Verderben – Kinder des Zorns - Wolfgang Hohlbein - E-Book
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Verderben – Kinder des Zorns E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Als Kriminalhauptkommissarin Conny Fesser undercover auf einer Vernissage des Gangsterbosses Maxim Kutzow eingesetzt wird, hält sie das für einen Routineeinsatz. Drogenhandel, Schmuggel, das Übliche. Als sie dort auf junge Mädchen trifft, die nicht freiwillig anwesend zu sein scheinen, erwacht in ihr ein furchtbarer Verdacht – betreibt Kutzow auch noch Mädchenhandel? Conny setzt sich in den Kopf, die Sache aufzuklären und Kutzow hinter Gitter zu bringen. Doch der vermeintliche Routinefall stellt sich schnell als Sumpf heraus, in dem niemand ist, was er vorgibt – inklusive Conny selbst …

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Covergestaltung: zero-media.net, München

Coverabbildung: Vieriu Adrian / Getty Images und FinePic®, München

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1 Molepeople

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3 Gulag

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4 Ground Zero

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Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1 Molepeople

1

Sweet little sixteen … wenn sie es denn war, was Conny allerdings mit jedem Moment ein bisschen mehr bezweifelte, den sie die Kleine ansah. Vierzehn, wenn nicht erst dreizehn oder sogar noch jünger, was Gott verhüten möge; ganz egal, ob sie nun an ihn glaubte oder nicht.

Das Mädchen schien ihren Blick zu spüren, denn statt einfach nur weiter dazustehen und unglaublich süß auszusehen, drehte es sich halb zu ihr um und lächelte sie an, wozu es den Kopf in den Nacken legen musste. Conny selbst war gerade einmal durchschnittlich groß, aber die Kleine maß höchstens eins fünfzig. Sie trug etwas, von dem Conny nicht ganz sicher war, ob man es noch Kleid nennen konnte und das vorwiegend aus nichts zu bestehen schien, allzu neugierigen Blicken aber trotzdem gerade genug Widerstand entgegensetzte, um die Fantasie erst richtig anzuheizen, mit Pailletten besetzte High Heels, bei deren bloßem Anblick ihr schon die Füße wehtaten, und kostspielig aussehenden Goldschmuck, der so perfekt auf ihr Kindfrau-Image abgestimmt war, als wäre er extra für sie angefertigt worden.

»Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«

Conny ließ drei schwere Herzschläge verstreichen, bevor sie sich betont langsam abwandte und in derselben Bewegung auch noch ein Champagnerglas vom Tablett eines vorübereilenden Kellners fischte. Vielleicht etwas zu schwungvoll, denn ein paar Tropfen der überteuerten Angeberbrause spritzten auf ihr geliehenes Kleid. Conny tat so, als hätte sie es nicht gemerkt, und ihr Gegenüber war diplomatisch genug, dasselbe zu tun.

Stattdessen prostete er ihr mit seinem eigenen Glas zu, trank einen Schluck und übersah die Tatsache, dass sie selbst nicht einmal wirklich an ihrem Champagner nippte, sondern gerade einmal die Lippen benetzte. Er war ein sehr großer, kräftig gebauter Mann – gerade an der Grenze, dass sie ihn noch nicht als Hünen bezeichnet hätte – mit modisch halblanger Frisur, einem markanten Gesicht, dem eine nur schlecht verheilte geschwungene Narbe auf der linken Wange sonderbarerweise nichts von seiner Attraktivität nahm. »Verzeihen Sie die direkte Frage, aber: Wer sind Sie? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«

Und spätestens in einer halben Stunde wirst du dir auch wünschen, es wäre so geblieben. »Ich stehe nicht auf der Gästeliste, ich weiß.« Conny nippte nun doch an ihrem Glas und machte eine Kopfbewegung zu einer Gestalt am anderen Ende des großen Raums, die einen Armani-Anzug und italienische Designerschuhe trug und es trotzdem schaffte, darin wie ein Penner auszusehen. »Mikail hat mich mitgebracht. Er meinte, es wäre kein Problem.«

»Ich kann mir nicht viel im Zusammenhang mit Ihnen vorstellen, was zu einem Problem werden könnte«, antwortete Kutzow zwar, maß den dunkelhaarigen Hünen zugleich aber mit einem Blick, der Conny Anlass zu der Vermutung gab, dass diese Behauptung nicht unbedingt auf Mikail zutraf.

»Ihr Freund?«

»Mikail?« Conny schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Ohrringe klimperten und sich der Lauscher am anderen Ende der Funkverbindung vermutlich fluchend den Kopfhörer herunterriss. »Gott bewahre … auch wenn ich glaube, dass er sich für den Posten bewerben möchte.«

Sie wechselte das Glas von der Rechten in die Linke und streckte die frei gewordene Hand aus. Eine sehr große, sehr starke Hand, sehr gepflegt und mit perfekt manikürten Nägeln, der man aber trotzdem ansah, dass sie zupacken (und vermutlich auch noch weit unerfreulichere Dinge tun) konnte. »Conny. Eigentlich Cornelia, aber so dürfen mich nur Leute nennen, die ich nicht leiden kann.«

»Maxim.« Kutzow drückte ihre Hand fest genug, dass es so gerade eben noch nicht wehtat. »Klingt hierzulande vielleicht ein bisschen zu russisch für einen Ukrainer. Aber die ukrainisch-russischen Beziehungen sind eine Sache für sich.«

»Und ein fürchterliches Kapitel der Weltgeschichte. Aber so schrecklich das auch alles ist: Ich setze eher auf Völkerverständigung statt auf Konfrontation.«

»Sonst wären Sie ja kaum in Begleitung eines Russen hergekommen.« Kutzow ließ endlich ihre Hand los und fügte nach einer Sekunde noch hinzu: »Conny.«

Conny sah noch einmal in Mikails Richtung und stellte nicht nur fest, dass er mittlerweile ganz unverhohlen mit einer aufgetakelten Wasserstoffblondine mit Schlauchbootlippen und XXL-Plastiktitten in einem Kleid schäkerte, das zum allergrößten Teil aus Dekolleté bestand, sondern ertappte sich dabei, sich darüber zu ärgern. Natürlich nicht aus Eifersucht. Ganz bestimmt nicht. Aber auch wenn sie es nicht zugeben wollte, kratzte es doch ein kleines bisschen an ihrem Stolz, dass er mit ihr hergekommen war und jetzt mit einer anderen herummachte, noch dazu mit einer jüngeren.

»Eine Frau wie Sie und ein … Mann … wie Mikail?« Die hörbare Pause vor dem Mann war weder Zufall noch unbeabsichtigt. »Irgendwie fällt es mir schwer, das zu glauben.«

So wie es Conny schwerfiel zu glauben, dass er sich wirklich für sie interessierte. Nicht so. Maxim Kutzow gehörte nicht nur zu den Top Ten des Rotlicht- und Drogenmilieus der Stadt, er sah auch noch verdammt gut aus und bewies gerade, dass er auch durchaus charmant sein konnte – wenigstens für einen ukrainischen Drogendealer und Ex-Zuhälter. Conny schätzte, dass es allein hier drinnen ein halbes Dutzend junger Dinger gab, die sich gar nicht schnell genug die Kleider vom Leib reißen konnten, um in sein Bett und vor allem seinen Dunstkreis zu gelangen. Was also wollte jemand wie er von jemandem wie ihr?

Vielleicht kam er ja allmählich in ein Alter, in dem er genug von Fast Food hatte und sich für richtige Frauen zu interessieren begann, flüsterte der für Eitelkeit zuständige Teil ihrer Gedanken, und eine andere und deutlich spöttischer klingende Stimme schickte noch die Frage hinterher, ob er nicht vielmehr Lunte gerochen hatte und nun seinerseits ein Spielchen mit ihr spielte.

Sie widerstand dem Impuls, auf die Uhr zu sehen, trank stattdessen einen weiteren winzigen Schluck Champagner und machte eine Kopfbewegung hinter sich. »Ihre Tochter?«

Kutzow reagierte mit einem missbilligenden Heben des Zeigefingers. »Jetzt versuchen Sie sich aber bei mir einzuschmeicheln, Conny. Nein, ich fürchte, ich habe nicht genug Vertrauen in diese modernen Zeiten und vor allem meine Mitmenschen, um ein Kind in die Welt zu setzen. Aber wenn ich eine Tochter hätte, würde ich mir wünschen, dass sie so wie Nadeshda wäre.«

Conny konnte ihm schwerlich widersprechen. Die Kleine war wirklich eine Schönheit, ein blonder Engel mit einer Million winziger goldener Löckchen und einem elfengleichen Gesicht, das nicht mehr ganz das eines Kindes war, aber auch noch lange nicht das einer Frau. Sie war auf eine Art geschminkt, auf die kein dreizehnjähriges Mädchen geschminkt sein sollte, und die sie zu … etwas anderem … machte.

»Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Conny«, sagte Kutzow.

Aus ihrem Groll wurde etwas anderes, das sie kaum noch beherrschen konnte und schon gar nicht wollte. Und warum auch? Niemand würde lästige Fragen stellen, wenn Kutzow mit einer gebrochenen Nase oder einer ausgekugelten Schulter oder ein paar lockeren Zähnen im Präsidium ankam; und am besten mit allem.

»Welche … Frage?«, erwiderte sie gepresst. Ihrem Gegenüber fiel das natürlich auf, und er legte seinerseits fragend und schon wieder ein bisschen misstrauisch den Kopf auf die Seite, wiederholte ansonsten aber nur seine Geste.

»Ob Ihnen gefällt, was Sie sehen.«

Jetzt versuchte sie nicht einmal mehr, ihren Zorn zu beherrschen. Ihre linke Hand ballte sich zur Faust, die andere schloss sich fester um den Stiel des Champagnerglases, sodass sie ihn mit einem kurzen Daumendruck abbrechen und ihm ins Auge rammen konnte. »Was sehe ich denn?«, fragte sie lauernd.

Kutzow lachte leise. »Das fragt sich die Hälfte der anwesenden Kunstexperten hier wahrscheinlich auch, obwohl sie es natürlich niemals zugeben würden.« Er schlenderte an ihr vorbei und blieb vor etwas stehen, das Conny bisher nicht einmal bewusst wahrgenommen hatte, wimmelte es doch davon in diesem Raum nur so: einem schlichten Bilderrahmen aus gebürstetem Aluminium von der Größe eines Zeichenblocks. Dennoch gab es einen Unterschied zu allen anderen Exponaten. Er war vollkommen leer. Die Platte aus spiegelfreiem Glas gab den Blick ungehindert auf die dahinterliegende Wand frei. Conny war endgültig verwirrt, zugleich aber auch erleichtert. Sie hatte das Gefühl, um ein Haar einen schlimmen Fehler gemacht zu haben.

»Ich … kann meine Frage nur wiederholen«, sagte sie unbeholfen. »Was sehe ich denn?«

»Boris Wischelski«, antwortete Kutzow. »Der aufgehende Stern am Himmel zeitgenössischer russischer Kunst.«

Ein leerer Bilderrahmen? »Kunst?«

Der Ukrainer nickte so heftig, dass er jetzt um ein Haar seinen Champagner verspritzt hätte. »O ja. Sagen Sie nicht, dass Sie es nicht sehen!«

»Nein«, antwortete sie. »Ich meine: doch. Genau das sehe ich. Nichts.«

»Und ganz genau das ist es, was uns der Künstler damit sagen will«, bestätigte Kutzow mit hoffnungslos übertrieben besserwisserischer Miene. »Das ist der Blick auf die Vergänglichkeit allen menschlichen Tuns und die Bedeutungslosig- und Sinnlosigkeit all unserer Anstrengungen, Spuren in der Welt des vermeintlich Wirklichen zu hinterlassen.«

Conny starrte ihn an, und Kutzow fuhr mit einem noch heftigeren Nicken fort: »Und zugleich konfrontiert uns der Künstler erbarmungslos mit der Frage, ob die Realität wirklich das ist, wofür wir sie halten, oder vielleicht nicht in Wahrheit nur ein weiteres Trugbild, hinter dem sich die ganze Größe göttlicher Schöpfung verbirgt: Wir glauben zwar, sie zu sehen, doch immer wenn wir sie wirklich zu ergreifen versuchen, hindert uns eine unsichtbare Macht daran.«

Um den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung sogleich zu beweisen, hob er die Hand und tippte nacheinander mit den Nägeln der gespreizten Finger gegen das, was den Rahmen ausfüllte. Das Geräusch verriet Conny, dass es kein Glas war.

»Plexi?«, fragte sie. Statt das Champagnerglas abzubrechen und Kutzow den Stiel in die Kehle zu rammen, nippte sie erneut an seinem Inhalt und bemühte sich um eine ebenso gewichtige Miene wie er. »Ich verstehe. Unzerbrechlich, damit nicht irgendwelche Banausen auf die Idee kommen, Gottes Willen mit ihren schmutzigen Fingern auf die Probe zu stellen.«

»Acryl, um genau zu sein. Aber ich sehe, ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht«, sagte Kutzow anerkennend. »Sie haben die Aussage hinter diesem Kunstwerk verstanden. Das unterscheidet Sie übrigens von den allermeisten hier.«

Conny machte ein geschmeicheltes Gesicht und entspannte nun auch die linke Hand. »Ich vermute, Sie haben gerade aus dem Ausstellungskatalog zitiert?«

»Noch ein Punkt für Sie. Allmählich werden Sie mir unheimlich. Sie haben nicht zufällig eine eigene Galerie und sind inkognito hier, um mir meine kostbarsten Preziosen abzuschwatzen?«

Warum eigentlich nicht? Der Rahmen war ganz hübsch, und sie konnte sich gut eines ihrer Manowar- oder Sabaton-Poster darin vorstellen. »Und wer hat sich diesen Unsinn ausgedacht? Den Text, meine ich, nicht das Werk. Ich würde es übrigens Industrieacryl für Dummies nennen.«

»Ich«, gestand er übertrieben beleidigt. »Und ich verwahre mich ausdrücklich gegen das Wort Unsinn. Ich weiß, dass der Text rein gar nichts bedeutet, aber niemand hier würde das zugeben.«

Das würde sie vermutlich auch nicht, dachte Conny, nachdem sie einen Blick auf das diskrete Preisschild an der unteren rechten Ecke des Rahmens geworfen und gerade noch den Impuls unterdrückt hatte, ihren Champagner wieder auszuprusten.

»Aber jetzt haben wir genug über Kunst und neureiche Dummköpfe mit viel zu viel Geld gesprochen«, beschied Kutzow. »Lassen Sie uns über etwas Angenehmeres reden. Zum Beispiel über Sie.«

»Und wer sagt Ihnen, dass ich nicht auch ein Dummkopf mit viel zu viel Geld bin?«

»Also eines von beidem bezweifle ich doch stark«, antwortete Kutzow.

Conny zog einen Schmollmund. »Sieht man dem Kleid wirklich an, wie billig es war?«

»Ich kann mir rein gar nichts vorstellen, das an Ihnen billig aussieht«, konterte Kutzow, indem er sich nun ganz zu ihr umdrehte und einen halben schlenkernden Schritt machte, nach dem er vielleicht eine Handbreit vor der imaginären Grenze anhielt, die die instinktive Fluchtreaktion eines durchschnittlichen Menschen auslöst. Irgendwie gelang es ihr, nicht von ihm zurückzuprallen, aber nur gerade noch so.

Chuck Berrys atonales Gitarrengekreische endete, und an seiner Stelle spülte ein als Popmusik verkleideter schmalziger Schlager von Unheimlich über die Menge. Conny versuchte die akustische Körperverletzung irgendwie auszublenden und suchte nach der echten Sweet-Little-Sixteen. Nadeshda stand jetzt hinter Kutzow, und vielleicht hatte sie das Mädchen auch ein bisschen zu offen angestarrt, denn Kutzow legte plötzlich den Kopf auf die Seite und die Stirn in Falten.

»Ich verstehe«, seufzte er. »Wäre Nadeshda meine Tochter, würde ich nicht erlauben, dass sie so herumläuft. Sie ist die Tochter eines Kunden.«

»Eines sehr solventen Kunden, nehme ich an.« In Connys Stimme schwang mehr Bitterkeit mit, als sie wollte, und sie mahnte sich innerlich zur Vorsicht. Sie war nicht hier, um über die Tugend eines Kindes zu wachen, das sie nicht kannte und auch niemals wiedersehen würde, sondern um einer skrupellosen Unterweltgröße auf die schmutzigen Finger zu klopfen.

»Ich fürchte, ich habe nur solvente Kunden«, erwiderte Kutzow. »Sie sind jetzt aber nicht eine von denen, oder?«

»Von denen?« Connys linke Augenbraue rutschte ein gutes Stück an ihrer Stirn nach oben, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie mit einem wissenden Lächeln. Lange bevor dieser Tag endete, würde er sich wünschen, sie wäre eine von denen.

Kutzow atmete übertrieben erleichtert auf. »Es wäre auch zu schade gewesen. Was kann ich tun, um diesen Fauxpas wieder wettzumachen?«

Wie wäre es mit einem Geständnis?, dachte sie zwar, sagte aber stattdessen: »Sie können mir ein paar richtige Kunstwerke zeigen – falls Sie so etwas am Lager haben, heißt das.«

»Das habe ich in der Tat zurzeit nur im Lager«, antwortete er mit einem angedeuteten bedauernden Achselzucken. »Die heutige Vernissage steht ganz im Zeichen zeitgenössischer russischer Kunst. Und ich fürchte, dass ich das Publikum nach seinem entsprechenden Geschmack ausgesucht habe.«

»Dann passe ich ja noch weniger hierher«, erwiderte Conny. »Ich habe nicht nur nicht viel zu viel Geld und keinen Geschmack, sondern verstehe zudem gar nichts von zeitgenössischer russischer Kunst.«

»Ich auch nicht«, gestand Kutzow.

»Aber von Geschäften«, vermutete sie.

»Und von echter Kunst«, ergänzte er. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas wirklich Schönes.«

Ein weiterer Punkt für ihn, den Conny ihm sogar gönnte. Was sie ihm später an diesem Abend zeigen würde, das würde er ganz gewiss nicht schön finden.

2

»Molepeople nennt man sie aber eigentlich nur in Amerika«, sagte Alex mit seiner besten näselnden Besserwisser-Stimme, »und soweit ich weiß, auch dort nur in New York. Nicht in Russland, und ganz bestimmt nicht in Sankt Petersburg.«

Marc hütete sich, darauf zu antworten. Aus der Dunkelheit hinter ihm drang eine Reihe anhaltender Würge- und Kotzgeräusche, als Ben es auf seine Weise tat. Die Schatten waren barmherzig genug, die dazugehörigen Bilder zu verbergen, aber seine Fantasie sprang begeistert ein, um die entstandene Lücke zu füllen. Und gegen den Geruch war das fehlende Licht ohnehin machtlos, sodass es nun auch in seinem Magen zu rumoren begann und er fast schon dankbar für die Schatten war, die nicht nur seine zitternden Hände verbargen, sondern auch, wie nahe er daran war, sich Ben bei seinem Versuch anzuschließen, seine Innereien auf dem Fußboden zu verteilen.

Marc hatte sich nie für einen Helden gehalten – wenigstens nicht für einen der Art, die sich sehenden Auges in einen laufenden Mähdrescher stürzt, um ein verirrtes Rehkitz zu retten –, aber eigentlich auch nicht für einen Feigling. Doch jetzt hatte er Angst. Seine Knie zitterten, seine Handflächen waren feucht, und sein Herz klopfte bis zum Hals hinauf. Aber das war nichts, dessen er sich schämen musste. Nicht angesichts der beiden Kleiderschränke, die hinter ihnen her waren. Sicher, sie waren ihnen drei zu zwei überlegen, und zumindest Alex war alles andere als ein Schwächling, aber Marc zweifelte trotzdem nicht daran, dass schon einer der beiden allein imstande gewesen wäre, sie alle drei zu Brei zu schlagen, während sich sein Kamerad in aller Seelenruhe eine Zigarette drehte und zusah; und vielleicht ein paar Fotos fürs Familienalbum machte.

Und dass sie Polizeiuniformen trugen, machte es nicht unbedingt besser.

Marc brach den Gedanken mit einer bewussten Anstrengung ab und belegte sich selbst mit einer Reihe wenig schmeichelhafter Bezeichnungen. Er war dabei, sich selbst in Hysterie zu reden. Dabei hatten sie realistisch betrachtet das Schlimmste wahrscheinlich schon hinter sich. Selbst wenn die beiden polizeiskije sie erwischten, drohte ihnen maximal eine Nacht in einer russischen Gefängniszelle und – vielleicht – eine Tracht Prügel, was ganz bestimmt keine angenehme Vorstellung war. Aber sie mussten wohl kaum um ihre Leben fürchten. Okay, sie waren hier in Russland, und die russischen Ordnungshüter waren nicht unbedingt für ihre unendliche Geduld und ihr sanftmütiges Wesen bekannt, aber sie waren auch ganz bestimmt kein Volk psychopathischer Mörder.

Was auch gar nicht nötig war, konnte sich seine innere Stimme nicht verkneifen anzumerken. Es reichte ja vollkommen, wenn es die beiden Typen waren, vor denen sie sich hier versteckten.

Etwas scharrte, ein stumpf-metallischer Laut, der Assoziationen von schartigen Messerklingen und träge fließendem Blut weckte, und hinter ihm übergab sich Ben erneut ebenso ausgiebig wie qualvoll. Wäre es nicht sowieso schon der Fall gewesen, hätte Marc wohl spätestens jetzt angefangen, sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen. Selbst wenn sie irgendwie hier rauskamen, hatten sie möglicherweise ein viel größeres Problem, wenn es Ben nicht bald besser ging. Er hatte keine Ahnung, wie man in einem russischen Krankenhaus auf einen zugekifften deutschen Pauschaltouristen reagierte, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie hier so tolerant waren wie in einer Berliner Klinik mit einem in Ehren ergrauten Achtundsechziger-Oberarzt.

Wie als Reaktion auf diesen Gedanken ließ Ben eine Reihe womöglich noch unangenehmerer Laute hören, und Alex platzte endgültig der Kragen. »Verdammt, reiß dich zusammen!«, blaffte er. »Ist ja widerlich!«

»Lass ihn in Ruhe«, sagte Marc müde. »Es geht ihm schlecht genug.«

Alex machte ein verächtliches Geräusch. »Nicht halb so schlecht wie uns allen, wenn sie uns erwischen.«

Marc wollte das nicht hören. »Vielleicht sind sie ja weg.«

»Ja. Und vielleicht ist die Erde eine Scheibe, und Frauen sind vernunftbegabte Wesen«, schnaubte Alex.

Von außen wurde gegen die Tür gehämmert, und eine ebenso aufgebrachte wie befehlsgewohnte Stimme rief etwas auf Russisch, das er nicht verstehen musste, um es zu verstehen. Alex kramte fluchend eine weitere Sekunde herum, dann flammte sein Bic-Feuerzeug auf. Die winzige Flamme reichte gerade aus, um den umgedrehten Besen zu erkennen, den er unter die Klinke gerammt hatte, um die Tür zu blockieren.

»Warte hier!«, befahl Alex. »Pass auf, dass keiner reinkommt!«

Und wie, bitte schön?, wollte Marc erwidern, sparte sich den Atem aber auch gleich und nutzte das letzte zusammen mit Alex davoneilende Licht, um sich seinen ersten Eindruck ihres Verstecks noch einmal zu bestätigen: ein schmaler, überraschend aufgeräumter und gut bestückter Lagerraum voller Eimer, Wischmopps, Schrubber und Besen und Kanistern mit Reinigungsmitteln, Kartons mit Einmal-Handschuhen und jenen an Kochmützen erinnernden hohen Papierhütchen, die in diesem Land angefangen vom Gehirnchirurgen bis hin zu Köchen so ziemlich jeder zu tragen schien. Wer immer als Nächster hierherkam, um seine Schicht bei der Putzkolonne anzutreten, würde eine unangenehme Überraschung erleben, denn Ben hockte auf halbem Weg hinter ihm auf Händen und Knien in einem Durcheinander aus umgefallenen Kisten und aufgerissenen Pappkartons und seinem eigenen Erbrochenen und sah aus wie das sprichwörtliche Häufchen Elend.

Wieder erscholl die aufgebrachte Stimme, die er jetzt noch viel weniger verstand als gerade, aber natürlich sprang seine randalierende Fantasie begeistert auf den fahrenden Zug auf. Wie hatte Alex die angeblichen Bewohner der U-Bahn genannt? Molepeople? Der Chor aus aufgebrachtem Rufen und Grunzen hätte jedenfalls ganz hervorragend zur Vorstellung eines halben Dutzends mannsgroßer menschenfressender Maulwürfe auf der anderen Seite der Tür gepasst.

»Otkryt! Nemedlenno!«, erklang die aufgebrachte Stimme erneut, begleitet von einem metallischen Laut, der fast so klang, als würde eine Kalaschnikow durchgeladen.

»Ha!«, rief Alex. »Hab ich doch richtig gesehen!« Die Feuerzeugflamme erlosch, und an ihrer Stelle schnitt der weiße Strahl einer Taschenlampe wie ein Laserschwert durch die Dunkelheit.

»Hierher!« Alex begann sich lautstark an etwas zu schaffen zu machen, das dem Licht der gefundenen Taschenlampe eine lange Nase bei seinem Versuch drehte, es aus der Dunkelheit zu reißen. »Kommt her!«

»Otkryt! Polizija!«, antwortete die Stimme von der anderen Seite der Tür, begleitet von einem noch wütenderen Hämmern, und Marc kam endlich auf die einzige vernünftige Idee, stürmte los und riss Ben am Arm in die Höhe und hinter sich her. Alex’ Taschenlampe zerschnitt die Dunkelheit in asymmetrische Scherben, die einen irrsinnigen Veitstanz mit sich selbst aufführten, und dann geschah alles beinahe gleichzeitig: Der Besenstiel und die Tür gaben genau in der Sekunde nach, in der sich die Schatten vor Alex in eine schmale Metalltür verwandelten, die er mit einem abschließenden Fußtritt aufsprengte. Jemand schrie etwas auf Russisch, stampfende schwere Schritte näherten sich.

Alex griff gleichzeitig nach seinem und Bens freiem Arm und zerrte sie mit solcher Gewalt an sich vorbei und durch die Tür, dass sie auf der anderen Seite das Gleichgewicht verloren und übereinanderstürzten. Die Taschenlampe fiel zu Boden, beschrieb einen scheppernden Halbkreis und ging nach einem zweimaligen störrischen Blinzeln aus. In dem zweigeteilten Moment, bevor es endgültig dunkel wurde, geschah zweierlei: Einer der beiden Uniformierten, die hinter ihnen heranstürmten, setzte zum Endspurt an und streckte den Arm aus, und Alex stolperte nicht nur im buchstäblich allerletzten Moment zurück, sondern warf die Tür auch mit einem Knall ins Schloss, der noch in Moskau zu hören sein musste.

Er war trotzdem nicht so laut wie der Schrei, der ihm folgte, dann ein Knall, als etwas mit der Gewalt einer Kanonenkugel gegen die Tür prallte. Zu seiner Erleichterung hielt sie der rüden Behandlung stand, und als Alex die Taschenlampe nach einem Augenblick hektischen Herumpatschens auf dem Boden fand und wieder einschaltete, sah er auch, warum: Irgendwie hatte Alex das Kunststück fertiggebracht, nicht nur die Tür hinter sich zuzuwerfen, sondern auch noch einen Riegel vorzulegen.

»Das war knapp«, nuschelte Ben. Immerhin war er noch bei Bewusstsein, wobei sein Gesicht im blassen Streulicht der Taschenlampe allerdings aussah wie das einer Leiche.

»Und?«, knurrte Alex gereizt. »Knapp vorbei ist auch daneben, oder? Im Augenblick sind wir hier jedenfalls sicher.«

Das mochte stimmen, aber Marc war noch etwas aufgefallen: Die Lampe hatte den Sturz wohl doch nicht ganz so unversehrt überstanden. Das Licht pulste wie im Takt eines sehr langsam schlagenden, großen Herzens und brannte nur noch mit einem Bruchteil seiner ursprünglichen Kraft. Doch selbst dieser trübe Schein reichte aus, um den roten Schmierer auf halber Höhe der Tür erkennen zu lassen. Der masochistische Teil in ihm wollte ihm weismachen, dass er nur nach unten sehen musste, um die dazugehörigen abgezwackten Fingerglieder in einer dampfenden Blutlache zu finden. Mit klopfendem Herzen und der Hysterie näher, als er sich eingestehen wollte, zwang er sich hinabzusehen, und natürlich war da gar nichts. Aber das Blut an der Tür war frisch und echt und bedeutete gewiss nichts Gutes.

Wie, um auch noch ein Ausrufezeichen hinter diesen Gedanken zu setzen, wurde noch einmal gegen die Tür getreten, gefolgt von einem sogar noch herrischerem »Otkryt! Polizija!« und dann einem neuerlichen Tritt und derselben aufgebrachten Stimme, die jetzt etwas schrie, das ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ:

»Aufmachen! Hier Polizei!«

»Da kannst du lange warten«, knurrte Alex. »Die Tür ist stabil. Könnte fast gute deutsche Wertarbeit sein. Hier kommt so schnell keiner rein.«

»Und auch keiner raus«, fügte Marc hinzu. »Schon mal daran gedacht?«

3

Die Menge teilte sich vor ihnen, als eilte Kutzow eine unsichtbare Bugwelle voraus, in deren Sog niemand geraten wollte. Das eine oder andere grüßende Nicken wurde ihnen zugeworfen, aber auch mehr als nur ein missmutiger Blick, vornehmlich von Frauen, die allesamt jung genug waren, um ihre Töchter zu sein.

Kutzow steuerte eine diskrete Tür unweit des Eingangs an, vor der ein ganz und gar nicht diskreter Gorilla in einem teuren Anzug und mit einem Knopf im Ohr stand und darauf achtete, dass sich keiner der handverlesenen Gäste auf der Suche nach der Toilette verirrte. Kutzow musste nichts sagen, damit er zur Seite trat und ihnen die Tür mit einer Plastikkarte aufmachte, wie sie in Hotels mindestens mittlerer Preisklasse üblich waren. In dem dahinterliegenden Raum ging automatisch Licht an, als er die Tür aufzog, was von einem leisen Zischen begleitet wurde, als herrschte dort ein anderer Luftdruck.

Anstelle eines Safes oder der Luftschleuse eines Space-Shuttles befand sich hier jedoch nur ein großer Raum voller Metallregale und Schubladenschränke und Tische. An den Wänden hingen zahlreiche Bilder, die zum größten Teil mit Tüchern verhängt waren, und auf Tischen und Regalböden reihten sich – zweifellos wertvolle – alte Bücher, Skulpturen und andere Kunstwerke, für die dasselbe galt. Das Licht hatte einen seltsamen Farbton, von dem sie mutmaßte, dass ihm vielleicht bestimmte Wellenlängen fehlten, die den gesammelten Schätzen hier drinnen schaden könnten. Unter der Decke hingen gleich vier Kameras, die jeden Winkel überwachten.

Kutzow drückte die Tür hinter sich ins Schloss und wartete, bis sie sich mit einem schweren Klacken wieder verriegelt hatte. Dann drehte er sich zu ihr um und breitete in einer dramatischen Geste die Arme aus. »Willkommen in meiner Schatzkammer! Fühlen Sie sich geehrt. Das hier bekommen nicht einmal alle meine Mitarbeiter zu Gesicht.«

»Und was genau sagt mir das jetzt über Ihre Mitarbeiter?«, erkundigte sie sich und konnte einen nervösen Blick auf die geschlossene Tür nicht mehr ganz unterdrücken, der Kutzow natürlich nicht verborgen blieb.

»Nur keine Sorge.« Er klopfte mit der flachen Hand auf seine Brusttasche. »Ich habe den Schlüssel.«

Eigentlich war es gerade das, was ihr Sorgen bereitete. »Und wenn der Strom ausfällt?«

»Das ist noch nie passiert. Und selbst wenn. Licht und Klimaanlage haben eine Notstromversorgung, und ich kann mir weiß Gott Schlimmeres vorstellen, als eine Stunde oder zwei in einem Raum voll schöner Dinge eingesperrt zu sein.«

»Es könnte ein bisschen langweilig werden.« Conny hoffte inständig, keinen Fehler gemacht zu haben. Sie wusste sich ihrer Haut zu wehren, aber Kutzow war ein Bär von einem Mann, und auch wenn man ihm niemals etwas nachgewiesen hatte, galt es doch als gesichert, dass er mehr als einen unliebsamen Konkurrenten mit bloßen Händen aus dem Geschäft genommen hatte; mindestens einen davon für immer.

»Also dagegen hätte ich etwas.« Kutzows Hand glitt in die Jackentasche und kam mit etwas hervor, das an ein silbernes Zigarrenröhrchen erinnerte, aber nur etwa halb so lang war. Unter dem Deckel kam ein feinkörniges weißes Pulver zum Vorschein. Kutzow machte eine fragende Geste, und sie lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Das waren mindestens dreißig oder vierzig Gramm. Eindeutig kein Eigenbedarf mehr. Wie erfreulich!

»Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht«, sagte Kutzow, platzierte mit einem lange Übung verratendem Geschick eine eher kurze Line auf seinem Handrücken und zog sie geräuschvoll durch die Nase.

»Ich nehme keine Drogen. Und bevor Sie fragen: Nein, ich rauche auch nicht und trinke kaum Alkohol.«

Kutzow schraubte das Röhrchen wieder zu, ließ es in der Jackentasche verschwinden und deutete auf das Glas in ihrer Hand. »Ja, so etwas habe ich mir schon gedacht. Sie sind ziemlich wählerisch mit dem, was Sie in Ihren Körper lassen, wie?«

Er kam einen Schritt näher. Sie konnte jetzt sein Aftershave riechen.

Sein Finger berührte ihren Ellbogen, beschrieb eine kaum gehauchte Schlangenlinie hinab zu ihrem Handgelenk und verharrte dort ganz kurz, um sich dann auf die Suche nach ihren Fingerknöcheln zu machen.

Ihre eigene Hand griff scheinbar zufällig nach oben und begann mit einem der glitzernden Swarovski-Ohrhänger zu spielen, aber die erhoffte Reaktion blieb aus. Die Funkverbindung war abgerissen. Wahrscheinlich war dieser begehbare Safe funkisoliert.

Da sie spürte, wie er dazu ansetzte, auch noch die letzte Handbreit Distanz zwischen ihnen zu unterschreiten, ließ sie den Ohrring los und legte ihm stattdessen die gespreizten Finger auf die Brust. »Wollten Sie mir nicht etwas Schönes zeigen?«

»Aber das sehe ich doch schon.«

»Sie sind ein Schmeichler, Maxim«, erwiderte Conny, hielt den sachten Druck gegen seine Brust aber lediglich aufrecht, statt ihn wegzuschieben. »Und ein sehr ungeduldiger Mann. Ich dachte, wir hätten Zeit – oder ist der Sauerstoff hier drinnen begrenzt?«

Für eine Sekunde erschien etwas in seinen Augen, das vielleicht blanke Wut geworden wäre, hätte er ihm nachgegeben, und für dieselbe Zeitspanne wurden seine Lippen zu einem blutleeren dünnen Strich, der sein Gesicht wie eine Narbe spaltete und ihm das meiste von seiner Attraktivität nahm. Der Augenblick verging so schnell, wie er gekommen war, aber er ließ sie mit dem unguten Gefühl zurück, einen Blick auf den wahren Maxim Kutzow geworfen zu haben.

»Aber Sie haben natürlich recht, meine Liebe«, fuhr er mit veränderter Stimme und jetzt wieder lächelnd fort. »Die Vorfreude ist schließlich ein nicht unwesentlicher Teil des Vergnügens, nicht wahr?«

Conny fragte sich vorsichtshalber nicht, welches Vergnügen er meinte, und Kutzow drehte sich auch bereits weg, ließ ihr ein wenig mehr Luft zum Atmen und trat an einen großen Metallschrank mit zahlreichen Schubladen heran. Nachdem sie sich gehorsam zu ihm gesellt hatte, zog er die oberste Schublade auf und machte eine zusätzliche auffordernde Geste, woraufhin sie noch einmal näher trat; und ihm damit deutlich näher kam, als sie eigentlich wollte.

In der mit schwarzem Kunstsamt ausgeschlagenen Schublade lag eine kaum taschenbuchgroße Ikone, eindeutig russischer Herkunft und eindeutig alt. Conny verstand von alter russischer Kunst wenig mehr als von zeitgenössischer, aber das musste sie auch nicht, um zu erkennen, wie alt und vermutlich kostbar das auf dickes Holz gemalte, größtenteils in düsteren Braun- und Rot- und Goldtönen gehaltene Heiligenbild war. Hätte sie es zugelassen, hätte sie vielleicht so etwas wie Ehrfurcht ergriffen.

»Ich bin keine Kunstexpertin. Aber das ist wunderschön. Ist es wertvoll?«

»Für eine kleine Eigentumswohnung sollte es reichen«, antwortete Kutzow.

»Und es gehört tatsächlich Ihnen?«, fragte sie, wobei sie den beinahe ehrfürchtigen Unterton in ihrer Stimme nicht einmal zu schauspielern brauchte.

Kutzows Blick irrte ein paarmal zwischen der Ikone und ihrem Gesicht hin und her. »Alles hier drinnen gehört mir«, sagte er schließlich.

»Nicht alles«, erwiderte Conny. »Jedenfalls noch nicht.«

Conny fragte sich, warum sie das jetzt gesagt hatte, aber Kutzow ließ es unkommentiert und schloss die Schublade. »Und? Habe ich zu viel versprochen?« Er nahm ihr vorsichtig das Champagnerglas aus den Fingern. Ohne hinzusehen, versuchte er es auf dem Schrank hinter sich abzustellen und verfehlte ihn, sodass es zu Boden fiel und in tausend Stücke zersprang. Er schien es nicht einmal zu bemerken.

»Maxim«, begann sie, »ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«

»Was genau?«

»Vielleicht lassen wir es nicht ganz so schnell angehen«, schlug sie vor. »Ich sollte vielleicht nach Mikail sehen. Wahrscheinlich sucht er schon nach mir.«

»Als ich Ihren Freund das letzte Mal gesehen habe, schien er sich gut zu amüsieren.«

»Mikail ist nicht mein Freund«, antwortete sie. »Seien Sie gnädig mit ihm. Immerhin habe ich es ihm zu verdanken, dass ich Sie kennenlernen und all diese wundervollen Dinge sehen durfte. «

»Und dabei haben Sie das Beste noch gar nicht gesehen«, behauptete Kutzow, machte einen weiteren und diesmal nur halben Schritt auf sie zu – viel mehr Platz war auch nicht –, und diesmal kam Conny (vielleicht ja auch ihm) das Schicksal zu Hilfe, indem sich seine Jackentasche mit einem vibrierenden Summen meldete. Er zögerte, zog dann aber mit einem Ruck ein vergoldetes iPhone aus der Tasche, hob es ans Ohr, blaffte ein einzelnes Wort in seiner Muttersprache und lauschte ein paar Sekunden. Die Finger seiner freien Hand strichen in einer unbewussten Geste über die Narbe auf seiner Wange. Schließlich raunzte er ein weiteres einzelnes Wort auf Russisch und rammte das iPhone in die Tasche zurück.

»Probleme?«

»Nein« behauptete er, was ihm aber lediglich ein Kopfschütteln und ein flüchtiges Verziehen ihrer Lippen einbrachte.

»Für einen angeblich so guten Geschäftsmann sind Sie ein bedauernswert schlechter Lügner, Maxim.«

»Das kommt immer darauf an«, antwortete er. »Bei den meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, macht es mir nichts aus, sie anzulügen. Aber Sie haben recht: Es … gibt da etwas, worum ich mich kümmern muss. Ich fürchte, wir müssen unser konspiratives Treffen kurz unterbrechen, sosehr ich es auch bedauere.«

»Soll ich hier auf Sie warten?«, hörte sich Conny fast zu ihrem eigenen Entsetzen fragen. »Natürlich nur, wenn Sie mir versprechen, weder das Licht noch die Klimaanlage auszuschalten.« Das war mutig (okay, auch ein bisschen tollkühn), aber ihr Kalkül ging auf. Wenn da noch ein Rest von Misstrauen in seinem Blick gewesen war, verschwand es jetzt endgültig. Allerdings hielt ihre Erleichterung nur gerade so lange an, bis er weitersprach.

»In diesem Fall müsste ich hinterher allerdings auf einer Leibesvisitation bestehen«, sagte Kutzow mit einem Grinsen, das sie ihm zumindest als anzüglich auslegte.

»Dann lieber nicht«, erwiderte sie kopfschüttelnd – obwohl es bestimmt höchst interessant wäre zu sehen, was er hier so alles aufbewahrte. Kutzow machte ein übertrieben enttäuschtes Gesicht, und Conny überlegte einen Moment ganz ernsthaft, zu warten, bis sie wieder in Funkreichweite war, und den ganzen Einsatz abzublasen. So weit es bei einem Mann wie Kutzow überhaupt möglich war, schien sie sein Vertrauen errungen zu haben, was langfristig mehr wert sein konnte als ein paar Festnahmen wegen einiger Gramm Koks und des einen oder anderen Delikts, das allenfalls die Sitte interessierte. Und da war natürlich Kutzows private Schatzkammer, die die Finanzbehörde sicher gern in Augenschein nehmen würde.

Aber das wäre dann wohl auch der unwiderruflich letzte Nagel zu ihrem Sarg, auf den Eichholz (Kriminalrat Eichholz! Was für eine Ironie!) nur wartete.

Der Kleiderschrank, der sie hereingelassen hatte, raunte Kutzow etwas ins Ohr, woraufhin sich seine Miene noch weiter verfinsterte.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte er, nachdem er den Gorilla mit einem Kopfnicken entlassen hatte. »Vitali wird sich um Sie kümmern. Sagen Sie einfach, wenn Sie etwas brauchen.«

Er nickte ihr noch einmal zu und verschwand dann auch schon in der Menge. Conny versuchte ihm mit Blicken zu folgen, was angesichts seiner Größe eigentlich kein Problem sein sollte, es aber dennoch war, denn es gab hier erstaunlich viele groß gewachsene Kunstliebhaber mit der Statur von Preisboxern. Aber das war ja letzten Endes auch der Grund, weshalb Eichholz sie und die anderen auf diese angebliche Vernissage angesetzt hatte. Selbst bei den bösen Jungs hatte sich herumgesprochen, was für ein hervorragendes Waschmittel für schmutziges Geld Kunst war.

Sie ließ Vitali kurzerhand stehen, als sie sich unter die Menge mischte. Sie hätte Kutzow nicht aus den Augen verlieren dürfen, gestand sie sich ärgerlich ein. Er war kurz davor gewesen, die Beherrschung zu verlieren, was bei einem Mann wie ihm schon etwas hieß; vermutlich, dass das Telefon wirklich schlechte Nachrichten für ihn bereitgehalten hatte. Also mit einiger Wahrscheinlichkeit gute Nachrichten für sie.

4

Alex bedachte Marc lediglich mit einem bösen Blick und beschränkte sich darüber hinaus darauf, seine Lampe von links nach rechts und wieder zurückzuschwenken. Was in dem immer deutlicher pumpenden blassen Lichtstrahl erkennbar wurde, war deprimierend genug: ein schmaler Gang mit Ziegelsteinwänden und halbrunder gemauerter Decke, in dem es durchdringend nach Moder und faulendem Wasser roch. Das Licht reichte kaum zehn Meter weit, und in der Luft lag ein sonderbares Summen und Vibrieren; wie das Geräusch eines fernen Bienenschwarms mit Insekten aus Eisen und Messerklingen als Stacheln, und …

Seine Fantasie versuchte schon wieder, ihn aufs Glatteis zu locken. Marc zog ihre Zügel ärgerlich enger und konzentrierte sich lieber darauf, sich umständlich aufzurappeln und auch Ben auf die Füße zu helfen. Er war fast froh, sein Gesicht nicht wirklich erkennen zu können. Ben zitterte am ganzen Leib, und er roch schlecht.

»Und jetzt?«, fragte er.

»Erst mal sind wir sicher«, antwortete Alex trotzig. »Vielleicht verschwinden sie ja wieder, wenn sie begreifen, dass sie nicht reinkommen.«

»Das hätten sie ja vielleicht sogar getan, wenn du dem Kerl nicht die halbe Hand abgequetscht hättest«, antwortete Marc. »Dir sind schon die Uniformen aufgefallen, die sie getragen haben?«

»Du meinst den, dem er die Schuhe und die Hose vollgereihert hat?«, gab Alex mit einer Kopfbewegung auf Ben und verächtlicher Miene zurück. »Ja, ich glaube, das war ein Polizist.«

»Hör auf!«, sagte Marc. »Hast du nicht gehört, was er gesagt hat? Aufmachen, Polizei?«

Alex hob die Schultern. Er hatte längst begriffen, worauf Marc hinauswollte, aber er war nun einmal er. »Und?«

»Er hat deutsch gesprochen. Und das heißt, sie wissen, wer wir sind!«

»Zuallererst einmal heißt es nur, dass sie wissen, dass wir Deutsche sind«, antwortete Alex gereizt. »Mehr nicht.« Direkt an Ben gewandt fügte er noch hinzu: »Vielleicht hättest du ja in einer anderen Sprache mit dem Typen verhandeln sollen, dem du diesen Dreck abgekauft hast.«

»Das ist nicht hilfreich«, sagte Marc, bevor Ben antworten und noch ein bisschen Öl ins Feuer gießen konnte. »Lass uns lieber überlegen, was wir jetzt tun.«

»Uns unsichtbar machen?«, schlug Alex vor.

Marc ignorierte ihn. »Ich bin dafür, dass wir aufgeben.«

»Was für eine grandiose Idee«, antwortete Alex. »Wieso ist mir das eigentlich nicht eingefallen?«

Marc versuchte wenigstens, auch das zu ignorieren, zumal in diesem Moment schon wieder gegen die Tür gehämmert wurde. Alarmiert sah er über die Schulter zurück und registrierte nicht nur zum zweiten Mal, wie massiv die uralte Tür war, sondern auch den schweren Riegel, mit dem Alex die beiden polizeiskije ausgesperrt hatte. Aber er machte sich nichts vor: Wenn sie wirklich hier hereinwollten, dann kamen sie hier herein.

»Bis jetzt ist noch nicht viel passiert«, knüpfte er an seine eigenen Worte von gerade an. »Das Schlimmste, was uns blühen kann, sind ein paar Scherereien und eine Nacht in einem russischen Knast.«

»Ach ja?«, höhnte Alex. »Na, wenn’s weiter nichts ist.«

»Es … es tut mir wirklich leid«, sagte Ben. »Ich wollte das alles nicht.«

»Das kommt eben davon, wenn man bei irgendeinem windigen Typen an der Ecke kauft statt beim Drogendealer seines Vertrauens, weißt du?«, sagte Marc. Es sollte witzig klingen, aber ihm war nicht nach Scherzen zumute, und seine Stimme hörte sich auch so an.

Ben nötigte sich immerhin etwas Ähnliches wie ein Lächeln ab. »Ist schon in Ordnung.«

»Nein, gar nichts ist in Ordnung.« Alex ließ sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen, zuerst Ben und dann ihm direkt in die Augen zu leuchten. »Das war dämlich. Dämlich und überflüssig.«

Womit er vollkommen recht hatte, aber Marc fand trotzdem, dass er es allmählich übertrieb. »Ich bin sicher, dass wir es ihnen erklären können … irgendwie.«

»Ich hab Scheiße gebaut, das können wir ihnen erklären«, sagte Ben, zumindest dem Klang seiner Stimme nach den Tränen nahe. »Verdammt, ich hab keine Lust, die nächsten zehn Jahre in einem sibirischen Gulag zu verbringen!«

»Wirst du auch nicht«, antwortete Alex. »Wahrscheinlich kidnappen sie uns und verkaufen unsere Organe an die Chinesen. Wer weiß – mit ein bisschen Glück bringen sie uns ja auch um, bevor sie damit anfangen, uns auszuschlachten.«

»Das ist nicht witzig«, sagte Marc. »Und du musst dir sowieso keine Sorgen machen. Oder glaubst du im Ernst, dass irgendjemand Interesse an deinen Lungen oder deiner Leber hat?«

Alex gab einen Laut wie das genaue Gegenteil eines Lachens von sich und deutete mit dem Lichtstrahl in die Dunkelheit. »Ich glaube, da geht es raus.«

Wie als Reaktion darauf wurde erneut und noch wütender gegen die Tür gehämmert. Sie hielt stand, aber wie lange würden sie wohl brauchen, um Werkzeug zu holen und sie aufzubrechen?

Der Lichtstrahl hüpfte im Takt von Alex’ Schritten voraus, wobei er uraltes verschimmeltes Mauerwerk, Moder und ungesund aussehende Flechten aus der ewigen Dunkelheit riss, bevor er sich ein Dutzend Schritte weiter verlor. Es roch nach altem Staub und noch älterem faulendem Wasser, und einmal glaubte er ein Geräusch wie das Summen eines fernen Hornissenschwarms zu hören. Marcs überreizte Nerven wollten ihm weismachen, dass sich etwas in der Dunkelheit vor ihnen bewegte, aber das ließ er ebenso wenig zu wie das Gefühl, aus unsichtbaren Augen angestarrt zu werden.

Wenigstens versuchte er es.

Nach einer Weile hörten sie das Geräusch wieder, nur dass es jetzt lauter war und eher ein Kollern und Pulsieren und Wummern, und als Alex die Lampe kurz ausschaltete, erschien vor ihnen auch ein Licht; vielleicht auch nur etwas, das zu Licht werden wollte.

Alex sprach es im selben Moment aus, in dem Marc es begriff: »Das ist die Metro! Da vorne muss ein Tunnel sein!«

Er ließ die Lampe wieder aufleuchten und beschleunigte seine Schritte, und ganz kurz bevor Geräusch und Licht erneut zurückkamen, tauchte das Ende des Stollens vor ihnen in einem bleichen Schein auf, dessen bedrohliches Pulsieren sich nun beim besten Willen nicht mehr verleugnen ließ: ein schmaler Durchgang, hinter dem sich das Licht der Taschenlampe endgültig verlor.

»Was …?«, begann er, und diesmal donnerte der Zug so dicht vor ihnen vorbei, dass er heißes Maschinenöl und schmorende Bremsbeläge zu riechen glaubte und wahrscheinlich die Gespräche der Passagiere hätte belauschen können, hätte er es versucht. Für etliche Sekunden verwandelte sich der Gang in eine stroboskopische Geisterbahn, die aus allen Richtungen auf seinen Verstand einhämmerte. Der Boden zitterte wie unter dem Herannahen einer mongolischen Reiterhorde, und für zwei oder drei Sekunden wurde der Sog der vorbeijagenden Metro so stark, dass er ihnen das Atmen schwer machte.

Alex schaltete die Lampe wieder ein, und was Marc in dem unleugbar schon wieder schwächer gewordenen Licht sah, munterte ihn nicht unbedingt auf. Der Tunnel war so schmal, dass er das Gefühl hatte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um die Wand auf der anderen Seite zu berühren. Es gab nur ein einzelnes Gleis, und wenn er den Abstand zwischen der Schiene und der Wand betrachtete, glaubte er nicht, dass zwischen den Zügen und der Mauer mehr als eine Handbreit Platz blieb.

Trotzdem: »Es kann nicht allzu weit sein. Riskieren wir’s?«

»Nach dem nächsten«, antwortete Alex. Marc kam sich ein bisschen dumm vor, aber Alex war diplomatisch genug, nicht weiter auf dem Thema herumzureiten; eigentlich gar nicht typisch für ihn.

Wie immer, wenn man auf etwas Bestimmtes wartet, schien es diesmal doppelt so lange zu dauern, aber schließlich war auch die nächste Metro heran und vorbei. Im blassen Licht sah Marc eine Gestalt davonhuschen und in einem Schatten verschwinden. Es ging zu schnell, um mehr als einen Schemen zu erkennen, und dann hatte er ihn auch schon wieder vergessen, denn er sah nun ganz deutlich ein Licht am Ende des Tunnels …

Marc musste an den albernen Spruch denken, dass das Licht am Ende des Tunnels ein Güterzug sein konnte, der einem entgegenraste. Es war kein Güterzug, sondern die Metro, und sie raste auch nicht unbedingt auf sie zu, sondern nahm gerade erst Fahrt auf, aber es machte vermutlich keinen so großen Unterschied, ob man nun langsam oder schnell unter vierzig Tonnen U-Bahn-Waggon zermalmt wurde. Die Schienen begannen zu summen wie straff gespannte Violinsaiten, und er meinte schon wieder heißes Metall und schmorende Bremsbeläge zu riechen; der Atem des Drachen, der sie im nächsten Moment anspringen würde.

»Folgt mir«, brüllte er. »Schnell!«

Er schwenkte zur Seite, über den vibrierenden Schienenstrang und auf den niedrigen Durchgang zu, hinter dem der Schatten verschwunden war. Ohne zu zögern, stieß er sich ab.

5

Sie entdeckte Kutzow auf der anderen Seite des großen Raums, wo er sich gerade unter einer roten Samtkordel hindurchbückte, die eine kühn geschwungene Treppe zum Obergeschoss absperrte. Eigentlich wäre die Kordel nicht nötig gewesen, denn die Treppe wurde von einem langhaarigen und -bärtigen Kerl blockiert, dessen Schulterbreite kaum hinter der Treppenbreite zurückstand. Trotz seiner tadellosen Erscheinung – Conny mutmaßte inzwischen, dass Kutzow einen anständigen Mengenrabatt bei Armani bekam – und eines Lächelns, das ihm einen lebenslangen Werbevertrag mit jeder ungarischen Zahnklinik eingebracht hätte, sah er ähnlich einladend aus wie eine missgelaunte Tarantel.

Etwas summte, ein Laut, der nicht nur so klang, sondern tatsächlich direkt aus der Tiefe ihres Schädels kam; genauer gesagt aus dem winzigen Funkempfänger, den sie ihr so tief in den Gehörgang gerammt hatten, dass sie nur hoffen konnte, ihn außerhalb eines Operationssaals und ohne Vollnarkose wieder loszuwerden. Wir wären dann so weit, fügte eine für alle anderen ebenso lautlose Stimme hinzu.

Noch nicht, flüsterte sie, eigentlich ohne zu sprechen; ein Trick, den ihr der LKA-Techniker gezeigt und auch seinen technischen Hintergrund so lange erklärt hatte, bis sie ihn wirklich verstand. Was trotzdem nichts daran änderte, dass es ihr immer noch ein bisschen wie Zauberei vorkam. Wartet noch. Irgendwas geht hier vor.

Vielleicht doch nicht ganz so lautlos, denn mindestens ein Pärchen champagnerbewaffneter Kunstkenner hielt in seinen Bemühungen inne, jedem in Hörweite möglichst unauffällig kundzutun, wie viel mehr sie von den ausgestellten Kunstwerken verstanden als alle anderen, und sah irritiert in ihre Richtung, hatte es dann aber nur umso eiliger wegzusehen, als sie ihm einen in ein zuckersüßes Lächeln verpackten eisigen Blick zuwarf.

Lass dir nicht mehr zu viel Zeit. Wir fallen langsam auf.

Ich auch, wenn ich noch lange mit mir selbst rede. Conny versuchte sich durch die Menge zu arbeiten, ohne auf allzu viele Zehen zu treten und nicht mehr Rippen als unbedingt nötig zu prellen, verlor Kutzow aber schon nach wenigen Schritten endgültig aus den Augen. Hoffnungslos überfüllt, wie der Raum war, kostete es sie noch einmal Minuten, aber danach steuerte sie die Treppe mit der allergrößten Selbstverständlichkeit an und hatte sich schon unter der Kordel durchgeduckt, bevor der Hüne auch nur Notiz von ihr nahm. Dann aber bewegte er sich mit einer Schnelligkeit, die sie einem Mann seiner Größe und Statur niemals zugetraut hätte, und vertrat ihr den Weg.

»Bitte verzeihen Sie«, sagte er in nahezu akzentfreiem Deutsch, »aber der obere Bereich ist für Gäste gesperrt.«

Conny stellte sich auf die Zehenspitzen, um an ihm vorbeizusehen. »Aber Maxim hat gesagt, dass ich mitkommen soll«, behauptete sie. »Wir müssen uns irgendwo in der Menge aus den Augen verloren haben, tut mir leid.«

Der Russe wäre sein Geld nicht wert gewesen, wäre er so ohne Weiteres darauf hereingefallen, aber immerhin renkte er sich fast die Halswirbel aus, um hinter sich und nach oben zu sehen. Conny nutzte die Gelegenheit, um eine weitere Stufe zu nehmen. Gleichzeitig suchte sie nach Vitali, der immer noch unter der offenen Tür stand und ein bisschen hilflos aussah. Sie lächelte ihm nicht nur zu, sondern winkte, und nach einer Sekunde antwortete er auf dieselbe Weise, nur ohne Lächeln.

»Können Sie Maxim nicht einfach anrufen und ihm Bescheid sagen, dass ich hier auf ihn warte?«, wandte sie sich an Chewbacca. »Er kommt bestimmt zurück und holt mich ab.«

Conny konnte regelrecht sehen, wie es hinter der Stirn des großen Mannes zu arbeiten begann. Vielleicht wunderte er sich ja auch ein bisschen, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand wie sie in Kutzows Beuteschema passte. Aber nach fünf endlosen Sekunden, in denen ihr mindestens ebenso viele wirklich unangenehme Szenarien durch den Kopf schossen, rang er sich zu einem Nicken durch und gab den Weg frei; was angesichts seiner Statur aber lediglich bedeutete, dass sie sich so gerade eben an ihm vorbeiquetschen konnte, ohne ihn unsittlich zu berühren.

Die Treppe führte auf eine Galerie mit einem halben Dutzend Türen hinauf, die vollkommen gleich aussahen. Sie dachte vorsichtshalber nicht darüber nach, was Chewbacca denken (oder gar tun) würde, wenn sie die falsche ansteuerte, ging jedoch nur umso zielstrebiger auf die am weitesten entfernte zu.

Behutsam drückte sie die Klinke hinunter, schob die Tür einen Fingerbreit auf und lauschte. Da waren Stimmen, zwar nicht deutlich, aber sie klangen eindeutig nach Streit; und vielleicht war da auch so etwas wie ein Weinen.

Es war genau dieses Geräusch, das sie ihre letzten Zweifel vergessen und die Tür ganz aufschieben ließ. Dahinter versuchte das Haus erst gar nicht mehr, sein wahres Alter zu verbergen und hätte sich vielleicht sogar als die renovierte Gründerzeit-Villa geoutet, die es war, wären die Wände nicht in einem grellen Neon-Pink gestrichen gewesen und hätten anstelle goldgerahmter Porträts irgendwelcher Altvorderen nicht ebenfalls in verschnörkelte Goldrahmen gesteckte iPads neben den Türen gehangen, über die Videoclips flimmerten, die haarscharf an der Grenze zur Kinderpornografie entlangschrammten.

Wir können nicht mehr lange warten. Ich glaube, einer der Gorillas an der Tür hat etwas gemerkt.

Ihre Hand berührte den Anhänger an ihrem linken Ohr. Gebt mir noch zwei Minuten. Hier ist irgendeine Riesenschweinerei im Gange.

Eine. Und wenn die Sache schiefgeht, erklärst du Eichholz, warum.

Zwei Minuten, sagte sie nur noch einmal, und hinter der letzten Tür auf dem Gang erscholl ein einzelner, spitzer Schrei. Sie stürmte los, rannte die Tür eher ein, als sie sie aufstieß, und stolperte in einen unerwartet großen, ganz in pinkfarbenem Plüsch und poliertem Messing gehaltenen Raum. Anstelle eines Fensters gab es eine offen stehende Tür in ein angrenzendes Bad mit Tageslicht, und die Einrichtung bestand fast zur Gänze aus einem monströs großen runden Bett auf einem Sockel unter einem gleichgroßen, fugenlos gegossenen Spiegel und einem stummen Diener voll Leder und Ketten. Es roch nach teurem Parfum, nicht ganz so teuren Zigarren und billigem Puff, und es gab zwei junge Frauen und ein Mädchen, das mit angezogenen Knien auf dem Bett lag. Eine der beiden jungen Frauen kniete neben ihm auf dem Bett und hielt seine Handgelenke fest, die zweite stand auf der anderen Seite der runden Plüsch-Monstrosität und sah schrecklich hilflos aus. Auf einem irgendwie vom realen Zeitablauf entkoppelten Nebengleis ihrer Gedanken erkannte sie ihr Gesicht als das der Hauptdarstellerin des Videoclips, den sie draußen auf dem Tablet gesehen hatte; die 21st-Century-Version der Hochglanzfotos in den Schaukästen einer Tabledance-Bar. Nur dass sie in natura noch sehr viel jünger aussah. Conny war sehr sicher, dass sie keine achtzehn war, und sogar noch sehr viel sicherer, dass sie im Zweifel Papiere vorlegen würde, die das Gegenteil bewiesen und – fast – jeder Überprüfung standhielten.

Für das weinende Mädchen mit den hunderttausend goldenen Löckchen auf dem Bett galt das nicht.

Nadeshda sah nicht einmal in ihre Richtung, aber Conny erkannte sie natürlich trotzdem. Das Mädchen weinte jetzt lautlos und hatte die Knie noch enger an den Leib gezogen, wie um sich zu einem Ball zusammenzurollen, und zitterte am ganzen Leib.

»Was ist hier passiert?«, fragte sie, wartete die Antwort aber erst gar nicht ab, sondern riss die junge Frau grob von Nadeshda weg. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, sie nicht zu schütteln. »Was geht hier vor?«

»Ja, genau das wollte ich gerade auch fragen«, sagte eine Stimme hinter ihr. Kutzow war unter der Tür erschienen und sah plötzlich alles andere als fröhlich aus. Seine Krawatte hing schief, und auf den zweiten Blick erkannte sie, dass die Knöchel an seiner Rechten aufgeplatzt und blutig waren.

»Jetzt haben Sie mich auf frischer Tat erwischt«, antwortete sie übertrieben zerknirscht. »Ehrlich gesagt haben Sie mich schon vorhin durchschaut, erinnern Sie sich? Ich bin eigentlich hier, um Ihre Geheimnisse auszukundschaften. Vor allem die Adresse dieses jungen Russen, der diese fabelhaften leeren Bilderrahmen …«

Der Rest ging in einem schmerzlichen Zischen unter, als er mit einem einzigen Schritt bei ihr war, nach ihrem Arm griff und fest genug zudrückte, dass es wehtat. »Was Sie hier suchen, habe ich gefragt! Wer hat Sie hier hochgelassen? Wer schickt Sie?«

Conny versuchte sich loszureißen, aber natürlich reichte ihre Kraft nicht. »Das sind jetzt gleich drei Fragen auf einmal«, presste sie hervor. »Welche soll ich zuerst …?«

Diesmal schlug er ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Noch nicht so hart, dass ihre Lippe aufplatzte, aber fest genug, um ihren Kopf in den Nacken zu werfen und sie Blut schmecken zu lassen.

»Sie werden mir jetzt sagen, wer Sie wirklich sind und was Sie hier suchen!«, sagte Kutzow. Conny versuchte vergeblich in seinem Gesicht zu lesen, was nicht nur deshalb misslang, weil ihr Blick vor Schmerz verschwamm. Behutsam tastete sie mit der Zungenspitze über die Zähne. Keiner davon wackelte – immerhin etwas –, und auch ihre Lippen waren nicht aufgeplatzt, obwohl sie spürte, wie rasch sie anschwollen. Kutzow wusste, wie man zuschlug, ohne Spuren zu hinterlassen.

Ist bei dir alles in Ordnung?

Kutzow hatte sie auf der anderen Seite getroffen, aber ihre Ohrhänger waren heftig genug zusammengeschlagen, um den Sender zu aktivieren.

»Nein«, sagte sie.

Nein?

»Nein?«, fragte Kutzow. »Was soll das …?« Dann weiteten sich seine Augen, und er ließ endlich ihre Handgelenke los; wenn auch nur, um in der nächsten Sekunde mit beiden Händen nach ihren Ohrhängern zu greifen und sie kurzerhand abzureißen.

Es tat nicht einmal weh.

Wenigstens nicht in der ersten Sekunde.

In der zweiten dafür umso mehr.

Der Schmerz explodierte seltsamerweise nicht in ihren aufgeschlitzten Ohrläppchen, sondern hinter ihren Schläfen, und er war so schlimm, dass ihr schlecht wurde. Irgendwie gelang es ihr, nicht zu schreien, aber sie stolperte zurück und gegen die Wand, schlug die flachen Hände gegen die Ohren und weckte damit nicht nur auch darin einen brennenden Schmerz, sondern spürte auch eine warme, klebrige Nässe, die rote Tränenspuren auf ihren Unterarmen hinterließ. Ihre Knie schienen mit einem Mal nicht mehr in der Lage, das Gewicht ihres Körpers zu tragen. Alles verschwamm vor ihren Augen.

»Wer dich geschickt hat, habe ich gefragt!«, fuhr Kutzow sie an. Er sagte noch mehr, aber sie hörte nicht mehr hin und konnte es auch gar nicht. Ihre Ohren pochten, und der klebrigen Wärme auf ihren Wangen und Hals nach zu schließen passte sich ihre Gesichtsfarbe vermutlich gerade der des geliehenen roten Partykleids an.

»Wir sind Sie?«, fragte Kutzow noch einmal, nicht nur wieder zur förmlicheren Anrede zurückkehrend, sie konnte regelrecht sehen, wie sein Zorn verrauchte und von etwas anderem und möglicherweise sogar Schlimmerem abgelöst wurde. Er würde keine Antwort bekommen und wusste das wohl auch, denn er trat bereits einen halben Schritt zurück und hob die beiden abgerissenen Ohrhänger nacheinander ins Licht, um sie aus angestrengt zusammengekniffenen Augen zu betrachten. Wenn der LKA-Techniker die Wahrheit gesagt hatte (und ihre eigenen Augen auch), dann sorgte der besondere Schliff der angeblichen Swarovski-Steine dafür, dass die gedruckte Schaltung darin so gut wie unsichtbar blieb.

Mit einem Schnauben, das Raum für jede beliebige Interpretation bot, ließ er die Kristalltränen zuerst in der zuschnappenden Hand und dann in der Jackentasche verschwinden. Als seine Hand wieder daraus auftauchte hielt sie jedoch weder eine Waffe noch irgendein exotisches Folterinstrument, sondern ein zusammengefaltetes Taschentuch mit einem mit Goldfäden gestickten Monogramm.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich entschuldige mich. Ich habe die Beherrschung verloren. Das ist sonst nicht meine Art.«

Conny griff zögerlich zu und begann unbeholfen an ihrem Ohr herumzutupfen. Prompt kam der Schmerz zurück, und zwar sehr viel heftiger, als sie erwartete. Trotzdem werkelte sie fröhlich weiter, bis Kutzow sich ihrer schließlich erbarmte und ihr das Taschentuch abnahm, das jetzt nur noch zum allerkleinsten Teil weiß war.

Wenig sanft schob er sie ins angrenzende Bad und an eines der großen Marmorwaschbecken, und Conny nahm all ihren Mut zusammen und sah in den Spiegel.

Sie hatte Schlimmes erwartet und wurde nicht enttäuscht. Alles unterhalb ihrer Ohrläppchen war blutrot, und selbst ihr Kleid hatte sich mit schwerer Nässe derselben Farbe vollgesogen. Eines ihrer Ohrläppchen blutete noch immer, das andere hatte inzwischen damit aufgehört, sah aber aus wie eine zerfledderte Zeltplane, aus der man die Ösen herausgerissen hatte, und fühlte sich irgendwie auch so an.

Kutzow befeuchtete ein Kleenex, das er aus einem verchromten Spender mit einem Calvin-Klein-Logo zog, befeuchtete es ausgiebig und versuchte mit ganz erstaunlichem Erfolg, auch ihr anderes Ohr wieder zum Bluten zu bringen. Conny biss die Zähne zusammen, um ihm nicht den Triumph eines weiteren Schmerzlautes zu gönnen, und fragte sich, wo zum Teufel eigentlich die Verstärkung blieb. Spätestens in dem Moment, in dem die Funkverbindung abgebrochen war, hätten sie aus den Wagen springen und den Laden stürmen sollen.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er. »Ich habe überreagiert. Das hätte nicht passieren dürfen.«

Ja, der Meinung war Conny auch, biss aber die Zähne nur noch fester zusammen und versuchte auf die Geräusche aus dem Erdgeschoss zu lauschen. Die beiden jungen Frauen hatten die Tür offen gelassen, sodass sie so etwas wie ein fernes Hintergrundmurmeln hörte, das aber nicht nach einer Razzia dort unten klang.

Sie bemühte sich tapfer, seine sogenannte Hilfe klaglos über sich ergehen zu lassen, zumal er damit auch alles andere als erfolgreich war. Nachdem er das fünfte oder sechste Kleenex verbraucht hatte, gab er es auf und berührte eine Ecke des Spiegels, der sich daraufhin mit einem leisen hydraulischen Zischen in die Decke zurückzog und den Blick auf ein erstaunliches Sammelsurium von Schminkzeug, Sextoys und genug Verbandsmaterial, Schmerzmitteln und Medikamenten freigab, um eine durchschnittliche Buschklinik in Afrika damit auszurüsten. Wie es aussah, waren die Bewohner dieser Räumlichkeiten auf so ziemlich alles vorbereitet, was nicht schon ein kleiner Krieg war.

»Halten Sie still!« Kutzow nahm irgendetwas aus dem Schrank und sich dann wieder ihres Ohrläppchens an, und der Schmerz flammte noch einmal auf und erlosch dann so plötzlich, dass sie sich vornahm, in den nächsten vier Wochen lieber einen Bogen um jeden Drogentest zu machen.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er zum wiederholten Mal. »Ich bringe Sie gleich morgen früh zu einem wirklich guten plastischen Chirurgen und übernehme selbstverständlich alle Kosten.«

»Alle?«, vergewisserte sich Conny. »Bei einer Frau meines Alters kann das teuer werden.«

Bevor er etwas erwidern konnte, stieß sie sich vom Rand des Waschbeckens ab und eilte zurück ins Nachbarzimmer. Nadeshda stand noch immer in derselben Haltung da, als wäre sie zur sprichwörtlichen Salzsäule erstarrt.

»Was haben sie dir getan, Kleines?«, fragte sie.

»Sie versteht Sie nicht.« Kutzow sagte etwas auf Russisch, das deutlich mehr Worte hatte als Connys Frage zuvor, und sie antwortete mit einem ganzen Redeschwall und in alles andere als ängstlichem Ton.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Conny.

»Ich glaube nicht, dass Sie das wirklich wissen …«, begann Kutzow, und aus seiner Tasche kam ein aggressiver Ton, der ihn nicht nur mitten im Satz abbrechen, sondern auch alarmiert die Stirn in Falten legen ließ; das Summen seines iPhones, das aber plötzlich auf subtile Weise anders und alarmierend klang. Zugleich veränderten sich auch die Geräusche aus dem Erdgeschoss, als dort unten eine Party ganz anderer Art begann.

Kutzow zerrte das Telefon aus der Tasche, warf einen Blick auf das Display und steckte es wieder ein, ohne es eingeschaltet zu haben. »Du bleibst hier«, raunzte er Nadeshda an, während er sich bereits zur Tür wandte.

»Und Sie auch«, sagte Conny. »Sie hatten recht, wissen Sie?«

»Womit?« Kutzow hielt mitten in der Bewegung inne.

Und warum sollte sie den Moment nicht ein bisschen genießen? »Maxim Kutzow«, sagte sie mit einem zuckersüßen Lächeln, »Sie sind verhaftet!«

Wenn er auch nur halb so schlau war, wie er glaubte, dann sollte er eigentlich nicht überrascht sein, dachte Conny. Aber er war es. In seinem Blick erschien etwas, von dem sie nicht ganz sicher war, was es bedeutete, und sein Gesicht verlor noch das allerletzte bisschen Farbe. Aber er fing sich auch sofort wieder und stülpte trotzig die Unterlippe vor. »Bin ich das? Und wer genau soll mich festhalten? Du?«

Seine Hand glitt in die andere Jackentasche.

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