklötzen spielen.«

Dann fängt er an, laut zu rezitieren:

Frühling lässt sein blaues Band

Wieder flattern durch die Lüfte,

Süße, wohlbekannte Düfte

Streifen ahnungsvoll das Land.

Eduard Mörike. Diese Zeilen gehören zu dem Repertoire an deutscher Poesie, das sich bei ihm in irgendeiner Hirnwindung eingebrannt hat, die immun ist gegen den Verfall. (Und zum Glück auch gegen das gebrochene Deutsch der lettischen Pflegerinnen.) Bis zuletzt hat er diese Gedichte in jeder Lebenslage aufsagen können. Es stimmt mich ein bisschen wehmütig, aber auch froh, dass der Umzug dieser Angewohnheit offensichtlich nichts anhaben konnte.

Ich bleibe an diesem ersten Tag bei meinem Vater, bis er ins Bett geht. Das Gefühl, eine vertraute Person bei sich zu haben, tut ihm sicher gut. Seine Mitbewohner interessieren mich an diesem Einzugstag noch nicht wirklich, ich nehme sie kaum wahr. In diesem Moment sehe ich im Tunnelblick nur ihn, für den ich mich jetzt verantwortlich fühle.

Als ich gehe, habe ich ein Déjà-vu. Genau so habe ich mich gefühlt, als ich meinen Ältesten zum ersten Mal allein im Kindergarten zurückgelassen habe.

»Machen Sie sich nicht verrückt«, hat die Erzieherin damals zu mir gesagt, als mein Kind weinend am Fenster stand und mir »Mama, Mama!« hinterherrief. »Sobald Sie außer Sichtweite sind, lacht er wieder.« Sie hat recht behalten.

Reißbrett? Scheißbrett!

Ich schlafe schlecht in dieser ersten Nacht. Schweißgebadet werde ich immer wieder wach, geplagt vom schlechten Gewissen. War es die richtige Entscheidung? Wird die Entwurzelung die Demenz nicht beschleunigen? Vielleicht geistert mein Vater jetzt durch die Flure des Wohnbereichs auf der Suche nach irgendeiner vertrauten Stimme oder einem bekannten Gesicht.

Vielleicht hat er wieder einen seiner Albträume, die mich meine Kindheit und Jugend über begleitet haben wie dunkle Schatten. Gruselig war das, wenn meine Schwester und ich mitten in der Nacht wach wurden durch die Schreie aus dem Elternschlafzimmer nebenan. Laut, kaum verständlich und mit angstverzerrter Stimme rief mein Vater Wortfetzen in die Dunkelheit, Flüche, Hilferufe, Beschimpfungen.

»Du Drecksau! Satan! Luzifer! Lass mich in Ruhe!«

Dazwischen leise die beschwichtigende Stimme meiner Mutter, die versuchte, ihn zu wecken, ihn zu retten aus seiner unterbewussten Not. Manchmal kuschelten wir Kinder uns aneinander, hielten uns die Ohren zu und warteten, bis der Spuk vorbei war. Am nächsten Morgen erschien der nächtliche Schrecken immer harmlos, er wurde sogar beim Frühstück fröhlich thematisiert.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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