Verlorene Leidenschaft - Alia Cruz - E-Book

Verlorene Leidenschaft E-Book

Alia Cruz

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Beschreibung

Sie sind Kunstdiebe und nennen sich die "Art Hunter" Doch sie stehen auf der Seite des Gesetzes und stehlen im Auftrag von Museen, um Sicherheitslücken aufzudecken. Das Besondere daran? Jeder von ihnen ist mit einer ganz speziellen Fähigkeit ausgestattet.    Théo beschließt, dem neuen Familienleben mit Frauen und Kindern im Schloss der Art Hunter zu entfliehen, und nimmt den nächsten Auftrag an. Doch sein erster Außeneinsatz seit dem Tod seiner Frau Vivienne läuft völlig schief. Der Boss der Art Hunter wird verhaftet und in den Nahen Osten verschleppt. Sylvie, eine Frau, die er während des Auftrags kennenlernt, könnte seine Rettung sein. Doch kann er nach Vivienne noch einmal sein Herz öffnen und einer Frau vertrauen? Während Théo weit weg von Paris um sein Leben kämpft überschlagen sich die Ereignisse in Chantilly. Der Erzfeind der Art Hunter, Raul Faustus, hat sie aufgespürt und will sie endgültig vernichten.

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Seitenzahl: 319

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Verlorene Leidenschaft

Art Hunter 5

Alia Cruz

Verlorene Leidenschaft – Art Hunter 5

Alia Cruz

© 2018 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864438097

ISBN eBook-mobi: 9783864438103

ISBN eBook-epub: 9783864438110

www.sieben-verlag.de

Inhalt

Glossar der Art Hunter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Danksagung

Glossar der Art Hunter

Théo Leroy – Chef der Art Hunter. Kann andere Menschen heilen.

Christophe Ledoux – kann die Schmerzen anderer aufnehmen, aber nicht heilen. Ist verheiratet mit Claire Parker, die fürchterliche Schmerzattacken bekommt, an denen sie sterben könnte. Entweder überträgt sie die Schmerzen auf einen anderen Menschen, was ihn töten würde, oder auf ihren Mann Christophe. Er kann ihre tödliche „Schmerzbatterie“ regelmäßig und gefahrlos entladen.

Jules Bonnet – Totenleser. Kurz nach dem Tod eines Menschen kann er durch Handauflegen die letzten Minuten miterleben. Verheiratet mit Cassie, die zwar keine übersinnlichen Fähigkeiten hat, dafür aber eine begnadete Kunstdiebin ist.

Maurice Desens – beherrscht Telekinese. Ist mit Catherine zusammen, die die Mutter seiner beiden Kinder ist. Catherine hat keine übersinnlichen Fähigkeiten, dafür aber sein Sohn Luke, der das Talent der Telekinese geerbt hat.

Pascale Desens – Zwillingsbruder von Maurice. Kann durch Handauflegen andere beruhigen oder sie ohnmächtig werden lassen. Ist liiert mit Tom Chapman, einem FBI-Agenten, der von der Art Securité abgeworben wurde und nun für die Art Hunter arbeitet.

Clément Marchal – ehemaliger Privatdetektiv und lebender Lügendetektor. Kann durch Berührung die Gedanken anderer Menschen lesen. Ist mit Regina Haller zusammen, einer Schauspielerin, die sich aus Liebe zu Clément aus dem Geschäft zurückgezogen hat und nun mit ihm im Schloss lebt. Sie hat keine besonderen Fähigkeiten, außer, dass sie gegen Cléments Gabe immun ist.

Tristan Moulin – hat die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen.

Prolog

Hongkong – acht Jahre zuvor

Théo seilte sich vom Hochhaus ab. Die Euphorie, die er nach einem geglückten Raub verspürte, setzte ein. Alles war perfekt und exakt abgelaufen, genau wie geplant. Wobei die Lorbeeren nicht ihm oder seiner Frau Vivienne, die sich gleich nach ihm abseilen würde, gebührten, sondern Christophe.

Der junge Mann, der unten auf sie wartete. Er war das neueste Mitglied der Art Hunter, und Théo war sicher, dass Christophe eine große Zukunft vor sich hatte.

Théo war glücklich mit seinem Job als Kunstdieb, besonders, weil er ihn mit der Frau, die er über alles liebte, zusammen ausführen konnte. Sie waren beide mit Leib und Seele Kunstdiebe. Allerdings standen die Art Hunter auf der Seite des Gesetzes. Sie stahlen auf Verlangen und deckten Sicherheitslücken auf, die dann von der Art Securité geschlossen wurden.

Théo war der Kopf der Art Hunter, und sie alle residierten in einem Schloss in Chantilly. Das hatte einen Grund. Jedes Mitglied hatte eine übersinnliche Fähigkeit, die geheim bleiben musste.

Théo konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er unten landete und Christophe die Papprolle unter die Nase hielt. Er sollte nicht nur Christophe, der seine erste richtige Planung fabelhaft gemeistert hatte, sondern auch sich selbst auf die Schulter klopfen, denn er hatte den Mann schließlich ausgebildet.

Pascale, ein weiteres Mitglied der Art Hunter, und Christophe hatten den Rembrandt gefälscht. Dann hatte Christophe den Raub in den Geschäftsräumen des chinesischen Kunstsammlers geplant, und Théo und Vivienne hatten ihn soeben erfolgreich ausgeführt und das Original gegen die Fälschung ausgetauscht.

Théo sah nach oben. Warum seilte sich Vivienne nicht ab?

Laut Zeitplan hätte sie jetzt auch unten ankommen müssen. Von ihr war nichts zu sehen. Länger konnten sie nicht warten. Wo blieb sie nur? Der Wachmann im Gebäude würde gleich bei seiner Runde in Viviennes Nähe kommen. Am hinteren Teil des Gebäudes war niemand zu erwarten, aber man konnte nie wissen, ob nicht doch mal jemand vorbeikam. Das Leben pulsierte auf der anderen Seite des riesigen Bürogebäudes. Théos Hochgefühle nahmen langsam ab. „Verdammt, wo bleibt sie denn?“

Ein Schuss peitschte durch die Nacht. Weit entfernt, aber er war von oben gekommen. Aus der zwanzigsten Etage? Aus der Etage, wo sich Vivienne noch befinden musste?

„Scheiße.“ Théo wurde es eiskalt, sein Magen tat weh, als hätte ihm jemand mit voller Wucht einen Tritt in die Eingeweide versetzt. Euphorie wurde zu Panik. Er konnte nicht mehr denken, da war nur diese schreckliche Vorahnung. Vivienne musste etwas passiert sein. Der Auftrag, Christophe, alles war ihm scheißegal. Er rannte zum Vordereingang. Der Pförtner bekam keine Gelegenheit ihn aufzuhalten. Ein gezielter Kinnhaken wirkte in solchen Fällen Wunder. Fest presste er den Knopf zum Aufzug, und zum Glück öffnete sich im nächsten Moment die Tür.

„Wir sind nicht bewaffnet, Théo. Wer weiß, was uns da oben erwartet“, sagte Christophe, nachdem er hinter ihm den Aufzug betrat.

Der Typ hatte Nerven, sollte er doch unten warten, er musste ja nicht mitkommen. Dachte Christophe etwa, er würde Vivienne zurücklassen?

„Vivienne ist mein Leben. Du kannst im Aufzug warten.“ Mehr gab es nicht zu sagen. Ob Christophe aus dem Aufzug aussteigen würde oder nicht, ging ihm am Arsch vorbei. Die Türen öffneten sich, der zwanzigste Stock war erreicht. Théo wollte schreien, doch es kam kein Laut über seine Lippen. Eine eisige Kälte, die bereits seit einigen Minuten in ihm gelauert hatte, nahm ihn nun vollständig in Besitz. Sein Herz gefror.

Vivienne lag eigenartig verrenkt gegen eine Wand gelehnt. Ihre Lederkluft war mit Blut durchtränkt. In ihrem Bauch klaffte ein riesiges Loch. Ihre wunderschönen, großen braunen Augen starrten ins Leere mit einem Entsetzen in ihrem Gesicht, dass es ihm durch Mark und Bein ging. Er war zu spät. Er hatte geschworen, sie zu beschützen, sie zu lieben, immer für sie da zu sein.

Er hatte versagt.

Théo fühlte Wut. Sagte man nicht immer, dass einem ganz heiß wurde, wenn der Zorn einen überfiel? Die Kälte hatte sich in ihm manifestiert. In diesem Moment wusste er, dass sie nie wieder vergehen würde. Die Männer, die seiner Frau und ihm das angetan hatten, waren noch da. Sie waren maskiert, standen am Ende des Ganges und schritten langsam auf ihn zu. Erst jetzt merkte er, warum die Arschlöcher lachten, denn er saß bei Vivienne, hielt sie in den Armen und schrie. Wann er sich zu ihr gekniet hatte, konnte er nicht sagen. Er roch ihr Blut, fühlte, wie leblos ihre Glieder waren, und fühlte sich genauso leblos. Er stand auf. Christophe schrie irgendwas, aber er war nicht in der Lage, zuzuhören. Er würde die beiden Männer töten, jetzt und hier, auch wenn sie bewaffnet waren und er nicht. Das Ganze hatte etwas Persönliches, als hätten sie es auf Théo und Vivienne abgesehen. Das konnten sie haben. Ohne Vivienne war sein Leben sowieso wertlos. Wenn er bei dieser Aktion draufging, dann mit Vergnügen, aber die beiden Attentäter würde er mitnehmen.

Die Handfeuerwaffen schienen sie nicht benutzen zu wollen. Sehr schön. Dafür hatten sie Baseballschläger. Théo hatte nur seine Fäuste und seine Wut. Er landete ein paar gute Treffer bei dem einen Typen, hörte Knochen brechen, spürte Schmerzen, aber ignorierte das alles. Vor seinen Augen sah er die tote Vivienne, sein Leben, seine Liebe. Es gab so viele Dinge, die er ihr noch hatte sagen wollen. Ihre Hochzeit war von der Art Securité arrangiert gewesen, weil sie ebenfalls übernatürliche Fähigkeiten hatte. Sie bestand aus Schmerz. Schmerz, an dem sie starb, wenn sie diesen nicht auf einen anderen Menschen übertragen konnte. Da Théo die Fähigkeit hatte, zu heilen, konnte er ihr in regelmäßigen Abständen die Schmerzen nehmen. Heilen konnte er sie nicht, genauso wenig wie heute. Denn die Toten zurückzuholen, gehörte nicht zu seinen Fähigkeiten.

Hatte sie gewusst, dass er sich im Laufe der Zeit wirklich in sie verliebt hatte? Hatte er ihr jemals die drei magischen Worte gesagt?

Christophe beteiligte sich am Kampf. Die beiden Angreifer waren schneller erledigt, als Théo lieb war. Es war sein Kampf, warum half sein Kollege ihm? Christophe kam schwer atmend zu ihm. Verdammt, was fummelte er denn da an seinem Bein herum?

„Nicht. Ich muss zu Vivienne.“ Er schleppte sich zurück zu seiner Frau. Sein linkes Bein trug ihn nicht mehr. Er schaffte es gerade noch zu ihr und sackte hilflos neben ihr zusammen. Er war nutzlos. Er hatte Vivienne nicht helfen können. Nie hätte er sie zurücklassen dürfen. Sie hätte sich als Erste abseilen müssen.

Der Schmerz in seinem Bein trat in sein Bewusstsein. Vorsichtig schielte er zum Ursprung, der schwer auszumachen war. Sie mussten ihm die Hüfte und den Oberschenkel zertrümmert haben. Er kämpfte dagegen an, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Er hätte sich selbst heilen können, doch wozu? Diese beschissene Fähigkeit war zu nichts gut. Sie hatte Vivienne immer nur für kurze Zeit von ihren Schmerzen befreien können, sie hatte ihr nicht das Leben retten können. Er würde nie wieder jemanden heilen und sich selbst schon mal gar nicht. Es war nur gerecht, dass sein Bein zerschmettert war, denn er war schuld daran, dass Viviennes Leben so früh enden musste. Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass ihre Träume auch seine Träume gewesen waren. Warum hatte er nicht zugestimmt, ein Baby zu bekommen? Der ewige Streitpunkt. Dann wäre sie sicher zu Hause geblieben, anstatt sich hier in Gefahr zu begeben.

Zerschmettert und schuldig.

Er spürte, dass er langsam in eine Ohnmacht glitt. Entfernt bemerkte er noch, dass Christophe, der ein Schmerzabsorbator war, ihm einen Teil davon abnahm. Verstand er denn nicht? Es war egal. Es war vorbei. Sein Leben war nichts mehr wert.

1

Théo Leroy knallte die Tür zu. Er brauchte Ruhe, zum Teufel noch mal!

Maurice’ Kinder tobten durch das Schloss, und Cassies Hormone spielten während der Schwangerschaft anscheinend verrückt, was sich oft in lautstarken Streitereien mit Jules offenbarte. Pascales Freund Tom hatte die dumme Angewohnheit, beim Training die Musik zu laut aufzudrehen. Leider lag der Fitnessraum genau unter Théos Büro. Christophe und Claire nahmen gerade Schauspielunterricht bei Cléments Flamme Regina. Das machten sie direkt in der Eingangshalle.

Mann, er hätte nie gedacht, dass ausgerechnet der verschlossene Clément ihm auch noch eine Frau ins Schloss schleppen würde.

Die einzige Frau, die fast nichts sagte, war Jana. Tristans Schwester, die erst vor zwei Wochen aus dem Koma erwacht war. Sie musste das Sprechen erst wieder erlernen, besser gesagt, ihre Stimmbänder trainieren. Die schienen arg in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein.

Tristan hatte die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, und vor Monaten war die einzige Möglichkeit, Janas Leben zu retten, sie mit ihm verschwinden zu lassen. Leider hatte Jana das nicht so gut verkraftet und war daraufhin ins Koma gefallen. Kein Wunder, denn da war zusätzlich eine Bombe gewesen, die ihr dieser vermaledeite Dr. Faustus in den Magen implantiert hatte. Die war explodiert, während sie unsichtbar war. Ihre Stimmbänder würden mit viel Training wieder funktionieren. Die Motorik ihrer Hände war auch noch nicht wieder die beste. Sie war sehr unbeholfen und benötigte bei vielen Dingen Hilfe. Gehen konnte sie ebenfalls noch nicht richtig. Im Moment saß sie in einem elektrischen Rollstuhl, und Tristan sowie der Doc verbrachten viel Zeit damit, sie wieder auf die Beine zu bekommen.

Théo selbst nicht. Er hatte genug Zeit an ihrem Krankenbett verbracht, als sie im Koma lag. Die Frau bedeutete ihm nichts, keine Frau würde ihm je wieder etwas bedeuten.

Er hatte auf Tristans Wunsch hin Zeit mit dessen Schwester verbracht. Irgendwie war es zur Gewohnheit geworden, seine Sorgen mit der Frau zu teilen. Allerdings war er davon ausgegangen, dass sie nie wieder aufwachen würde.

Tristan hatte ihn sogar gebeten, sie zu heilen. Das hatte er kategorisch abgelehnt und außerdem wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Jemanden aus dem Koma zu holen, war genauso utopisch, wie die Toten zum Leben zu erwecken. Letztendlich war sie von allein aufgewacht, und auf einen Unruheherd mehr oder weniger in diesem Schloss sollte es doch wohl nicht ankommen.

Immer wenn ihm der Trubel auf die Nerven ging, mähte er den Rasen, aber ein Blick in den Schlossgarten genügte. Was sollte da gemäht werden? Der Rasen war raspelkurz.

Ein Stöhnen entfuhr ihm, jetzt belegten sie auch noch sein Heiligtum! Maurice rannte hinter seinem kleinen Sohn her. Es folgten seine Frau Catherine und die Tochter. Ja, die Kinder hatten Namen, aber er wollte sie sich einfach nicht merken.

Was schleppte die Frau da in der Schubkarre an? Eine Säge? Und jetzt kam auch noch Pascale mit Holz daher!

Sie hatten doch nicht vor, ein Baumhaus zu bauen?

Oha, Catherine hatte sich umgedreht und kam auf die Terrassentür zu marschiert. Wäre es sehr unfreundlich, wenn er nicht aufmachen würde? Ja, schließlich hatte er irgendwann einmal eine vernünftige Erziehung genossen.

„Hi!“ Sie trat ein.

Théo machte Platz und ließ sie an ihm vorbei. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der vernarbte Maurice lachte und seinen Sohn auf den Arm nahm. Maurice hatte früher nie gelacht. Das hatte ihm eindeutig besser gefallen.

„Es tut mir leid, dass sie manchmal etwas laut sind.“

„Manchmal?“

Catherine reagierte nicht darauf. Sie schien bereits mit dem nächsten Gedanken beschäftigt zu sein.

„Ist es in Ordnung, wenn wir den Kindern ein Baumhaus bauen? Es war Maurice’ Idee. Der Garten ist so wunderschön …“

Sie redete noch weiter auf ihn ein, aber Théo hörte nicht mehr zu. „Von mir aus.“ Das macht doch, was ihr wollt, schluckte er hinunter.

Fast wäre er hintenüber gekippt, als Catherine ihm einen Kuss auf die Wange gab und erneut im Garten verschwand. Die gesamte Familie winkte ihm zu, als Catherine den Daumen hochstreckte. Pascales Liebhaber Tom schien jetzt auch helfen zu wollen.

Es war nicht gut, wenn die Leute hier zu viel Freizeit hatten. Aber im Moment war nur ein einziger Auftrag zu vergeben, und Théo hatte sich noch nicht entschieden, wer ihn bekommen sollte.

Er musste aus dem verdammten Büro raus. Die Familien-Baumhaus-Sache gefiel ihm nicht. Den Mist wollte er nicht weiter beobachten.

Böser Fehler, er hatte ganz vergessen, dass sich Regina, Christophe und Claire ihrem Schauspielunterricht hingaben. Was probten sie da eigentlich in der Eingangshalle? Christophe bemerkte ihn.

„Hey, das ist echt cool. Wusstest du, dass die Stimme beim Lügen um einen minimalen Ton nach oben geht? Wir üben gerade, dass wir es ohne diese Veränderung hinbekommen.“

Claire ergänzte: „Kann ja nicht schaden, stell dir vor, bei einem Auftrag geratet ihr an einen Experten in diesen Dingen.“

Regina sagte irgendwas, das alle zum Lachen brachte.

Théo drehte sich nach links. Das Schloss hatte über zweihundert Zimmer, irgendwo würde er doch sicher seine Ruhe haben.

Er hörte, dass Christophe ihm hinterherrief: „Alles in Ordnung mit dir?“

Mann, der Typ war ständig so besorgt. Théo reagierte nicht weiter darauf und nahm Kurs auf sein Zimmer.

Im Türrahmen drehte er direkt wieder um. Der Butler war gerade mit der Reinigung beschäftigt. Der Typ redete zwar nie ungefragt, aber Théo wollte nichts riskieren.

Er ging den Gang nach hinten durch zur Bibliothek. Das war eine verdammt gute Idee. Dort würde er seine Ruhe haben, außer Pascale las sowieso niemand in diesem Schloss. Zumindest war er davon ausgegangen. Leider saß Clément in einem der gemütlichen Ohrensessel. Seit wann interessierte er sich für Dürrenmatt? Als er Théo bemerkte, hob er das Buch in die Höhe.

„Die Physiker.“

Théo hatte es selbst irgendwann mal gelesen, konnte sich aber kaum noch an den Inhalt erinnern.

„Regina hat mich darauf gebracht. Es geschah am helllichten Tag hat mir bis jetzt am besten gefallen, aber Die Physiker ist auch nicht schlecht.“

„Seit wann liest du?“ Théo bemerkte selbst, dass sein Ton Ungläubigkeit und Unfreundlichkeit ausstrahlte. Aber Clément schien es ihm nicht übel zu nehmen. Seit er mit Regina zusammen war, hatte er sich sehr verändert. Von dem mürrischen, geradezu fiesen Typ, war nichts mehr übrig. Die Rolle schien Théo stattdessen übernommen zu haben. Aber das würde er höchstens vor sich selbst zugeben.

„War schon immer mein größtes Hobby, hast du nur nie bemerkt. Allerdings hatte ich mich auf Thriller und Horror beschränkt.“

Ein ziemlicher Sprung von Stephen King zu Dürrenmatt. Théo stand unschlüssig im Eingangsbereich der riesigen Bibliothek. Der Raum war im rückwärtigen Teil des Schlosses untergebracht. Oval, wie das Oval Office des Weißen Hauses, nur wesentlich größer. Die Regale waren Spezialanfertigungen und reichten fast bis zum Kuppeldach. Der ovale Teil zeichnete sich durch eine Fensterfront aus, durch die man hinaus, aber nicht hereinsehen konnte. In der Mitte waren mehrere Sessel, kleine Tischchen mit Leselampen und ein Zweisitzer aufgestellt. Der Boden war weiß gefliest, was die Bibliothek, die durch die wuchtigen Regale etwas düster wirkte, heller und freundlicher erscheinen ließ. Weil vor den ovalen Fenstern mehrere große Bäume so gut wie kein Licht einließen, waren die Leselampen in der Mitte nötig. Zusätzlich konnte man an den Regalen LED-Röhren einschalten, wenn man bestimmte Titel suchte. Ein PC stand in einer Ecke. Irgendwann hatte Théo mal angefangen, die Bücher zu katalogisieren und festzuhalten, wo sich was befand. Aber die Arbeit für die Art Hunter war ihm immer wieder dazwischengekommen.

Er hätte heute damit weitermachen können, aber da Clément den Raum in Beschlag genommen hatte, ging das nicht. Was nichts mit mangelnder Größe zu tun hatte, die Bibliothek war größer als die meisten Einrichtungen in den Städten, aber Théo wollte niemanden sehen.

„Was ist mit dir los?“

Clément musste ihn beobachtet haben, denn er hatte den Kopf zur Seite geneigt, das Buch zusammengeklappt und sah ihn nachdenklich an. Théo überlegte, wie lange er schon einfach so hier rumstand.

„Nichts. Ich muss noch was tun.“

„Warum bist du dann hergekommen?“

„Ich wollte nur was nachschlagen.“

Clément stand auf. „Ah, okay. Für einen nächsten Auftrag? Was genau suchst du? Zwei Augenpaare sehen mehr als eins.“

Mann, jetzt kam auch noch Hilfsbereitschaft zu Cléments neuen Eigenschaften dazu. Hatte Regina ihn einer Gehirnwäsche unterzogen? „Äh, was über arabische Herrscher.“

Clément sah ihn interessiert an. Das war ihm spontan eingefallen, da der einzige Auftrag, den es derzeit zu vergeben galt, der eines Scheichs aus dem Nahen Osten war.

„Geil. Darf einer von uns nach Dubai oder so?“

„Nein.“ Der Scheich hatte einen luxuriösen Wohnsitz in Paris, in den galt es einzubrechen, aber das würde der Art Hunter, den Théo noch auswählen musste, früh genug erfahren. Informationen über Herrscherdynastien waren da nicht vonnöten, es war ihm nur nichts Besseres auf die Schnelle eingefallen.

Clément ging an einigen Regalen entlang.

„Spar dir die Mühe, ich recherchiere im Internet.“ Ob Clément ihn durchschaut hatte, war ihm egal. Théo wollte keine Gesellschaft, und damit basta. Er drehte sich um und knallte die Tür hinter sich zu.

Wohin? Früher, als er die Verletzung noch nicht gehabt hatte, hatte er sich hervorragend auf dem Laufband abreagieren können. Das ging nicht mehr. Im Grunde kam er nur noch im Schneckentempo voran. Aber den scheiß Sandsack konnte er malträtieren, dafür musste er nicht hin- und herhüpfen. Und ein paar Gewichte stemmen, konnte auch nicht schaden, das machte man ja bequem von einer Bank aus.

Das Schloss beherbergte die Fitnessräume und die Krankenstation im Keller. Sein Spind war wie immer aufgeräumt und mit allem Möglichen ausgestattet. Keiner hatte seine Sportklamotten im Zimmer.

Er wollte gerade in den Fitnessraum mit den Sandsäcken und dem Ring in der Mitte für Boxkämpfe gehen, als er die beiden sah. Also war er auch hier nicht ungestört.

„Ganz langsam, ja, so ist es gut.“

Tristan trainierte mit Jana. Er versuchte, sie auf einen der Heimtrainer zu bugsieren. Die Frau verlor fast das Gleichgewicht. Théo konnte es nicht mit ansehen, also half er. Dankbar sah Tristan ihn an.

„Der Doc ist heute nicht da. Ich dachte mir, vielleicht können wir ein bisschen Muskeln in den Beinen mit dem Fahrrad aufbauen.“

„Seit wann bist du Spezialist für Rehafragen?“ Théo wollte nicht so mürrisch klingen, aber anscheinend war ihm keine Einsamkeit vergönnt, egal welchen Plan er sich für den Tag auch zurechtlegte.

„Meinst du, das ist keine gute Idee?“

„Nur weil ich hinke, heißt das nicht, dass ich Erfahrung damit habe.“

„Théo, warte, was ist los mit dir?“

Doch Théo drehte sich schon um. Natürlich hatte Tristan keine Anspielung auf seine Behinderung gemacht, aber ihm war heute einfach alles zu viel.

„Dich sieht man aber selten hier unten.“ Cassie strahlte ihn an. Fast wäre er in sie reingelaufen.

Das durfte nicht wahr sein. Die beiden jetzt auch noch. Jules war hinter seiner Frau aufgetaucht. Der Babybauch von Cassie zeichnete sich mittlerweile deutlich durch den Stoff des Badeanzuges ab.

„Schwimmst du eine Runde mit uns?“, fragte Jules. „Wir haben uns gerade überlegt, ob wir eine Unterwassergeburt in Erwägung ziehen sollten.“

Cassie ergänzte: „Ja, wir wollten den Doc darüber ausfragen, aber der ist wohl heute nicht da.“

Unterwassergeburt? Théo sah ein Baby mit Fischaugen und Kiemen vor sich. Ihm wurde übel. „Ich muss nach oben.“

Er hörte, wie Cassie sagte: „Was hat er es denn so eilig?“

In Sportklamotten lehnte er sich gegen die schwere Tür, die zum Keller führte. Er hatte noch eine Möglichkeit. Er konnte wieder runtergehen und sich im Weinkeller gnadenlos betrinken. Nein, es gab noch eine zweite Sache, die er tun konnte. Zum ersten Mal an diesem Tag stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht. Wann war er eigentlich zuletzt außerhalb dieser Mauern gewesen? Hongkong vor acht Jahren. Zeit, das Schloss zu verlassen.

2

Sämtliche Art Hunter waren anwesend, auch ihre Frauen. Nur die Kinder waren bereits im Bett. Théo hatte sich dagegen gewehrt, aber Jules, Maurice, Clément und Christophe schleppten ihre Weiber stets mit an. Okay, er war nicht ganz fair. Cassie war beispielsweise ein vollwertiges Mitglied der Truppe, zumindest wenn sie nicht schwanger war, und die anderen arbeiteten ihnen zu. Claire mit ihrem Wissen über Kunst und Kunstgeschichte war eine echte Bereicherung, außerdem gab sie Tristan und Maurice Sprachunterricht. Regina war nicht nur für das Schauspiel talentiert. Sie war ein Ass beim Recherchieren am PC. Catherine war praktisch veranlagt und mittlerweile dafür zuständig, die Ausrüstungen zusammenzustellen. Théo ging das zwar gegen den Strich, da das sonst seine Aufgabe war, doch sie sprach alles mit ihm ab und hatte sich als äußerst erfinderisch erwiesen. Denn viel Gepäck konnte man bei einem Raub nicht mitschleppen.

Tristan würde sicher auch eine Aufgabe für Jana einfallen. Théo graute es bei dem Gedanken. Es schien nicht so, als würde der jüngste Art Hunter vorhaben, seine Schwester in ein normales Leben außerhalb des Schlosses zu entlassen. Was auch schwierig war, da sie für die Öffentlichkeit tot war. Aber Gerald Sorel, sein Ansprechpartner bei der Art Securité, würde da sicher was arrangieren können.

„Derzeit ist nur ein Auftrag vakant.“

Bis auf Tristan, der wohl nicht damit rechnete, dass Théo ihn auswählen könnte, zum einen, weil er noch relativ neu war und zum anderen, weil er sich intensiv um Jana kümmerte, sahen ihn alle erwartungsvoll an.

„Da ihr ja nun alle Beziehungen habt, dachte ich mir, ich gönne euch die Freude, euch mit euren Partnern zu vergnügen, und erledige den nächsten Auftrag selbst.“

Im Grunde hätte er im Schloss bleiben können, aber Théo hatte sich längst ein Hotelzimmer in Paris gemietet, das sich in der Nähe des Anwesens des Scheichs befand.

„Ich wollte euch das nur sagen, damit ihr euch nicht über mein Verschwinden wundert. Ihr könnt gehen.“

Es war so still im Raum, dass man eine Feder auf den Boden hätte fallen hören können. Die Stille hielt jedoch nur ein paar Sekunden an, dann sprachen auf einmal alle durcheinander.

„Du warst seit Jahren bei keinem Einsatz.“ (Christophe)

„Lass mich dir wenigstens bei der Planung helfen.“ (Pascale)

„Äh, bist du denn körperlich fit?“ (Tom)

„Ist das dein Ernst?“ (Claire)

„Du kannst doch nicht einfach so was in den Raum werfen.“ (Maurice)

Jeder musste seinen Senf dazugeben. Keiner verließ das Büro.

„Hatte ich nicht gesagt, dass ihr gehen könnt? Ich muss mit den Vorbereitungen beginnen.“

Niemand rührte sich, jetzt herrschte Schweigen.

Clément brach es als Erster. „Warum?“

Eine einfache Frage. „Ich muss hier raus. Wenigstens für ein paar Tage.“ Eine einfache Antwort, die Wahrheit. Théo war Clément dankbar, als dieser nickte und es schaffte, die restliche Truppe anhand von Blicken und Gesten aus dem Raum zu scheuchen. Clément ging jedoch nicht.

„Wenn du irgendwas brauchst, sag Bescheid. Bitte.“

Das letzte Wort war es, das Théo aufhorchen ließ. Clément hatte dieses Wort noch nie benutzt. Er betrachtete den Art Hunter. Äußerlich hatte er sich nicht verändert. Immer noch trug er seine heiß geliebten Armyklamotten, das Haar kurz und war der Sportlichste von allen. Innerlich hatte er sich verändert. Zum Guten, doch Regina hatte nur das hervorgebracht, was schon da gewesen war. Die Welle der Fürsorge, die ihm in diesem Moment entgegenschlug, war nicht Regina zu verdanken. In Théos Hals bildete sich ein Kloß. Egal, wie mürrisch er war, seine Leute mochten ihn.

„Danke.“ Seine Stimme war kratzig.

Clément nickte und verließ ebenfalls das Büro. Clément und er waren sich ähnlich. Es hatte einer Frau bedurft, um die guten Seiten in ihm wie auch in Clément hervorzubringen. Doch es gab einen Unterschied. Théo hatte keine Frau mehr. Als er Vivienne verloren hatte, war auch das Gute, das Positive, das Glück tief in ihm verschlossen worden.

Théo setzte sich an seinen Schreibtisch. Die Planung des Raubes würde er im Hotel durchführen. Er sollte noch nicht einmal ein bestimmtes Teil aus der Kunstsammlung stehlen. Laut Auftrag reichte es aus, in die Villa zu kommen, einen wertvollen Kunstgegenstand seiner Wahl mitzunehmen und zu verschwinden.

Das hörte sich nach keiner sonderlich schweren Aufgabe an, lediglich nach einer, die akribische Vorarbeit benötigte. Er würde alle anderen in dem Glauben lassen, dass er im Nahen Osten war. So konnte er in Ruhe mitten in Paris den Raub planen. Das würde ihm guttun, und die Welt war danach wieder in Ordnung.

Natürlich war es nicht so einfach, aber für den Moment wollte er daran glauben.

Tristan setzte seine Schwester behutsam in den elektrischen Rollstuhl. Es machte ihn traurig, sie so gebrechlich zu sehen. Die Freude, als sie aus dem Koma erwacht war, war schnell verflogen. Die körperlichen Beeinträchtigungen würden sich legen. Es war nur eine Sache des Rehatrainings. Was ihn beunruhigte, war ihr Verhalten. Sie sah noch genau so aus wie seine Jana, hatte ihre Stimme, aber sie war so anders als früher. Doch war das ein Wunder, nach allem, was sie durchgemacht hatte? Im Grunde war eine Entführung schon ein schreckliches Trauma, aber so, wie es für sie gelaufen war, war das Wort Hölle nicht schlimm genug.

Dr. Raul Faustus, der aus unbekannten Gründen die Art Hunter hasste, und dummerweise war Tristan mitten in diese Fehde geraten, hatte seine Schwester entführt, um ihn zu zwingen, die Mona Lisa zu stehlen, was er anscheinend Christophe in die Schuhe schieben wollte. Am Ende war alles etwas anders gekommen und die Mona Lisa an ihren angestammten Platz im Louvre zurückgekehrt, die Art Hunter hatten überlebt und ihr Geheimnis gewahrt. Nur für seine Schwester war es nicht so gut gelaufen.

Jana war von Faustus eine Bombe in den Körper gepflanzt worden. Um sie zu retten, hatte Tristan sie unsichtbar machen müssen. Die Bombe war explodiert. Janas Körper hatte sich beim Sichtbarwerden zwar wieder zusammengesetzt, aber zu welchem Preis? Sie hatte überlebt. Doch sie konnte sich kaum noch an ihr früheres Leben erinnern. Sie wusste, wie man aß, konnte schreiben und lesen. Sie war noch schwach, daher ihre körperlichen Beeinträchtigungen, aber sie konnte im Grunde all das, was sie vorher auch gekonnt hatte. Nur erinnerte sie sich an nichts Persönliches.

Tristan war nicht der geduldigste Mensch und das trug nicht gerade dazu bei, das Verhältnis zu seiner Schwester zu verbessern. Wobei er noch nicht einmal genau sagen konnte, warum es zwischen ihnen nicht so gut lief. Jana sagte kaum etwas. Tristan liebte sie. Er würde sie immer lieben, ihre Eltern waren früh gestorben, sie war schließlich alles, was er hatte.

Er hatte keine Fotos, um ihre Erinnerungen aufzufrischen, aber Geschichten konnte er ihr erzählen.

„Weißt du noch, als wir im Urlaub die Frösche bei unseren Eltern im Bett versteckt haben? Das war in der Provence in diesem kleinen Häuschen, das sie immer gemietet haben. Du hast es keine drei Minuten ausgehalten, dann hast du die Viecher wieder aus dem Bett geholt, weil du Angst hattest, Mama oder Papa könnten sich auf sie legen. Erinnerst du dich? Du liebst Tiere über alles.“

„Frösche?“ Jana verzog das Gesicht. „Wie eklig, ich mag diese glibberigen Dinger nicht.“

Das war es, was mit ihr nicht stimmte, ihr Charakter schien sich neu zusammengesetzt zu haben seit der Explosion. War so etwas möglich? Ihr Körper war zwar wieder so wie vorher, aber ihre Seele, ihr Geist, ihre Psyche, oder wie auch immer man es nennen wollte, war anders. Konnte man neu programmiert werden?

„Du magst Frösche.“

„Noch nicht mal zum Mittagessen.“ Ein kleines Grinsen über ihren eigenen Witz erschien auf ihrem hübschen Gesicht.

Ja, sie war immer noch wunderschön. Ihre braunen Haare waren etwas dunkler als seine und reichten ihr bis zur Mitte des Rückens. Sie waren glatt. Tristan war eher der gelockte Typ, was ihn daran erinnerte, dass er dringend mal wieder Ordnung in seine Frisur bringen musste. Jana war viel kleiner als er und fünf Jahre älter. Doch seit er die einen Meter neunzig knapp überschritten hatte, kam es ihm so vor, als müsste er sie beschützen, als wäre sie die Jüngere.

Aus Pflichtgefühl lächelte Tristan über ihren Witz. Er versuchte, die Wärme in ihren Augen wiederzufinden, die ihn früher immer getröstet hatte, viel mehr als ihre Worte. Aber ihre braunen Augen wirkten kalt, leblos. Der grüne Schimmer fehlte vollständig. Genau wie er hatte sie zwei Grübchen am Mund. Er wirkte dadurch nicht so hart, denn er hatte ausgeprägte Unterkieferknochen. Jana hatte stets gejammert, dass selbst ihre Grübchen nicht von ihrem spitzen Kinn, das sie von der Mutter geerbt hatte, ablenken konnten.

Tristan musste sich zusammenreißen, ihr nicht wieder zu sagen, dass alles seine Schuld sei. Es fühlte sich so an, aber er hatte nun mal keine Wahl gehabt. Hätte er sie nicht unsichtbar werden lassen, wäre sie jetzt tot. Gott, er wollte seine alte Jana zurück, die, mit der er lachen konnte, mit der er über alles reden konnte. Die Jana, die ihm gegenübersaß, schien ihn ständig zu mustern und auf einen Fehler von ihm zu warten. Das war natürlich völliger Unsinn und seiner Einbildung geschuldet, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Er musste es sich nur immer wieder sagen.

„Weißt du noch, wie du in der Schule den Jungen aus deiner Klasse verprügelt hast? Nur weil er mir mein Pausenbrot geklaut hatte?“

Kurz war Unglauben in ihrem Gesicht. „Mädchen sollten sich nicht prügeln.“

So ging das ständig. Seit sie aufgewacht war und wieder einigermaßen sprechen konnte. Tristan versuchte, ihr Gedächtnis wieder auf Vordermann zu bringen, und sie gab irgendwelches Zeug von sich, das sie früher niemals gesagt hätte.

Es war zum Heulen. Wo war nur seine Jana? Sie musste doch irgendwo in diesem verdammten Körper stecken.

Raul Faustus wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Mutant ihm endlich ins Bett helfen und ihn allein lassen würde. Frösche, gemeinsame Ausflüge, die Schulzeit, an nichts erinnerte er sich, denn es waren ja nicht seine Erinnerungen. Sie gehörten dieser Jana Moulin, der Schwester des Art Hunters. Doch sie war tot. Mausetot, sonst hätte er ihren Körper nicht in Besitz nehmen können. Das Sterben und Wiederauferstehen war dieses Mal heftiger als jemals zuvor gewesen. Bedeutete dies vielleicht, dass er doch sterblich war? Dass es irgendwann nicht mehr möglich war?

In der derzeitigen Situation wäre der Tod vielleicht sogar etwas Willkommenes. Doch er hatte noch einiges zu tun. Die Ausrottung der Art Hunter, der Tod von Théo und der gesamten Truppe. Danach konnte er sterben. Das einzig Positive war, dass er noch nie näher an den Art Huntern dran gewesen war. Aber was nützte es ihm, wenn er sich nicht richtig bewegen konnte? Gefangen in einem Frauenkörper, der nicht in der Lage war, selbst zu gehen und das Gleichgewicht zu halten. Seine Hände und Arme waren ebenso nutzlos, er brauchte bei allem Hilfe, vom Essen bis zum Zähneputzen. Es war erniedrigend.

Diese ganze Gestalt, die ganze Hülle, in der er sich befand, war erniedrigend. Er hatte Brüste! Ziemlich große sogar. Wie hielten es Frauen eigentlich aus, den ganzen Tag mit einem BH herumzulaufen? Die Dinger waren einfach nur unangenehm.

Warum hatte er keinen männlichen Körper bekommen? Die Antwort war einfach. Mittlerweile wusste er, wenn er von Zeit zu Zeit starb, dann brauchte er einen Körper, der zwischen Leben und Tod schwebte. Bisher hatte seine Psyche immer einen gefunden, der passte. Er konnte keinen normalen Männerkörper benutzen. Es ging nur einer ohne Hoden. Denn die waren ihm in einem Experiment genommen worden. Durch dieses Experiment war er zum Seelenwandler mutiert.

Anscheinend waren zum Zeitpunkt seines letzten Todes keine Männer ohne Hoden in der Nähe gestorben. Also war es Jana gewesen, die er hatte okkupieren müssen. Nicht, dass er das wirklich kontrollieren konnte.

Er versuchte, sich zusammenzureißen und Tristan anzulächeln. Solange er noch zu schwach war, um etwas gegen die Art Hunter zu unternehmen, durften sie nicht merken, dass er nicht Jana war. Er würde zu gegebener Zeit einen verdammt guten Plan benötigen. Er war schließlich allein, und sie hatten dieses Schloss besetzt und lebten wie die Könige.

Rache musste kalt serviert werden. Wobei Raul nicht gedacht hätte, dass er Théo durch den Tod von Vivienne schon so sehr getroffen hatte. Das hatte ihn doch sehr aufgebaut. Die letzten Monologe, die Théo an seinem Bett geführt hatte, als er bereits begann, den komatösen Zustand zu durchdringen, waren äußerst aufschlussreich gewesen. Nie hätte er gedacht, dass Viviennes Tod solch eine schmerzhafte Lücke bei Théo hinterlassen hatte. Wie schön. Im Grunde war der Mann schon tot, aber er würde ihm den Rest geben, indem er dem Obermutanten seine gesamten Art Hunter nahm. Einen nach dem anderen.

„Hey, du lächelst ja! Erinnerst du dich etwa?“

Oh Mist, das Lächeln hatte der Aussicht auf Rache und nicht diesem Tristan gegolten. Was zum Henker hatte er denn gerade wieder für eine Erinnerung ausgegraben?

„Es ist so süß, wie du dich bemühst.“

Noch mal zuckersüß lächeln. Das hätte Jana bestimmt gemacht. „Aber ich bin jetzt müde.“

„Natürlich, Süße, wir machen einfach morgen weiter.“

Das Lächeln erstarb, als ihm klar wurde, dass Tristan ihm ins Bett helfen musste. Im Moment war er in diesem Körper hoffnungslos gefangen. Anstatt die dämlichen Kindheitserinnerungen heraufzubeschwören, sollte Tristan lieber im Fitnessraum mit ihm trainieren. Darauf würde er ihn morgen dezent hinweisen. Es wurde langsam Zeit, Mobilität zu erlangen. Vorfreude sollte ja angeblich die schönste Freude sein, aber irgendwann musste man auch mal mit den Taten beginnen.

„Ich halte das für keine gute Idee.“ Sylvie stopfte sich eines der Cremetörtchen in den Mund. Sie waren mit Sahne der Magerstufe gemacht. Das schmeckte sie sofort. Nicht gut. „Nimm nicht die Törtchen, die sind nicht sahnig genug.“

Ehsan schüttelte amüsiert den Kopf. „Ich würde den Unterschied gar nicht schmecken.“

„Doch, nimm etwas von dem frittierten Obst, das ist sehr gut.“

„Wenn ich dich nicht hätte!“

Sylvie musste lachen. Nie im Leben hätte sie es für möglich gehalten, dass sie ihr kleines Restaurant in Dubai mal jemand anderem überlassen könnte. Aber Ehsan war hartnäckig gewesen. Irgendwann war sie ihm nach Paris gefolgt. Nicht der Liebe wegen, sondern weil sie perfekt war für den Job, und trotz des Michelin-Sternes, den sie sich hart erkocht hatte, hatte Ehsan genau gewusst, dass sie sich nach einer neuen Herausforderung sehnte.

Das Schöne war, sie konnte in Paris beides miteinander verbinden, denn offiziell war sie seine Köchin. Doch ihr eigentlicher Job war ein ganz anderer.

„Lass uns zurück zum Thema kommen. Ich bin dagegen.“

„Aber es muss sein, Sylvie. Du weißt, wie viel mir daran liegt.“ Er machte eine ausladende Geste mit den Armen.

Sylvie war das unverständlich. Letztendlich konnte man sowieso nichts mit ins Grab nehmen. Aber die Araber schienen etwas anderes zu glauben. Wenn man nur daran dachte, was die ägyptischen Pharaonen alles mit in ihre Pyramiden genommen hatten. Sogar ihre Sklaven. Womöglich auch Frauen und Verwandte. So genau wusste sie es nun auch wieder nicht. Sie musste grinsen. Was für eine skurrile Vorstellung, sich mit Ehsan ein Grab zu teilen. Nein, danke. Zum einen hatte sie nicht vor, in den nächsten sechzig Jahren zu sterben, und zum anderen würde sie doch lieber allein ihren Tod „genießen“.

Ehsan schloss verzückt die Augen, als er den Kakao mit Zimtaroma probierte. Ihr Chef war wirklich attraktiv, aber es war offensichtlich, dass er schwul war. In vielen Dingen entsprach er zu sehr dem Klischee. Seine Bewegungen und seine Interessen waren zu weiblich. Zumindest konnte er sich in Paris in dieser Hinsicht etwas freier bewegen. Obwohl er in Frankreich ebenfalls vorsichtig sein musste. Von seiner Vorliebe für das männliche Geschlecht durfte niemand erfahren. Zumindest nicht seine Verwandtschaft und die Presse. Deswegen hielt er sich nur noch selten im Nahen Osten auf. Es war schwierig, sich ständig verstellen zu müssen. Sylvie wusste das seit einigen Jahren aus erster Hand.

Sie seufzte laut. „Also schön, ich tue, was du sagst. Für ein paar Tage bin ich ausschließlich deine Köchin.“

Er tätschelte ihr Knie und steckte ihr eine frittierte Dattel in den Mund. „Das ist mein Mädchen!“

3

In einem heruntergekommenen Haus am Rand von Paris im Jahr 1832

Jeanne sah voller Stolz auf den Säugling in ihrem Arm. Der Anblick des rosigen Gesichtchens entschädigte sie für den Schmerz. Zwei Tage hatte sie in den Wehen gelegen. Die Hebamme hatte zwischendurch sorgenvoll ausgesehen. Jeanne hatte ebenfalls gedacht, es nicht schaffen zu können. Doch es war alles gut gegangen. Sie fühlte sich noch müde und würde länger zur Erholung brauchen, als es normal war, denn sie hatte viel Blut verloren, aber ihr Junge war gesund und hatte eine kräftige Lunge. Er schrie, als wollte er, dass man ihn auch noch mitten in Paris hörte.

Die Hebamme sah furchtbar erschöpft aus, doch sie lächelte. „Ein prächtiges kleines Kerlchen. Wie soll er denn heißen?“

„Jean-Jaques.“ Die Wahl war nicht schwer. Jean nach ihr und Jaques nach seinem Vater. Dieses Kind war nicht geplant gewesen. Sie konnten sich kein Kind leisten, aber als sie Jaques die Schwangerschaft gebeichtet hatte, war er voller Freude gewesen. Für einen kurzen Moment wich die Freude der Angst. Sie hatten kaum genug, um sich selbst zu ernähren. Die Hebamme sah sie erwartungsvoll an. Natürlich, sie wartete auf ihr Geld. Geld, das sie nicht hatten. Jeanne versuchte, zuversichtlich auszusehen. „Mein Mann wird Sie gleich entlohnen.“