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Heike Abidi

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Beschreibung

Das schönste Gefühl der Welt Die erste große Liebe vergisst man nicht. Das erste Mal mit Schmetterlingen im Bauch aufwachen, der erste Kuss mit echten Gefühlen – und meistens auch das erste Mal Liebeskummer: Das hinterlässt Spuren im Herzen! Die Autoren dieses Bandes erzählen 28 berührende und aufregende Geschichten über diesen Ausnahmezustand. Da tätowiert sich ein liebestoller Zehnjähriger den Anfangsbuchstaben seiner Angebeteten auf den Arm, ein junges Mädchen verliert das Herz an einen Popstar, ein besorgter Vater tut alles, um den ersten Freund der Tochter zu vergraulen. Und manch einer hat sogar das Glück, die erste große Liebe niemals zu verlieren ... Ein Buch wie eine Liebeserklärung an die Liebe selbst!

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VORWORT

Vom Himmel, der Hölle und dem wahren Glück

Als ich meine erste Liebe kennenlernte, war ich sechs Jahre alt. Wir waren beide in der ersten Klasse und ich weiß noch, wie wir uns bei einem Klassenausflug die ganze Zeit an den Händen hielten. Für mich war sofort klar, dass ich verliebt war, auch wenn die Phase damals nicht lange andauerte. Aber das Gefühl war urvertraut, so sehr, dass es mir vorkam, als sei es schon da gewesen, bevor ich auf die Welt kam. Und ich wurde ein Teil davon.

Erstmals bewusst aufgefallen ist mir das durch einen Film; ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Er hieß Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, ein alter deutscher Film von 1955, und er lief in zwei Teilen auf dem Schwarz-Weiß-Röhrengerät meiner Großeltern. Der Müllerssohn, einst von einem dunklen Schurken seinen Eltern geraubt, aber von einer Fee stets beschützt, kommt, ganz wie es das Schicksal vorgesehen hat, an das königliche Schloss, wo er auf Prinzessin Adelheid trifft. Adelheid! Für mich war dieser Name seitdem die Verkörperung von allem Wundervollen auf dieser Welt. Im Film hatte sie dunkle, lange Haare, fast schwarze Augen und ein wundervolles Lachen – hach! Sie war unwiderstehlich. Ihre Schönheit schien makellos, ihr Wesen ohne jeden Fehler und in ihrer Gegenwart musste alles andere in Bedeutungslosigkeit versinken.

Adelheid war schwer krank und nur die drei goldenen Haare des Teufels konnten sie heilen. Sie im Krankenbett zu sehen, brach mir fast das Herz. Der Held, dem geweissagt worden war, dass er sie sowieso einst heiraten würde, machte sich daraufhin auf den Weg in die Hölle. Ich selbst hätte es nicht anders gemacht. Er traf dort auf den Teufel persönlich, raubte unter Einsatz seines Lebens die Haare und kehrte ins Schloss zurück. Adelheid wurde gesund. Ein nur unter Tränen zu genießendes Glück.

Zu meinem Kummer ist es mir nie gelungen, den Film wieder ausfindig zu machen; er scheint verschollen zu sein.

Bei meiner »realen« Liebe war es insofern anders, als dass mir eine Zeitlang, so etwa bis zu meinem 14. Lebensjahr, alle zwei bis drei Jahre eine Prinzessin Adelheid zu begegnen pflegte. Es blieb allerdings immer beim Schmachten und Träumen, daher wusste ich nie, wie sie in Wirklichkeit war. Aber jede meiner Adelheids war immer die Schönste und die Einzige, der Gipfel des Denkbaren.

Leider beruhte das nicht immer auf Gegenseitigkeit. Das kann die Liebe verdammt schmerzhaft machen. Umgekehrt hat es mich auch immer geschmerzt, wenn ich eine Liebe nicht erwidern konnte. Es gibt leider Menschen, in die kann man sich einfach nicht verlieben, so nett sie auch sind und so sehr sie sich auch bemühen. Tja ja.

Gefühle sind deshalb etwas so Merkwürdiges, weil sie mit dem Verstand nicht zu begreifen sind, geschweige denn zu lenken. Als Wissenschaftler können wir sie beobachten und ihre Auswirkungen beschreiben, Biochemiker mögen sogar ihre chemische Entsprechung im Gehirn nachweisen können. Aber sobald wir sie analysieren, berauben wir sie ihrer eigentlichen Qualität. Die Einzigen, die sich am ehesten den Gefühlen nähern können, ohne sie zu zerstören, sind die Dichter. Deshalb gehört das Interpretieren von Gedichten bis heute zu den grauenhaftesten Aufgaben, die Schüler ertragen müssen – etwas mit dem Verstand auseinanderklamüsern, was sich ebendiesem völlig entzieht.

Auch Tiere haben Gefühle, je höher entwickelt, desto differenzierter. Elefanten können intensiv trauern, Hunde können beleidigt sein, Bären kugeln sich vor Vergnügen, bis hin zu der berühmten Affenliebe. Wir Menschen sind biologisch gesehen ja nichts anderes als Tiere und evolutionär höherstehend nur insofern, als wir einen weiterentwickelten Cortex besitzen, eben jene »grauen Zellen«, mit denen wir Gedankenleistungen vollbringen können, die selbst unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, zeitlebens rätselhaft bleiben dürften. Gleichwohl werden diese Hirnbereiche maßlos überschätzt, denn wenn wir von überwältigenden Gefühlen gebeutelt werden, nützt uns unser Verstand gar nichts. Ich wundere mich regelmäßig, wie viele Menschen – auch sehr kluge – immer noch denken, sie hätten mit ihrem Verstand alles im Griff.

Gefühle sichern jedoch unser Überleben. Sie wirken, bevor wir zu denken beginnen. Das Gefühl der Angst hat sich nicht entwickelt, um uns zu quälen, sondern um zu signalisieren, dass wir uns in Sicherheit bringen sollten, weil Gefahr droht. Das Gefühl der Wut ist nicht dazu da, um uns gegenseitig zu vernichten, wohl aber, um uns zu wehren. Das Gefühl des Ekels schützt uns vor Vergiftungen. Das Gefühl der Trauer brauchen wir, um Abschied zu nehmen. Das Gefühl der Freude zeigt uns, was uns guttut. Und auch das Gefühl der Liebe ist nicht zu unserer Unterhaltung da. Liebe befähigt uns, dauerhafte Bindungen einzugehen. Ohne dauerhafte Bindungen gibt es keine Geborgenheit, keine Familien, keine Kinder, keine Zukunft.

Manche meinen, bei der ersten großen Liebe dächte man an solch weitreichende Dinge doch gar nicht. Dem ist auch so – aber nicht, weil es keine Rolle spielt, sondern weil das Denken dabei, wie gesagt, weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Das Programm, das untergründig und unausweichlich abläuft, ist aber das gleiche und je unbeschriebener wir sind, desto unverbrauchter und ungebremster ist es. Die geballte Kraft unserer Liebesbereitschaft steht in den Startlöchern und sobald es einen Auslöser gibt, bricht der Damm.

Liebe ist ein Zustand, der unzurechnungsfähig macht und uns völlig abdrehen lässt. Er erzeugt zuweilen regelrechte Krankheitssymptome wie Schlaflosigkeit, fehlenden Appetit, Konzentrationsstörungen, Herzklopfen, Atembeschwerden, Zittern, Schwitzen, von einer gewissen Blutleere im Hirn ganz zu schweigen. Im Zustand der Liebe sind Menschen buchstäblich bereit, bis in die Hölle abzusteigen, denn in der Liebe scheint es immer möglich, die drei goldenen Haare zu erlangen, die alles gut, alles möglich machen.

Gerade die erste Liebe hat daher etwas ebenso Bedingungsloses wie Naives. Denn in vielen Fällen wird sie enttäuscht. Dies ist keine Absicht; kein Mensch will sich gern unglücklich machen. Aber das Bild, in das wir uns verlieben, entspricht oft nicht dem Menschen, der sich dahinter verbirgt. Es fehlen die leidvollen Erfahrungen, die wir alle machen, und die uns mit der Zeit lehren, dass nicht jede Liebe funktioniert, so stark sie auch sein mag. Daher ist auch der Glaube, dass die Liebe alles in Ordnung bringen kann, noch weitgehend ungetrübt.

Liebe allein genügt aber nicht. Wenn es gut läuft, lernen wir irgendwann, die Signale zu erkennen, die drohen, uns unglücklich zu machen. Das klappt aber meistens erst bei der zweiten, dritten, vierten Liebe. Wenn wir Glück haben, ist es auch schon mal die erste.

Es ist eine gut dokumentierte Erkenntnis der Psychologie, dass Liebe und Geborgenheit mindestens in den ersten zwei Lebensjahren essenziell wichtig sind. Erlebt ein Kind diese Nähe zu den Eltern als irgendwie unterbrochen, infrage gestellt, ambivalent, fängt irgendwann das Gefühl der Angst an, sich mit dem der Liebe zu verbinden. Unbestimmte Zweifel, ob es so was wie zuverlässige Liebe und Geborgenheit überhaupt geben kann, beginnen, das Unbewusste (das für menschliches Agieren weitaus wichtiger ist als jeder bewusste Gedanke) zu kontaminieren. Und so entwickelt das Kind schließlich eine Angst vor Nähe, einerseits vor künftigen Enttäuschungen, andererseits ausgerechnet vor der Liebe, die zu funktionieren droht – denn nur die macht verletzbar. Die Liebe, die mit ziemlicher Sicherheit scheitern wird, ist dagegen gefahrlos – man muss sich ja gar nicht darauf einlassen. Aber viel öfter erscheint gerade das Aussichtlose faszinierend und verführerisch, weil es an das erinnert, was in der verunsicherten kindlichen Seele gespeichert ist. Diese Liebe suggeriert zudem, die Enttäuschung von früher könnte nun endlich ungeschehen gemacht werden und das Märchen zum ersehnten, erfüllten guten Ende kommen.

Junge Frauen verlieben sich deshalb immer wieder nicht in gute Männer, sondern in bad boys, und haben ein aufregendes Leben vor sich, wenn sich das nicht ändert. Und ein einsames. Mit bad boys kann man keine ernsthafte Beziehung führen, ebensowenig wie mit lost girls. Jene bösen Buben sind in Wirklichkeit nämlich verletzte Jungs, auch wenn sie ungemein cool, männlich, selbstbewusst und charmant daherkommen. Das hat mit dem biologischen Alter noch nicht einmal etwas zu tun; es gibt kleine Jungs, die fünfzig Jahre alt sind. Ebenso sind die unnahbaren, kalten Frauen, die man nicht erobern kann, verletzte Mädchen, lost girls, deren Seele im unzugänglichsten Turm der dornenbewachsenen Burg wohnt. Da kann der tapferste Ritter machen, was er will, er wird sich daran ordentlich die Zähne ausbeißen, endlos Liebeslieder unter dem Balkon der Geliebten zur Laute trällern um am Ende doch gescheitert, verbeult und zerstochen den Rückzug anzutreten. Für Liebende wirken solch belastete Menschen aber oft ungemein interessant, erregend und faszinierend, wogegen die unbelasteten Menschen vergleichsweise für langweilig gehalten werden.

Wenn man Songs von heute hört und sich ein wenig mit Musikgeschichte befasst, entdeckt man schnell, dass sich inhaltlich seit jeher praktisch nichts geändert hat. Bereits im Mittelalter handelten die Lieder fast nur von Liebe, Lust, Enttäuschung und wieder neuer Liebe. Es scheint sich schon immer alles darum gedreht zu haben; andere Themen sind vergleichsweise peripher. Besonders nah und seelenverwandt erscheint natürlich der Sänger, der den gleichen Frust besingt, der uns selbst gerade so piesackt. Dann fühlen wir uns mit unserem Kummer nicht ganz so allein.

Am spannendsten ist deshalb die Liebe, die unerfüllt ist. Würden wir uns für Romeo und Julia noch immer so sehr interessieren, wenn sie sich gekriegt hätten, einen Stall voll Kinder gehabt hätten und in einem hübschen Häuschen am Stadtrand uralt geworden wären? Womöglich eher nicht. Außerdem ist das ja spießig. Und wenn die auch in jeder guten Beziehung unvermeidlichen Auseinandersetzungen und Streitereien stattgefunden hätten, wäre das viel zu unromantisch.

Daher ist es oftmals das Unerledigte, das eine so lange Dauer hat. Es wirkt wie die ersehnte Fortsetzung einer berührenden Geschichte, die auf dem Höhepunkt der Emotionen unterbrochen wurde – nur dass diese Fortsetzung nicht kommt und stattdessen immer wieder in der eigenen Seele stattfindet.

Erste Lieben halten oft ein ganzes Leben, gerade wenn sie nie wirklich stattgefunden haben. Wir können uns wehmütig ausmalen, was alles gewesen wäre, wenn nur dieses und jenes ein bisschen anders gelaufen wäre. Daher schneiden reale Frauen und Männer im Vergleich zu den Lichtgestalten der eigenen Fantasie so schlecht ab.

Erste Lieben halten aber auch deshalb ein ganzes Leben, weil sie schlicht und einfach eine wunderschöne Episode unseres Lebens sind. Sie sind unverdorben durch die seit der Kindheit enttäuschten, resignierten »Realisten«, die allzu oft aus ihrer Not eine Tugend machen, indem sie ihre Bindungsangst zum Lebensstil erklären. Der ganze »Iih-wie-spießig«-Kram und all die »modernen« Überzeugungen, die in der Zunahme von Alleinerziehenden und Patchwork-Familien einen Fortschritt sehen, erwarten in Wahrheit hinter jeder Beziehung die Enttäuschung und haben jeglicher Romantik abgeschworen, weil sie das Gelingen einer echten Liebe letztlich nicht für möglich halten. Doch warum sollte der Frust von einigen zur Doktrin für alle werden?

Liebe ist keine Illusion. Gerade die erste Liebe hält die dauerhafte Liebe für möglich. Sie sieht die geliebte Frau als Königin und den geliebten Mann als König; jeder möchte dem anderen als Zeichen der Verehrung dienen. Das ist gut so. Liebende sollten sich verehren, ungeachtet aller Fehler, die jeder Mensch hat. Und sehen die Liebenden die Liebe nicht als eine selbstverständliche Bringschuld, sondern als ein aus freiem Herzen gegebenes Geschenk, so ist sie wohl der wunderbarste Reichtum, den wir kennen. Daher verdient die erste Liebe, auch wenn sie vielleicht nicht funktioniert hat, noch zu früh war, um Dauer zu haben, oder sich als Illusion erwiesen hat, einen großen Platz in unserem Herzen. Und auch eine zweite Liebe kann am besten gelingen, wenn wir uns so viel wie möglich von der Unschuld und Reinheit unserer ersten Liebe bewahren.

KAPITEL 1

Frühlingserwachen: Für die große Liebe ist man nie zu jung

Sätze wie »Davon verstehst du noch nichts« oder »Dafür bist du noch zu klein« mögen vielleicht passen, wenn es um Nanotechnologie geht, um altgriechische Versmaße oder um den Irrsinn, der sich tagtäglich auf den globalen Finanzmärkten abspielt, aber keineswegs, wenn von Liebe die Rede ist. Denn dieses Gefühl ist angeboren.

Man muss nichts von neuronalen Botenstoffen wissen, um die berühmten Schmetterlinge im Bauch zu spüren, plötzlich außer peinlichem Gestammel nichts mehr von sich geben zu können und von einem Zwei-Sekunden-Blick in die Augen Herzrasen zu bekommen. Das passiert einfach. Manchmal sogar schon im Sandkasten.

Erwachsene mögen das albern finden (grobe Fehleinschätzung) oder goldig (fast noch schlimmer), aber Tatsache ist: Gefühle sind eine ernste Sache. Und sie unterliegen keiner Altersbeschränkung. Übrigens gilt das für beide Seiten der Skala …

Für immer und ewig

Auf den Bergen des Atlasgebirges lagen noch Schneereste, aber hier im Tal war der Winter vorbei und der Boden endlich trocken genug, um wieder Fußball zu spielen.

Oh, wie hatte Hakim diesen Tag herbeigesehnt! Genauso wie seine Freunde. Es war ungewöhnlich mild, fast zwanzig Grad, und die Jungs beeilten sich noch mehr als sonst mit den Hausaufgaben, um endlich losziehen zu können.

Hakim brachte den Ball mit. Lässig hatte er ihn unter den Arm geklemmt, doch wenn es darauf angekommen wäre, hätte er darum gekämpft wie ein Löwe. Der Ball war sein wertvollster Besitz. Und natürlich wagte es niemand, ihn ihm streitig zu machen.

Sie trafen sich an der Kreuzung. Latif, Malik, Lounis, Rashid, Faruq und die anderen. Trikots hatten sie nie besessen und doch trugen sie alle das gleiche Dress: Baumwollshorts, verwaschene T-Shirts, Sportsocken und Sneakers, die freilich weder so genannt wurden noch ein Markenlogo trugen. Doch das war alles unwichtig.

Wichtig dagegen war die Frage, wo sie künftig ihr Spielfeld abstecken sollten. Denn der Platz, den sie jahrelang dafür genutzt hatten, existierte nicht mehr. An der Stelle war in den letzten Monaten gebaut worden und jetzt stand genau dort, wo Hakim im letzten Sommer so viele Treffer erzielt hatte, ein neues Haus.

»Blöde Baracke«, schimpfte er, als sie daran vorbeitrotteten. Dabei war es alles andere als das. Im Gegenteil, der Neubau war wirklich beeindruckend mit seinen schönen Ornamentfliesen am Sockel, den strahlend blau lackierten Klappläden, der hübschen Sitzbank neben dem Eingangstor und der riesigen Dachterrasse.

Rashid schnaubte verächtlich.

Lounis spuckte bestätigend aus.

Malik schüttelte nur den Kopf.

Die anderen taten so, als existierte das Haus überhaupt nicht. Wortlos stapften sie daran vorbei.

Ganz so leicht war es nicht, ein freies Stück Land zu finden, das einigermaßen flach war und auf dem nicht allzu viel störendes Gestrüpp wuchs. Aber sie fanden eins. Markierten die Tore mithilfe von Stöcken und kratzten mit den Fersen die Seitenlinien in den Staub. Und schon konnte es losgehen …

Beim Kicken vergaß Hakim alles um sich herum. Die Schule, die Hausaufgaben, die Ermahnung seiner Mutter, nicht zu spät heimzukommen. Erst als Karim und Latif sagten, sie müssten nun langsam los, fiel ihm das wieder ein. Weil ihm der Ball gehörte, machten auch die anderen Schluss und gemeinsam marschierten sie zurück ins Dorf. Vorbei an dem Haus.

Rashid schnaubte wieder, Lounis spuckte aus, Malik schüttelte den Kopf.

Hakims Wut war inzwischen fast völlig verraucht. Eigentlich. Der neue Platz gefiel ihm mindestens so gut wie der alte und er lag auch nur wenige Minuten weiter außerhalb. Mehr aus Gewohnheit murmelte er »Bruchbude« vor sich hin, als sie den Neubau passierten. Während er das tat, wanderte sein Blick unwillkürlich hinüber. Und da sah er sie.

An diesem Abend konnte Hakim nicht einschlafen, obwohl er vom vielen Rennen eigentlich todmüde hätte sein müssen. Und diese Schlaflosigkeit hatte auch nichts mit dem schnupfenbedingten Röcheln seines kleinen Bruders oder dem Zähneknirschen seines großen Bruders zu tun, mit denen er sich ein Schlafzimmer teilte.

Sondern nur mit ihr.

Es gelang ihm mühelos, sich ihr Bild in Erinnerung zu rufen. Als hätte es sich in sein Gehirn gebrannt. Ihr wundervoll schokoladenbraunes Haar, das ihr in leichten Wellen über die Schultern und fast hinunter bis zu den Hüften fiel. Ihr goldbrauner Teint. Ihre mandelförmigen Augen. Ihre langen Beine. Die schmalen Füße. Ihr gazellenartiger Gang. Ihr unergründliches und zugleich so bezauberndes Lächeln …

Hatte er geträumt oder hatte dieses Lächeln wirklich ihm gegolten? Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Hakim wagte kaum, es zu hoffen. Aber insgeheim tat er es doch. Von ganzem Herzen. Denn er wusste in diesem Moment, dass er nie eine andere lieben würde. Sie oder keine. Und wenn sie nichts von ihm wissen wollte, dann würde er eben allein bleiben bis ans Ende seiner Tage. So viel war klar.

Er zog niemanden ins Vertrauen. Natürlich nicht. Mit wem hätte er über seine Gefühle reden können?

Faruq, seit der ersten Klasse sein Banknachbar und noch viel länger sein bester Freund, verstand auch ohne Worte, was los war. Zum Glück tat er so, als wäre es nichts Besonderes, dass er ihm wie nebenbei die Informationen lieferte, die Hakim so dringend erfahren wollte.

Sie hatte vorher mit ihrer Familie in einem anderen Stadtteil gewohnt und die dortige Schule besucht. Sie hatte einen älteren Bruder. Sie war, genau wie Hakim selbst, zehn Jahre alt. Und sie hieß Habiba.

Es hätte keinen passenderen Namen geben können, fand Hakim. Denn er bedeutete »die Geliebte«.

Habiba saß nachmittags gern auf der Bank vor dem Haus und las. Wenn Hakim und die Jungs auf dem Weg zu ihrem neuen Fußballplatz vorbeikamen, konnte er ihren Anblick genießen. Besonders gut gefiel ihm, wenn sie mit einer anmutigen Bewegung eine störende Haarsträhne hinters Ohr strich. Dann machte sein Herz jedes Mal einen Extraschlag.

Einmal saß sie sogar noch da, als sie sich auf den Rückweg machten, und schaute kurz auf. Ihre Blicke begegneten sich und für einen kurzen Moment stand die Welt still. Dann nickte sie unmerklich. Oder genauer gesagt: fast unmerklich. Denn Hakim registrierte diese winzige Bewegung natürlich ganz genau. Und er hatte eine Ahnung – eigentlich war es mehr eine Hoffnung –, was damit gemeint sein könnte. Denn daran, dass Habiba ihm etwas mitzuteilen versuchte, zweifelte er keine Sekunde.

Und so nickte er zurück. Ebenso zaghaft wie sie, sodass nur sie es überhaupt registrierte.

Die Jungs diskutierten noch immer Maliks übertriebenen Körpereinsatz, den die einen für ein grobes Foul und die anderen für vorbildlichen Kampfgeist hielten. Für Habibas Schönheit hatten sie keinen Blick, für Hakims Reaktion darauf ebenso wenig. Zu seiner großen Erleichterung.

Nach dem Abendessen unternahm Hakim zu ersten Mal in seinem Leben einen Verdauungsspaziergang. Jedenfalls war das sein Alibi. Seine Eltern schienen keinen Verdacht zu schöpfen. Seine Geschwister stritten schon über das Fernsehprogramm. So konnte er sich unbemerkt aus dem Staub machen.

Er nahm nicht den direkten Weg. Das wäre zu auffällig gewesen. Auch wenn ihn vermutlich niemand beobachtete. Doch er ging lieber auf Nummer sicher und schlenderte durch die Straßen, bis er wie zufällig an ihrem Haus vorbeikam. Und ebenso zufällig war das genau der Moment, in dem sie den Müll rausbrachte.

Die Abfalleimer standen am hinteren Ende des Grundstücks, unter einem Olivenbaum. Hakim nahm einen anderen Weg dorthin. Weil der ein bisschen weiter war, sprintete er los, sodass er noch vor ihr dort war und den Deckel der Tonne für sie aufhalten konnte.

»Danke«, sagte sie und lächelte schüchtern.

»Bitte«, erwiderte er und sein Herz schlug dabei schneller als bei seinem Spurt.

Dann standen sie noch ein bisschen nebeneinander unter dem Olivenbaum, bis Habiba schließlich erklärte, sie müsse jetzt wieder reingehen.

»Okay«, meinte Hakim und schaute ihr hinterher, bis sie um die Ecke verschwand.

Ohne sich ausdrücklich dafür verabredet zu haben, wiederholten sie diese Begegnung am nächsten Abend. Und am übernächsten. Und an jedem weiteren Abend dieses unvergesslichen Sommers.

Ihre Gespräche blieben einsilbig. Nicht ganz so knapp wie beim ersten Mal, aber über ein paar Bemerkungen das Wetter, die Schule oder ihre jeweiligen Lieblingsessen betreffend ging es nie hinaus. Es blieb auch kaum Zeit für mehr, denn Habibas Eltern durften natürlich keinen Verdacht schöpfen.

Aber diese wenigen Minuten, die sie allabendlich miteinander hatten, machten ihn so glücklich, wie er es sich noch vor ein paar Wochen nie hätte träumen lassen.

Habiba war die Liebe seines Lebens, daran zweifelte er keine Sekunde. Eines Tages würde sie seine Frau werden. Sie würden in einem Haus mit wunderschönen Ornamentfliesen und blauen Fensterläden wohnen und hätten selbst Kinder, die allesamt so hübsch waren wie Habiba und so pfeilschnell rennen konnten wie er.

Am liebsten hätte er ihr einen Verlobungsring geschenkt. Aber natürlich fehlten ihm dafür die Mittel. Und außerdem war es vollkommen unangebracht für zwei Zehnjährige, sich zu verloben. Die anderen Kinder würden sie auslachen. Und die Erwachsenen … nun, er malte sich lieber nicht aus, was die dazu sagen würden. Erwachsene neigten ja ohnehin dazu, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen.

Es würde also so bald nichts werden aus der Sache mit der Verlobung. Aber er sehnte sich nach einem Zeichen. Einem Symbol dafür, dass er sie liebte und auch in Zukunft lieben würde. Für immer und ewig.

Die Idee überkam ihn im Mathematikunterricht. Als er mit dem Zirkel herumspielte und sich fast an dessen Spitze stach. Er betrachtete den Abdruck. Und dann seinen Füllfederhalter. Und so langsam reifte der Plan …

Vielleicht hätte er noch einen Rückzieher gemacht, wenn er sich alles etwas länger durch den Kopf hätte gehen lassen. Doch er wollte die Sache rasch durchziehen. Außerdem war es viel, viel zu heiß zum Grübeln …

Faruq entdeckte ihn hinter der Schulmauer im Schatten. Hakim hatte sein Hemd ausgezogen und eine Nadel in der Hand. In der anderen hielt er ein Tintenfässchen.

Er hatte noch nicht angefangen, als sein Freund sich neben ihm niederließ. Der schien genau zu ahnen, was er vorhatte, und stellte den verwegenen Plan auch nicht infrage. »Den ganzen Namen?«, wollte er nur wissen.

Hakim war sich nicht sicher. Auch nicht, ob er das in der schwierigen arabischen Schrift hinbekäme. Und dann auch noch auf dem Kopf – sonst würde nur er es richtig lesen können und nicht die ganze Welt.

»Nein, nur den Anfangsbuchstaben«, beschloss er. Das H. In lateinischer Druckschrift. Das sah wenigstens von beiden Seiten gleich aus.

Er begann mit dem Querstrich. Vorsichtig tunkte er die Nadel in die Tinte, dann bohrte er sie zaghaft in die sonnengebräunte Haut seines linken Oberarms.

Es tat überraschend weh.

»Noch kannst du aufhören«, kommentierte Faruq.

»Kommt nicht infrage«, widersprach Hakim und machte weiter.

Er gewöhnte sich an den Schmerz. Bei den zwei langen, senkrechten Strichen war er nicht mehr so zögerlich und stach sogar fester zu. Und dann war das H fertig. Sein Liebes-Tattoo. H wie Habiba für immer und ewig.

Für immer und ewig würde auch diese Tätowierung auf seinem Arm bleiben. Man würde sie dort bestaunen können, bis Habiba und er alt und grau waren. Alle würden sie sehen …

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Ja, alle würden sehen, was er getan hatte – auch seine Eltern. Und sie würden nicht begeistert sein!

Den Rest des Nachmittags verbrachte Hakim mit dem Versuch, das H wieder zu entfernen. Mit Wasser, das rein gar nicht half. Mit Schleifpapier, das höllisch wehtat. Und, auf Faruqs Rat hin, auch mit heißem Öl, das brannte wie Feuer. Es bildeten sich Brandblasen, aber das Tattoo verschwand nicht. Nur der Mittelbalken, bei dem er noch zaghaft zugestochen hatte, verblich ein wenig. Das H aber war weiterhin deutlich zu erkennen und ist es noch heute.

Die Sorge, seine Eltern könnten entdecken, was er getan hatte, war übrigens unbegründet. Die Ärmel seiner T-Shirts verdeckten es. Vermutlich haben sie nie davon erfahren.

Was sie aber sehr wohl mitbekamen, waren die heimlichen Treffen mit Habiba. So etwas gehörte sich nicht, fanden seine Eltern ebenso wie ihre. Und das war das Ende seiner ersten großen Liebe.

In den nächsten Jahren war er froh, dass auch sein eigener Vorname mit einem H begann. So konnte er jedem, der danach fragte, eine glaubwürdige Erklärung für sein Tattoo liefern.

Viele Jahre später lernte er die Frau kennen, die tatsächlich die Liebe seines Lebens wurde – und er die ihre. Sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Habiba. Aber auch ihr Vorname beginnt mit einem H.

Das Mädchen aus dem Wolga V12

Damals konnte man noch mit dem Auto auf den Schulhof fahren. Heute blockieren rot-weiße Pfosten die Zufahrt und nur der Hausmeister und die Feuerwehr können diese unnützen Dinger aushebeln. Aber damals, damals konnte jeder einfach bis vor den Eingang der Aula fahren, wo wir Jungs Fußball spielten und die Bank vor dem Lehrerzimmer als Tor benutzten.

Dieser Wagen fuhr also einfach zwischen uns und parkte unser Tor zu. Ich konnte mich in der schwarz-metallenen Karosse widerspiegeln. Ich sah in dem gebogenen Fenster viel muskulöser aus als in echt und kam mir plötzlich auch so vor. Noch nie hatte ein Wagen direkt vor unserem Tor geparkt. Und noch nie so ein Auto – eines, das ich nicht kannte. Und wenn sich einer mit Autos auskannte, dann ich. Ich kannte nicht nur jede Marke, sondern auch das genaue Modell. Kapitän P 2,6. Käfer 1302. Taunus 26M. Ich kannte sie alle. Aber ein Auto wie dieses hatte ich noch nie gesehen. Es war größer als der Volvo meines Vaters. Flacher, schwarzer. Und – stattlicher. Das war es: eine Staatskarosse. Oder so was ähnliches.

Der Tennisball wanderte unter meiner Schuhsohle von links nach rechts, ich hatte die Arme verschränkt und die Jungs standen um mich rum. Ich war fast zwölf und dieses Terrain, der Ball, die Bank, die Pause gehörten mir und meinen Freunden. Egal, ob Staatskarosse oder Käfer.

Als die Tür hinter dem Fahrer aufschwang, setzte plötzlich die Zeitlupe ein und Schalmeien erklangen. Der Himmel riss auf und sendete einen gebündelten Strahl Göttlichkeit auf das graue Pflaster unseres Schulhofs. Dem Innern des fremden Vehikels entstieg ein Wesen aus Licht und Leichtigkeit. Ein blondes, nicht zu beschreiben hübsches, berückend entzückendes, schmerzhaft atemberaubendes Mädchen – ach, Fee, Grazie, Engel, Venus, nein: Göttin – stellte sich neben das Auto, legte eine Hand auf die Autotür und sagte Hallo. Ihre Stimme war so rein wie das erste Lüftchen an einem Frühlingsmorgen. So natürlich wie das Öffnen einer Rosenknospe im Sonnenlicht. So überdimensional anziehend wie ein Elektromagnet für Schrauben.

Dann stieg ihr Vater aus oder zumindest der Mann, der den Wagen gesteuert und vor unserem Tor geparkt hatte. Er trug sein schwarzes Haar zu einem Seitenscheitel gekämmt, einen grauen Zweireiher und so schicke Schuhe, wie man sie in Detmold nie zuvor (und nie danach) gesehen hatte.

»Wo geht’s hier zum Direktor, Jungs?«, fragte dieser Mensch mit einer Stimme wie Max aus Hart aber herzlich und dem Gesicht von Lex Barker. Er schaute mich dabei an, denn ich muss ihm (zu Recht) wie der Anführer vorgekommen sein. Immerhin hatte ich den Ball. Aber ich konnte ihm nicht antworten. Ich wusste nur, dass eine neue Dimension in unsere Kleinstadt Einzug gehalten hatte und dass es nie wieder so sein würde wie zuvor.

Die Pausenklingel holte mich aus meiner Erstarrung. Wie in Die Zeitmaschine wandelte ich von fremden Kräften gezogen in die Höhle der Verdammnis. Mathe bei Herrn Enge. Schon in der Sexta hatte ich eine Fünf bei ihm gehabt. Aus Goodwill, wie er gesagt hatte. Er war nämlich auch Englischlehrer. Mittlerweile hatte ich allerdings sämtlichen Goodwill aufgebraucht, musste in der ersten Reihe sitzen und versuchte, Vektorrechnung zu begreifen. Doch an diesem Tag begriff ich nichts mehr. Denn plötzlich ging die Tür auf und sie trat ein. Neben ihr der Direktor, diese Witzfigur, die auch noch Schönstelz hieß. Ehrlich.

»Das ist Marie, eure neue Mitschülerin. Bitte nehmt sie freundlich auf.« Dann legte dieser grässliche Mensch seine Hand auf Maries goldblond glänzendes Haar und sagte: »Marie, viel Erfolg hier. Mach deinen Eltern keinen Kummer und halte dich von den Jungs in der letzten Reihe fern.« Dann sah er mich in der ersten Reihe sitzen. »Und teilweise auch von denen in der ersten Reihe.« Dabei guckte er mich verächtlich an.

Ich tat, als müsste ich gähnen. Dann traf mich zum ersten Mal Maries Blick. Ihre Augen waren blau wie das Meer und der Himmel zusammen. Klar wie Kristall chinesischer Vasen der Ming-Dynastie und erschütternd wie das Beben von Pompeji, das die Stadt im Jahr 79 nach Christi für immer auslöschte.

Wir mussten so viel Stuss in der Schule lernen, dass ich gar nicht mehr klar denken konnte.

Seltsamerweise störte ich ausnahmsweise mal nicht den Unterricht und benahm mich wie jemand, der wirklich an Mathe interessiert ist. Zum ersten Mal, seit ich auf dem Gymnasium war, wollte ich ein guter Schüler sein. Und kein Querulant, Clown oder Kasper. Ich wollte nicht, dass mich Marie für einen Idioten hielt. Sie strahlte etwas Wohlerzogenes aus. Etwas Intelligentes. Sie hatte eine so souveräne Art an sich, dass ich auf gar keinen Fall weniger souverän wirken durfte. Ich wollte nicht nur der Anführer der Chaosjünger sein – so hieß meine Bande –, sondern der Anführer aller Schüler.

Auch in der nächsten Stunde, Erdkunde bei Frau Kaatz, benahm ich mich wie ein ganz normaler Junge. Ich warf keine Knete an die Tafel, gab keine Tierlaute von mir und rauchte nicht heimlich Tabak aus Kakaotüten wie sonst. Nur im Sportunterricht konnte ich mich nicht ganz zurückhalten. Aber da ich der beste Fußballer der Klasse war, fiel ich hier zum ersten Mal vor Maries Augen positiv auf.

Dann war dieser erste Schultag mit Marie vorüber. Ich holte mein Bonanzarad aus dem Fahrradkeller unter der Aula und suchte sie. Ich musste sie noch einmal sehen. Mehr über sie erfahren. Was genau ich machen würde, wenn ich sie fände, wusste ich nicht. Ich hatte die Schule schon dreimal durchkämmt, als ich sie schließlich sah. Sie stand am Ende des Parkplatzes, mindestens zweihundert Meter von mir entfernt. Mein Herz schlug bis zum Hals. Sie stieg erneut in diese Nobelkarosse und verschwand für die unendlich lange Zeit bis zum nächsten Morgen.

Ich radelte nach Hause, schlang mein Essen herunter und fuhr sofort zu meinem besten Freund Nils, der leider auf der Realschule gelandet war. Nils, die treue Seele, sprang auf sein Skateboard und gemeinsam suchten wir die ganze Stadt ab, um mehr über Marie zu erfahren. Aber niemand konnte uns Auskunft geben. Niemandem war die schwarze Staatskarosse aufgefallen.

Beim Abendessen fragte mich meine Mutter, was mit mir los sei, ich wäre so aufgeregt und fahrig. Ob es schon wieder Stress in der Schule gäbe. Stress? Nein. Nicht im klassischen Sinne.

Am nächsten Morgen kam ich zum ersten Mal zu früh zur Schule. Ich schoss mit dem Tennisball immer wieder gegen die Mauer an der Haupteinfahrt, da, wo Marie am Tag zuvor aus dem schwarzen Auto gestiegen war. Doch bis zum Gong war von der Staatskarosse nichts zu sehen. War sie etwa nur für einen Tag bei uns gewesen? Und schon wieder zurück an dem Ort, aus dem sie gekommen war, weil ihre Familie Detmold genauso scheiße fand wie ich?

Als ich in die Klasse lief, saß Marie schon auf ihrem Platz. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Fahrradhelm. Ich war aber auch zu blöd. Natürlich hätte ich ahnen können, dass sie nicht jeden Tag von ihrem Vater in die Schule gebracht werden würde.

Wieder benahm ich mich besser als sonst. Versuchte sogar, mich am Unterricht zu beteiligen, und war plötzlich ein halbwegs gelehriger Schüler.