Vampir on the Rocks - Lynsay Sands - E-Book

Vampir on the Rocks E-Book

Lynsay Sands

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Beschreibung

Vampire kommen selten allein

Seit fast einem Jahrhundert ist Ildaria Garcia auf der Flucht, denn sie zieht Ärger magisch an. Jetzt haben ihre Eskapaden als einsame Rächerin die Aufmerksamkeit der anderen Vampire geweckt! Schon wieder muss sie in eine neue Stadt ziehen - wo sie sich schon bald in den Armen eines großen, tätowierten Muskelpakets wiederfindet. Clubbesitzer Joshua Giscard bedeutet Gefahr, dessen ist sie sich sicher. Doch das Feuer zwischen ihnen brennt heiß, und ihr wird schnell klar, dass Joshua ihr Lebensgefährte ist. Als Ildarias Feinde sie aufspüren, müssen sie sich beide ihren Dämonen stellen, um nicht alles zu verlieren ...

"Romantic-Fantasy-Fans werden diese Geschichte über unsterbliche Liebe und Hingabe geradezu verschlingen!" LIBRARY JOURNAL

Band 31 der erfolgreichen Vampirserie um die liebenswerte Argeneau-Familie

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Seitenzahl: 525

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Prolog

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Lynsay Sands bei LYX

Impressum

LYNSAY SANDS

Vampir on the rocks

Roman

Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander

Zu diesem Buch

Seit fast einem Jahrhundert ist Ildaria Garcia auf der Flucht, denn sie zieht Ärger magisch an. Als sie einen FBI-Agenten aus den Fängen von Verbrechern befreit, wird Lucien Argeneau auf sie aufmerksam. Er könnte sie dafür hinrichten lassen, dass sie das Geheimnis der Unsterblichen aufs Spiel gesetzt hat, beschließt jedoch Gnade walten zu lassen und holt sie nach Toronto. Aber an ihrer neuen Uni ist Ildaria im Nullkommanix wieder in Schwierigkeiten, denn sie kann schließlich nicht einfach wegsehen, wenn unschuldige Menschen überfallen werden. Als Lucien ihr auch noch verbietet, nach Sonnenuntergang auf dem Campus zu sein, ist ihre Stimmung auf dem Tiefpunkt angelangt. Doch bei einem Botengang für eine schwangere Freundin trifft sie auf Clubbbesitzer »G. G.« Joshua Giscard. Der tätowierte, muskelbepackte Hüne (mit dem niedlichsten Hündchen der Welt) entfacht ein nie gekanntes Feuer in ihr. Aber es gibt ein Problem: G. G. hat sich geschworen, sich niemals von einer unsterblichen Gefährtin wandeln zu lassen. Als Ildarias Vergangenheit sie schließlich einholt, müssen sie sich beide ihren Dämonen stellen oder alles verlieren …

Prolog

Schmerz holte Jack aus der Bewusstlosigkeit zurück, ein bis in die Knochen reichender Schmerz, der seinen ganzen Körper erfasste und ihn das Gesicht verziehen ließ, noch bevor er überhaupt die Augen aufgemacht hatte. Bedauerlicherweise wurde alles nur noch schlimmer dadurch, dass er das Gesicht verzog, also bemühte er sich um eine ausdruckslose Miene, um zumindest diese Schmerzen zu lindern. Dann endlich schlug er die Augen auf. Das wiederum bewirkte ein erneutes Aufflammen der rasenden Schmerzen, doch diesmal ignorierte er sie und zwang sich, aus verquollenen Augen einen Blick auf die dunkle Umgebung zu werfen, in der er sich befand. Fantasievolle Graffiti waren mit Leuchtfarbe an die Wände gemalt worden. Doch er wusste, dass sich um ihn herum noch mehr befand, nur leuchtete das nicht im Dunkeln. Was das war, hatte er sehen können, als er das letzte Mal bei Bewusstsein gewesen war, denn da hatten seine Kidnapper Lampen mitgebracht, um für Licht zu sorgen. Er hatte auch die Risse in den Bodenkacheln wahrgenommen, auf denen der Stuhl stand. Jedenfalls ging Jack davon aus, dass dies das letzte Mal gewesen war, dass er sein Bewusstsein wiedererlangt hatte. Wo er sich befand, vermochte er dennoch nicht zu sagen. Er war bewusstlos hergebracht worden als Folge eines Hakens, den er abbekommen hatte, da er es an Aufmerksamkeit hatte fehlen lassen. Die war auf Lacy gerichtet gewesen, weil man ihr eine Waffe an den Kopf gehalten hatte.

Kaum hatte er an sie gedacht, hörte er ein leises Wimmern vom anderen Ende des Raums. Er drehte den Kopf so weit zur Seite, dass er Lacy sehen konnte. Sie lag zusammengerollt gegen die Wand gelehnt da. Diese Körperhaltung und die jämmerlichen Laute, die sie von sich gab, hatten ihm schon Sorge bereitet, als er zum ersten Mal bewusstlos geworden war. Er hatte befürchtet, dass die Entführer ihr in der Zwischenzeit etwas angetan haben könnten, doch das war nicht der Fall. Ihre Reaktion war darauf zurückzuführen, dass sie Angst hatte, was Jack nur zu gut verstehen konnte, denn als Traumdate hatte sich das Ganze eindeutig nicht entpuppt. Dennoch hätte er gern auf ihr Schluchzen und Jammern verzichten können, das sie von sich gegeben hatte, als die Männer auf ihn einprügelten.

Es hatte in ihm den Wunsch geweckt, ihr eine Ohrfeige zu verpassen, denn schließlich war er derjenige, der die Schläge einstecken musste. Und trotzdem hatte sie sich so angehört, als wäre sie diejenige, auf die so brutal eingeprügelt wurde. Seufzend machte er für einen Moment die Augen zu und dachte daran, dass seine Partnerin Deedee längst seine Fesseln gelöst und mit ihm Seite an Seite gekämpft hätte, um hier rauszukommen. Aber das war nicht Deedee, sondern Lacy, die man weder gefesselt noch geschlagen hatte. Sie lag noch immer dort, wo sie von den Männern hingelegt worden war, als man sie herbrachte. Seit er das erste Mal das Bewusstsein wiedererlangt und festgestellt hatte, dass sie beide allein waren, war es ihm einfach nicht gelungen, diese Frau davon zu überzeugen, dass sie aufstehen und ihm helfen sollte. Sie war so verängstigt, dass sie ihm nicht einmal zuhören wollte. Sie war sogar so verängstigt, dass sie nicht mal in der Lage war, ihr eigenes Leben zu retten, von seinem ganz zu schweigen. Er wünschte, er hätte einfach weitergekämpft, anstatt in dem Moment zu kapitulieren, als man ihr eine Waffe an den Kopf gehalten und damit gedroht hatte, ihr das Hirn wegzupusten, wenn er sich nicht sofort ergab.

Zu dem Zeitpunkt hatte Jack noch geglaubt oder zumindest gehofft, dass er sie beide früher oder später in Sicherheit würde bringen können, wenn er sich zunächst einmal ergab. Der Gedanke war ihm lieber gewesen als die Aussicht darauf, mit ansehen zu müssen, wie man sie ermordete. Jetzt allerdings standen die Chancen zu entkommen denkbar schlecht, und er fragte sich, ob er nicht besser weitergekämpft hätte und dabei das Risiko eingegangen wäre, dass sie tatsächlich erschossen wurde. Dann hätte wenigstens einer von ihnen überlebt, und mal ehrlich: Wenn sie nicht mal einen Fluchtversuch unternahm, verdiente sie dann überhaupt, das hier zu überleben?

Bei diesen Gedanken regte sich Jacks schlechtes Gewissen. Lacy war nur eine Lehrerin und nicht so wie er ein FBI-Agent. Sie war schließlich nicht darin ausgebildet, mit gefährlichen Situationen und extremem Stress umzugehen. Und bedauerlicherweise besaß sie allem Anschein nach auch nicht den geringsten Überlebensinstinkt. Jack war Agentinnen gewohnt, die sich jeder Situation stellten und sie in aller Regel auch bewältigten. Dabei war es ausgerechnet die Hilflosigkeit dieser Frau gewesen, die sie für ihn so anziehend gemacht hatte. Sie war ihm wie eine richtige Dame erschienen, wie eine empfindliche Blume, mit der man behutsam umgehen musste. Genau davon hatte er sich so sehr angezogen gefühlt … was er spätestens jetzt bereute. Lieber Himmel, selbst zarte Rosen hatten Dornen, um sich zu wehren, ging es ihm durch den Kopf, als er Lacy ein weiteres Mal schwach wimmern hörte.

Er presste die Lippen zusammen, obwohl es ihm Schmerzen bereitete, und sah sich im Raum um, immer auf der Suche nach irgendetwas, mit dem sie sich aus dieser misslichen Lage befreien konnten. Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, doch es half ihm nicht weiter. Dummerweise hatten ihre Kidnapper nicht versehentlich irgendetwas liegen gelassen, das er als Waffe oder zumindest als Mittel hätte gebrauchen können, um sich von seinen Fesseln zu befreien. Dies war einfach nur ein großer, leerer Raum, in dem sich nichts weiter befand als der Stuhl, auf dem er saß. Das wenige Licht schien von den Straßenlaternen herein, hatte aber Mühe, sich durch die Dreckschicht auf den Fenstern zu kämpfen. Vermutlich war das hier irgendein altes, aufgegebenes staatliches Gebäude, oder es handelte sich um eines der leerstehenden Gebäude auf dem Universitätsgelände oder in dessen unmittelbarer Umgebung. Er verfolgte den Gedanken nicht weiter, da er nicht von Bedeutung für ihn war. Schließlich war es völlig egal, wo sie sich befanden, wenn er sich nicht befreien und sich und Lacy in Sicherheit bringen konnte. Jacks Blick wanderte wieder zu ihr, da sie abermals leise wimmerte. Gerade wollte er einen weiteren Versuch unternehmen, sie davon zu überzeugen, von hier zu verschwinden und Hilfe zu holen, damit wenigstens sie sich in Sicherheit bringen konnte. Doch in diesem Augenblick verkündete das Knarren rostiger Scharniere, dass die Tür geöffnet wurde und ihre Kidnapper zurückgekehrt waren.

»Du bist ja wach, wie ich sehe.«

Jack überlegte, ob er die Augen zumachen und so tun sollte, als sei er wieder bewusstlos geworden, aber er bezweifelte, dass man ihm das abnehmen würde. Stattdessen hob er den Kopf und sah trotzig den Mann an, der mit ihm gesprochen hatte. Grizzly Adams hatte er ihn insgeheim getauft, weil dessen Haar und Bart von so üppigem Wuchs waren, dass sich der Name geradezu anbot. Vier Männer folgten ihm, weitere vier Männer verteilten sich an den Fenstern und behielten die Umgebung im Auge. Jack vermutete, dass sie auf diese Weise sichergehen wollten, dass sich niemand unbemerkt dem Haus näherte, der seine Schmerzensschreie gehört hatte.

»Euer Boss ist immer noch nicht da?«, fragte er eher ketzerisch als aus Neugier. Allerdings konnte er damit keinen wirklichen Eindruck schinden, da er nur mühsam reden konnte, weil sein Mund stark angeschwollen und sein Kiefer vermutlich gebrochen war.

»Nö. Er wurde noch aufgehalten«, meinte Grizzly Adams grinsend. »Das sind doch schöne Neuigkeiten, oder nicht? Auf die Weise können wir beide noch ein bisschen länger miteinander spielen.« Damit meinte Grizzly Adams, dass er mit seinen großen fleischigen Fäusten weiter auf Jacks Gesicht und Oberkörper eindreschen konnte, während der wehrlos dasaß und nicht zu schreien versuchte, bis er vor Schmerz wieder ohnmächtig wurde. Für Jack waren das alles andere als schöne Neuigkeiten. Da wäre es ihm fast schon lieber gewesen, wenn endlich dieser Boss aufgekreuzt wäre – ganz gleich, wer dieser Typ sein mochte – und seinem Leben ein Ende gesetzt hätte, falls er mit ihm nicht noch etwas ganz anderes vorhatte.

Es war ziemlich offensichtlich, dass er das hier nicht überleben würde. Und in diesem Fall wäre es ihm lieber, wenn es bald vorüber war. Allerdings hätte er doch ganz gerne noch erfahren, um was es hier eigentlich ging. Grizzly Adams hatte ihm darauf nur geantwortet, dass der Boss ihm das persönlich erzählen wollte. Zweifellos hing diese Aktion in irgendeiner Weise mit seinem Job zusammen. Vermutlich war dieser Boss irgendwann mal seinetwegen im Gefängnis gelandet, oder Jack hatte einen engen Verwandten von ihm hinter Gitter gebracht. In jedem Fall wäre es schön zu erfahren, aus welchem Grund man ihn umbringen wollte.

Jack verlor den Faden in dem Moment, als Grizzly Adams ihm mit solcher Wucht die Faust in den Oberkörper rammte, dass sich der Schmerz so schlimm anfühlte, als hätte er ihm noch eine Rippe gebrochen. Verdammt, der Kerl hatte Fäuste so hart wie Bowlingkugeln. Er stöhnte vor Schmerz gequält auf, doch Lacy schrie so durchdringend, als wäre sie selbst getroffen worden. Der Gedanke wurde aber gleich wieder verdrängt, als ihn der zweite Schlag traf, der den bereits gebrochenen Kiefer zum Ziel hatte. Sein Kopf wurde brutal nach rechts herumgerissen, und einen Moment lang sah er nur noch Sterne. Er konnte seine Umgebung schon wieder klar genug wahrnehmen, als gleich darauf eine Tür am anderen Ende des Raums aufgerissen wurde. Mit unglaublichem Schwung flog sie auf und knallte so hart gegen die Mauer, dass der Lärm einer Explosion gleichkam. Staub und Dreck wurden aufgewirbelt, sodass eine Wolke aufstieg, die zum Teil die Sicht auf die Gestalt nahm, die in der Tür stand. Zuerst glaubte Jack noch, dass »der Boss« eingetroffen war, doch dann legte sich der Staub. Im Schein der Straßenlaterne vor der Tür konnte er die Silhouette einer Frau ausmachen, einer sehr kurvenreichen Frau darüber hinaus. Zwar hätte das nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Frau nicht der Boss sein konnte, aber die Reaktion der Männer um ihn herum ließ schnell erkennen, dass dort nicht der Boss in der Tür stand. Für ein paar Sekunden hatten sie vor Anspannung und Schock wie erstarrt dagestanden, wurden dann aber gleich wieder entspannter und fingen sogar an zu lächeln.

»Na, Jungs, seht mal, was wir da haben«, sagte Grizzly Adams mit einem boshaften Grinsen auf den Lippen. »Noch jemand, mit dem wir spielen können. Tja, der Boss hat zwar gesagt, dass wir die Finger von der Lehrerin lassen sollen. Aber es war keine Rede davon, dass wir auch jede ungezogene Frau in Ruhe lassen müssen, die unser Spielfeld betritt.«

Jack stutzte, als er diese Bemerkung hörte. Er konnte sie nicht allzu deutlich erkennen, aber durch den Lichtschein, der sie umgab, schien sie ihm mehr ein Engel als eine ungezogene Frau zu sein. Dann jedoch bewegten sich die Männer auf die Unbekannte zu. Als der erste Mann bei ihr angekommen war, verwandelte sich der Engel in eine Dämonin. Zum Teufel, wie rasend schnell sie sich bewegt, dachte Jack zutiefst beeindruckt, als sie aus ihrer reglosen Pose heraus mit der Schnelligkeit eines tasmanischen Teufels nach dem Angreifer trat. Der wurde mit solcher Wucht am Kopf getroffen, dass er einen Satz in die Luft machte, nach hinten geschleudert wurde und hart auf dem Boden aufschlug. Jack entging nicht, dass der Mann völlig reglos liegen blieb. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau und sah, wie die anderen Männer auf sie zustürzten. Ganz offensichtlich gefiel ihnen nicht, was sie ihrem Komplizen angetan hatte, und nun wollten sie Rache nehmen. Doch statt Rache zu üben, erwartete sie alle ein gleichermaßen harter Tritt, in dessen Folge sie auf die gleiche Weise Bekanntschaft mit dem Fußboden schlossen wie der bewusstlose erste Angreifer. Die Frau schickte die Männer einen nach dem anderen zu Boden, was mit einer Schnelligkeit vonstattenging, der Jack nicht mehr folgen konnte. Unwillkürlich verzog sogar er den Mund, als er hörte, wie Knochen zerbrachen, und mit ansehen musste, wie ein Schädel nach dem anderen auf die rissigen Kacheln donnerte. Als die Frau fertig war, regte sich in diesem Raum nichts mehr, und es war auch kein Laut mehr zu hören. Selbst Lacy hatte aufgehört zu wimmern.

»Atmen.« Das Wort war kaum mehr als ein Flüstern, das aus der Mitte des Raums zu ihm vordrang, wo die Frau stehen geblieben war. Dennoch konnte Jack es laut und deutlich vernehmen. Nur dadurch wurde ihm bewusst, dass er tatsächlich gebannt den Atem angehalten hatte. Er holte tief Luft und hörte, dass auch Lacy angestrengt nach Luft schnappte. Die Frau ließ er keine Sekunde aus den Augen. Da sie jetzt nicht mehr von hinten von der Straßenlampe beschienen wurde, konnte er sie besser erkennen, wenngleich noch immer nicht klar und deutlich. Zumindest konnte er sehen, dass sie ihre dunklen Haare nach hinten zu einem Knoten verschlungen trug und dass alles, was sie am Körper trug, aus schwarzem Leder war – die hochhackigen Stiefel, die hautenge Hose und auch die knappe Jacke, deren Reißverschluss weit genug aufgezogen war, dass darunter ein schwarzes Ledermieder zu erkennen war. Jedes Teil trug nur dazu bei, ihre umwerfend gute Figur noch mehr zu betonen. Die Frau war die wandelnde Sünde, dachte Jack, während sie ein Handy aus der Jackentasche zog und eine Nummer einzutippen begann. Nur drei Ziffern. Sehr wahrscheinlich 9-1-1, überlegte er und hörte sie leise in das Mikrofon sprechen. Dann beendete sie das Gespräch und steckte das Telefon wieder ein.

»Hilfe ist unterwegs«, sagte sie im gleichen Flüsterton wie zuvor, was es für ihn sehr schwierig machte, den winzigen Akzent zu bestimmen, der in ihren Worten mitschwang. Wortlos machte sie kehrt und verließ das Gebäude durch die Tür, durch die sie hereingekommen war. Als sie nach draußen ging, fühlte es sich so an, als würde an ihrer Stelle ein Vakuum zurückbleiben, das alle Luft in sich aufsog. Zumindest kam es Jack so vor, während sich die Dunkelheit um ihn herum zusammenzuziehen begann. Als letzten Gedanken vor dem Einsetzen der nächsten Bewusstlosigkeit fasste er den Entschluss, dass er herausfinden musste, wer dieser rettende Engel gewesen war.

1

»Professor Straithe ist spät dran.«

»Sí, aber das ist er ja immer«, betonte Ildaria, während sie den Notizblock und einen Stift aus ihrem Rucksack holte, den sie dann neben ihrem Platz auf den Boden stellte.

»Ja, aber heute Abend hat er so richtig Verspätung«, erwiderte Lydia und fügte dann noch hinzu: »Noch fünf Minuten, dann ist er schon eine Viertelstunde über der Zeit. Wenn er bis dahin nicht kommt, gehen wir. Dann fällt der Unterricht nämlich aus, und wir können in eine Bar oder woandershin gehen.«

Ildaria zuckte lediglich mit den Schultern, schlug ihren Notizblock auf und blätterte bis zum nächsten freien Blatt, bevor sie prophezeite: »Eine Minute, bevor die Viertelstunde um ist, kommt er reinspaziert, und dann sitzen wir hier fest. Das hat er in diesem Semester schon ein paar Mal so gemacht.«

»Ja, das stimmt«, musste Lydia ihr enttäuscht beipflichten. In einem verärgerten Tonfall fuhr sie schließlich fort: »Das ist ein Abendkurs, verdammt noch mal. Wir sitzen hier nicht um acht Uhr morgens, also muss er sich nicht aufraffen, um seinen Hintern aus dem Bett zu bewegen. Und trotzdem kommt der Mann immer zu spät.« Sie zog die Augenbrauen zusammen und fügte verbittert hinzu: »Und wenn er endlich hier ist, sind seine Vorlesungen wie immer todlangweilig. Ganz ehrlich, wenn er nicht so fantastisch aussehen würde, dann würde ich ihn dafür hassen.«

Ildaria musste bei diesen Worten leise lachen. Es war zu bezweifeln, dass Lydia überhaupt in der Lage war, irgendwen zu hassen. Dafür war diese Frau einfach viel zu nett, was auch mit ein Grund dafür war, dass Ildaria sie so gut leiden konnte.

»Ooooh, was haben wir denn da?«

Irritiert zog Ildaria die Augenbrauen hoch und folgte Lydias Blick nach oben in die letzte Reihe des Vorlesungssaals. Dort standen zwei Männer an der Tür, beide groß und muskulös, beide in schwarze T-Shirts, schwarze Jeans und schwarze Lederstiefel gekleidet. Von der Statur her hätten sie Zwillinge sein können, doch das Gesicht des nordisch Blonden war fein geschnitten, wohingegen der andere ein eher gröberes Gesicht hatte. Trotzdem sahen beide zum Anbeißen aus, aber sie strahlten auch Gefahr aus, während sie so dastanden und die Reihen scheinbar nach jemandem absuchten.

»Keine Bücher, keine Taschen … das können keine Studenten sein«, stellte Lydia fest und starrte die Männer an. »Aaah, vielleicht sind die zwei ja neue Lehrassistenten.« Vermutlich überlegte sie bereits, ob sie die beiden für Nachhilfeunterricht ansprechen sollte.

Leise seufzend murmelte Ildaria vor sich hin: »Oder blutsaugende putas, die hergekommen sind, um jemanden zu exekutieren.«

»Was?«, fragte Lydia amüsiert und drehte sich zu ihr um.

Ildaria schüttelte nur den Kopf und sah die beiden Männer an, während sich ihre Gedanken überschlugen. Sie wusste genau, wer die beiden waren: Valerian und Tybo waren Vollstrecker. Oder Abtrünnigenjäger, wie ihresgleichen sie bevorzugt nannten. Die waren so etwas wie die Unsterblichenausgabe der Polizei, ausgesandt vom Rat der Unsterblichen, um abtrünnige Unsterbliche aufzuspüren, die sich gesetzeswidrig verhalten hatten. Jemand wie Lydia hätte sie wohl eher als Vampirjäger bezeichnet, wäre ihr etwas von der Existenz der Unsterblichen bekannt gewesen. Doch davon wusste Lydia nichts.

»Was machst du denn da?«, fragte Lydia verwundert, als sie sah, dass Ildaria nach ihrer Tasche griff und den Reißverschluss aufzog. »Du kennst diese Typen doch nicht etwa, oder?«

Ildaria antwortete nicht, sondern steckte in aller Eile Notizblock und Stift ein.

»Aber ja, du kennst sie!« Vor wachsender Begeisterung schnappte Lydia nach Luft. »Oh! Dann musst du mich unbedingt mit ihnen bekanntmachen.«

»Glaub mir, die willst du nicht näher kennenlernen. Die bedeuten nur Ärger«, gab Ildaria mürrisch zurück. Sie fragte sich, ob man sie wohl auf der Stelle hinrichten würde oder ob sie erst noch auf ein Verfahren vor dem Rat warten musste, ehe man ihrem Leben ein Ende setzte.

»Die meisten interessanten Männer bedeuten nur Ärger«, versicherte Lydia ihr und begann ebenfalls ihre Sachen zu packen, als wollte sie sich ihr anschließen.

Ildaria vergeudete gar nicht erst noch Zeit damit, sie davon zu überzeugen, dass sie ihr nicht folgen sollte. Stattdessen sah sie sie an und sagte: »Du bleibst hier.« Gleichzeitig drang sie in den Geist der jungen Frau ein und redete ihr ein, dass sie genau das wollte. Als Lydia daraufhin aufhörte zu packen und ihre Konzentration auf das Pult ganz vorne richtete, stand Ildaria auf, hängte sich den Rucksack über die Schulter und schob sich an den rechts von ihr sitzenden Studenten vorbei, bis sie die Treppe erreicht hatte. Zügig ging sie nach oben und wahrte eine ausdruckslose Miene, da sie wusste, dass die Männer sie jetzt sahen. Sie wollte ihnen nicht die Genugtuung geben, ihr Sorge und Angst ansehen zu können. Tybo und Valerian sagten kein Wort, als sie sich ihnen anschloss. Sie gingen lediglich links und rechts von ihr in Position und eskortierten sie aus dem Saal und durch die Korridore Richtung Ausgang.

Erst als sie draußen angekommen waren und den düsteren Weg entlanggingen, der zum Parkplatz führte, sagte Tybo: »Du konntest der Versuchung wohl nicht widerstehen, nicht wahr?«

Instinktiv wollte sie den Kopf einziehen, um in Deckung zu gehen, doch sie drückte energisch die Schultern durch und erklärte: »Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich habe mich nicht falsch verhalten.«

»Du hast mal wieder Rächerin gespielt«, hielt er ihr vor.

»Habe ich nicht«, versicherte Ildaria ihm.

»Jemand hat auf Video festgehalten, wie du einen Kerl durch die Gegend wirbelst, der doppelt so groß ist wie du«, ließ Valerian sie wissen und schaltete sich damit in die Unterhaltung ein. »Das Video wurde auf Twitter oder Instagram oder wo auch immer hochgeladen, wo Mortimer es dann entdeckt und Lucian gezeigt hat.«

Vor Schreck über diese Neuigkeit schnappte sie nach Luft, beteuerte aber erneut: »Ich habe nicht Rächerin gespielt.« Da sie nicht wusste, welcher Zwischenfall gefilmt worden war, fügte sie vage hinzu: »Ich ging nach der Vorlesung zu meinem Wagen, als ich eine Frau schreien hörte. Also habe ich versucht ihr zu helfen. Was hätte ich denn tun sollen? Einfach weghören?«

»Ja«, antwortete Tybo aufgebracht.

Weil sie ihren Ohren nicht trauen wollte, blieb sie stehen und sah ihn ungläubig an. »Du hättest also einfach weggehört, wenn eine Frau um Hilfe gerufen hätte?«

Tybo wich ihrem Blick aus und verriet ihr damit alles, was er ihr nicht sagen wollte. Schließlich sah er sie aber wieder an. »Okay, vielleicht hätte ich tatsächlich nicht weghören können, aber ich wäre verdammt noch mal vorsichtig genug gewesen, um mich von niemandem filmen zu lassen.«

Ildaria wollte etwas darauf erwidern, doch dann vernahm sie den Hilferuf einer Frau, hielt inne und schaute in die Richtung, aus der die Stimme zu ihnen drang. Entsetzt sah sie am anderen Ende des Parkplatzes eine junge Frau, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, in einen Van gezerrt zu werden. Ildaria brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie soeben Augenzeugin einer Entführung wurde, dann rannten Tybo und Valerian auch schon los. Mit der Schnelligkeit eines Unsterblichen, die der eines jeden normalen Menschen weit überlegen war, jagten die beiden über den Parkplatz.

Fast wäre sie ihnen gefolgt, doch Tybos Worte hallten noch in ihrem Kopf nach: Ich wäre verdammt noch mal vorsichtig genug gewesen, um mich von niemandem filmen zu lassen. Ihr Blick wanderte über den Parkplatz, und sie stellte fest, dass sich außer ihr noch ein paar Studenten auf dem Parkplatz des Gebäudes aufhielten. In unmittelbarer Nähe der Gebäude tummelten sich sogar noch mehr Studenten, manche ganz allein, manche in Begleitung und andere in kleineren Gruppen. Einige von ihnen hatten sich in Bewegung gesetzt, wohl um zu Hilfe zu eilen, ließen jedoch davon ab, als sie sahen, wie Tybo und Valerian herbeigeeilt kamen. Andere wiederum hatten bereits ihre Handys gezückt und hielten sie hoch. Ein paar von ihnen machten vermutlich nur einen Schnappschuss, während andere zweifellos das Geschehen mitfilmten. Das war die Welt von heute, dachte Ildaria kopfschüttelnd. Eine Welt, die durch Telefone mit Kamerafunktion völlig auf den Kopf gestellt worden war. Auf einmal musste sie erneut an Tybos Worte denken.

»Ich wäre verdammt noch mal vorsichtig genug gewesen, um mich von niemandem filmen zu lassen.«

Sie schnaubte leise, blieb aber, wo sie war, und zog stattdessen ihr Handy aus der Tasche, um ebenfalls zu filmen. Als der aufregende Teil abgeschlossen war und Tybo und Valerian den Entführer der Polizei übergeben hatten, wurde die junge Frau noch von Sanitätern versorgt. Ildaria hatte ihr Handy längst wieder eingesteckt und stand gegen den schwarzen Van der Vollstrecker gelehnt da, um auf die beiden zu warten. Sie wusste, dass es ihr Wagen war, weil er das Kennzeichen RogueH4 hatte, eine Abkürzung für Abtrünnigenjäger Nr. 4. Als die zwei bei ihr ankamen, sagte sie lächelnd: »Sieh an. Ihr könnt also auch keine Frau ignorieren, die um Hilfe ruft.«

»Ja, ja«, murmelte Tybo und sah Valerian missmutig an. Dann holte er den Wagenschlüssel aus der Tasche und betätigte die Fernbedienung, um die Türen des SUV zu entriegeln.

»Habt ihr eigentlich mitbekommen, von wie vielen Leuten ihr gefilmt worden seid?«, fragte sie dann. Beide Männer blieben abrupt stehen, drehten sich um und ließen den Blick über den Parkplatz schweifen. Viele Augenzeugen, die die Szene gefilmt hatten, waren inzwischen gegangen, die meisten davon in dem Moment, als die Campus-Polizei eingetroffen war. Aber ein paar waren immer noch da und hielten ihre Smartphones hoch, um weiterzufilmen.

»Verdammt«, knurrte Tybo.

Valerian seufzte und sagte: »Du nimmst dir die zwei da rechts vor, und ich werde …«

»Macht euch gar nicht erst die Mühe«, unterbrach Ildaria die beiden. »Mindestens einmal ist das jetzt schon im Netz.« Als die Männer sie erschrocken ansahen, lächelte sie honigsüß. »Ich habe bei meinem Video Lucian Argeneau markiert. Bestimmt guckt er es sich gerade jetzt an.«

»Ach, verdammt«, grummelte Tybo.

»Jetzt wisst ihr wenigstens, wie es mir ergangen ist«, sagte sie in finsterem Tonfall, wandte sich ab und stieg in den SUV ein. Wann die zwei ihr folgen wollten, war ihnen überlassen. Nachdem sie den Gurt angelegt hatte, schaute sie aus dem Fenster und sah, dass die beiden Männer immer noch neben dem Wagen standen, jetzt aber ihre Smartphones in der Hand hielten. Offenbar suchten sie schon nach dem Video. Als Ildaria sie fluchen hörte, mussten sie wohl eines der hochgeladenen Videos entdeckt haben.

Sie stieß einen leisen Seufzer aus und ließ sich nach hinten gegen den Sitz sinken. Sie konnte nur abwarten, bis die zwei sich wieder beruhigt hatten, damit sie sie zu Lucian brachten. Seltsamerweise schienen sie es nicht mehr so eilig zu haben wie zuvor, als sie sie unbedingt aus dem Hörsaal hatten holen müssen.

Die Fahrt zum Haus verlief sehr schweigsam und war begleitet von zahlreichen wütenden und vorwurfsvollen Blicken in ihre Richtung.

»Ildaria! Wie schön dich wiederzusehen!«

Sie lächelte unschlüssig, als sie von Samantha Mortimer mit diesen Worten begrüßt wurde, gleich nachdem Tybo und Valerian sie ins Haus der Vollstrecker gebracht hatten. Wie erstarrt stand sie da, als die andere Frau sie umarmte … bis Sam ihr zuflüsterte: »Es wird alles gut werden.« Sie entspannte sich ein wenig und erwiderte die Umarmung. Als Sam sich ein Stück weit zurücklehnte, um ihr ins Gesicht zu sehen, brachte Ildaria sogar ein ehrliches Lächeln zustande. Sie war sich nicht sicher, ob tatsächlich alles gut werden würde, doch zumindest konnte sie dank Sams Worten darauf hoffen.

»Lucian und Garrett warten im Büro«, sagte Sam, nachdem sie sie aus der Umarmung entlassen hatte. Sie sah Tybo und Valerian an und fügte hinzu: »Sie erwarten euch alle drei.«

Ildaria musste sich auf die Lippe beißen, als sie die beiden Männer aufstöhnen hörte und sah, dass sie sich finstere Blicke zuwarfen.

Sam grinste nur amüsiert und ließ sich von den düsteren Mienen der Männer nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen hakte sie sich bei Ildaria unter und führte sie durch den Korridor. »Und? Hast du dich bei Marguerite schon eingelebt?«

»Ja, gut sogar«, antwortete Ildaria und drängte für den Moment ihre Sorgen in den Hintergrund. »Marguerite ist sehr nett.«

»Ja, das ist sie wirklich«, bestätigte Sam fröhlich, wurde aber gleich darauf wieder etwas ernster, als sie hinzufügte: »Aber ich hoffe, sie lässt es locker angehen. Sie und Julius waren ja so am Boden zerstört, nachdem sie das letzte Mal ihr ungeborenes Kind verloren hatte. Ich möchte nicht miterleben, dass das noch mal passiert.«

Ildaria drehte sich abrupt zu ihr um. »Marguerite ist schwanger?«

»Ja, aber das solltest du ihr gegenüber vielleicht besser nicht erwähnen. Sie hat es noch nicht allen erzählt. Ich weiß es auch nur, weil Lucian mit Mortimer gesprochen und ihn angewiesen hat, ihr keine stressigen Aufgaben zu übertragen, bis das Baby da ist«, erklärte Sam mit gesenkter Stimme. »Vor ein oder zwei Jahren war sie auch schwanger, hat aber das Kind verloren. Lucian ist davon überzeugt, dass es etwas mit Stress zu tun hatte, deshalb sollen wir alle dafür sorgen, dass sie diesmal davon verschont bleibt.«

»Aha«, machte Ildaria nachdenklich. Sie lebte jetzt seit über einem Monat bei der Frau und hatte bislang nichts von den anderen Umständen bemerkt, in denen sie sich befand. Allerdings war ihr aufgefallen, dass Marguerite ungewöhnlich viel Blut trank, was jetzt einen Sinn ergab, da eine schwangere Unsterbliche das tun musste, um ihr Kind austragen zu können.

»Genau genommen«, redete Sam weiter, »ist Lucian so darauf fixiert, keinerlei Stress an Marguerite heranzulassen, dass du besser bei uns geblieben wärst, als sie dich von Montana hergebracht hatten. Ich hätte dagegen nichts einzuwenden gehabt. Aber Marguerite hatte bereits Wind von deiner besonderen Situation bekommen, sodass sie darauf bestand, dich bei ihr einzuquartieren. Sie war in Sorge, dass dein Aufenthalt bei uns für Unbehagen sorgen könnte. Sie meinte, die Zellen da hinten könnten von dir als ständige Bedrohung wahrgenommen werden für den Fall, dass du dich danebenbenimmst.«

Ildaria verzog den Mund, als sie das hörte, denn sie war jetzt hier, weil sie sich wieder einmal Ärger eingehandelt hatte. Und vermutlich würde sie deswegen in einer der Zellen landen, die Sam soeben angesprochen hatte.

»Es wird schon gut ausgehen«, versicherte Sam ihr noch einmal und tätschelte ihren Arm. »Und da wären wir auch schon.« Ildaria sah sich um und stellte fest, dass sie das Büro von Garrett Mortimer erreicht hatten – oder auch einfach nur Mortimer, denn jeder redete Sams Ehemann nur mit dem Nachnamen an.

Offiziell war Mortimer der Chef der unsterblichen Vollstrecker in Nordamerika, die oft auch als Abtrünnigenjäger bezeichnet wurden. Aber Lucian Argeneau als Chef des nordamerikanischen Unsterblichenrats steckte seine Nase oft in Mortimers Angelegenheiten und untergrub so dessen Position. Genau das schien auch jetzt der Fall zu sein, überlegte Ildaria, als sie sah, dass es Lucian mit den eisblonden Haaren war, der in Mortimers Sessel an Mortimers Schreibtisch saß, während der dunkelhaarige Ehemann von Sam auf der Tischkante kauern musste. Die beiden Männer mussten bis gerade eben über irgendetwas geredet haben – vermutlich über sie – und waren verstummt, als sie hereingekommen waren.

»Wenn du hier fertig bist, kannst du in der Küche vorbeischauen, da stehen Brownies und eine Tasse Kakao bereit«, sagte Sam unbekümmert, während sie Ildarias Arm losließ und sie in das Büro schickte. Die schlanke Brünette ignorierte den finsteren Blick, den Lucian ihr zuwarf, und zog sich in den Flur zurück, damit Tybo und Valerian ebenfalls eintreten konnten.

»Setzt euch«, sagte Lucian energisch, nachdem die drei sich vor dem Schreibtisch aufgebaut hatten, als seien sie ungezogene Kinder, die im Büro des Schuldirektors antanzen mussten. Ildaria setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten stand und zufälligerweise auch der mittlere der drei Stühle auf dieser Seite des Schreibtischs war, sodass Tybo und Valerian gezwungen waren, links und rechts von ihr Platz zu nehmen.

Kaum saßen sie, drehte Lucian sein Notebook zu ihnen herum, damit sie auf den Bildschirm sehen konnten. Was sie dort zu sehen bekamen, war ein Standbild, das Tybo und Valerian zeigte, wie sie im Rennen begriffen waren. Beide Männer wollten sofort etwas zu ihrer Verteidigung vorbringen, doch Lucian hob eine Hand und bedeutete ihnen zu schweigen. Als dann auch kein Ton von ihnen kam, tippte er auf eine Taste und startete die Wiedergabe. Schweigend sahen sie mit an, was sich auf dem Bildschirm abspielte.

Valerian und Tybo rannten so schnell wie Geparden über den Parkplatz, der leider sehr weitläufig war. Trotz ihrer übermenschlichen Geschwindigkeit gelang es dem Fahrer noch, die Frau in seinen Wagen zu zerren, irgendwie außer Gefecht zu setzen und sich hinters Steuer zu setzen, noch bevor die Unsterblichen ihn erreichten. Sie kamen erst in dem Moment bei dem Van an, als der gerade losfuhr. Valerian machte einen Satz wie ein Affe, der vom Boden in einen Baum hochspringt, und lief über das Wagendach nach vorn, wohl um durch das Seitenfenster den Fahrer zu fassen zu bekommen. Diese Aktion erwies sich gleich darauf jedoch als unnötig, da Tybo ihm nicht auf das Dach folgte, sondern die Stoßstange zu fassen bekam und in bester Superman-Manier das Heck weit genug anhob, um den Kontakt zwischen Reifen und Asphalt zu unterbrechen. Der Van kam dadurch nach wenigen Metern mit in der Luft durchdrehenden Reifen zum Stehen. Daraufhin sprang Valerian vom Wagendach, fasste durchs Fenster, um den Zündschlüssel zu ziehen, und zerrte dann den hünenhaften Fahrer nach draußen, den er mit einer Hand in der Luft baumeln ließ. In der Zwischenzeit stellte Tybo den Van ab, öffnete die seitliche Schiebetür und holte die bewusstlose junge Frau heraus. Valerian ließ den Entführer immer noch in der Luft zappeln, und Tybo hatte die junge Frau aus ihrer Bewusstlosigkeit holen können, als die Campus-Polizei am Tatort eintraf.

»Wir wussten nicht, dass sie uns dabei filmt«, platzte Tybo heraus, nachdem Lucian mit einem Tastendruck die Wiedergabe beendet hatte. Der dunkelhaarige Vollstrecker warf Ildaria einen finsteren Blick zu und fügte hinzu: »Ich kann noch immer nicht fassen, dass sie das gemacht hat. Sie weiß ganz genau, dass wir die Aufmerksamkeit anderer Leute nicht auf uns lenken sollen.«

»Das ist nicht Ildarias Video«, stellte Mortimer klar, als Lucian weiter schweigend dasaß. »Das stammt von jemandem, der sich T. O.eyes nennt. Sein Kommentar lautet: Heilige Scheiße! Superman im Doppelpack in Toronto.«

»Oh, Shit«, murmelte Tybo und sank auf seinem Stuhl in sich zusammen.

»Ildaria hat von einer anderen Position aus gefilmt«, redete Mortimer weiter. »Ihr Kommentar lautet: Spezielles Projekt für den Filmkurs. Super Arbeit, Leute! Sieht so gut aus, dass selbst ich es fast für echt gehalten hätte.« Als Tybo und Valerian sie daraufhin völlig überrascht ansahen, zuckte sie nur gereizt mit den Schultern. Ihr hatte es viel mehr Spaß gemacht, die beiden wütend zu erleben. Aber damit war es jetzt vorbei.

»Ich fand, ich sollte ein bisschen Schadensbegrenzung betreiben«, sagte sie, worauf ein langes Schweigen folgte.

Schließlich fragte Valerian ein wenig besorgt: »Das hat doch keine Auswirkungen auf die Verhaftung dieses Drecksacks, der die Frau entführen wollte, oder?«

»Wir haben seine Gedanken gelesen«, ergänzte Tybo gleichermaßen beunruhigt. »Sie war nicht sein erstes Opfer, der Bastard ist ein Serienvergewaltiger. Wenn die Polizei glaubt, dass das alles nur gestellt war …«

»Nein«, unterbrach ihn Lucian mit Nachdruck. »Ich werde dafür sorgen, dass der Mann seine gerechte Strafe bekommt.« Beide Vollstrecker nickten und wandten den Blick von Ildaria zu Lucian, als wollten sie etwas sagen. Ob sie sich für sie einsetzen oder sich dafür bedanken wollten, wie sie ihr Video kommentiert hatte, wusste sie nicht, und sie sollte es auch nicht erfahren, denn Lucian wandte sich an sie und sagte: »Du warst ungezogen, Angelina.«

Ildaria sah den verblüfften Gesichtsausdruck der anderen, als Lucian sie mit diesem Vornamen anredete, doch sie ignorierte es und antwortete hastig: »Ich habe nichts anderes gemacht als das, was Tybo und Valerian auf diesem Video gemacht haben. Ich hatte nur nicht das Glück, dass jemand da war, der für Schadensbegrenzung hätte sorgen können. Ich schwöre, ich habe nicht wie in Montana die Rächerin gespielt. Ich habe weder meine Ledersachen getragen, noch habe ich mich auf die Suche nach irgendwelchen bösen Jungs gemacht, um sie zu Brei zu schlagen. Ich war einfach nur unterwegs, mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, als …« Sie ließ den Satz unvollendet, da die anderen wussten, was passiert war. Insgesamt dreimal war sie anderen Studentinnen zu Hilfe geeilt. Beim ersten Mal war einer Frau die Handtasche gestohlen worden, woraufhin Ildaria den Dieb verfolgt und gestellt hatte, um danach mit ihm und dem Opfer zur Campus-Polizei zu gehen, um Anzeige zu erstatten. Beim zweiten Mal hatte ein volltrunkener Idiot auf seine nicht ganz so betrunkene Freundin eingeprügelt. Auch die beiden hatte sie zur Campus-Polizei gebracht, wo es dann noch nötig gewesen war, die Freundin zu kontrollieren, damit die ihre Aussage machte, weil sie sich ansonsten nicht zu dem Vorfall hätte äußern wollen. Das Ganze war für Ildaria immer noch ein Rätsel, denn kaum hatte sie sich eingemischt, um die Frau zu beschützen, hatte die sich auf die Seite ihres Freundes geschlagen und so getan, als sei Ildaria der Bösewicht. Der dritte und bislang letzte Zwischenfall betraf einen Mann, der einer Studentin während ihrer abendlichen Joggingrunde aufgelauert und sie ins Gebüsch gezogen hatte, um sie zu vergewaltigen. Das musste der Vorfall gewesen sein, bei dem jemand den Übergriff mitgefilmt und ihr dadurch diesen Ärger eingebrockt hatte. Dieser Angreifer war der Einzige, den sie »durch die Gegend gewirbelt« hatte, wie Valerian es zuvor beschrieben hatte.

Ildaria presste die Lippen zusammen. Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie das nicht hätte tun sollen, doch sie war außer sich vor Wut gewesen. Vergewaltiger waren ihre ganz besonderen Hassobjekte, weshalb es ihr auch eine besondere Genugtuung gewesen war, den Mann zu verprügeln und mit seinem Gesicht den Boden zu wischen, bis schließlich die Campus-Polizei eingetroffen war, um den Mann festzunehmen.

Zwar war Ildaria aufgefallen, dass andere etwas von dem Überfall mitbekommen hatten und herbeigeeilt waren, doch dummerweise war ihr nie der Gedanke gekommen, jemand könnte sie gefilmt und das Video gleich darauf hochgeladen haben. Aber am Morgen danach war sie schlauer, als sie erfahren musste, dass die Aufnahme online war. In dem Moment war ihr bewusst gewesen, dass ihr Ärger drohte, sobald Mortimer oder Lucian das zu sehen bekamen. Sie wusste nur nicht, wann das passieren würde … bis Valerian und Tybo im Hörsaal aufgetaucht waren.

»Hmm«, sagte Lucian nach einer Weile. »Abends scheinen sich auf dem Campus so einige Verbrechen zu ereignen.«

Ildaria hob nur kurz die Schultern. »An der Uni gibt es jede Menge hübsche Frauen, was sie zum Paradies für jeden Perversen macht. Die werden nachts offenbar angezogen wie Motten vom Licht.«

»Nachts«, wiederholte Lucian nachdenklich.

»Sí. Tagsüber ist es im Allgemeinen weniger gefährlich. Es sind mehr Leute unterwegs, und es gibt weniger dunkle Ecken, in denen man sich verstecken kann.«

»Ja.« Lucian nickte. »Dann ist das die Lösung.«

Ildaria legte den Kopf ein wenig schräg, wohlwissend, dass ihr ihre Verwirrung deutlich anzusehen war.

»Die Lösung?«

»Du gehst tagsüber zur Uni«, verkündete Lucian.

»Wie bitte?«, rief sie ungläubig.

Lucian dachte noch einmal kurz über alles nach und sagte dann: »Bei der Hochzeit von Jess und Raffaele hat mir dein alter Captain Vasco Villaverde erzählt, dass du Ärger förmlich anziehst, aber dass du auch ein gutes Herz hast.«

Innerlich seufzte Ildaria, als sie hörte, dass der Mann ihre Neigung ausgeplaudert hatte, immer wieder in die unerfreulichsten Situationen verwickelt zu werden. In Punta Cana war sie etliche Male in Schwierigkeiten geraten, und ohne Vasco wäre sie vermutlich schon längst hingerichtet worden. Er hatte sie immer wieder vor dem Schlimmsten bewahrt, wofür sie ihm auf immer und ewig dankbar sein würde. Sie wünschte nur, er hätte es nicht für nötig gehalten, das Lucian anzuvertrauen.

»Ganz offensichtlich hatte Vasco mit seiner Einschätzung recht«, fuhr Lucian fort. »Wenn es irgendwo Probleme gibt, wirst du förmlich davon angezogen. Um sicherzustellen, dass ich dich nicht hinrichten lassen muss, ist es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass du gar nicht erst in Situationen gerätst, die dir Ärger einbringen können. Das heißt, du besuchst keine Abendkurse mehr, sondern gehst tagsüber zu den Vorlesungen. Und zwar ab sofort. Du wirst dich nicht mehr abends oder nachts auf dem Campus aufhalten«, befahl er ihr in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Ildaria sah ihn verdutzt an, während sich Unmut in ihr regte. Dann platzte sie heraus: »Soll das ein Witz sein? Erst holst du mich aus der Schule in Montana und verschleppst mich hierher nach Kanada, wodurch ich meine Abschlussprüfungen dort nicht machen konnte und hier noch mal ganz von vorn anfangen musste. Und jetzt willst du mich aus den Abendvorlesungen nehmen, damit ich tagsüber Kurse besuche?« Mit finsterer Miene sah sie ihn an und ließ ihn wissen: »Das ist einfach unmöglich, damit verliere ich das ganze Semester und kann im Herbst noch mal von vorn anfangen. Was heißt, dass ich alle Kurse noch einmal bezahlen muss! Weißt du, wie teuer die sind? Ganz zu schweigen von dem zusätzlichen Blut, das ich nehmen muss, wenn ich tagsüber draußen unterwegs bin. Ich versuche etwas Geld zu sparen, damit ich mir eine eigene Wohnung nehmen kann und Marguerite und Julius nicht länger als nötig auf der Tasche liege. Wenn ich mein Geld für Kurse rauswerfe, die ich nicht abschließen kann, und für Blut ausgeben muss, das ich wegen der Vorlesungen bei Tag zusätzlich benötige, wird das mit der Wohnung nie was. Und bei meinem Glück werde ich diesmal schon wieder keinen Abschluss machen, weil ich dafür diese Kurse brauche.«

Lucian kniff ein wenig die Augen zusammen. »Ich habe dich aus Montana weggeholt, weil du da die Rächerin gespielt hast«, machte er ihr in frostigem Tonfall klar. »Du hast in Anwesenheit von Sterblichen von deinen Fähigkeiten Gebrauch gemacht und deren Aufmerksamkeit auf dich und letztlich auch auf uns gelenkt, was gegen unsere Gesetze verstößt. Ich hatte die Wahl, dich da rauszuholen oder dich hinzurichten. Wäre dir eine Hinrichtung lieber gewesen?«

»Natürlich nicht, aber …« Ildaria geriet ins Stocken und sank dann niedergeschlagen auf ihrem Stuhl in sich zusammen. Den Rückschlag bei ihrer Ausbildung hatte sie sich vermutlich selbst zuzuschreiben. Sie hatte gewusst, dass sie mit dem Feuer spielte, als sie sich in Montana in schwarzes Leder kleidete und einigen sterblichen Dreckskerlen die Hölle heißmachte. Sie wusste auch, dass sie von Glück reden konnte, dass Lucian Argeneau ihr eine zweite Chance gegeben hatte, anstatt einfach ihre Hinrichtung anzuordnen. Er war nicht dafür bekannt, dass er Leute, die sich danebenbenahmen, mit Samthandschuhen anfasste. Und dass sie sich danebenbenommen hatte, daran gab es nichts zu rütteln.

Ihre einzige Entschuldigung war ein Übermaß an emotionalem Stress, doch das hatte sie Lucian nicht erklärt, als sie das erste Mal zu ihm gebracht worden war. Es war auch nicht nötig gewesen, da er es ganz bestimmt längst in ihren Gedanken gelesen hatte. Nur deshalb saß ihr Kopf auch jetzt noch auf ihrem Hals.

Sie atmete tief durch, nickte zustimmend und sagte nur: »Danke.«

Lucian gab einen zufriedenen Laut von sich und entspannte sich sichtlich. »Du kannst gehen. Ich glaube, Sam wartet in der Küche auf dich … mit heißem Kakao und Brownies.«

Ildaria war sich nicht sicher, ob es ihn freute oder ob er vielmehr verärgert darüber war, dass Sam sozusagen mit einer Belohnung auf sie wartete, obwohl sie sich mal wieder Ärger eingebrockt hatte. Nicht mal das Zucken seiner Mundwinkel konnte ihr weiterhelfen. Da es letztlich aber auch egal war, stand Ildaria auf und ging zur Tür. Dabei merkte sie, dass Tybo und Valerian ihr folgten. Ihr fiel ein, dass sie sie ja wieder zur Universität bringen mussten, damit sie ihren Wagen abholen konnte, der noch auf dem Parkplatz stand. Vermutlich wollten sie damit nicht warten, bis sie ihren Kakao getrunken und die Brownies gegessen hatte. Es sei denn, die beiden hatten vor, ihr alles wegzuessen. Sie hatte Tybo schon mal essen sehen. Daher wusste sie, dass er einen ganzen Teller runterschlingen konnte, noch bevor sie überhaupt die Chance bekam, sich einen einzigen Brownie zu nehmen. Sie würde schon losrennen müssen, um einen ausreichend großen Vorsprung zu haben. Aber gleich darauf erwiesen sich ihre Bedenken als unbegründet, da Lucian brüllte: »Ihr zwei nicht. Mit euch bin ich noch nicht fertig.«

Ein Blick über die Schulter ließ Ildaria erkennen, dass Tybo und Valerian widerwillig auf ihre Plätze zurückkehrten. Sie musste gegen das Lächeln ankämpfen, zu dem sich ihre Lippen verziehen wollten. Tybo war ihr mit seinem hochtrabenden Unsinn so auf die Nerven gegangen, dass es ihr kein bisschen leidtat, dass er jetzt Ärger bekam.

Während Lucian den beiden Männern zweifellos die Leviten las, lief sie weiter durch den Flur in Richtung Küche, wo Brownies und Kakao auf sie warteten. Nach einem stressigen Ereignis gab es nichts Besseres als eine Tasse Kakao. Wenn sie dann noch mit Sam reden konnte, war davon auszugehen, dass sie sich schon wieder etwas besser fühlte, wenn die beiden Vollstrecker zu ihr zurückkehrten.

2

Am Tag danach drückte Ildaria die rote Tür des Night Club auf und hielt inne, während sie hastig zwinkerte. Die Nachmittagssonne stand noch grell am Himmel, doch in diesem Raum gab es nur ein einziges kleines Fenster, durch das Tageslicht nach drinnen dringen konnte. Der größte Teil der Beleuchtung war ausgeschaltet, nur eine Reihe aus fünf oder sechs Spotlichtern über der Theke am anderen Ende sorgte gerade einmal für genug Licht, um die Theke zu beleuchten.

Ihre Augen benötigten eine Sekunde, um sich den Lichtverhältnissen anzupassen, doch dann konnte sie das Interieur der Bar erkennen. Es war von dunklem Holz und Leder geprägt, was Ildaria beeindruckend fand. Sie schlenderte in Richtung Theke. Gäste waren im Moment keine anwesend, was vor allem daran lag, dass der Night Club offiziell erst bei Sonnenuntergang öffnete. Dadurch war der Laden nicht überlaufen, und niemand nahm einem die Sicht, sodass Ildaria sich alles ganz genau ansehen konnte. Ihr Blick wanderte über die bequemen Sitzecken aus weinrotem Leder, die ebenfalls mit dunklem Holz verkleidet waren. In der Mitte des Clubs standen Holztische und Stühle, die Theke – gleichfalls aus dunklem Holz – wurde von Barhockern mit hoher Rückenlehne gesäumt, die Sitze der Hocker waren – wie nicht anders zu erwarten – mit weinrotem Leder bezogen.

An der rückwärtigen Wand gab es ganz links eine Schwingtür, während der Rest der Wand von einem bis zur Decke reichenden Spiegel beansprucht wurde, der sich über die gleiche Breite erstreckte wie die davor befindliche Theke und nach zehn oder zwölf Metern an einem Durchgang endete, der in den rückwärtigen Teil des Gebäudes führte. Vor dem Spiegel waren Regale montiert worden, aber im Gegensatz zu einer Bar für Sterbliche stand dort nicht die ganze Bandbreite an alkoholischen Getränken aufgereiht, sondern Gläser jeder nur erdenklichen Art: Cocktailgläser, Longdrinkgläser, Weingläser (die größeren, rundlichen Gläser für Rotwein, aber auch die etwas schlankeren für Weißwein), Champagnergläser, Cognacschwenker. Es gab sogar Schnapsgläser, wie sie ironisch grinsend feststellen musste. Sie fragte sich, wofür die gut sein sollten. Wer bestellte Blut vermischt mit Geschmack oder mit einem Stimmungsmacher und wollte nur ein winziges Schnapsglas voll davon haben? Außer natürlich irgendwelche Unsterblichen, die den Club besuchten. Auf halbem Weg zur Theke blieb sie stehen, da ein Mann durch die zweiflügelige Schwingtür in die Bar kam. Er war ein Sterblicher. Und er war ein Riese im wahrsten Sinn des Wortes, denn sie schätzte ihn auf gut zwei Meter, und da war der leuchtend grüne Irokesenkamm noch nicht mitgerechnet, der bestimmt auch noch mal auf gut dreißig Zentimeter kam. Aber es war nicht nur die Größe, die diesen Mann zu einem wahren Riesen machte. Seine breiten Schultern vom Format eines Linebackers und die muskulösen Arme unterstrichen diesen Eindruck nur noch zusätzlich. Das kurzärmelige Hemd gewährte einen ungehinderten Blick auf seine Tätowierungen, die durch das Spiel seiner Muskeln wie von Leben erfüllt wirkten. Mit einer Hand trug er ein Tablett mit einem Teller, auf dem sich neben zwei doppelt belegten Burgern ein Berg Fritten türmte. Der köstliche Essensgeruch stieg ihr in die Nase, und sofort begann ihr Magen zu knurren.

»Das ist nicht für dich.« Ildaria stutzte, als sie den breiten britischen Akzent seiner geknurrten Bemerkung ausmachte. Sie riss sich vom Anblick des köstlichen Essens los und stellte fest, dass der Mann sie gar nicht ansah. Stattdessen schaute er nach unten auf … seine Lendengegend? Verwirrung machte sich in ihr breit. Es konnte doch nicht sein, dass er sich mit seinem Anhängsel unterhielt? Jedenfalls wollte sie das nicht glauben. Sie schüttelte den Kopf und entgegnete: »Ich hatte auch nicht angenommen, dass das für mich ist.«

Der große Mann blieb abrupt stehen, drehte den Kopf in ihre Richtung und sah erstaunt drein, als er Ildaria entdeckte. »Ildaria? Die von Marguerite?«

»Sí«, antwortete sie und ging weiter auf ihn zu.

»Hi.« Er lächelte sie an. »Tut mir leid, aber ich hatte nicht mit dir geredet, sondern mit meinem … Arsch«, fügte er verärgert hinzu und sah dabei auf den Boden hinter der Theke.

»Du redest mit deinem Arsch?«, fragte sie und musste grinsen, während sie an der Theke ankam und sich zwischen zwei Hocker stellte. Der Mann sah sie erschrocken an, schüttelte den Kopf und warf dann einen finsteren Blick auf etwas hinter der Theke, das sie von ihrem Platz aus nicht sehen konnte. »Nein, ich …« Er hielt inne, bewegte ein Bein abrupt hin und her und brüllte: »Verdammt, H. D.! Hör schon auf damit! Du bekommst nichts zu essen.«

Da die Neugier übermächtig wurde, stellte sich Ildaria auf die Messingstange, die als Fußstütze für die Gäste gedacht war, und beugte sich über den Tresen aus schwarzem Stein, damit sie hinter die Theke schauen konnte.

»Ach, nein«, murmelte sie und biss sich auf die Lippe, um sich ein Lachen zu verkneifen. Was sie dort sah, war ein winziges cremefarbenes Fellknäuel, das im Moment damit beschäftigt war, den Knöchel des riesigen Mannes zu bespringen. Das Ding sah aus wie ein zum Leben erweckter Teddybär, der für den Fuß des Riesen romantische Gefühle entwickelt zu haben schien.

»Dein Hund?«

»Ja«, gab er zurück und schüttelte erneut sein Bein, um den kleinen Kerl loszuwerden.

»Welche Rasse?«, wollte sie wissen.

»Ein Bichonpoo«, antwortete er, während er den Hund weiterhin aufgebracht ansah. »Eine Mischung aus Bichon Frisé und Zwergpudel.«

»Aha.« Ildaria nickte und musste noch breiter grinsen, als sie mit ansah, wie sich H. D. einfach nicht abschütteln lassen wollte. Dann wanderte ihr Blick zu dem Tablett, das der Mann in der Hand hielt, und sie stibitzte eine Fritte, die sie dem Hund hinwarf. Der Kleine ließ sofort vom Bein seines Herrchens ab und vollführte einen beeindruckenden Luftsprung, um die Fritte im Flug zu fangen.

Nachdem der Hund wieder gelandet war und über die Fritte herfiel, seufzte der Mann erleichtert auf und lenkte Ildarias Aufmerksamkeit wieder auf sich. Interessiert musterte sie seinen muskulösen Körper, ehe ihr Blick hinauf zu seinem Kopf wanderte. Als Marguerite sie gefragt hatte, ob es ihr etwas ausmachen würde, auf dem Rückweg von der Universität im Night Club ein paar Blutbeutel abzuholen, hatte sie ihr auch gesagt, dass ein Mann namens G. G. ihr das Blut geben würde, wobei G. G. für Green Giant stand. Natürlich wollte Ildaria wissen, warum er so genannt wurde, aber Marguerite hatte nur gelächelt und erwidert, das werde sie schon herausfinden, wenn sie ihm gegenüberstand. Beim Anblick des grünen Haarkamms, der sich über seinen Kopf zog, war die Frage mehr als beantwortet.

»Darauf hatte er es abgesehen, und genau das hatte ich vermeiden wollen«, erklärte G. G., dessen verärgerter Blick zwischen ihr und dem Hund hin- und herwanderte.

Ildaria brauchte ein paar Sekunden, um in die Unterhaltung mit ihm zurückzufinden. Dann lachte sie ungläubig und fragte: »Er hat dein Bein besprungen, weil er was zu essen haben wollte?«

»Und es hat funktioniert, nicht wahr?«, gab G. G. sarkastisch zurück. »Er hat mein Bein besprungen, und du hast ihm was zu essen gegeben, damit er aufhört.«

»Oh.« Sie sah wieder nach unten zu dem kleinen Hund, der die Fritte verschlungen hatte und nun erwartungsvoll zwischen ihr und G. G. hin- und herschaute, wobei er sich immer wieder beleckte, als wollte er ihnen sagen, dass sie ihm noch mehr geben sollten. Sie schüttelte den Kopf und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Tut mir leid, aber ich konnte nicht widerstehen. Das ist aber auch ein verdammt süßer Hund.« Mit großen Augen sah sie ihn abermals an, lächelte und fügte hinzu: »Stimmt doch, oder nicht, H. D.?«

Als sich der Hund daraufhin ganz auf sie konzentrierte, fiel ihr auf, dass sie mit einer hohen, besänftigenden Stimme redete, jenem Tonfall, in den alle Menschen verfielen, sobald sie es mit irgendwelchen niedlichen Lebewesen wie Babys oder Welpen zu tun hatten. »Ja, du bist ein hübsches Kerlchen, nicht wahr? Ja, das bist du. Du siehst aus wie ein kleiner Teddybär. Ich würde dich am liebsten den ganzen Tag nur knuddeln.«

Daraufhin stieß das Fellknäuel ein helles Bellen aus, machte auf der Stelle kehrt und stürmte zu dem Ende der Theke, von dem aus man zur Schwingtür gelangte. Als der Hund um die Theke geschossen kam, war das Kratzen der Krallen auf dem Hartholzboden zu hören, der diesen nur wenig Halt bot.

»Nicht, H. D.!«, rief G. G., stellte hastig den Teller ab und lief dem Hund hinterher. »Auf den Hocker mit dir!«, forderte er Ildaria auf. »Er mag keine Frauen, und er verbeißt sich in Fußknöchel.«

Ildaria ignorierte die Warnung und drehte sich zu dem Hund um, der soeben hinter der Theke zum Vorschein kam und aufgeregt kläffte. Anstatt sich auf einem Hocker in Sicherheit zu bringen, stieg sie von der Messingstange und ging in die Hocke, um dem flauschigen Hund so weit wie möglich auf Augenhöhe zu begegnen. Als er bei ihr angekommen war, bekam sie ihn an den Vorderbeinen zu fassen und hob ihn furchtlos hoch, bis er sich vor ihrem Gesicht befand und sie ihn auf das Fell an den Wangen küssen konnte. Sofort begann er jede Partie ihres Gesichts abzulecken, an die er mit seiner Zunge herankam.

»Und nun?«, fragte Ildaria den Hünen, während sie den Hund an ihre Brust drückte und streichelte.

Der Mann schnaubte nur ungläubig und entgegnete: »Dieser Hund kann niemanden außer mir leiden. Jedenfalls normalerweise.« Er starrte wie gebannt auf den Hund, der ihre Hände, den Hals und das Kinn ableckte.

Ildaria zuckte fast entschuldigend mit den Schultern. »Hunde mögen mich nun mal.«

»Sieht ganz so aus«, murmelte er und wirkte erleichtert, da nicht länger die Gefahr bestand, dass der Hund sie beißen könnte. Er sah auf den Teller mit seinem Essen, seufzte frustriert und ging in Richtung Schwingtür. »Ich kümmere mich erst mal um Marguerites Bestellung.«

»Das eilt nicht«, versicherte Ildaria und setzte sich auf einen der Hocker an der Theke. H. D. hob sie auf ihren Schoß, damit sie ihn weiter streicheln konnte. »Iss doch erst mal auf, sonst wird dein Essen noch kalt.«

Der Riese hatte eine Hand an die Schwingtür gelegt, hielt inne und sah Ildaria verdutzt an. »Meinst du?«

»Sí. Marguerite geht davon aus, dass ich die nächsten Stunden noch an der Uni bin, darum hat sie sich auf den Weg gemacht, um Lissianna zu besuchen. Es besteht also kein Grund zur Eile.«

Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und fragte: »Machst du blau?«

»Um blaumachen zu können, muss man erst mal eingeschrieben sein«, bemerkte sie mit betrübter Miene.

Daraufhin zog er verdutzt die Augenbrauen hoch und kehrte hinter die Theke zurück, wo er auf ihrer Höhe stehen blieb. »Mir wurde erzählt, dass du an der Universität dein drittes Jahr in Rechnungswesen abschließen willst.«

»Wollen und tun sind manchmal zweierlei«, sagte Ildaria mit einem zynischen Unterton. Sie gab H. D. einen Kuss auf den Kopf und sah dann wieder G. G. an, der sie zu ihrem Erstaunen besorgt musterte.

»Tut mir leid, das zu hören«, ließ er sie mit tiefer, mitfühlender Stimme wissen. »Wenn die Kurse hier schwieriger sind als …«

»O Gott, nein«, fiel sie ihm hastig ins Wort. Auf keinen Fall sollte er denken, sie könnte aufgegeben haben, weil das Studium zu anspruchsvoll für sie war. »An den Noten hat es nicht gelegen.«

»Woran denn?«, fragte er irritiert.

»An Lucian«, sagte sie verbittert, musste aber einsehen, dass das nicht fair gewesen wäre. »Oder um die Wahrheit zu sagen: An mir selbst. Und dann am Leben im Allgemeinen, sodass Lucian gezwungen war, einzugreifen.«

Jetzt hatte der arme Mann jeglichen Durchblick verloren, stellte sie fest und musste unwillkürlich lächeln, bevor sie ihm den Rat gab: »Du solltest wirklich besser aufessen, bevor alles kalt geworden ist.«

G. G. warf einen verdutzten Blick auf den Teller, der zwischen ihnen auf der Theke stand. Wie es schien, hatte er sein Essen völlig vergessen. Als er nun von ihr daran erinnert wurde, nickte er zwar, begann aber noch immer nicht zu essen. Stattdessen schaute er Ildaria an und verkündete: »Ich brauche jetzt was zu trinken. Kann ich dir auch was bringen?«

Sie zögerte kurz und fragte dann: »Hast du irgendeine Limo ohne Koffein?«

»Magst du Tahitian Treat?«, fragte er. Als er Ildarias ratlose Miene sah, grinste er und meinte: »Einen Moment.«

Sie schaute ihm hinterher, wie er zum anderen Ende der Theke ging, konzentrierte sich dann aber wieder auf den kleinen Hund in ihren Armen, der sich so gedreht hatte, dass sie seinen Bauch streicheln konnte. Amüsiert kam sie dieser wortlosen Aufforderung nach und begann, ihm den Bauch zu kraulen, was der Hund mit einem Laut kommentierte, der wie eine Kreuzung aus Brummen und Seufzen klang. Im nächsten Moment drehte er sich dann ganz auf den Rücken und streckte alle viere von sich, damit sie ihn noch besser kraulen konnte. Es zeugte von großem Vertrauen, das der Hund in sie hatte, aber er konnte von Glück reden, dass er ihr durch seine hastige Bewegung nicht aus den Armen gerutscht war. Nach einer Weile fielen ihm schließlich die Augen zu, und es schien, als wäre er fest eingeschlafen.

»Der kleine Teufel benimmt sich bei Frauen sonst nie so.«

Ildaria hob den Kopf und sah, dass G. G. zwei Gläser mit einer klaren kirschroten Flüssigkeit auf Eiswürfeln um die Theke herumtrug, damit er sich zu ihr auf den nächsten Hocker setzen konnte. Er stellte die Gläser ab, nippte an seinem und zog dann den Teller zu sich heran, auf dem sein Essen immer noch auf ihn wartete. Nachdem er getrunken hatte, stellte er das Glas weg und betrachtete kopfschüttelnd den Hund. »Genau genommen darf so was außer mir niemand machen. Du bist wohl eine Hundeflüsterin.«

Sie lächelte verstohlen und musterte abermals den winzigen Hund, der so gar nicht der Hunderasse entsprach, die man einem Mann wie G. G. zugetraut hätte.

»Große Hunde brauchen viel Auslauf, und in England lebe ich in einer Wohnung, die vier Blocks vom Club entfernt ist«, erklärte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen, was er als Sterblicher aber gar nicht konnte. Vermutlich war er es gewohnt, dass die Leute Bemerkungen zur Größe seines Hundes machten, denn er fuhr fort: »Ein Spaziergang zum Night Club und zurück ist für den kleinen Kerl schon Bewegung genug.«

Dass die Strecke einem größeren Hund nicht genügen würde, musste er nicht noch erklären. Das war ihr klar, doch eine andere Frage ging ihr durch den Kopf: »Und wo wohnst du hier?« Während sie auf seine Antwort wartete, wanderte ihr Blick von G. G. zu H. D. zurück. Dabei stellte sie sich vor, wie es aussehen musste, wenn die beiden auf Torontos Straßen unterwegs waren – ein Furcht einflößender Riese mit Irokesenschnitt, Tattoos und Piercings, der ein Fellknäuel an der Leine spazieren führte. Wahrscheinlich eine schwarze Lederleine mit Nieten, mutmaßte sie, als ihr das schwarze, mit Stacheln besetzte Lederhalsband des Hundes auffiel. Vermutlich sollte es dem Kleinen einen angsteinflößenden Anstrich verleihen, dabei war wohl eher das Gegenteil der Fall. Außerdem war der Hund viel zu süß, als dass er irgendwem hätte Angst einjagen können. Allerdings war sie sich so gut wie sicher, dass die meisten Leute es sich nicht verkneifen konnten, das Paar anzustarren, wenn sie ihm auf der Straße über den Weg liefen.

»Momentan wohne ich in einem der Apartments hier über dem Club«, sagte G. G., ließ den Blick zu seinem Teller zurückwandern und murmelte nachdenklich: »Wenn du Limo trinkst, dann isst du wohl auch noch.«

Sie zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Nicht mehr so oft wie früher, aber ich esse immer noch.«

G. G. nickte. »Möchtest du auch was? Ich kann dir einen Burger machen.«

Ildaria dachte über sein Angebot nach. Ja, sie hatte Hunger. Es war ein Gefühl, das sie seit einer Weile in immer kürzeren Abständen verspürte. Und im Augenblick hätte sie tatsächlich etwas essen können. Sie wollte aber nicht, dass er sich extra für sie noch einmal die Mühe machte. Daher nahm sie sich vor, auf dem Weg zu Marguerite noch an irgendeinem Drive-in anzuhalten. »Höchstens ein oder zwei Fritten«, murmelte sie.

»Bedien dich.« G. G. schob den Teller zu ihr hin, damit sie beide davon essen konnten.

»Danke«, flüsterte Ildaria und unterbrach ihre Streicheleinheiten, damit sie eine der Fritten aus dem fetttriefenden Berg an Köstlichkeiten auf seinem Teller herausfischen konnte. Als sie reinbiss, wachte der Hund mit einem Mal auf, so als hätte das leise Geräusch irgendeinen Alarm bei ihm ausgelöst. Der Hund wand sich in ihrem Arm, bis es ihm gelang, die Vorderpfoten gegen ihre Brust zu stemmen, damit er an ihrem Mund schnuppern konnte, während sie kaute. Amüsiert nahm Ildaria die kleine Bestie und setzte sie wieder auf ihren Schoß.