Verfluchtes Erbe - T.D. Amrein - E-Book

Verfluchtes Erbe E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

Die offen gebliebenen Fragen aus dem ersten Teil lösen sich bald auf. Cécile hat sich ohne ihren verschollenen Mann eingerichtet. Als er wiederauftaucht, im Koma, gerät alles aus den Fugen. Jetzt ist sie eine Gefangene, die ihr Leben an sich vorbeiziehen sieht, die paar guten Jahre, die ihr noch bleiben. Der Versuch, eine anständige Ehefrau zu bleiben, mißlingt, sie gibt dem Schicksal einen Schubs, der sie befreien soll. Das Leben schlägt gnadenlos zurück, trotz des Reichtums, den sie ohne schlechtes Gewissen geniessen könnte, endet alles in einer persönlichen Katastrophe. Auch Kommissar Max Krüger erlebt eine Zäsur, er verursacht einen kleinen Autounfall, mit weitreichenden Folgen. Trotz Sinnkrise, bekommt er sein Leben wieder in den Griff, dank der aussergewöhnlichen Frau, die er kennenlernt. Sie verkörpert das Rätsel Frau, in einer Dimension, die ein Mann niemals ganz ergründen kann. Die Zeit Dornbachs ist auch abgelaufen, er endet verdient auf seiner Insel.

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T.D. Amrein

Verfluchtes Erbe

Band 2

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4.Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Impressum neobooks

1.Kapitel

Langsam schlichen die zwei Kater aufeinander zu, um sich schließlich in ein undefinierbares Knäuel zu verwandeln. Kommissar Max Krüger grinste. Etwas Abwechslung in dieser nächtlichen Observierung, in der er freiwillig eine Schicht übernommen hatte.

Nur noch diesen letzten Beweis, dass die Zielperson den mutmaßlichen Täter kannte, brauchte er, um endlich zu einer Verhaftung zu kommen. Dieser Fall beschäftigte ihn seit mehr als einem Jahr. Wenn auch nur ab und zu.

Einer der Kater flüchtete. Krügers Gedanken kehrten zurück zu seiner kurzen Ehe mit Nadja. Noch immer versuchte er zu verstehen, was eigentlich schief gelaufen war. Sie war für ihn die große Liebe gewesen. Wahrscheinlich hatte er zu viel auf einmal gewollt.

Sie verschreckt durch den absoluten Anspruch, dass er der Einzige und ausschließliche Mittelpunkt ihres Lebens sein wollte.

Sobald es Streit gegeben hatte, den er auf jeden Fall immer zu vermeiden versuchte, verschwand er, um sich zu besaufen. Das dürfte wohl sein größter Fehler gewesen sein. Das hatte er inzwischen begriffen.

Seit einem Jahr hatte er keinen Tropfen mehr angerührt. Leider zu spät.

***

Das Licht im Treppenhaus flackerte auf. Krüger spannte sich, griff nach dem Fernglas. Eine dunkelgekleidete Person wartete an der Haustür. Vorsichtig nach allen Seiten spähend, dabei ungeduldig an der Tür rüttelnd. Krüger versuchte das Gesicht ins Fernglas zu bekommen. „Mist“, brummte er schließlich. Ein Jugendlicher. Nicht seine Zielperson.

Trotzdem behielt er das Glas oben. Die Tür schwang auf, der Junge verschwand. Plötzlich schob sich eine weitere Gestalt ins Blickfeld. Die wohl hinter der Hecke gewartet hatte, um ebenfalls im Eingang zu verschwinden.

Nervös starrte Krüger auf die Fenster im zweiten Stock. Alles blieb dunkel. Sollte er die Wohnung stürmen lassen? Sie hatten nur einen Versuch, das war klar.

„Nein“, sagte er halblaut zu sich. Streckte sich und wartete weiter.

Endlos dauerte die Nacht. Krüger kämpfte gegen das Einnicken, um schließlich doch zu verlieren.

***

Als er aufwachte, war es schon hell. Die Autoscheiben völlig beschlagen. Jeder der vorbeikam, sah sofort, dass hier jemand im Auto übernachtet hatte.

Gut, dass es keine Ablösung gegeben hatte. Diese Beschattung lief ohne staatsanwaltliche Erlaubnis. Nur wenn es möglich war, verbrachte ein Polizist die Nacht vor diesem Haus. Irgendeinmal würden sie Erfolg haben, davon war Krüger überzeugt. Er ärgerte sich natürlich trotzdem über die verlorene Nacht, die er besser im Bett verbracht hätte. Jetzt musste er so schnell wie möglich ins Büro. Keine Zeit mehr für eine Morgentoilette. Unrasiert, zerknittertes Hemd, die Haare hatten auch schon besser ausgesehen. Das einzige Gute daran, wenn ihn jetzt jemand sah, würde dieser ihn ganz bestimmt nicht für einen Oberkommissar halten.

Also stieg er aus dem Fahrzeug und streckte sich noch einmal ausgiebig. Trotz der gebotenen Eile erlaubte er sich einen kurzen Spaziergang. Um die steifen Glieder etwas zu lockern, bevor er sich auf den Weg machte.

Die Beamtin am Empfang musterte ihn von oben bis unten, erst dann begrüßte sie ihn knapp. „Morgen! Sie haben Besuch, Herr Kommissar. Eine Dame. Sie wartet in Ihrem Büro.“

Krüger zuckte zusammen. Ausgerechnet jetzt. So konnte er doch niemandem gegenübertreten.

„Lassen Sie ihr bitte einen Kaffee bringen!“, brummte er. „Ich bin gleich soweit.“

Vorsichtig schlich er in den Keller, wo sich die Sporträume befanden. Um sich wenigstens etwas zurechtzumachen.

Wer konnte das sein? Er hatte doch bestimmt niemanden bestellt, dachte er die ganze Zeit, während er sich unter der Dusche aalte. Bis ihn ein weiterer Schlag traf.

Die neue Praktikantin, natürlich. Die war sicher schon mehr als eine Stunde da.

Peinlich, peinlich. Was für ein erster Eindruck.

***

Endlich betrat er sein Büro. Über sein zerknittertes Hemd hatte er das Notfallsakko mit Krawatte aus dem Kellerspind gezogen. Um seine Besucherin halbwegs zivilisiert, empfangen zu können.

Im ersten Moment blieb ihm die Entschuldigung im Hals stecken. Lange, unbedeckte Beine führten den Blick zu einem beeindruckenden Dekolleté. Darüber das Gesicht eines Engels. Mit grünen Augen, die ihn mit einer Intensität anstrahlten, die sich kaum noch aushalten ließ.

Viel zu schön, für eine Polizistin, schoss Krüger durch den Kopf. Sie erhob sich, streckte die Hand aus. „Guten Morgen Herr Oberkommissar! Ich bin Nadja Siller. Ihre neue Praktikantin.“

Nadja. Ein weiterer Schlag.

„Guten Morgen!“, brachte er schließlich heraus. „Frau Siller, freut mich, tut mir leid, dass ich zu spät bin, ich meine, dass Sie so lange warten mussten.“

Gleich fange ich auch noch an zu stottern, dachte Krüger erbost.

„Das macht doch nichts, Herr Oberkommissar. Sie haben sicher Wichtigeres zu tun.“ Es klang überhaupt nicht nach Vorwurf. Aber Krüger war sofort klar. Die kann dich mit wenigen Worten zum Idioten machen.

Dazu diese Augen. Er senkte den Blick, um damit wieder auf ihrem sanft auf und ab wandernden Busen zu landen. Zum Glück klopfte in diesem Augenblick jemand, so dass beide zur Tür schauten. Vera, der gute Geist des Reviers, brachte Krüger einen Kaffee. Schnell ergriff er die Gelegenheit: „Vera, zeigen Sie doch bitte Frau Siller die Räumlichkeiten. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

„Ja dann, bis später, Herr Oberkommissar. Wann darf ich zurückkommen?“ Wieder diese Art, einen Vorwurf in einen netten Satz zu kleiden. Krüger schwankte zwischen Bewunderung und schlimmer Ahnung.

„Ich melde mich“, gab er knapp zurück. „Und lassen Sie bitte den Oberkommissar weg. Nennen Sie mich Krüger oder einfach Chef.“

Vera zog sie aus dem Büro, bevor sie antworten konnte. Nur ihr dezentes Parfüm blieb zurück.

Nach kurzem Überlegen kramte Krüger die Akte „Obermann“ hervor und legte sie an den Rand seines Schreibtisches. Dieser Fall, der ihn schon so lange beschäftigte. Genüsslich schlürfte er an seinem Kaffee. Damit konnte er sie in Schach halten. Eine neue Sicht auf die Akte konnte nicht schaden.

***

Endlich drückte er die Sprechtaste, die direkt zu Vera führte und verlangte nach Frau Siller.

Erwartungsvoll erschien sie, die Augen fest auf ihn gerichtet. Aber ein zweites Mal ließ sich Krüger nicht überrumpeln. „Diese Akte“, sagte er beiläufig, ohne sie anzusehen, „ist Ihre Arbeit für diese Woche. Schauen Sie sich alles ganz genau an. Versuchen Sie, etwas zu finden, wo man ansetzen könnte. Ich erwarte einen sauberen Bericht. Mit Vorschlägen und Dingen, die Ihnen speziell aufgefallen sind.“

„Dafür eine ganze Woche Zeit?“, fragte sie ungläubig.

Jetzt fixierte er sie direkt. „Wenn Sie in einer Woche weiterkommen, als wir in einem Jahr. Das wäre eine respektable Leistung.“ Damit konnte er ihre glatte Schale durchbrechen. Sie errötete sogar leicht.

„Entschuldigen Sie Herr, äh Chef. Das habe ich damit nicht gemeint.“

„Schon gut“, brummte Krüger, wieder in netterem Ton. „Dort ist Ihr Schreibtisch. Den Zugang zum Computer bekommen Sie von Vera. Noch Fragen?“

„Im Moment nicht. Danke Chef“, erwiderte sie nur. Keine Augenspiele mehr. Sie hatte ihn akzeptiert.

***

Der Fall Obermann, begann in der Akte damit, dass ein Leichenfund gemeldet wurde. Ein Foto zeigte eine ältere Dame, die zwischen braunen Flecken auf dem Boden einer Küche lag. Die Fliesen stammten noch aus den fünfziger Jahren. Ebenso das Mobiliar, eine typische Seniorenwohnung. Die Sache dürfte wohl ohne jeden Verdacht als natürlicher Tod durchgegangen sein, wenn der auffällige Diamantring, den die Tote immer getragen hatte, noch an seinem Platz gewesen wäre.

Die Tochter, die sofort die Polizei verständigt hatte, behauptete, dass dieser Ring mindestens zwanzigtausend Mark gekostet habe.

Natürlich glaubte ihr niemand. Trotzdem musste der Fall aufgenommen werden. Die Obduktion ergab, dass die Dame nicht an Herzversagen gestorben war. Wie auf dem Totenschein stand, den der Hausarzt vorschnell ausgefüllt hatte. Sondern wahrscheinlich mit einem Kissen erstickt wurde.

Durch die Verzögerungen verschwanden fast alle Spuren am Tatort. Ein paar Fotos der Fundsituation. Sie zeigten, wo und wie die Leiche gelegen hatte. Eigentlich alles, was den Ermittlern geblieben war.

Aber nach und nach zeigte sich, dass die Dame tatsächlich ein Vermögen besessen hatte.

Nicht einmal die Verwandten wussten etwas darüber. Mit Ausnahme der Tochter, die die Polizei verständigt hatte. Allerdings hatte auch sie nur von diesem Ring gesprochen.

Immer neue Vermögenswerte tauchten auf. Mehrere Liegenschaften. Weitere Bankkonten und Wertpapiere. Alles zusammen ergab eine imposante Summe, die sich auf vier Erben verteilte.

So klar das Motiv auch erschien. Die Ermittlungen verliefen im Sand.

***

Ein Einbrecher hätte die Wohnung vermutlich noch durchsucht. Aber es wurden kleinere Barbeträge an verschiedenen Stellen gefunden. Nichts schien erbrochen oder durchwühlt. Das einzige Indiz für einen Raub blieb der Ring.

Natürlich konnte man nicht ganz auszuschließen, dass sonst noch etwas fehlte. Die eher schäbige Wohnung, wies auf keinerlei Reichtum hin.

Ihr Sohn, der sie ab und zu besuchte, hatte ihr sogar heimlich die Rente aufbessern lassen. Als erfolgreicher Anwalt verdiente er genug. Doch selbst wenn er von ihrem Vermögen gewusst hätte. Lange hätte er ohnehin nicht mehr auf die Erbschaft warten müssen.

Die Tochter schied durch ihr Verhalten als Täterin aus. Sohn und Tochter hatten nie geheiratet. Somit existierten auch keine Partner, die vom Erbe profitieren konnten.

Es verblieben noch zwei Neffen, auf die sich die Ermittlungen lange konzentrierten. Einer lebte in normalen, stabilen Verhältnissen. Er war jedoch nachweislich zur Tatzeit abwesend. Auch wenn sich das erst nach und nach verdichtet hatte. Deshalb blieb der Zweite als Hauptverdächtiger übrig.

Er gab schließlich zu, dass ihn die Tante gelegentlich unterstützt hatte. Allerdings solle es sich nur um Kleinstbeträge gehandelt haben. Er befand sich stets in Geldschwierigkeiten, weil er keiner geregelten Arbeit nachging. Ab und zu fiel er durch Ladendiebstähle auf.

Ein Alibi für die Tatzeit hatte er zwar nicht. Trotzdem konnte man ihm bisher absolut keinerlei Verdachtsmomente nachweisen.

Als einziger dürfte er gewusst haben, wo die Tante ihr Bargeld aufbewahrte. Dass er nur den Ring mitgenommen hätte, schien mehr als fraglich.

Krüger hatte dazu eine Theorie entwickelt: Dass jemand, der von Frau Obermanns Vermögen zufällig erfahren hatte, zum Beispiel ein Bankmitarbeiter, ein Angestellter vom Grundbuchamt oder sogar der Postbote, mit dem Neffen Kontakt aufgenommen hatte. Eine solche Beziehung nachzuweisen, war der Grund für die gelegentlichen Nachteinsätze. Die jedoch bisher erfolglos geblieben waren.

Wenn es nicht bald gelang, würde das Erbe verteilt und die Verbrecher belohnt werden. Der Diamantring, der alles ins Rollen gebracht hatte, war sicher längst verkauft. Auf ihn konnte Krüger nicht mehr hoffen.

***

Der zweite Arbeitstag begann für Nadja Siller ganz normal. Gestern hatte sie sich in die Akte eingearbeitet. Die halbe Nacht lang beschäftigte sie das Geschehen. Die Theorie Krügers erschien ihr durchaus möglich. Aber sie störte, dass das Vermögen der alten Dame doch durch irgendwen verwaltet werden musste.

Zumindest die Mietshäuser. Wer hielt die Wohnungen in Schuss? Was geschah, wenn Mieter wechselten oder die Miete nicht bezahlten? Das Naheliegende blieb doch, das ihr Sohn, der Anwalt, sich darum kümmerte. Aber der wusste ja nichts von diesen Häusern. In der Akte fand Nadja keine Hinweise auf diese Fragen.

Erst saß sie allein im Büro. Krüger fand sich oft nicht besonders früh ein, wenn er keinen dringenden Fall bearbeitete. Deshalb führte Nadja ihre Analyse vorerst weiter. Fest entschlossen, ihrem Chef gleich die ersten Fragen zu stellen, sobald er auftauchte.

Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Krüger stürmte in sein Büro: „Einsatz, Frau Siller! Kommen Sie!“

Sie wollte erst die Papiere zusammenräumen. Aber er sah sie dermaßen entgeistert an, dass sie es bleiben ließ.

„Was ist den passiert?“, keuchte sie, während sie hinter ihm her hastete. „Leichenfund in der Kronbergstraße dreizehn“, gab er atemlos zurück.

„Kronbergstraße dreizehn?“, wiederholte sie. „Das ist doch die Adresse ...“

Krüger blieb stehen. „Ja genau. Darum bin ich so in Eile. Aber eigentlich läuft uns der Tote ja nicht weg. Habe ich Sie überhaupt begrüßt?“

Nadja lächelte. „Nein. Haben Sie nicht.“

„Guten Morgen, Frau Siller.“

„Guten Morgen Chef“, gab sie zurück.

In normalem Tempo gingen sie weiter. Krüger ließ sich sonst nicht so leicht aus der Fassung bringen.

Aber diese Meldung: ein Toter in der Kronbergstrasse dreizehn, erstochen, wahrscheinlich vorletzte Nacht. Die Nacht, die er vor diesem Haus verschlafen hatte. Das durfte doch nicht wahr sein.

***

Vor Ort war schon viel los. Einsatzfahrzeuge der Polizei, ein Leichenwagen. Und eine ganze Menge anderer Fahrzeuge, die kaum alle tatsächlich benötigt wurden, verstopften die Straße. Ein Leichenfund sprach sich schnell herum, dagegen konnte man nur wenig tun.

Krüger parkte um die Ecke. Zu Fuß erreichten sie den abgesperrten Eingang. Von überall begrüßten ihn die anwesenden Beamten. Seine Begleiterin erntete bewundernde Blicke. Sie stiegen in den zweiten Stock und blieben an der offenen Wohnungstür stehen. Die Wohnung glich eher einer Müllhalde. Alles vollgestellt mit Abfällen. Kartons, Verpackungsreste, leere und halbvolle Flaschen. Ein Fahrrad versperrte den Weg zu einem Zimmer, das ohne Tür den Blick auf weiteren Unrat freigab.

„Sind Sie soweit?“, fragte Krüger einen Beamten der Spurensicherung. „Können wir reinkommen?“

„Nein sind wir nicht!“, fauchte der Mann. „Aber reinkommen können Sie trotzdem!“

Ein schmaler Pfad führte ins Wohnzimmer. In einem Sessel saß ein Mann mittleren Alters. Sein Kopf lag zurückgesunken auf dem Oberteil der Lehne. Wohl deshalb hielt er sich im Sessel, ohne vornüber zu kippen. Die Ellenbogen ruhten auf den seitlichen Armpolstern. Die Hände des Toten umklammerten den Holzgriff eines Messers, das in seiner Brust steckte. Krüger warf einen Blick auf Nadja. Sie schien blass, hielt sich aber aufrecht. „Geht?“, fragte er.

Sie nickte nur.

„Wo ist der Pathologe?“, fragte Krüger in die Runde.

„Schon wieder weg“, lautete die Antwort.

„Der Tote heißt ...“ begann einer der Beamten. „Ich weiß wie er heißt“, unterbrach Krüger. „Heiko Stohler. Seit einem Jahr mein Hauptverdächtiger im Fall Obermann.“

„So ein Zufall?“, wunderte sich der Beamte.

„Wer hat den Toten gefunden?“, fragte Krüger weiter.

„Wir!“

„Sie?“

„Ja. Ein anonymer Anruf: In dieser Wohnung finden Sie eine Leiche. Nichts weiter.“

„Mann oder Frau?“, wollte Krüger wissen.

„Frau, Herr Kommissar. Eindeutig.“

„Das wurde aufgezeichnet?“

„Selbstverständlich.“

„Lassen Sie mir eine Kopie zukommen, bitte!“, brummte Krüger.

***

„Der Augenschein am Tatort ist wichtig. Aber in diesem Fall hat es wahrscheinlich nicht viel gebracht“, sagte Krüger zu seiner Praktikantin, als sie die Wohnung verließen. „Bis die Spurensicherung in diesem Chaos etwas Brauchbares findet, kann es Tage dauern. Auch die Obduktion wird vermutlich kaum viel Neues bringen.

Wir stehen wieder am Anfang, obschon ich bereits fast alles über das Opfer weiß“, fuhr Krüger fort.

„Wer hat ein Motiv?“, fragte Nadja.

„Die anderen Erben natürlich. Aber das ist mehr als unwahrscheinlich. Es muss noch jemanden geben, der vom Tod Stohlers profitiert, wenn es sich nicht eine Beziehungstat handelt. Was natürlich auch möglich ist“, antwortete Krüger nachdenklich. „Hatte er denn eine Beziehung?“, fragte Nadja weiter.

„Soviel ich weiß, nicht.“ Krüger blieb stehen. „Wobei eine Beziehung natürlich nicht nur auf ein Liebesverhältnis beschränkt sein muss.

„Was mich beschäftigt, möglicherweise habe ich den Täter gesehen.“

Nadja sah ihn mit großen Augen an. „Wie meinen Sie, Chef? Sie haben den Täter gesehen?“

„Ich erkläre es Ihnen später“, gab Krüger zurück. „Erst muss ich mir selbst klar werden.“

Auf der Fahrt stellte Nadja endlich die Frage, die sie die ganze Nacht beschäftigt hatte. „Ich sollte doch nach neuen Ansätzen suchen, Chef? Dabei ist mir aufgefallen, es muss doch jemanden geben, der die Wohnhäuser verwaltet? In den Akten findet sich kein Hinweis darauf.“

Krüger lächelte: „Natürlich kümmert sich jemand um die Häuser. Ein Büro, das solche Dienste anbietet“, antwortete er.

Nadja sah ihn fragend an. „Und weiter?“

„Nichts weiter“, gab Krüger zurück.

„Aber die müssten doch etwas wissen?“, bohrte Nadja nach. „Das ist ja genau der Trick“, antwortete Krüger. „Die wissen gar nichts. Nur Adresse und Bankkonto eines weiteren Büros im Ausland, das genauso für ein weiteres Büro arbeitet. Die Kette ist lang, fast endlos. Dadurch werden jegliche Besitzverhältnisse und damit auch die Steuern unklar. Ohne das eine böse Absicht nachzuweisen ist. Das ist durchaus üblich. Hat als solches jedoch mit dem Fall nichts zu tun.“

„Dann war ja meine ganze Arbeit umsonst.“ Die Enttäuschung konnte sie nur schlecht verbergen.

„Bestimmt nicht“, tröstete Krüger. „Das zeigt mir, dass Sie vernetzt denken. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für gute Polizeiarbeit.“

„Hat er mich jetzt gelobt?“, überlegte sie.

„Suchen Sie einfach weiter“, fuhr Krüger fort. „In diesen Akten liegen oft noch Hinweise, die man nicht gleich erkennt.“

„Danke, Chef!“, antwortete sie nur.

„Danke wofür?“

„Einfach so“, gab sie zurück. „Dafür, dass ich richtig mitmachen darf. Man hat uns auf der Polizeischule gesagt: Die Praktikanten machen Kopien und wenn sie Glück haben, werden sie anständig behandelt.“

„Wirklich?“

„Ja.“

In Krügers Kopf tauchten Bilder auf. Er und Hellman im Archiv. Staubige Akten, die endlosen ersten Tage.

Hellmann. Der Bahnhof in Zürich. Erich Merz. Was der wohl jetzt machte? Hatte er sich vielleicht doch umgebracht?

„Chef!“, rief Nadja. Er schreckte hoch.

Der Wagen vor ihnen stand nur noch wenige Meter entfernt. Keine Chance mehr. Wie in einem Film erlebte Krüger den Aufprall.

***

Wieder und wieder lief der gleiche Film bei Krüger. Das Heck eines Wagens raste auf ihn zu, dann krachte es. Er wurde nach vorne gerissen.

Dann begann es von neuem. Bis er endlich wach wurde. Überall nur weiß. Der Raum, das Bett, die Decke.

Ich bin im Krankenhaus, schoss ihm durch den Kopf.

Er versuchte, sich aufzurichten. Stechender Schmerz in den Hüften.

Vorsichtig schob er die Decke weg. Blaugrüne Flecken mit einem Stich ins Gelbliche. Der Gurt hatte deutliche Spuren hinterlassen. Die linke Schulter bot ein ähnliches Bild. Vorsichtig bewegte er die Füße. Alles in Ordnung. Die Flecken vergehen, dachte er. Glück gehabt.

Und Nadja, fiel ihm ein.

Hoffentlich ist ihr nichts Schlimmeres passiert. Krüger suchte nach der Klingel. Das wollte er jetzt sofort wissen. Nervös klingelte er erneut.

Erst nach einigen Minuten erschien eine Schwester.

„Wie fühlen Sie sich, Herr Kommissar?“, fragte sie.

„Wie ich mich fühle? Gut, aber das ist jetzt unwichtig.

Wie geht’s Frau Siller?“

„Ihrer Mitfahrerin?“, gab die Schwester zurück.

„Ja, natürlich. Was ist mit ihr?“

„Sie lebt“, antwortete die Schwester.

„Sie lebt! Was soll das heißen? Ist sie schwer verletzt?“ Krüger versuchte aufzustehen.

„Beruhigen Sie sich!“ Sanft drückte sie ihn zurück auf sein Bett. „Sie hat einen gebrochenen Arm. Sonst keine schweren Verletzungen.“

Keine schweren Verletzungen, dachte Krüger erleichtert. Gott sei Dank.

„Nur“, fuhr die Schwester fort, „in ihrem Gesicht werden einige Narben bleiben. Das steht fest. Sie wird nie wieder so aussehen, wie früher.“

Krüger schossen die Tränen in die Augen. „Ihr Gesicht ist ... verletzt.“

„Man könnte auch sagen, entstellt!“ Messerscharf die Stimme der Schwester.

Krüger zog sich die Decke über den Kopf. Was habe ich getan? Ausgerechnet ihr Gesicht. Warum bin ich nicht tot?

Die Schwester zog ihm die schützende Decke weg. „Haben Sie Schmerzen?“ „Ich? Nein, nein.“ Er fühlte sich nur wie betäubt und wollte am liebsten irgendwo versinken.

„Dann lasse ich Sie für den Moment allein!“

Krüger gab keine Antwort. Hielt den Blick fest an die Zimmerdecke gerichtet. Die Tür fiel ins Schloss. Eine schreckliche Stille blieb zurück.

Ganz allein würde er für lange Zeit nie mehr sein. Das schien ihm seltsam klar.

***

Nach zwei Tagen durfte er zum ersten Mal wieder aufstehen. Mit den ungewohnten Krücken suchte er den Weg zu seiner Praktikantin. Es waren lange Tage gewesen.

Das bohrende Schuldbewusstsein ließ ihm keine Ruhe. Wie konnte er sich nur so ablenken lassen.

Ohne sie wäre ihm das niemals passiert. Trotzdem gab er sich allein die Schuld.

Endlich hatte er den Weg zurückgelegt. Sie lag hinter Glas. In künstlichen Koma. Das sei üblich bei starken Gesichtsverletzungen, hatte ihm ein Arzt bei der Visite nebenbei anvertraut.

Von ihrem Gesicht konnte Krüger nichts erkennen. Alles bandagiert. Bis auf einen schmalen Streifen, durch den die geschlossenen Augen sichtbar wurden. Eine Sauerstoffmaske verdeckte im unteren Teil, Mund und Nase.

Vielleicht ist es doch nicht so schlimm, versuchte er, sich einzureden. Aber in seinem Innersten wusste er es besser. Noch nachdenklicher als zuvor, stöckelte er in sein Zimmer zurück.

***

An Nadjas Zustand hatte sich nichts verändert, als Krüger ein paar Tage später entlassen wurde. Er war dazwischen noch einmal bei ihr gewesen. Einerseits froh, sich ihr noch nicht stellen zu müssen. Andererseits ließ sich die Ungewissheit nur schwer ertragen.

Bis auf weiteres war er jetzt krankgeschrieben. Also igelte er sich zuhause ein. Auf dem Weg hatte er sich eine Flasche Schnaps besorgt. Sie jedoch bisher nicht angerührt.

Jedes Mal, wenn er gedacht hatte, jetzt halte ich es nicht mehr aus, konnte er sich schließlich doch noch zurückhalten.

Bis er sich endlich entschloss, die Flasche wegzuschütten. Noch einmal zum Trinker zu werden, das würde das Ende seines bisherigen Lebens bedeuten.

Dann doch lieber still leiden. Die Welt drehte sich trotzdem weiter.

Schmerzlich wurde ihm in diesen Tagen bewusst, dass er eigentlich keine Freunde hatte.

Natürlich waren sein Chef und ein paar Kollegen bei ihm in der Klinik gewesen.

Zuhause hatte er beschlossen, niemanden zu empfangen. Nach ein paar Tagen zeigte sich, dass auch Keiner vorbeikam.

Ich muss mein Leben neu ordnen, sagte er sich immer wieder. Aber wie?

Solange er Polizist blieb, was sollte sich ändern?

Etwas Anderes suchen? Etwas Neues?

Als Hauptkommissar hatte er viele Freiheiten. Eigentlich mochte er seinen Beruf. Wenn nur diese Arbeitszeiten sich ändern ließen.

„Du spinnst, Krüger!“, sagte er laut zu sich selbst. „Geh doch auf den Bau!“

Zum ersten Mal seit dem Unfall grinste er wieder.

Nur kurz. Dann tauchte ein entstelltes Gesicht vor ihm auf.

Schlagartig entstand ein stechender Kopfschmerz. Ohne Hoffnung auf Schlaf legte er sich hin. Wie so oft in diesen Tagen.

***

Alarm auf der Intensivstation. Die Geräte zeigten an, dass mit Nadja Siller etwas nicht stimmte. Fieber, schwacher Puls, offensichtlich eine Infektion.

Der behandelnde Arzt regte sich über die Schwestern auf. „Wie ist das möglich! So spät? Wer ist zuständig für die Patientin? Keiner!“, brüllte er hemmungslos.

Die herbeigeeilte Oberschwester scheuchte ihre Küken weg. „Ich werde es herausfinden, Herr Doktor. Aber zuerst braucht uns die Patientin.“

Der Arzt sah sie mit großen Augen an. „Denken Sie etwa, dass mir das nicht klar ist?“

„Natürlich nicht, Herr Doktor! Bitte, beruhigen Sie sich. Was soll ich ihr geben?“

„Versuchen wir es erst mit einem Antibiotika das ein breites Spektrum abdecken kann. Dann sehen wir weiter“, antwortete der Arzt, während er etwas auf seinen Rezeptblock kritzelte. „Sie kümmern sich persönlich um die Patientin, bis sich ihr Zustand stabilisiert hat!“

„Selbstverständlich, Herr Doktor!“, antwortete die Schwester unterwürfig. Froh, dass sich der Arzt so schnell beruhigt hatte.

***

Ihrer Ablösung für den Nachtdienst, einer erfahrenen Schwester, verschwieg sie den Vorfall. Sie erwähnte nur beiläufig, dass die Patientin Fieber habe.

In der letzten Zeit wuchsen ihr die privaten Probleme über den Kopf. Deshalb konnte sie sich nur noch schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Der Oberarzt hatte sie kürzlich in sein Büro gerufen. Noch so eine Panne, dann könne sie wieder als Hilfsschwester anfangen, hatte er ihr an den Kopf geworfen.

Ihr Chef war ein schwieriger Mensch. Eine weitere Begegnung dieser Art wollte sie auf jeden Fall vermeiden.

***

Noch in der gleichen Nacht starb Nadja. Die Notmaßnahmen der Nachtschicht konnten sie nicht mehr retten.

Ihre herrlichen, tiefgrünen Augen. Für immer erloschen. Die sie diese durch farbige Kontaktlinsen nur vorgetäuscht hatte, wusste kaum jemand.

***

Krüger erhielt die Nachricht persönlich von seinem Chef, der ihn zum ersten Mal Zuhause besuchte.

Jetzt saßen sie sich stumm gegenüber. Krüger zutiefst geschockt, sein Chef froh, die unangenehme Pflicht erledigt zu haben.

Zum Glück hatte Krüger nichts zu trinken in der Wohnung. Jetzt hätte er nicht mehr widerstehen können.

„Gehen Sie zu unserer Psychologin“, fand sein Chef endlich die Sprache wieder.

„Wozu?“, antwortete Krüger. „Was sollte das ändern?“

„Allein können Sie das nicht verarbeiten, Max“, stellte sein Chef lakonisch fest.

„Das kann ich auch mit der Psychologin niemals wieder gutmachen“, gab Krüger trotzig zurück.

„Wiedergutmachen kann das niemand. Da haben Sie Recht. Aber das Leben geht weiter. Es muss weitergehen.“

Krüger gab keine Antwort.

„Ich mache Ihnen einen Termin. Sie wird Sie anrufen.“

Es klang wie eine dienstliche Anweisung. „Sie können mich nicht zwingen“, trotzte Krüger.

„Das ist doch völliger Blödsinn! Wer will Sie zwingen. Aber Sie brauchen das jetzt!“

„Ich brauche jetzt ...“ antwortete Krüger, ohne den Satz zu beenden. „Jemanden, der sich mit solchen Dingen auskennt“, erwiderte sein Chef.

2. Kapitel

Eilig verließ Cécile Merz die Wohnung ihres Lovers, bei dem sie übernachtet hatte. Sie musste vor sieben zu Hause sein, um noch rechtzeitig ins Büro zu kommen. Sie war keineswegs verliebt. Aber der regelmäßige Sex ließ sie richtiggehend aufblühen.

Vor ihrem Umfeld hielt sie die Beziehung jedoch geheim. Außerdem suchte sie wirklich nur körperliche Befriedigung. Zum Zusammenleben taugte der knackige Spanier ohnehin nicht. Sie war wohl auch nicht die Einzige, die er bediente, aber auch das störte sie nicht. Ihr Mann Erich, blieb inzwischen seit vier Jahren verschollen. Deshalb gestattete sie sich ab und zu eine deftige Portion Mann.

Nach der Dusche betrachtete sie sich im Spiegel. Wenn ich doch nur etwas mehr Busen hätte, dachte sie zum x-ten Mal. Ihren Bauch fand sie immer noch flach. Den Hintern knackig. Sogar an den Oberschenkeln zeigte sich die Haut glatt und praktisch ohne Leberflecke. Nirgends Speckrollen und kein Ansatz zum Doppelkinn. Eigentlich konnte sie zufrieden sein. „Noch dieses Jahr lasse ich mich operieren“, sagte sie leise zum Spiegel.

Wenn nur nicht diese Angst vor dem Eingriff gewesen wäre, die sie auf diese Weise zu bekämpfen versuchte.

Das Telefon riss sie aus ihren Gedanken. Ungläubig schaute sie auf die Uhr im Wohnzimmer. Gerade sieben Uhr morgens. Wer ruft um diese Zeit an?

Sie kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. Die aufgeregte Stimme ihrer Freundin Nadine machte keine Pause: „Cécile, bist du da? Wir haben ihn gefunden! Er sieht genauso aus! Er muss es sein! Erich lebt! Cécile hörst du mich? Sag etwas!“

Nackt, wie sie war, setzte Cécile sich auf den Boden. Schwindel ergriff sie. Sie konnte gar nicht antworten. „Cécile!“, wieder rief Nadine ihren Namen. „Bleib da! Ich bin in fünf Minuten bei dir!“

Als ihre Freundin läutete, saß sie immer noch auf dem Boden. Sie konnte es nicht fassen. Erich lebt, hatte Nadine gesagt. Endlich stand sie auf und tastete sich zur Tür.

Nadine sah sie aus aufgerissenen Augen an. „Du bist ja völlig nackt. Was wenn ein Nachbar geläutet hätte?“

Schnell schob sie Cécile ins Wohnzimmer und holte ihr einen Morgenmantel aus dem Schrank.

Schon zwei Stunden später saßen sie gemeinsam im Zug nach Salzburg. Beide viel zu aufgeregt, um selbst fahren zu können. Nadine hatte ihr inzwischen haarklein erzählt, was sich gestern Abend ereignet hatte.

In Salzburg war ein Komapatient aufgewacht. Offenbar ohne jede Erinnerung. Daher wurde sein Bild in einer Fernsehsendung gezeigt. Die Daten seiner Auffindung passten.

Nadine hatte keine Möglichkeit gehabt, die Sendung irgendwie aufzuzeichnen oder sich eine Telefonnummer zu merken. Alles war viel zu schnell gegangen. Danach hatte sie die ganze Nacht versucht, Cécile zu erreichen.

Einzig, dass diese Klinik in Salzburg lag, wusste sie mit Sicherheit. Dorthin waren sie jetzt unterwegs. Ohne Anmeldung. Nadine war sehr überzeugend gewesen.

Jetzt auf der Reise, meldeten sich die ersten Zweifel bei Cécile. „Wie kommt er nach Österreich?“, fragte sie leise.

„Das weiß ich doch nicht!“, antwortete Nadine. „Aber er ist es. Natürlich ist er abgemagert. Das Bild hat mich wie ein Blitz getroffen. Ich bin sicher“, schob sie noch nach.

„Und er kann sich an nichts erinnern?“, fragte Cécile, nicht zum ersten Mal.

„So etwa haben sie das gesagt: Der Patient hat keine Erinnerung. Sollten Sie ihn erkennen, melden Sie sich bitte bei uns. Ich habe mich so aufgeregt. Bis ich soweit war, um die Telefonnummer aufzuschreiben, war die Sendung schon zu Ende. Nachher habe ich mir gedacht, nach Salzburg ist nicht so weit. Wir fahren einfach hin, dann haben wir sofort Gewissheit.“

Gewissheit; dachte Cécile. Was ist, wenn er mich nicht erkennt? Was tun wir dann? Wie soll das weitergehen?

***

Cécile bezahlte den Taxifahrer, der sie zur Uniklinik gefahren hatte, großzügig in Schweizerfranken. Zum Geldwechseln waren sie noch nicht gekommen.

Erst am Empfang verlor sie die Haltung. Nadine musste nach dem Komapatienten fragen. Cécile fühlte sich inzwischen so nervös, dass sie sich kurz hinsetzen musste. Eine Schwester erschien. Schweigend folgten sie ihr durch die Flure. Cécile ließ sich zitternd an Nadines Hand mitziehen. So erreichten sie einen eher schäbigen Teil der riesigen Klinik. Ein Viererzimmer, Desinfektionsmittel lag in der Luft. Cécile ließ ihren Blick über die Betten schweifen, dann erstarrte sie. Erich. Da lag er.

Schwindel erfasste sie. Irgendwie erreichte sie das Bett. Noch registrierte sie das Gefühl, eine Puppe zu umarmen, die mit reglosen Augen an die Decke starrte. Danach blieb nur noch Dunkelheit, in die sie sich versinken ließ.

„Er ist es“, stöhnte Nadine. „Er lebt.“

Die Schwester kümmerte sich bereits um Cécile, die regungslos auf dem Patienten lag.

Mit leichten Ohrfeigen versuchte sie, sie zurückzuholen. Aber auch Schütteln und Umdrehen half nicht. „Kommen Sie!“, rief sie Nadine zu. „Bringen Sie bitte einen Stuhl!“

Gemeinsam setzten sie die Ohnmächtige hin. Nadine musste Cécile die ganze Zeit festhalten, sonst wäre sie einfach auf den Boden gerutscht.

„Bleiben Sie da. Ich hole etwas“, hörte sie die Schwester sagen, die sich rasch entfernte. Nun versuchte Nadine, ihre Freundin aufzuwecken. „Cécile, hörst du mich? Wach doch auf. Ich bin’s, Nadine!“

Keine Reaktion. Endlich wagte auch Nadine einen Blick auf Erich, der zwar kurz die Augen bewegte, aber nicht in ihre Richtung sah. Nur seine Atmung wechselte plötzlich zu einem anderen Geräusch.

„Erich?“ Vorsichtig sprach sie ihn an. „Erkennst du mich?“ Keine Reaktion.

Die bizarre Situation wurde durch die zurückgekehrte Schwester unterbrochen. Sie schob Cécile eine kleine Tablette unter die Zunge. Wieder begann sie ihr Gesicht zu tätscheln. „Hören Sie mich? Aufwachen, gnädige Frau.“

Nadine musste trotz der ernsten Lage ein Lächeln unterdrücken. Gnädige Frau und Ohnmacht, das passte ganz gut zusammen.

Endlich regte sich Cécile. Sie wollte aufstehen, aber die Schwester hielt sie auf den Stuhl gedrückt. „Bleiben Sie noch ein wenig sitzen, sonst fallen Sie gleich wieder um.“

Cécile gehorchte. Einen Moment lang schien sie nachzudenken, bevor sie sich zu ihrem Erich umwandte.

Geräuschlos begann sie zu weinen.

Nadine reichte ihr ein Taschentuch. Selbst gegen die Tränen kämpfend, weil auch ihr der Zustand des Patienten klar wurde. Er lebte. Das war offenbar schon alles. Wenn er nicht einmal seine Frau erkannte. Das bedeutete dann wohl, dass er überhaupt keine Erinnerungen mehr hatte.

„Kann er sprechen?“, fragte Nadine schließlich die Schwester.

Diese schüttelte nur den Kopf.

„Was kann er noch?“

„Nichts weiter“, lautete die niederschmetternde Antwort. „Seit einigen Tagen hat er die Augen geöffnet. Das ist die erste Veränderung seit Jahren.“

„Denken Sie, dass er Fortschritte machen kann?“

„Das kann man nie sagen. Manchmal geschehen Wunder“, antwortete die Schwester. „ Aber fragen Sie den Professor. Ich bin nur eine Pflegekraft.“

Cécile hatte nur zugehört. Das Allerschlimmste, das sie sich vorgestellt hatte, war eingetroffen. Seltsam klar wusste sie gleich: Er wird nie wieder gesund werden. Trotzdem stand sie jetzt doch auf. Streichelte ihm über die Wangen. „Erich, ich bin’s“, flüsterte sie ihm zu, während ihre Tränen auf sein Gesicht tropften.

***

„Leider kann ich Ihnen keine große Hoffnung machen“, erklärte der Professor, der sie in sein Büro gebeten hatte. „Sein Zustand ist seit Anfang praktisch unverändert. Dass er jetzt die Augen offen hat, ist offensichtlich ein Fortschritt, der uns natürlich freut. Trotzdem kann man nicht von einer wesentlichen Veränderung sprechen.

Viel wichtiger dürfte sein, dass Sie jetzt nicht mehr in dieser Ungewissheit leben müssen. Das bedeutete natürlich eine große Belastung für Sie!“

Cécile sah ihn mit großen Augen an. Kann er wieder gesund werden, Herr Professor?“

Dieser zuckte mit den Schultern. „Alles ist möglich. Es sind schon Komapatienten nach Jahren wieder aufgewacht. Damit zu rechnen ist allerdings bei ihrem Mann ...“ er räusperte sich. „Es ist äußerst unwahrscheinlich. Freuen Sie sich an der Zeit, die Sie mit ihm noch haben. Es könnte auch ziemlich schnell zu Ende sein, aber genauso kann es noch viele Jahre dauern. Er braucht auf jeden Fall intensive ärztliche Betreuung. Blutwerte müssen überwacht und im Gleichgewicht gehalten werden. Seine Ernährung ist jederzeit zu überprüfen. Dazu kommt die äußere Pflege. Es können sich Liegewunden bilden. Das alles ist eine sehr schwierige Aufgabe, die eigentlich nur eine Klinik leisten kann.

Eine richtige Behandlung, im Sinne des Wortes, ist trotz allem Fortschritt nicht möglich.

Darüber sollten Sie sich im Klaren sein.“

„Also gibt es keine Hoffnung“, stellte Cécile fest. „Hoffnung gibt es immer, gnädige Frau. Aber machen Sie sich auf eine schwierige Zeit gefasst. Das ist leider alles, was ich Ihnen mitgeben kann“, antwortete der Professor.

***

Schon seit einigen Stunden saß Cécile nun wieder an seinem Bett. Sie würde das so nicht hinnehmen, überlegte sie. Für diesen Professor war Erich doch nur ein Patient mehr. Dazu noch ein Ausländer. Weshalb sollte er versuchen, ausgerechnet ihm zu helfen. Sicher gab es Mittel und Wege, die noch nicht versucht wurden. Er ist doch nur eine Nummer, dachte sie grimmig. Ein Wunder, dass sie ihn nicht einfach sterben ließen.

Entschlossen beugte sie sich über ihn. „Jetzt bin ich da. Ich lasse dich nicht mehr allein“, flüsterte sie ihm zu.

Erich atmete ruhig und gleichmäßig. Er schläft, dachte sie. Sie hörten ihm noch eine Weile zu, dann stand sie auf.

***

Im Hotel wartete Nadine ungeduldig auf sie. „Ich dachte schon, du bleibst die ganze Nacht.“

„Aber nein“, antwortete Cécile. „Etwas Zeit brauche ich auch zum Ausruhen.“ „Hast du schon überlegt, was du jetzt machen willst?“, fragte Nadine erwartungsvoll. „Ja“, lautete ihre Antwort. „ Ich lasse mir zuhause eine komplette Intensivstation einrichten. Er soll die besten Ärzte bekommen, die es gibt. Ich glaube fest daran, dass er doch wieder gesund werden kann, wenn man ihn nur richtig behandelt.

Ich erinnere mich, schon von Fällen gehört zu haben, die durch intensive Betreuung geheilt werden konnten. Dieser Professor lässt ihn doch einfach nur herumliegen. Wie soll es da Fortschritte geben?“ Cécile regte sich wieder auf.

Nadine versuchte, sie zu beruhigen. „Du wirst schon das Richtige tun. Da mache ich mir keine Sorgen.“

Trotz des anstrengenden Tages konnten beide lange nicht einschlafen. Jede hing ihren Gedanken nach. Cécile fühlte ein aufkeimendes Verantwortungsgefühl für Erich, wie sie es sich als Mutter für Kinder vorgestellt hätte. Die sie niemals haben wollte. Jetzt sollte er es eben bekommen.

Nadine fühlte sich hin und hergerissen. Zwischen gut, dass das nicht mich getroffen hat und Bewunderung für ihre Freundin. Die sich der Herausforderung stellte. Ohne Wenn und Aber.

Der nächste Tag verging, mit Ausfüllen von Formularen, Besuchen am Krankenbett, dazwischen Telefonate und Essenspausen, wie im Flug. Die Heimreise mussten sie um einen weiteren Tag aufschieben.

Erich sollte so schnell wie möglich überführt werden. Cécile wollte in der Ambulanz mitreisen. Nadine blieb nichts anderes übrig, als allein die Bahn zu nehmen.

Die schweizerische Botschaft stellte einen Notpass für Erich aus. Die Ambulanz würde direkt nach Zürich in die Uniklinik fahren können.

Cécile beobachtete Erich genau, während er umgeladen wurde. Wohl zum ersten Mal seit Jahren wieder an die frische Luft gelangte. Aber er zeigte absolut keine Reaktion.

Sie hatte wenigstens auf ein kleines Zeichen gehofft, jedoch vergebens. Möglicherweise konnte sich auf der Fahrt durch die Bewegungen etwas ergeben, tröstete sie sich.

Die Reise dauerte rund fünf Stunden. Unterbrochen durch eine Pause, während der sie versuchte, Erich durch Streicheln und Zureden zu einer Reaktion zu bewegen.

Die mitreisende Schwester hatte sich etwas gesträubt, das Fahrzeug zu verlassen. Aber Cécile hatte darauf bestanden. Diese Gelegenheit wollte sie sich nicht entgehen lassen. Aber alles half nichts.

Als sie am Abend endlich die Uniklinik in Zürich verlassen konnte, war sie völlig erschöpft. Gähnend betrat sich ihre Wohnung. Für einen Moment legte sie sich angezogen auf ihr Bett. Nur, um kurz auszuruhen.

Natürlich erwachte sie am nächsten Morgen noch in ihren Kleidern. Trotzdem saß sie schon eine Stunde später wieder bei Erich.

Er hatte die Reise offenbar gut überstanden. Jedoch an seinem Zustand hatte sich gar nichts verändert.

Für Cécile begann eine intensive Zeit. Täglich mehrmals Besuche in der Klinik. Gespräche mit Ärzten, die Planung und Einrichtung einer privaten Intensivstation, die ihr etwas mehr Ruhe verschaffen sollte.

***

Bereits nach einem Monat konnte Erich nach Hause zurückkehren. Zwei festangestellte Schwestern kümmerten sich tagsüber um den Patienten. Die Nächte übernahm Cécile selbst. Stundenlang versuchte sie jeweils, ihn zu einer Reaktion zu bewegen. Mit Zureden und Streicheln. Einmal pikste sie ihn sogar mit einer Nadel. Alles umsonst, er rührte sich nicht.

***

Leichter Nieselregen in Wien. Kreidel und Dornbach standen als letzte am frischen Grab im Schlosspark.

„Seit 1946 hat er dieses Schloss nicht mehr verlassen“, sinnierte Kreidel. „Und jetzt wird es auch dabei bleiben.“

Dornbach nickte nur. Was für ein Leben, dachte er.

„Er soll einen großen Grabstein bekommen“, fuhr Kreidel fort. „Aus schwarzem Granit.“

„Was willst du darauf schreiben lassen?“, fragte Dornbach. „Doch nicht etwa seinen richtigen Namen?“

Kreidel lächelte. „Er bekommt eine schöne Messingtafel. Hier ruht der Schlossherr. Dann seine Titel. Geburtsdatum 28.04.1900, gestorben 30.04.1991.

Unter der Tafel steht dann sein richtiger Name im Stein: Heinrich Müller. Leiter des Reichsicherheitshauptamtes.

Im Dienst des Führers bis zu dessen letzten Atemzug.“

„Ist das nicht zu riskant?“, fragte Dornbach.

„Bis sich jemand erlaubt, die Messingtafel zu entfernen, wird eine andere Zeit sein“, antwortete Kreidel. „Die Geschichte wird uns irgendwann Recht geben.“

Langsam gingen sie zurück zum Schloss, wo die anderen Trauergäste in kleinen Gruppen herumstanden.

„Jetzt bist du der neue Vorsitzende“, sprach Lorenz, Kreidel an. „Noch bin ich nicht gewählt“, gab dieser zurück.

„Das ist nun wirklich nur eine Formsache“, lächelte Lorenz.

***

Am späteren Abend saßen Kreidel und Dornbach wieder allein im Rauchsalon des Schlosses.

„Die Entwicklung in Kroatien macht dir keine Sorgen?“, fragte Kreidel.

„Auf der Insel bin ich sicher. Falls ich doch verschwinden muss, nehme ich die Jacht. Außerdem bleibt mir noch mein Bunker. Ein paar Tage halte ich da aus“, antwortete Dornbach.

„Du kannst jederzeit nach Österreich kommen, das weißt du“, gab Kreidel zurück. „In Wien haben wir einige schöne Wohnungen. Oder du könntest sogar hier im Schloss einziehen.“

Dornbach grinste. „In diesem Schloss, bis ans Ende meiner Tage.“ „Halt auf jeden Fall die Jacht vollgetankt. Die Lage kann schnell eskalieren“, mahnte Kreidel in ernstem Ton.

Dornbach war anderer Meinung. Weder Panzer noch andere Fahrzeuge konnten das Meer überqueren. Die Inseln würden letzte Zuflucht bleiben. Mit der Jacht schnell zu verschwinden blieb bestimmt möglich. Nach Italien oder auch weiter, da machte er sich keine Sorgen.

Trotzdem wollte er seinen Bunker, der bestens getarnt vom Keller seiner Villa abging, mit einigen Lebensmitteln auffüllen. Dass ich doch noch einen Krieg miterlebe, dachte er. Aber heute ist eine andere Zeit. Ein paar Tage Gefechte, das dürfte wohl alles ein, das die umliegenden Länder und die Großmächte zulassen würden.

Ausgerechnet diesen Sommer, auf den er sich so gefreut hatte, wollte er nicht in Wien verbringen. Was sollte er da den ganzen Tag über machen?

„Mach dir keine Sorgen, Max“, sagte er schließlich zu Kreidel. „Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch.“

***

Die ersten Wochen mit Erich im Haus waren für Cécile eigentlich ziemlich rasch vergangen.

Sie war davon überzeugt gewesen, dass es nur die richtige Pflege brauchte, um ihn ins Leben zurückzuholen.

Vor einiger Zeit hatte sie damit begonnen, ihm jeden Abend aus einem seiner früheren Lieblingsromane vorzulesen. Natürlich zusätzlich zu Streicheleinheiten und den täglichen Berichten über ihre aktuellen Erlebnisse. Sie hatte sich gedacht, dass sein Gehirn irgendwie auf die bekannten Texte reagieren müsste. Ein Muster, einen Namen oder eine Episode, die ihn besonders beeindruckt hatte, wieder erkennen konnte.

Langsam begann ihre Zuversicht zu bröckeln. Was ist, wenn ich in zehn Jahren immer noch an seinem Bett sitze? Das ging ihr einfach so und ohne jede Absicht durch den Kopf. Dann bin ich alt, stellte sie erschrocken fest. Sie straffte sich. „Erich, wach endlich auf!“, sagte sie laut zu ihm. Keine Reaktion. Mit einem lauten Knall schlug sie das Buch zu. „Warum tust du mir das an? Willst du mein Leben zerstören?“, schrie sie ihn an. Hemmungslos begann sie zu weinen. Schlagartig wurde ihr klar. Das würde sie nicht aushalten, ihn jahrelang, ohne den geringsten Erfolg, zu pflegen.

Jetzt schämte sie sich für ihren Ausbruch. „Entschuldige!“, sagte sie zu ihm. „Ich habe es doch nicht so gemeint. Ich liebe dich doch.“

Zärtlich strich sie ihm über die Stirn. Ihre Tränen gepaart mit Hilflosigkeit hatten ihn doch früher stets zum Nachgeben gebracht.

Aber er glotzte wie immer an die Decke.

Cécile zitterte am ganzen Leib. Sie musste sich zurückhalten. Der Wunsch, ihn zu schlagen, überkam sie. Weinend lief sie aus dem Zimmer.

Die ganze weitere Nacht konnte sie nicht schlafen. Immer wieder flossen ihre Tränen. Aus Scham über ihre Worte zu ihm. Vielleicht konnte er doch hören, was sie sagte. Dann würde er jetzt wissen, dass er eine schlechte Ehefrau hatte.

Aus tiefstem Herzen hatte sie ihm doch nur helfen wollen. Ihre Zuversicht hielt dem Druck nicht mehr stand.

In Demut würde sie warten müssen, bis er von selbst aufwachte.

***

Am Morgen danach, beim ersten Blick in den Spiegel, sah Cécile ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Gerötete Augen. Tiefe Falten, die sie noch nie an sich gesehen hatte.

Nach einer sehr heißen Dusche fühle sie sich etwas besser. Auch ihr Gesicht hatte sich größtenteils wieder erholt.

Trotzdem würde ihr die Alte, die sie im Spiegel gesehen hatte, lange im Kopf bleiben.

Zum ersten Mal, seit „Er“ wieder da war, verließ sie die Wohnung, ohne sich zu verabschieden.

Auch dafür schämte sie sich zutiefst. Sie konnte ihn einfach jetzt nicht ansehen.

Dick geschminkt, hatte sie nur abgewartet, bis die Schwester eintraf. Danach verschwand sie einfach.

***

Am Nachmittag rief sie zum ersten Mal wieder ihren Lover an. Ein gutgebauter Spanier. Jesus Mendez, hieß er. Ein Name, der zu ihm passte, wie eine Maschinenpistole zu einer Nonne.

Deutlich jünger als Cécile. Schwarze Haare. Immer braun gebrannt und durchtrainiert. Der klassische Latin Lover.

Wovon er lebte, konnte sie nur vermuten. Irgendwie hatte er etwas mit Fitnessstudios zu tun, wofür er zumindest eine gute Reklame abgab. Das hatte er einmal durchblicken lassen. Für tiefgreifende Gespräche war er kaum geeignet. Aber als Liebhaber, für Cécile mit Abstand der Beste, dem sie sich jemals hingegeben hatte.

Er wollte sie so schnell wie möglich sehen. Gleich heute Abend. Cécile zierte sich erst ein wenig. Erich brauchte Betreuung. Woher sollte sie auf der Stelle eine Nachtschwester bekommen? Jedoch die Worte, die er ihr durchs Telefon zuflüsterte, ließ sie rasch alle Bedenken über Bord werfen. Also sagte sie zu und freute sich ehrlich auf die Nacht.

Wie erwartet, fand sie keine Ablösung für den Nachtdienst. Also entschloss sie sich, Erich einfach allein zu lassen. Warum eigentlich nicht, dachte sie? Wenn ich schlafe, ist er doch genauso ungeschützt.

Wenn sein Herz stehenbleiben sollte, was könnte ich tun? Nichts. Es kann schnell zu Ende sein, hatte der Professor gesagt.

Außerdem erfährt dann auch niemand, dass ich ein wenig ausgehe, fiel ihr ein. Damit liefere ich den Schwestern keinen Grund zum Tratschen, stellte sie schließlich befriedigt, auch noch fest.

Lange überlegte sie, ob sie Erich sagen sollte, dass sie plante, auszugehen? Falls er sie hören und verstehen konnte, würde er sich wahrscheinlich Sorgen machen.

Also besser nichts sagen. Oder höchstens, dass sie rasch etwas erledigen müsse.

Cécile schluckte leer. Wenn er sie sah, in ihrem knappen Kleid, das sie jeweils für ihren Lover trug, wusste er doch sofort, was sie vorhatte. Schließlich war sie immer noch mit ihm verheiratet.

Er kann mich doch nicht sehen, versuchte sie, sich selbst zu beruhigen. Aber sicher konnte sie sich dessen nicht sein. Welch eine Vorstellung, wenn er eines Tages aufwachte und ihr alle diese Dinge vorwarf, die sie ihm in der letzten Zeit angetan hatte?

***

In dieser Nacht brachte Jesus sie zu ungeahnter Ekstase. Noch nie hatte sie so intensiv gefühlt. Das schlechte Gewissen, wie weggeblasen oder gar nicht vorhanden. Auch als er bereits im Bad verschwunden war, durchströmten sie immer noch Wellen reiner Lust. Sie fühlte sich jung und attraktiv. Ihre Nippel ragten groß und hart aus den Brüsten. Sie konnte sie nur ganz kurz anfassen, bis der nächste wohlige Schauer ausgelöst wurde. Allmählich wich die Erregung einer satten Zufriedenheit, die sie ebenso völlig genießen konnte.

Er schlüpfte wieder zu ihr, zog die auf dem Boden liegende Decke über ihre nackten Körper. Cécile schmiegte sich an ihn und wünschte sich, niemals mehr aufstehen zu müssen.

***

Ein paar Stunden hatte sie tatsächlich geschlafen, stellte sie mit Schrecken fest, als sie endlich aufwachte. Draußen war es bereits hell. Und jetzt meldete sich auch das schlechte Gewissen gleich wieder.

So rasch wie möglich, machte sie sich ein wenig zurecht. Ohne ihn zu wecken, verließ sie die Wohnung. Auf der Fahrt kämpfte sie mit ihren Empfindungen. Womöglich war es schlecht, was sie sich erlaubt hatte. Das gestand sie sich ein. „Aber ich habe auch nur ein Leben“, wies sie ihre mahnende, innere Stimme zurück. „Auch ich habe ein Recht auf ein paar schöne Stunden.“ Wenn sie in Zukunft wieder regelmäßiger Sex haben würde, dann könnte sie möglicherweise den Zustand ihrer Beziehung mit Erich, doch durchstehen.

Es könnte wie ein Anker sein, der ihr Halt und Kraft gab, stellte sie sich vor. Trotzdem duschte sie, bevor sie im Bademantel nach Erich sah. Am Vorabend war sie nur kurz bei ihm stehengeblieben. „Ich muss etwas erledigen, schlaf gut!“ Das Einzige, das sie herausgebracht hatte, ohne ins Stottern zu geraten.

Er lag wie immer, reglos da und glotzte an die Decke. Einen Moment lang dachte sie daran, ihm zu erzählen, wie sie die Nacht verbracht hatte. Aber wozu? Wenn sie daraus wirklich die Kraft schöpfen konnte, die sie für seine Pflege brauchte? Dann geschah es zuletzt doch auch für ihn.

Zumindest solange, er ihr keine Zuneigung zeigen konnte, würde sie es wieder tun.

Natürlich nur gelegentlich. Sie brauchte es schließlich nicht wirklich und von Liebhabern abhängig war sie schon gar nicht.

Genau eine Woche hielt sie aus, dann rief sie den Spanier an. Er schien sich zu freuen, während sie irgendwie an eine läufige Hündin dachte.

Wieder trafen sie sich noch am gleichen Abend. Dieses Mal nahm er sich allerdings deutlich weniger Zeit. Cécile fühlte sich nicht völlig enttäuscht. Aber etwas mehr hatte sie doch erwartet. Sie lag reglos auf dem Rücken, während er wie immer, gleich danach in der Dusche verschwunden war.

Er legte sich kurz darauf wieder neben sie, jedoch in deutlichem Abstand. „Warum bist du so lange nicht zu mir gekommen?“, fragte er schließlich. „Hast du einen Anderen gefunden?“

„Es gibt keinen Anderen“, antwortete sie schroff. „Aber es ist etwas passiert. Ich hatte einfach keine Zeit mehr.“

„Keine Zeit für die Liebe?“, gab er zurück.

Cécile zögerte. Sollte sie ihm von Erich erzählen? War er gekränkt und hatte er sie deshalb nur so knapp abgefertigt.

Sie wusste, dass er sich für einen begnadeten Liebhaber hielt. Was er ja auch sein konnte, wenn er wollte.

Es ging dabei keineswegs um Eifersucht, sondern lediglich um seine Potenz.

Also entschloss sie sich, ihm die ganze Geschichte zu erzählen. Nur damit er sie verstehen konnte. Nicht um ihre Sorgen, mit ihm zu teilen. „Mein Mann war jahrelang verschollen“, begann sie.

***

„Wenn ich zu dir komme, denke ich, er sieht mir an, was ich vorhabe. Darum schleiche ich heimlich aus dem Haus“, schloss sie ihre Erklärung.

„Aber er bekommt doch nichts mit?“, antwortete Jesus. „Wenn ich richtig verstanden habe?“

„Trotzdem. Zu hundert Prozent sicher bin ich nicht, auch wenn alle sagen, dass es so ist“, sinnierte Cécile. „Wenigstens kannst du dir das leisten. Eine komplette Intensivstation zu Hause. Die Schwestern. Sonst müsstest du ja die ganze Zeit an seinem Bett sitzen“, stellte er nüchtern fest.

„Was machst du, wenn er doch plötzlich stirbt? Dann war ja alles umsonst?“, fuhr er fort.

Cécile zuckte zusammen. „Er ist mein Mann. Da ist mir egal, was das kostet“, antwortete sie bestimmt.

„Du bist eine tolle Frau“, sagte er anerkennend.