Verschwinden ist keine Lösung - James Lee Burke - E-Book

Verschwinden ist keine Lösung E-Book

James Lee Burke

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Beschreibung

Der Mafia-Spross Johnny Shondell hat sich in die Tochter eines rivalisierenden Clans verliebt. Isolde Balangier soll als Friedensangebot verheiratet werden – allerdings nicht an Johnny. Daraufhin tauchen die beiden unter. Als Dave Robicheaux mit der Suche nach dem verschwundenen Paar beauftragt wird, werden er und sein bester Kumpel Clete Purcel in die gefährliche Welt des organisierten Verbrechens gezogen. Nicht nur, dass das eingespielte Team zwischen die Fronten gerät; Dave verliebt sich fatalerweise auch noch in die Frau des Mafiosi Adonis Belangier. Bald schon sieht sich der Detective mit den Grenzen seines Verstandes konfrontiert, als die Ankunft eines mysteriösen Fremden innere Dämonen weckt, von denen Dave dachte, dass er sie längst überwunden hätte ...

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Für James Joseph Hogan.Einer von den Guten, derüber dreißig Jahre langnicht nur immer geredet,sondern auch angepackt hat.

Going down in Lou’sana,gonna git me a mojo hand.

Muddy Waters

JAMES LEE BURKE

Verschwinden ist keine Lösung

Ein Dave-Robicheaux-KrimiBand 23

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger

Mit einem Nachwort von Jochen König

PENDRAGON

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

James Lee Burke – Dave Robicheaux

Die Dave-Robicheaux-Reihe

1

Ihr wisst ja, wie das ist, wenn man zu lange auf dem Globus herumgewandert ist und sich schon zu oft mit vier Fingerbreit Jack im Humpen und einem Bier oder mit irgendeinem anderen Fusel, den man gerade zur Hand hat, die Birne weggeballert hat. Und wenn das nicht reichte, man am nächsten Morgen vielleicht mit einem halben Dutzend Bechergläsern voll zerstoßenem Eis, Kirschen, Orangenscheiben und Wodka noch eins draufsetzt, um die Schlangen und Spinnen zurück in den Keller zu treiben.

Wow, wie irre. Wer hätte gedacht, dass wir je sterben würden?

Aber wozu all das Geschwafel? Ich sag euch, was das soll. Ich rede von diesen Augenblicken, wenn man seine Rüstung ablegt, zugedröhnt oder nicht, und sich in der Unermesslichkeit der Schöpfung verliert und zu tief in unsere Vergänglichkeit blickt, in unseren Hang zur Gier und der Bereitschaft, den großen blauen Planeten zu zerstören, und einen kurzen Moment lang erschrickst du dich so sehr, dass du dich fragst, warum du dein Porridge nicht schon vor langer Zeit an der Decke verteilt hast.

Einmal überkam mich dieses Gefühl, als ich im Sonnenuntergang auf einem Pier in Texas stand, während die Wellen unter mir entlangrollten und so hart wie Blei gegen die Pfähle schlugen. Der Wind blies eine eiskalte, schimmernde Gischt auf meine Haut und Kleidung, die Wolken erstrahlten in grüngoldenem Licht, so hell wie Acetylen-Fackeln, vom Vergnügungspier schallte Dampforgelmusik und das Ploppen von Schießbuden herüber. Es war einer der Augenblicke, in denen man zwischen Leben und Tod hängt und sich danach sehnt, gleichermaßen an der Erde und der Ewigkeit festzuhalten, und jene Tage und Nächte bereut, die man über das Seitendeck gekippt ist, während man gerade dabei war, sein Leben zu zerlegen.

Ich rede von der Erkenntnis, sterblich zu sein, aber nicht von der Art, die einen im Hospiz beschleicht, oder beim Krächzen der Aasvögel auf einem Schlachtfeld, oder wenn ein betrunkener Fahrer über einen Bordstein donnert und auf einen Spielplatz zuhält. Ich rede davon, zu sehen, wie das siebte Siegel gebrochen wird und eine Reihe mittelalterlicher Leibeigener, Lehnsherren und Jungfrauen sich auf den Weg über einen Hügel begibt, in ein Tal so dunkel wie Öl, und ihre Silhouetten wie Kohlestücke vom Wind verweht werden.

Die Menschen, die diese Momente metaphysischer Klarheit erleben, gehören für mich zu den Mitgliedern des Drei-Prozent-Clubs, denn meiner Meinung nach sind das ungefähr die drei Prozent, die ein paar ihrer Hirnlappen verbrutzeln und hinterher in der Lage sind, darüber zu reden. Du kannst deine Schulden auf vielerlei Arten begleichen: auf einem Nachtmarsch gespickt mit chinesischen Landminen und zu Sprengfallen umgebauten 105-mm-Blindgängern; im Strafarbeitslager von Angola; auf den Knien und mit einem Rosenkranz um die Fingerknöchel gewickelt auf dem harten Boden eines Klosters; oder den Stimmen in deinem Kopf lauschend, die so laut sind wie Megafone. Die Umgebung spielt keine Rolle. Du sitzt für den Moment in einer Blackbox. Du schwitzt sprichwörtlich Blut. Das einen Motherfucker zu nennen, trifft’s nicht mal annähernd.

Wenn du mit der langen Nacht der Seele durch bist oder sie mit dir durch ist, bist du nicht mehr dieselbe Person. Die irdischen Ängste verschwinden, als wäre ein fettes Gewicht von der Waage genommen worden. Du hast keinen Bock mehr, zu streiten oder einen Groll zu hegen; Introvertiertheit wird zur Lebensweise; während einer gewöhnlichen Unterhaltung wach zu bleiben, fällt schwer.

Der Nachteil ist, dass man allein ist. Der einzige Bewohner einer Kathedrale, in der man hört, wie das Echo des eigenen Herzschlags von den Wänden hallt.

Was hat das alles mit Johnny Shondell zu tun? Ich sage es euch. Er war aus einer anderen Epoche – eine Epoche, die wir ständig wiederauferstehen lassen wollen, ob wir es nun zugeben oder nicht – selbst wenn er mehr ein Symbol als ein Teil davon war. Jesus hat über die Menschen gesprochen, die im Mutterleib anders erschaffen werden. Ich gehe noch einen Schritt weiter. Vielleicht waren manche Leute nie in einem Mutterleib. Sie schwebten in einer goldenen Blase herab und wurden irgendwie für den Rest von uns zu einer Ikone. Das zumindest dachte ich von Johnny und Isolde. Nennt es Betrug oder die Dummheit der Masse, wen kümmert’s? Die einzige Realität, die du hast, ist die, an die du glaubst. Und den Rest schmeiß einfach weg, sage ich.

Damals, in dieser anderen Epoche, als Amerika noch Amerika war, im Guten wie im Schlechten, waren Präsidenten Männer wie Harry Truman und Dwight Eisenhower; es gab keine tägliche Ankunft des Clown-Autos. Manche behaupten, das sei nur nostalgisches Gerede. Doch sie irren sich. Für uns in Louisiana war es die Zeit der Musik, der Autokinos, des Himmels voller Sterne und der Landstraßen, die endlos zwischen Wiesen, Eichen und Louisiana-Moos mäanderten. Wenn ihr mir nicht glaubt, fragt meinen Freund Clete Purcel. Er wird euch davon erzählen. Ich kann ihn förmlich hören: „Es war alles in bester Ordnung, mein Guter. Das kann ich dir sagen. Ich würd’ dich nicht verarschen.“

Aber kehren wir zurück zu jenem Sommerabend vor vielen Jahren auf dem Pier. Ich hatte am nächsten Tag eine Verabredung im Huntsville Pen, über die ich nicht nachdenken mochte, also ging ich hinunter auf den Vergnügungspier und sah Johnny Shondell zu, der oben auf der Bühne stand und für eine Schar Teenagerinnen schmetterte, deren Gesichter nicht nur vor Bewunderung glühten, sondern auch mit einer Verletzlichkeit, bei der man sich danach sehnte, sie in den Arm zu nehmen und zu beschützen.

Johnnys Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als er noch sehr jung war, und sein Onkel Mark hatte ihn großgezogen. Ich hatte verfolgt, wie er in New Iberia aufwuchs, so wie man Kinder eben im Auge behält, die in einer Kleinstadt aufwachsen: Man trifft sie beim Gottesdienst, in einem Café, wo sie Flipper spielen, sieht sie einen Baseball schlagen, bei den State Finals als Quarterback spielen, beim Schulball abrocken, im Golden Gloves beim Boxen oder wie sie Autos klauen oder in grausame und hasserfüllte Tätigkeiten verwickelt sind wie zum Beispiel dem Nigger-Knocking, sowie bei Misshandlungen der Ärmsten der Armen. Johnny passte in keine Schublade. Sein musikalisches Talent war kurz davor, kosmisch zu sein und nachdem man ihn das erste Mal spielen und singen gehört hatte, wusste man, dass er, wenn er am Schweif eines Kometen hinge, er beidem, der Sterblichkeit und dem Unmöglichen, trotzen würde. Jep, genauso war’s. Auf seiner Reise über den Himmel würde er den Rest von uns mit Sternenstaub besprenkeln, obwohl er zur Shondell-Familie gehörte, zu den millionenschweren Lügnern und Pennern, die sie waren. Die Shondells hatten Geld, darauf könnt ihr einen lassen, tonnenweise, doch wie die meisten Reichen unserer karibischen Kultur haben sie es auf dem Rücken Anderer verdient und hatten Familiengeheimnisse, bei denen es um Sex mit anderen Ethnien und die Ausbeutung der außerehelichen Kinder ging, die sie zeugten. Seid nicht schockiert. In Louisiana haben wir keine Konföderierten auf den Dachböden. Bei uns sind sie überall, einschließlich im Keller und in den Nebengebäuden, den Zisternen und manchmal liegen sie sogar zwischen den Astgabeln unserer Virginia-Eichen auf der Lauer.

Johnny trug eine weiße Hose und ein braunes Seidenhemd, das sich im Wind blähte. Von seiner Statur her war er schlank wie eine Gerte, sein dichtes, schwarzes Haar mit Pomade zurückgekämmt und glänzend; die Sterne über uns flimmerten kalt und weiß, als wäre der Hintergrund nur für diesen einen Moment erschaffen worden, einen homerischen, so unsinnig das klingen mag. Hey, selbst die Wellen unter dem Mond hatten einen Farbton wie dunkler Wein angenommen, als würde ich dem Ende oder dem Beginn einer neuen Ära zusehen.

„Ich kenne Sie“, sagte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um. Das Mädchen, das gesprochen hatte, konnte höchstens 17 sein. Sie hatte weißlich-blondes Haar, ihr Teint die Farbe von Kreide, die Wangen rosa wie die einer Puppe. Ein Tattoo mit Rosen und Orchideen ergoss sich von ihrer linken Schulter herab (und das zu einer Zeit, als es braven Mädchen in New Iberia nicht erlaubt war, mit nackten Armen das Haus zu verlassen). „Erinnern Sie sich an mich?“

„Tut mir leid, ich habe keine Brille dabei“, log ich.

„Ich bin Isolde Balangie. Sie kennen meine Familie.“

Oh, ja, dachte ich.

„Sie sind Police Officer“, sagte sie. „Sie sind immer in das Restaurant meines Vaters im French Quarter gekommen. Aber Sie sind aus New Iberia. Unsere Familie kommt auch daher. Ich meine, aus Italien.“

„Ich war Police Officer.“

„Sind Sie keiner mehr?“

„Doch, manchmal schon.“

Sie hatte haselnussbraune Augen, die auf eine verschlafene Weise von einem wegdrifteten und dann zu einem zurückkehrten, als würde sie aus einem Traum erwachen. „Was heißt ‚manchmal‘?“

„Ich wurde vom NOPD gefeuert. Gefeuert zu werden, ist mein Modus Operandi.“

„Wofür gefeuert?“

„Ich war ein Säufer.“

„Das sind Sie jetzt aber nicht, oder?“

„Einmal Säufer, immer Säufer.“ Ich versuchte zu lächeln.

Ihr Blick blieb an Johnny Shondell hängen, ihre Lippen öffneten sich leicht und ich wusste, dass sie mir nicht länger zuhörte. Ich wusste auch, dass meine Probleme es nicht wert waren, darüber zu reden, und Teil des chemisch induzierten Narzissmus waren, den jeder Trinker mit sich führt wie eine heilige Flamme. „War nett, Sie zu sehen, Miss Isolde“, sagte ich.

„Glauben Sie an das Kismet?“

„Woher wissen Sie denn, was Kismet ist?“

„Aus dem Kino. Glauben Sie daran?“

„Ich denke, es ist Arabisch und heißt ‚Gottes Wille‘. Ich bin kein Experte in solchen Dingen.“

„Meine Familie hasst die Shondells schon seit 400 Jahren.“

„Das ist ein wenig ungewöhnlich.“

Ihr Gesicht wurde ernst. „Sie haben meinen Vorfahren verbrannt.“

„Wie bitte?“

„Auf einem Scheiterhaufen. In Ketten. Sie haben Nägel durch seinen Mund gestochen, damit er nicht sprechen konnte. Dann haben sie ihn auf jede erdenkliche Art so viel leiden lassen, wie sie nur konnten.“

Ich starrte sie an.

„Sie glauben mir nicht?“, fragte sie.

„Doch.“

„Darum finde ich, dass die Shondells erledigt werden sollten.“

„Erledigt?“

„Oder in die Luft gejagt oder so was.“

„Warum sind Sie dann hier und beobachten Johnny?“

„Er liefert mich heute an seinen Onkel Mark aus.“

Ich wollte nichts mehr hören. Die Familie Balangie bedeutete Ärger, sie hatten eine obskure Art und manche sagten, sie betrieben Inzucht. „Pass auf dich auf, Kleine.“

„Das ist alles, was Sie zu sagen haben?“

„Ja“, entgegnete ich.

„Dann ficken Sie sich.“

Es gibt kein menschliches Wesen, das böser werden kann als eine verletzte Teenagerin. Ich zwinkerte ihr zu und ging. In jener Nacht schlief ich bei geöffnetem Fenster in einem von Salz zerfressenen, holzgetäfelten Motelzimmer aus den 1940er-Jahren. Ich hörte die Wellen auf den Strand schlagen, wie sie den Sand verschlangen, als würde die Strömung sich zurückziehen und dabei sich selbst verspotten.

2

Eigentlich sollte ich um elf Uhr vormittags in Huntsville einen Sträfling besuchen, traf jedoch erst gegen vier Uhr nachmittags dort ein, weil ich den Morgen im Hermann Park Zoovertrödelte und außerdem ein paar Jungs beim Softballspielen zusah. Ich war nicht direkt versessen auf mein Treffen mit einem Häftling namens Marcel LaForchette und hatte das Böse in all seinen Erscheinungsformen sowie unsere Versuche, seine Existenz zu begründen, gründlich satt. Wenn ihr je mit dem Bösen zu tun hattet, dem wahrhaftigen Bösen, persönlich und aus nächster Nähe, dann wisst ihr, was ich meine.

Wie erklärt man die Hillside Stranglers oder Ted Bundy? Mit Kindheitstrauma? Vielleicht. Wenn man die Details ihrer Taten liest, steigt in einem eine Traurigkeit und ein Gefühl von Abscheu auf, bei dem man sich fragt, ob wir alle denselben Stammbaum haben.

Damit will ich nicht sagen, dass Marcel ein Ghul war, oder eine Frau oder ein Mädchen sexuell foltern und ermorden würde, so wie Bundy es getan hat. Marcel war aus einem anderen Holz geschnitzt, ich wusste nur nicht, aus welchem. Er war aus der Kleinstadt Jeanerette, von New Iberia aus ein Stück den Bayou runter, und seine Herkunft unterschied sich nicht sehr von meiner eigenen – arme, ungebildete Cajuns wie meine Mutter, die in einer Wäscherei arbeitete, und mein Vater, der Reusen auslegte, angelte und auf der Gestängebühne einer Offshore-Bohrinsel Rohre schleppte.

Mit 17 beendete ich die Highschool. Im selben Jahr, im selben Alter, fuhr Marcel wegen schweren Autodiebstahls drei bis fünf Jahre in einem Erwachsenengefängnis ein. Noch als Frischfleisch wurde er kannibalisiert und musste für ein halbes Dutzend Degenerierter buchstäblich den Arsch hinhalten. Wisst ihr, was das Merkwürdigste an Marcel war? Er hat sich nie tätowieren lassen und das in einem Umfeld, in dem die Männer als Zeichen ihrer Knasterfahrung Sleeves vom Handgelenk bis zur Achselhöhle trugen.

Das andere Seltsame an Marcel waren seine Augen. Sie waren türkis und in ihnen war ein so intensives Strahlen gefangen, dass man nicht darin lesen konnte. Seine Gedanken hätten von ätherischer Natur sein oder direkt vom Marquis de Sade stammen können, doch nur wenige Leute wollten das herausfinden. Marcel war ein Killer. Wenn er den ‚Aus‘-Knopf drückte, ging die Zielperson zu Boden wie ein Sack Frühkartoffeln.

20 Meilen vor dem Knast, auf einer ruhigen Landstraße, sah ich hinter mir einen violetten Oldsmobile um die Kurve kommen. Ich meinte, ihn schon beim Zoo in Houston gesehen zu haben, war mir aber nicht ganz sicher. Ich hielt auf einem Parkplatz in einem Kiefernwäldchen. Der Olds fuhr an mir vorbei; getönte Scheiben, das Nummernschild mit Dreck verschmiert. Dann wurde ich Zeuge eines Phänomens, das ich schon zweimal zuvor erlebt hatte: Eine breite Reihe Taranteln überquerte die Straße wie ein Strom flüssigen Teers in einem Flussbett. Vor Jahren waren Taranteln auf Bananenfrachtern an die texanische Küste gelangt und hatten sich im Inland ausgebreitet, daher ihre Anwesenheit auf einem State-Highway weit weg von Galveston. Dennoch fragte ich mich, ob das, was ich da sah, ein Omen war und für meinen Besuch bei Marcel nichts Gutes verhieß, einem Mann, zu dem ich hätte werden oder der in meiner Haut hätte stecken können.

Meine Beziehung zum Assistenten des Gefängnisleiters verschaffte mir Zugang, jedoch keine Sympathien. Ich hatte damals keinen guten Ruf, kam darüber hinaus zu spät, und was noch schlimmer war, zumindest für mein Gewissen: Ich hatte gelogen und dem Verwaltungsbeamten erzählt, ich würde im Zusammenhang mit einer Straftat in Louisiana ermitteln und erhoffe mir von Marcel Hilfe.

Zwei bewaffnete Bullen führten ihn in Hüft- und Fußfesseln vom Hof herein und setzten ihn in einen kleinen Raum mit Betonboden, Holztisch und zwei Stühlen. Vom Fenster des Raums aus blickte man auf die Walls, den riesigen, roten Gebäudekomplex mit seinen Gefängnismauern aus rotem Backstein, einer architektonischen Erweiterung der ursprünglichen Struktur von 1848. Die beiden bewaffneten Wachen waren breitschultrige Männer mit großen Händen, kegelförmigen Cowboyhüten und dunklen Schweißringen unter den Achseln, ihre Gedanken hinter Sonnenbrillen verborgen.

„Tut mir leid, euch Arbeit zu machen, Jungs“, sagte ich.

Einer von ihnen saugte an den Zähnen. „Haben sowieso nichts anderes zu tun“, meinte er. Die Tür bestand aus zwei Riegeln und schweren Stahlplatten. Er warf sie in die Türlaibung und drehte einen winzigen Schlüssel im Schloss, wobei ihm ein Schweißtropfen vom Haaransatz rann.

Marcel trug Arbeitsschuhe, die so steif und unbequem aussahen, als wären sie aus Eisen, dazu einen schmutzigen, weißen Pullover und weiße Hosen, an den Knien verdreckt. Er hatte eine gallische Nase, eine hohe Stirn und verschwitztes, grau-meliertes Haar; sein Körper war so straff wie eine Peitschenschnur. Er schenkte mir ein schiefes Lächeln, sagte jedoch nichts. Er blinzelte nicht, seine Pupillen kaum mehr als kleine schwarze Punkte, fast als starre er in gleißend helles Licht.

„Warum die Ketten?“, fragte ich ihn.

„Wir sind hier in Texas und was die Milch der Nächstenliebe betrifft, werden wir nur von Arkansas übertroffen“, antwortete Marcel.

„Auf Ihrer Postkarte schrieben Sie, Sie hätten ein Geschenk für mich.“

„Informationen.“

„Aber vorher wollen Sie etwas dafür?“

„Wissen Sie, wie es hier ist, wenn das Licht ausgeht? Zeigen Sie mal ’n bisschen Respekt.“

Ich sah auf meine Uhr. „Ich will noch heute Abend zurück nach New Iberia.“

Er renkte seinen Nacken ein, die Ketten klirrten. „Ich sitze elf Monate und 29 Tage, zwei Schocks in Folge. Kapiert?“

„Nein.“

„Der Richter hat mir einen Tag weniger als ein Jahr gegeben, damit ich meine Zeit in einem Bezirksbau absitze, wo sie Kohle pro Kopf kriegen. Nur, dass irgendwer Scheiße gebaut und mich nach Huntsville geschickt hat. Mein Rechtsanwalt stellt Antrag auf Bewährung. Aber ich muss meine Bewährung in Texas ableisten.“

„Und was hat das alles mit mir zu tun?“

„Ich will zurück nach Louisiana. Ich will sauber bleiben.“

„Sie?“

„Vielleicht könnte ich bei einem Sicherheitsdienst arbeiten. Oder als Privatdetektiv.“

„Sie waren Mechaniker, Marcel, ein Auftragskiller der Mafia.“

„Nein, ich bin in Brooklyn in einen Bandenkrieg geraten. Danach gab’s ein paar Probleme in New Orleans. Aber ich hab nie jemanden im Auftrag von irgendwem umgelegt.“

„Warum sind Sie dann in Ketten?“

„Vor der Essensausgabe ist ein Mexikaner mit einem Shank erstochen worden. Ich stand in der Nähe.“

„Sie haben’s nicht getan?“

„Würde ich kurz vor meiner Entlassung einen Kerl perforieren?“

„Ja, würden Sie, wenn er Ihnen querkommt“, sagte ich.

Die Sonne war nur noch ein blasses Rot im Westen und ich konnte Staubteufel über ein Baumwollfeld wirbeln sehen, die im Wind auseinanderbrachen. Sechs bewaffnete Wächter standen als Silhouetten wie schwarze Scherenschnitte vor einem Horizont, der gut und gern auch der Rand zur Hölle hätte sein können. „Haben Sie nicht für die Familie Balangie gearbeitet?“

„Kurz.“

„Ich bin gestern Abend Isolde Balangie begegnet. Auf einem Vergnügungspier. Sie war dort, um Johnny Shondell zu sehen.“

„Gibt’s doch nicht.“

„Teenagerinnen fühlen sich von Typen wie Johnny Shondell nicht angezogen?“

„Die Familien Balangie und Shondell kommen so gut miteinander aus wie Scheiße auf Eiscreme.“

„Was, wenn ich Ihnen erzähle, dass Isolde Balangie an Mark Shondell ausgeliefert werden sollte?“

„‚Ausgeliefert‘ im Sinne von entjungfert werden?“

„Ich glaube kaum, dass sie in der Küche arbeiten wird“, sagte ich.

Ich stand auf und rüttelte an der Tür nach dem Schließer. Marcel atmete hörbar aus. „Ich brauche einen Paten, wenn ich außerhalb des Bundesstaates Bewährung bekommen will.“

„Ich habe einen schwerwiegenden Charakterfehler, Marcel“, sagte ich. „Ich kann es nicht leiden, wenn Leute mich benutzen.“

„Ihre Mutter wurde wahrscheinlich von einer Whiskeyflasche geschwängert, aber Sie sind eine ehrliche Haut. Sie kennen die Leute der Bewährungskommission.“

„Sie sollten mal überdenken, wie Sie mit anderen Leuten reden, Marcel“, sagte ich.

„Kommen Sie, Dave. Ich hab Ihnen die Wa’heit gesagt. Ich will sauber werden.“

„Was für Informationen haben Sie?“

„Setzen Sie sich.“

„Nein.“

Im Raum wurde es heißer. Ich nahm seinen Gestank wahr, den Dreck und das Baumwoll-Pestizid, die verschwitzten Socken, die vermutlich in seiner Zelle auf der Leine hingen und nie trocken wurden, den fermentierten Knastwein, ein ständiger Grund für Inkontinenz im Knast.

„Ich verlang’ doch nicht viel“, sagte er.

Ich war nicht ehrlich zu ihm gewesen. Ich war weder aus Mitmenschlichkeit noch Dienstverpflichtung dort. Ich war dort, weil ich glauben wollte, dass das Böse eine erklärbare Ursache hatte, eine, die nichts mit unsichtbaren Kräften oder nicht mal einem kanzerösen Makel der Schöpfung zu tun hatte, und dass selbst die schlimmsten Männer wieder zum Licht finden konnten, welches sie aus ihren Seelen verbannt hatten. Ich nahm wieder Platz. Seine Augen sahen aus wie hunderte blaugrüne Glassplitter.

„New Orleans war der Bereitstellungsraum für den Anschlag auf John F. Kennedy“, sagte er.

„Alter Hut“, sagte ich. „Nein, nicht nur alt. Steinalt.“

„Ich kenne einen der Typen, der dabei war. Er war einer der Vollstrecker der Brooklyn-Mafia. Auf der Straße nannte man ihn Chicken Cacciatore. Kein Scheiß. Er ist in eine Sache mit der CIA und in einige Erpresser-Nummern in Miami reingeraten.“

Ich kannte den Namen des Mannes, über den er sprach. Er arbeitete für das Miami Better Business Bureau und erhielt zudem Gehaltschecks von einer unserer landesweiten politischen Parteien. Außerdem betrieb er einen Autodiebstahl-Ring. Ich wusste, dass es niemandem gleichgültiger sein könnte.

„Und Sie gucken mich einfach nur so an?“, fragte er.

„Ich werde sehen, ob ich bei Ihrer Bundesstaat-Bewährungsproblematik etwas tun kann.“

„Kein Scheiß?“

„Warum nicht? Sie sagten, Sie wollen sauber werden.“

„Also vielleicht könnten Sie mir sogar einen Job verschaffen?“

„Haben Sie Autowascherfahrungen?“

Er senkte die Augen. Dann zuckte er die Achseln. „Was immer nötig ist, ich bin dabei.“

„Das war ein Scherz. Sie verarschen mich besser nicht, Marcel.“

„Sind Sie immer noch dicke mit Clete Purcel?“, fragte er.

„Er ist mein bester Freund.“

„Das klingt, als würde jemand sagen, Tripper ist mein Lieblingsrosa.“

Ich rüttelte wieder an der Tür und rief diesmal nach dem Schließer. „Machen Sie sich nicht zu viele Hoffnungen.“

„Kommen Sie her“, sagte er.

Da war es, das diktatorische Kommando, der selbstgefällige und herablassende Tonfall eines jeden Narzissten. Ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Mäßigen Sie Ihren Ton“, erwiderte ich.

„Ich hab doch gesagt, ich hätt’ Informationen. Ich wollt’ Ihnen auf den Zahn fühlen. Ich kann nicht länger einsitzen. Ich hab zu viele schlimme Dinge in meinem Kopf. Vielleicht muss ich sie mir vom Gewissen reden.“

Es gefiel mir nicht, sein Beichtvater zu werden. Andererseits war ich auch kein Fan des texanischen Strafvollzugssystems. Ich stützte meine Arme auf dem Tisch ab, den Rücken zur Tür, und versperrte den Schließern die Sicht auf Marcel. Sein Gesicht war schmal und zerfurcht, die Wangen unrasiert und sie wirkten so schmutzig, als hätte man sie mit Ruß eingerieben.

„Ich war der Fahrer bei einem Job für die Balangie-Familie“, sagte er. „Der Typ war ein Kinderschänder. Er liegt jetzt im Sumpf auf der Nordseite des Lake Pontchartrain. Es gibt Leute in New Iberia, die wollen wissen, wo er geblieben ist.“

„Ich nicht.“

„Im Ernst?“, fragte er.

Wie die meisten Wiederholungstäter, hatte Marcel den größten Teil seines Lebens hinter Gittern verbracht und sein Wissen über die Welt da draußen war wie eine Sammlung alter Postkarten, die ihm jemand erklären musste.

„Hey, hör’n Sie mir überhaupt zu?“, fragte er. „Es gibt keine Verjährungsfrist für Mord.“

„Schreiben Sie’s in Ihre Memoiren“, sagte ich.

„Warum sind Sie hergekommen?“

„Ich habe mich gefragt, ob Sie ohne Gewissen geboren wurden oder, ob Sie sich selbst zu dem gemacht haben, der Sie heute sind.“

„Sie Schwanzlutscher.“

„Ich werde sehen, was ich wegen Ihrer Bewährung ausrichten kann.“

„Ich will Ihre Hilfe nicht. Bleiben Sie mir vom Leib. Nehmen Sie meinen Namen nicht in den Mund.“

„Deal ist Deal“, sagte ich. „Jetzt haben Sie mich an der Backe, Marcel. Noch ein respektloses Wort über meine Mutter und ich breche Ihnen den Unterkiefer.“

Zehn Minuten später, als ich draußen durch den roten Backsteinkomplex ging, fragte ich mich, in welchem Gebäude der elektrische Stuhl gestanden hatte, der von Leuten, die es lustig fanden, wenn man einem Menschen den Kopf rasierte, ihn auf einem Stuhl festschnallte, ihm dann eine Metallkappe auf dem Kopf befestigte und ihn lebend frittierte, Old Sparky genannt wurde. Außerdem fragte ich mich ein weiteres Mal, ob die Gesamtheit unserer Spezies aus derselben Ursuppe stammte. Ich vermute, dass unsere Herkunft sich weitaus stärker unterscheidet, aber ich glaube auch, dass die Wahrheit die meisten von uns in Angst und Schrecken versetzen würde. Was, wenn wir akzeptieren müssten, dass wir in unseren liebevollsten und romantischsten Augenblicken die Samen einer Eidechse weitergeben würden? Dass sich in unseren Augenwinkeln die Schuppen einer Schlange befinden, und dass der Blutdurst sein erstes Erwachen erfahren könnte, wenn das Baby den Nippel seiner Mutter findet?

3

Ich kehrte nach New Iberia in mein bescheidenes Shotgun-Haus an der East Maine zurück, nicht weit von der berühmten Vorkriegsvilla Shadows. Ich lebte damals, in den Tagen vor 9/11, das Leben eines Witwers, eines Einsiedlers, der versucht, sich vor seinen zerstörerischsten Abhängigkeiten zu verstecken, vor Jack on the Rocks mit einem Bier dazu und meiner Liebesbeziehung mit dem Bundesstaat Louisiana, auch bekannt als die große Hure Babylon. Für mich war sie immer die Verkörperung jedes Lasters auf der Speisekarte, angefangen mit Pferderennbahnen und Burré-Tischen, Kasinos, Seen von Gin, Wodka und Sour Mash, und Abschlepp-Läden mit einem Honky-Tonk-Spezialisten auf jedem Hocker, der sich danach sehnt, es im Viervierteltakt zu treiben.

Denkt ihr, ich übertreibe? Farbige haben ein Sprichwort: Wenn du an einem Samstagabend schwarz bist, willst du nie wieder weiß sein. Dieselbe Denkweise trifft auf Louisiana zu, aber weiter gefasst und nicht auf der Basis von Ethnie oder Wochentagen. Die südliche Hälfte des Bundesstaates ist ein Äquivalent der Caracalla-Thermen; der einzige Unterschied sind die Cajun-Akzente und die Tatsache, dass die Bierhallen nie schließen. Ich kannte mal einen berühmten Country-Musiker, der in Carencro in ein Farmhaus zog, um wieder trocken zu werden, er lieferte sogar seine Wagenschlüssel bei seiner Frau ab. Ja, ich weiß, mit Hilfe und Unterstützung der Anonymen Alkoholiker passieren wahre Wunder und man kann überall wieder trocken werden. Das dachte auch die Frau des Musikers, bis Mardi Gras begann und ihr Mann auf dem Aufsitzrasenmäher die acht Meilen den Highway runter bis nach Lafayette ratterte, damit er bei der Parade mitmarschieren und sich total besaufen konnte.

Am Abend angelte ich neben einigen Farbigen mit einer Bambusrute und sah zu, wie das Augustlicht aus dem Himmel sickerte, sich in den Eichen sammelte und als langes Messingband in der Oberfläche des Bayou verschwand, von dem ich als Kind glaubte, es sei die Schwelle zur Unendlichkeit. Vermutlich war es eine seltsame Lebensweise. Ich war aus drei Strafverfolgungseinrichtungen gefeuert oder suspendiert worden, und obwohl ich noch relativ jung war, spürte ich bei der abendlichen Tide das Zupfen der Erde und ein nagendes Loch in meinem Bauch sagte mir, dass die großen Rätsel für immer große Rätsel bleiben würden und die Natur und der Ursprung des Krieges zwischen Gut und Böse so gewaltig war, dass meine flüchtigen Bemühungen überhaupt nichts zu bedeuten hatten.

Die Wochen vergingen, ohne dass ich irgendetwas von Marcel LaForchette hörte. Dann, an einem Sonntagnachmittag, als ich durch den City Park ging, sah ich zwei Männer in einem violetten Oldsmobile aufs Gras fahren, unter einer Eiche parken, aussteigen und eine Golftasche aus dem Kofferraum holen. Es waren stämmige Männer in den besten Jahren, gebräunt, vermutlich dank einer Mischung aus Sonne und Chemie, adrette Sportbekleidung; Männer der Sorte, die auf dem College vermutlich ein oder zwei Semester Football gespielt hatten und später Kleinlebensversicherungen vertickten, Ex-Sportler, die einem nur leidtun konnten.

Bis man die Narben am Haaransatz erblickte oder die großen Hände mit zu vielen Ringen an den Fingern oder die weißen Zähne, die zu feucht waren, dazu ein Lächeln wie ein hungriger Mann, der aufs Grillgut stiert.

Sie steckten Tees in den Rasen, schlugen zwei Bälle im Bogen über den Bayou und sahen ihnen hinterher, wie sie in einiger Entfernung ins Wasser platschten.

„Entschuldigung“, sagte ich hinter ihnen.

Sie drehten sich um und stützten sich auf ihre Schläger, die Gesichter reinster Sonnenschein.

„Das hier ist keine Driving Range“, sagte ich.

„Wir dachten, es hätte niemand was dagegen“, sagte der Kleinere. Er hatte dicke Lippen und langes, geringeltes Haar, hell wie Gold, wie das eines professionellen Wrestlers, die Bizepse stramm wie Krocket-Kugeln. „Hättest du gedacht, es würde jemandem was ausmachen, Timmy?“

„Nicht, solange wir keinen Fisch auf den Kopf treffen“, sagte Timmy.

„Eine Menge Leute scheinen Louisiana für eine Müllkippe zu halten“, sagte ich. „Wir haben überall im Bundesstaat jede Menge Abfall.“

„Jo“, sagte der kleinere Mann. „Ist schon eine Schande, oder?“

„Er redet über uns“, sagte Timmy. „Stimmt’s? Wollen Sie damit vielleicht sagen, wir seien Abfall?“ Sein braunes Haar sah weich aus, geschnitten und geföhnt im Kurzhaar-Stil der 1950er Jahre, und erinnerte an eine umgedrehte Schuhbürste. Das Lächeln verließ nie sein Gesicht.

„Ich bin Polizist“, sagte ich. „Ich würde es sehr begrüßen, wenn ihr den Bayou nicht als Golfplatz benutzt. Das ist alles.“

„Wir wollen hier keinen Ärger“, sagte Timmy. „Ganz im Gegenteil. Wir sind Problemlöser.“

Der Mann mit den goldenen Ringellöckchen leckte sich über die Lippen. „Stimmt. Wir wollen Ihnen das Leben ganz bestimmt nicht schwer machen, Sir.“

„Sehe ich aus wie ein alter Mann?“, fragte ich.

„Wir zeigen nur Respekt“, sagte er.

„Findet ihr Jungs Zoos gut?“, fragte ich.

„Jo“, meinte Timmy. „Haben Sie hier einen?“

„Nein, aber in Houston ist ein schöner“, sagte ich. „Im Hermann Park, an der South Main.“

„Diese Stadt könnte man ohne viel Aufwand auch in einen Zoo umwandeln“, sagte der kleinere Mann. „Man müsste außenrum nur einen Maschendrahtzaun ziehen und dann Eintritt verlangen.“

„Jo, und unser Mann hier könnte den Laden wahrscheinlich wuppen“, ergänzte Timmy. „Was sagen Sie dazu, werter Herr?“

Die Eiche über uns bauschte sich im Wind. Ein weißes Speedboot durchschnitt den Bayou in der Mitte, in dessen Kielwasser organische Abfälle über die Wurzeln des Bambus und der Zypressen schwappte, die wie halb vergrabene Knöchel entlang des Uferschlamms wuchsen. „Ich denke, ihr Jungs habt mich auf der Landstraße überholt, als ich rauf nach Huntsville gefahren bin“, sagte ich. „Hunderte von Taranteln haben die Straße überquert. Das war wirklich ein Schauspiel.“

In der Entfernung heulte der Motor des Speedboots auf, wie eine Handkreissäge, die durch einen Nagel schneidet.

„Wir sollen an Ihnen vorbeigefahren sein?“, fragte Timmy. „Ich denke, da haben Sie uns mit jemandem verwechselt.“

„Ich bin derzeit nicht besonders beliebt“, sagte ich. „Warum solltet ihr einen Kerl wie mich beschatten?“

„Weil Marcel LaForchette ein Killer der Jersey-Mafia ist“, sagte der Mann mit dem goldenen Haar. „Weil er vor vier Tagen entlassen wurde. Weil Sie etwas mit seiner Entlassung zu tun hatten.“

„So viel Einfluss hab ich nicht“, sagte ich.

„Nennen Sie mich Ray“, sagte der Mann mit dem goldenen Haar. Er wickelte sich eine seiner Locken um den Finger. Seine Augen waren nicht auf gleicher Höhe, eines lag tiefer als das andere. „Wir sind Privatermittler. LaForchette ist eine Bestie. Unser Mandant ist ein Mann, der Grund zur Sorge wegen eines Kerls hat, der für Jimmy the Gent arbeitete. Sie wissen, wer das ist, oder?“

„Jep. Jimmy Burke“, sagte ich. „Sitzt lebenslänglich in New York.“

„Er saß lebenslänglich“, antwortete Timmy. „Jetzt schläft er bei den Würmern. Aber LaForchette ist immer noch da. Warum erzählen Sie uns nicht, was Sie ihm in Huntsville zu sagen hatten?“

„Ihr habt meine Beschattung nicht erst im Hermann Park Zoo aufgenommen“, sagte ich. „Ihr wart am Abend davor auf dem Vergnügungspier.“

„Sie denken, Sie haben uns auf einem Vergnügungspier gesehen?“, fragte Ray.

„Vielleicht habt ihr mich mit einem Fernglas beobachtet. Aber ihr habt gesehen, wie ich mit Isolde Balangie geredet habe. Darum geht es hier doch, oder?“

Ray rieb sich die Nase und schniefte durch ein Nasenloch. „Manchmal ist es nicht clever, raushängen zu lassen, dass man clever ist.“

„Ich habe nie behauptet, clever zu sein“, sagte ich.

„Haben Sie Ihre Marke verloren, weil Sie im Dienst getrunken haben oder weil Sie auf einer Schmierliste stehen?“, fragte Ray.

„Nennen wir’s ein Sabbatjahr“, sagte ich.

„Also haben Sie nichts dagegen?“, fragte er.

„Wogegen?“

„Das hier.“ Er holte einen Driver aus der Golftasche und ließ drei Bälle auf den Rasen fallen. Dann schlug er sie hintereinander ab, sah dem Letzten hinterher, wie er in den Bayou platschte und bot mir dann den Schläger an. „Ich hab noch mehr Bälle im Wagen. Schlagen Sie ein paar. Wir wollten Ihnen nicht auf den Schlips treten. Ein junges Mädchen wird vermisst. Wenn sie nicht gefunden wird, werden ein paar Leute an ihren Därmen baumeln.“

Das einzige Geräusch war der Wind in den Bäumen. Timmys Augen leuchteten auf, als er mich nun direkt ansah. Er nickte, als wolle er die Aussage seines Freundes bestätigen, ein Finger tippte in die Luft. „Ich hab’s selbst gesehen. Fleischerhaken. Kannste glauben, Mann.“

„Ihr wisst also, wo ich wohne?“, fragte ich.

„Direkt auf der anderen Seite des Bayou“, sagte Ray. „Ein Shotgun-Haus. Sie haben Wunderblumen und Kaladien um die Bäume im Garten.“

„Kommt nicht vorbei“, sagte ich.

„Stillhalten“, sagte Timmy. Er schnipste mir ein Blatt vom Haar. „Wie ich höre, haben Sie eine Tochter auf dem College. Ich habe auch eine.“

Ich trat einen Schritt von ihm zurück und spürte, wie meine Hände sich an den Seiten öffneten und schlossen. „Ich werde jetzt gehen.“

„Er geht“, sagte Timmy.

„Jep, so machen die das hier“, sagte Ray. „Sie gehen einfach. Sie wollen keinen Ärger in Lahmarsch City. Also gehen sie.“

Ich entfernte mich durch die Schatten der Bäume, ein wenig benommen und mit einem Klingeln in den Ohren, ging die einspurige Straße hinunter, die sich durch den Park schlängelte. Dann hörte ich, wie hinter mir ihr Wagen angelassen wurde. Der Oldsmobile schob sich langsam an mir vorbei, wobei der im Reifenprofil festsitzende Schotter auf dem Asphalt klickerte. Ray hockte hinter dem Lenkrad, eine Hand tippte im Beat zur Musik aus dem Radio, während Timmy auf dem Beifahrersitz saß, eine Zigarette mit lavendelfarbenem Papier und einer goldenen Filterspitze paffte und dabei Rauchringe blies wie jemand, der mit sich und der Welt im Reinen ist.

Der Oldsmobile fuhr an einer Gruppe schwarzer Kinder vorbei, die auf dem Rasen mit einem großen blauen Gummiball spielten. Der Herbst stand bevor. Die Streifen orangefarbenen Feuers in den Wolken und die Schatten der Virginia-Eichen, der kühle Wind und der tanninhaltige Geruch geschwärzter Blätter ergaben zusammen das perfekte Ende eines Tages, oder, noch besser, den perfekten Anfang eines Indian Summers und einen Aufschub des bevorstehenden Winters.

Doch wenn der Abend so wunderbar und die Uferszene so beschaulich war, die Anwesenheit der Kinder so ein offensichtliches Zeugnis für die Güte und Unschuld des Menschen, und wenn ich wirklich über den Pöbeleien von Misanthropen stand, warum war dann mein Durst so groß wie die Sahara und mein Herz von Dornen umwickelt?

Am nächsten Tag lieferte ich Clete Purcel in einem New Orleans Saloon auf der Magazine eine Kurzfassung der Ereignisse auf dem Pier und am Bayou Teche. Clete war auf der Magazine aufgewachsen. Der Saloon hatte eine Decke aus gestanztem Blech, einen rauen Holzboden und eine lange Bar mit einer Messingreling. Der Besitzer lagerte die Bierkrüge im Eisschrank, sodass sie mit Reif überzogen waren, wenn er sie füllte, und aus all diesen Gründen nutzte Clete den Saloon als sein Büro, wenn er mal nicht in seinem eigentlichen Büro war.

Während ich redete, hörte er aufmerksam zu, seine ruhigen grünen Augen starrten ins Leere, dann rieb er Kreide auf sein Queue, verteilte den 9-Ball-Rhombus und verfolgte mit den Augen einen einzelnen Ball, der in eine Tasche fiel. Draußen regnete es und die Schatten der Tropfen, die die Fensterscheibe hinunterrannen, sahen auf seinem Gesicht aus, als würde er weinen.

„Als die beiden Typen an den schwarzen Kids vorbeifuhren, hast du da gedacht, sie hätten vor, ihnen wehzutun?“, fragte er.

„Ich weiß nicht, was ich gedacht habe“, sagte ich. „Manchmal denke ich zu viel.“

„Wem sagst du das.“

„Was soll das heißen?“

Er schüttelte die Frage ab. „Marcel LaForchette wurde vor fünf Tagen entlassen und ist jetzt in New Iberia?“

„Höchstwahrscheinlich.“

„Lass die Finger davon, Streak. Angefangen mit LaForchette. Er war der Eismann der Familie Balangie.“

„Er gibt zu, der Fahrer bei einem Auftrag gewesen zu sein, den sie angeordnet haben.“

„Fahrer, drauf geschissen. Er war einer der Typen, die Tommy Fig zersägt, in Portionen eingefroren und sie an einem Deckenventilator aufgehängt haben. Hast du das Kennzeichen des Olds?“

„Ich habe keinen guten Blick drauf werfen können.“

„Wer ist das vermisste Mädchen?“

„Haben sie nicht gesagt.“

Er trug keine Kopfbedeckung, einen grauen Anzug, Hawaiihemd und dunkelrote Slipper. Sein blondes Haar war kurz geschnitten und ordentlich nass gekämmt, die Wangen frisch rasiert. Eine Narbe wie ein flacher, rosa Wurm zog sich durch eine Augenbraue bis zum Nasenrücken. Er nahm eine Bierflasche, legte den Kopf in den Nacken und trank sie im Gegenlicht aus, während ihm der Schaum in den Mund lief. „Möchtest du ein Soda mit Limette und Kirsche?“, fragte er.

„Ich sag’s dir, wenn.“

„Ich wollte nur höflich sein. LaForchette hat mit dir gespielt. Warum hast du einen Irren wie den überhaupt besucht?“

„Er hatte eine miese Kindheit.“

„Genau wie Thomas Edison. Ein Zugschaffner hat ihm gegen den Kopf geschlagen und dabei sein Trommelfell zerstört. Er hat die Glühbirne erfunden, statt Leute umzubringen.“

„Edison hat die Elektrizität für den ersten elektrischen Stuhl geliefert. Er hat es getan, um seinen Konkurrenten aus dem Geschäft zu drängen.“

„Solche Sachen weißt auch nur du, Dave.“

„Warum sollten mir die beiden Kerle zum Knast folgen? Warum sind sie überhaupt an mir interessiert?“

„Denk zurück. Sie haben gesehen, wie du auf dem Pier mit dem Balangie-Mädel geredet hast. Richtig?“

„Ich nehm’s an. Warum sollten sie mich sonst beschatten?“

„Wer weiß? Sie klingen wie Ex-Cops mit Kaugummi statt Hirn“, sagte er.

„Das Balangie-Mädel sagte, sie solle ausgeliefert werden.“

„Du denkst an Mädchenhandel?“

„Ja, genau.“

„Das stinkt nach den Schmalzlocken. Lass bloß die Finger davon. Und sieh mich nicht so an. ‚Schmalzlocke‘ ist kein rassistischer Begriff. Es ist eine Geisteshaltung. Der Einzige, der die Familie Balangie je unter Kontrolle gebracht hat, war Mussolini. Er hat ihnen die Fingernägel ausgerissen.“

Ich ging zur Bar und bestellte ein Poorboy-Sandwich, dick beladen mit gebratenem Seewolf. Ich holte mir einen extra Teller, halbierte das Sandwich und kehrte damit zum Billardtisch zurück. Dort stellte ich Cletes Teller neben seine leere Bierflasche auf den Stuhl. „Willst du noch eine?“

„Warum machst du mir immer ein schlechtes Gewissen, Dave?“

„Das ist eines meiner Talente.“

„Soll ich mal sehen, was ich herausfinden kann?“

Clete kannte so ziemlich jeden Taschendieb, jede Nutte, jeden ausgefuchsten Kriminellen, Mafia-Schergen, Crack Dealer, Privatschnüffler, Autodieb und schmutzigen Detective oder Cop bei der Sitte in Orleans und im St. Bernard’s Parish.

„Nein“, sagte ich. „Du hast recht. Ist’s nicht wert, sich damit abzugeben.“

Er stellte sein Queue wieder ins Regal an der Wand, nahm den Poorboy, biss einen großen Happen ab, kaute langsam und starrte vorn aus dem Fenster hinaus auf den Regen, die Scheinwerfer auf dem Asphalt und den Nebel, der aus einer Gasse trieb. „Mir gefällt es nicht, wenn dich zwei Schwanzlutscher in einem Olds zur Rede stellen.“

„Sie haben mich nicht zur Rede gestellt“, sagte ich.

„Nenn es, wie du willst. Dieser Abschaum hat kein Recht, die Bobbsey Twins der Mordkommission dumm anzumachen. Ich werde Zurückhaltung üben. Ich bin dieser Tage total sanft und nett und denke nur über heitere Dinge nach. Es ist Teil eines Yogi-Programms, bei dem ich mitmache.“

„Clete …“

„Habe ich dir je erzählt, dass ich mal mit Jackie Gleason 9-Ball gespielt habe? Minnesota Fats und Paul Newman waren mit dabei. Genau wie Jake LaMotta. Ich hab sie fertiggemacht, mein Großer. We don’t care what people say, rock and roll is here to stay.“

4

Zwei Abende später hielt Clete vor einer Reihe von Cottages außerhalb von Broussard, auf halber Strecke zwischen Lafayette und New Iberia. Die meisten Cottages waren unbewohnt. Zwischen den Virginia-Eichen blinkten Glühwürmchen auf und verschwanden dann wieder wie abgebrannte Fäden. Blitze rollten durch die Wolken und explodierten still über dem Golf. Er konnte den Regen in der Luft riechen, der über die Sumpfgebiete wehte, ein Geruch wie aufgebrochene Wassermelonen oder frisch gemähtes Heu. Das war ein Teil Louisianas, den er liebte, eine heilige Erinnerung, die er mit nach Vietnam genommen hatte und in die er sich zurückgezogen hatte, wenn der Regen unten in einer Grube auf seinen Poncho und den Helm prasselte, oder wenn es im Himmel über dem Meer während eines Flak-Angriffs blitzte wie Wetterleuchten und die Granaten im Bogen über ihn flogen, um im Dschungel mit einem dumpfen Schlag zu explodieren, die Luft plötzlich erfüllt vom Geruch nasser Erde, Blättern und Wasser, das voller Amphibienleben gewesen war.

Vor dem letzten Cottage in der Reihe parkte ein lilafarbenes Oldsmobile. Clete klopfte leicht an die Cottagetür. Er trug einen Porkpie schräg über der Stirn, das Jackett offen, einen bleibeschwerten Totschläger in seiner rechten Jacketttasche, einen zusammengerollten, braunen Umschlag in die andere Tasche gestopft.

Ein Mann mit freiem Oberkörper und wasserstoffblondem, gelockten Haar, das ihm ins Gesicht hing, öffnete die Tür. Seine Lippen sahen aus wie Gummi, sein Oberkörper ein Klotz, der konisch auf eine 80-Zentimeter-Taille zusammenlief. Er trug eine Hailederhose, Hosenträger und Flip-Flops. Ein Auge sah so aus, als wäre es in den Kopf gedrückt worden. Er holte einen Kamm heraus, begann, sich zu striegeln und entblößte dabei rasierte Achseln. „Was wollen Sie?“

„Ray Haskell?“, fragte Clete.

„Kann sein. Wer sind Sie?“

„Clete Purcel. Ich habe dein Büro in New Orleans angerufen.“

„Weswegen?“

„Dave Robicheaux. Darf ich hereinkommen?“

„Wer hat Ihnen gesagt, wo ich bin?“

„Ich habe mich im Quarter umgehört. Ich bin Privatermittler. Wie du. Hast du ein Bier?“

„Sehe ich aus wie eine Trinkhalle? Was ist los mit Ihnen, Mann?“

„Wie ich schon sagte. Hey, scharfer Haileder-Fummel. Das ist Fünfziger-Stil, oder? Kann ich jetzt reinkommen oder nicht? Es fängt gleich an zu regnen.“

„Ich bin gerade etwas beschäftigt. Verstehen Sie, was ich meine? Machen Sie einen Termin.“

„Ich will nur wissen, warum ihr meinem Podjo Dave nach Huntsville gefolgt seid und ihn dann am Bayou mit eurem Golfspiel dumm angemacht habt. Weißt du, macht ihr Dave dumm an, macht ihr mich dumm an. Kapez-vous, werter Herr?“

Ray Haskell steckte seinen Kamm wieder in die Gesäßtasche. „Ich bekomme gleich Besuch von einem Freund, den Sie nicht kennenlernen wollen. Also tue ich Ihnen jetzt den Gefallen und schließe die Tür. Dann verriegele ich sie, lege die Kette vor und sehe nach meiner Lady. Kapito?“

„Klar“, sagte Clete. „Aber ich habe hier diese Ausdrucke und Fotos von dir und einem Typen namens Timothy Riordan. Sieht so aus, als wärt ihr beide ehemalige Bullen, die jetzt die Drecksarbeit für die Shondell-Familie und vielleicht noch ein paar Leute in Miami erledigen. Ich rede von politischen Vollpfosten, die Kubanisch sprechen und in den Glades gern Leichenteile an Alligatoren verfüttern.“

„Sie lesen zu viele Comics. Davon abgesehen haben wir die Botschaft verstanden. Also sage ich jetzt gute Nacht. Sagen Sie Robicheaux, und auch sich selbst, ist blöd gelaufen, ist nichts passiert. Und jetzt verpissen Sie sich.“

Die Badezimmertür öffnete sich. Clete hörte ein Schniefen, dann sah er eine schlanke, hübsche Schwarze ins Licht der Bettlampe treten. Er kannte sie noch aus der Zeit, als sie für einen Zuhälter namens Zipper auf den Strich gegangen war, der seinen Namen von den reißverschlussartigen Wunden hatte, die er bei den Mädchen hinterlassen hatte, die versucht hatten, sich selbstständig zu machen. Sie hieß Li’l Face Dautrieve. Ihr Haar war dick und glänzend und sah aus wie eine Perücke, die zu groß für ihren Kopf war. Augen, Mund und Nase befanden sich im Zentrum ihres Gesichts, ein bisschen wie Streusel auf einem Keks. Ihre Oberlippe war aufgeplatzt und hinter einem blutigen Taschentuch, das sie dagegenhielt, war das linke Auge geschwollen. Eine Wange sah aus, als hätte sie eine Handvoll Hummeln verschluckt.

„Hat dieser Typ dir das angetan? Li’l Face?“, fragte Clete.

„Geht dich nix an, Dicker“, antwortete sie. „Kümmer’ dich um deinen eigenen Kram.“

„Warst du das, Arschloch?“, fragte Clete Ray.

„Sie machen besser, dass Sie verschwinden, Kumpel“, konterte Ray. „Wenn Sie …“

Cletes Faust war fast so groß wie eine Honigmelone. Er rammte sie mitten in Rays Gesicht, wodurch er rückwärts auf einen Küchentisch und einen Stuhl krachte. Dann kickte er die Tür zu, nahm den Stuhl und zerschmetterte ihn über Rays Kopf.

„Bin selbst schuld, Dicker“, sagte Li’l Face. „Ich hab’n Baby. Er weiß, wo ich wohn’.“

„Warum hat er dich geschlagen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Antworte mir, Li’l Face.“

„Er wollte, dass ich die Sachen mach’, zu denen Zipper mich gezwung’n hat. Er hat versucht, seinen …“

„Ich versteh schon“, sagte Clete.

Er riss das Laken vom Bett, wickelte es um Rays Hals und zog dann den sich windenden und drehenden Mann, dem die Spucke aus den Mundwinkeln tropfte, ins Badezimmer. Clete versenkte seinen Kopf in der Toilettenschüssel und schlug den Deckel zu, kletterte dann drauf und fing an, wie ein großer, weißer Affe darauf herumzuhopsen und zertrümmerte Rays Kopf in der blutgesprenkelten Schüssel zur Form eines Fußballs.

„Er erstickt, Dicker“, sagte Li’l Face.

„Nimm sein Portemonnaie, hol dir raus, was immer du willst und dann geh nach Hause“, sagte Clete.

Sie zog Rays Geldbörse aus dessen Gesäßtasche. Clete hatte den Eindruck, einen Luftzug im Raum zu spüren, dann nahm er den Geruch von Regen und nassen Bäumen wahr. Er drehte sich um und sah, wie sich Li’l Face an einem großen Mann neben dem Bett vorbeischob. Sie ließ die Geldbörse fallen und rannte zur Haustür. Der Mann zielte mit einer Neunmillimeter auf Cletes Brust. „Komm sofort da runter.“

„Du bist Timothy Riordan“, sagte Clete. „Ich hab dein Foto.“

„Meine Freunde nennen mich Timmy. Du kannst mich den Kerl nennen, der gleich dein Hirn auf der Wand verschmiert.“

Clete hob eine Hand. „Ich komm’ ja schon.“ Er stieg ab und fand sein Gleichgewicht wieder. „Die Sache ist ein bisschen aus dem Ruder gelaufen. Ich bin sicher, wir können das regeln.“

„Da träumst du aber, Fettsack.“

Clete wurde in einen Zustand versetzt, den er manchmal selbst als „den Moment“ bezeichnete. Jemand richtet eine Waffe auf dich und lässt sie so zufällig über dich wandern wie den roten Punkt eines Ziellasers. Die Unendlichkeit, und was sie für einen bereithält oder nicht, ist nur einen Wimpernschlag entfernt. Die Kugel im Magazin wird vermutlich dein Brustbein, Herz oder deinen Lungenflügel durchschlagen und Teile von dir bis in die Wand befördern. Die Schmerzen werden sich anfühlen wie Feuerwerkskörper, die in deiner Brust explodieren. Du wirst nicht nach hinten gepustet oder dich im Kreis drehen, wie Schussopfer im Film dargestellt werden. Du sackst direkt zu Boden wie eine Marionette, die in sich zusammenfällt, und liegst dort in Embryohaltung, während das Blut sich in Pfützen um dich sammelt. Wenn du Glück hast, wird dein Peiniger nicht versuchen, dir noch mehr Schmerzen oder Angst zu bereiten. Und alles nur, weil du in „dem Moment“ die falsche Entscheidung getroffen hast.

Also, was tust du?

„Du bist mir ’ne Nummer“, sagte Clete. „Ich habe deine Akte gesehen. Du warst bei der Sitte. Hast dich auf dem Airline Highway für lau bedienen lassen. Hast gern kleine Vietnamesinnen verprügelt. Woher hast du die Kanone? Von einem Krüppel? Stehst du auf Filme? Ich schon. Humphrey Bogart hat so was ähnliches in Die Spur des Falken gesagt.“

Timothy Riordan blinzelte. Clete packte die Neunmillimeter, drehte sie blitzschnell weg und verpasste ihm gleichzeitig einen Tritt vors Schienbein. Dann drehte er die Hand noch ein Stück weiter, bis Timothys Gesicht in sich zusammenfiel, seinem Mund ein Wimmern entwich und Tränen aus seinen Augen rollten.

Es hätte an diesem Punkt eigentlich vorbei sein sollen. Die Waffe lag am Boden. Clete hatte seinen Totschläger schon halb aus der Jacketttasche. Dann blieb er damit an der Stoffklappe hängen und zwei Sekunden später hielt Timothy ein Stilett in der Hand, auf dessen geölter Klinge man haarfeine Schleifspuren sah und sich das Licht kräuselte. Er versenkte es in Cletes Arm.

Clete spürte, wie die Klinge den Knochen streifte. Eine Welle der Übelkeit überkam ihn. Seine Lenden wurden zu Wasser; sein Schließmuskel stand kurz davor nachzugeben.

Er versuchte zu sprechen, doch sein Mund gehorchte ihm nicht. Seine Faust landete mitten in Timothys Gesicht, spritzte Blut auf einen Lampenschirm, brach ihm vermutlich Nase und Vorderzähne und ließ ihn von der Wand abprallen. Clete zog sich das Stilett aus dem Arm und warf es quer durchs Zimmer, trat dann mit der Schuhsohle auf Timothys Gesicht, zog ihn durch den Raum zu einem Seitenfenster und rammte ihn mit dem Kopf voran zuerst durch die Jalousien und dann durchs Fenster. Dort ließ er ihn hängen wie eine riesige Wäscheklammer.

Ray versuchte gerade, sich vom Badezimmerboden hochzuwuchten und stützte sich mit einem Arm auf der Toilette ab. Clete kickte ihm die Füße weg. „Das hat echt Spaß gemacht“, sagte er. „Ich steh auf deine Klamotten. Bleib immer nett auf’m Klosett. Aber wenn du Li’l Face noch mal auch nur einen Blick zuwirfst, sind deine Zähne weg. Oder es wird richtig heikel. Schönen Abend noch.“

Zwei Tage später saß Clete bei mir auf der Gartentreppe meines Shotgun-Hauses am Bayou Teche, tief im Schatten von 200 Jahre alten Eichen. Er war wahrscheinlich der vielschichtigste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Seine Süchte, der gigantische Appetit und die thespischen Einlagen wurden von seinen Feinden genutzt, um ihn zu erniedrigen, zu bagatellisieren und auszublenden. Seine Verletzlichkeit in Bezug auf Frauen – oder eher seine Verehrung – führte ihn immer und immer wieder in unheilvolle Affären. Seine unbändige Gewalt flößte Kinderschändern, Vergewaltigern und Frauenhassern eine Höllenangst ein, doch sie wurde von Versicherungen und Strafverfolgungsbehörden, die ihn gern tief in Angola vergraben sehen würden, gegen ihn verwendet.

Er war ein folkloristischer Schwindler, ein moderner Sancho Panza, ein quasi-psychotischer Marineinfanterist, der zwei Touren nach Vietnam gemacht hatte und mit dem Navy Cross, zwei Purple Hearts und Erinnerungen zurückgekehrt war, die er mit niemandem teilte. Nur wenige Menschen kannten den echten Clete Purcel oder den kleinen Jungen, der in ihm lebte, das einsame Kind eines alkoholsüchtigen Milchmanns, der seinen Sohn jeden Abend zwang, auf Reiskörnern zu knien und ihn regelmäßig mit einem Abziehriemen verprügelte. Noch kannten sie den Mann, der auf seiner Feuertreppe einer Mamasan, die er versehentlich getötet hatte, Tee servierte. Noch kannten sie den NOPD Officer, der weinte, als er das Kind nicht retten konnte, das er in eine Decke gewickelt hatte und mit ihm durch die Flammen gerannt war, durch ein Fenster im ersten Stock gestürzt und auf einem Müllcontainer gelandet war.

Vielleicht waren diese gesammelten Erfahrungen für eine noch bizarrere Seite seiner Persönlichkeit verantwortlich. Vor Jahren riss er ein Schwarz-Weiß-Foto aus einem Bildband über den Zweiten Weltkrieg heraus und trug es in einer Zelluloidhülle in seinem Portemonnaie immer bei sich. Auf dem Foto war eine gebückte Frau zu sehen, die mit ihren drei kleinen Töchtern eine Schotterstraße hochging. Die Frau und ihre Kinder trugen billige Mäntel und Lumpen um den Kopf gewickelt. Das kleinste Kind war kaum älter als drei Jahre. Was sich am Ende der Straße befand, konnte der Betrachter nicht erkennen. Im Hintergrund war kein Gras zu sehen und auch keine Bäume, nur ein elektrischer Zaun. Das Foto war in Auschwitz gemacht worden. In der Bildunterschrift stand, dass die Frau und ihre Kinder auf dem Weg in die Gaskammer waren.

Einmal als Clete und ich in Sharkey Bonano’s Dream Room total besoffen waren, fragte ich ihn, warum er so ein grausames Foto bei sich trug.

„Damit ich nie vergesse“, sagte er.

„Den Holocaust?“

„Nein, die Kerle, die diese Orte geleitet und dort gearbeitet haben. Solche Typen würde ich gern zu fassen bekommen. Vielleicht ein paar dieser Neonazis, die mit der Konföderierten-Flagge durch die Gegend marschieren.“

Ich denke, Clete hat nicht nur über Nazis geredet. Er hasste das Böse und zettelte einen Krieg dagegen an, wo immer er darauf stieß. Manchmal fragte ich mich, ob er ein verkleideter Erzengel war, einer, bei dem dünne Fahnen schmutzigen Rauchs von den Flügeln aufsteigen, ein versierter Krieger, der den guten Kampf des heiligen Paulus kämpfte. Vielleicht war es dumm, so zu denken, doch ich habe noch nie jemanden wie ihn kennengelernt. Zu versuchen, seine Herkunft zu erklären, war reinste Zeitverschwendung. Ich sah das so: Wenn Clete Purcel keine biblische Größe hatte, wer dann?

Sein linker Arm befand sich in einer Schlinge, seine rechte Hand lag um einen halben Liter Kaffee in einem Styroporbecher. Aus den Bäumen tropfte es und der Bayou war angeschwollen, gelb und mit Regenringen überzogen.

„Und diese beiden Typen haben dich nicht verpfiffen?“, fragte ich.

„Sie wollen ihre Geldquelle nicht verlieren. Irgendwann werden sie Dritte anheuern, um mir nachzustellen.“

„Was macht Li’l Face hier in der Gegend?“

„Sie lebt bei ihrer Tante im Laureville-Viertel. Dave?“

Ich wusste, was jetzt kam.

„Die zwei Typen, die ich vermöbelt habe“, sagte er. „Es heißt, sie arbeiten für Mark Shondell. Wir müssen mal mit ihm reden.“

„Neeeeeiiiin“, sagte ich und zog das Wort so lang ich konnte.

„Weißt du, was das große Problem ist, das du hier in New Iberia hast? Shintoismus. Du solltest alle deine Kirchen loswerden und anfangen, japanische Tempel zu bauen.“

„Lass Mr. Shondell in Ruhe.“

Sein Gesicht wirkte heiter, seine Kleine-Jungs-Frisur so gerade wie ein Lineal. „Mr. Shondell? Wow.“

Meine Hände hingen zwischen den Knien und ich starrte auf den Bayou.

„Ich lasse dich nicht vom Haken, Streak. Was ist mit dem Mädchen, wie heißt sie noch, Isolde Balangie?“

„Was soll mit ihr sein?“, fragte ich.

„Wird sie vermisst oder nicht?“

„Nicht offiziell.“

„Hast du das bei der Örtlichen überprüft?“

„Meine Dienstmarke wurde mir abgenommen. Ich werde meine alten Beziehungen derzeit nicht auffrischen.“

Er wackelte mit dem Finger vor meinem Gesicht. „Siehst du? Die Balangies und Shondells schließen irgendeine Art Deal ab und benutzen dazu ein Teenager-Mädchen. Lässt du sie etwa einfach so hängen?“

„Das Messer hätte auch in deinem Nacken stecken können.“

„Das lass mal meine Sorge sein.“

Ich atmete tief durch. „Du musst mir etwas versprechen: Ich rede, du hörst zu.“

„Ich bin wie eine Fliege an der Wand. Anders wär’s mir auch gar nicht recht.“ Er drückte eine Hand auf meine Schulter und erhob sich, stand in aufrechter Haltung da, die Sonne auf dem Gesicht. „Wunderschön, nicht wahr?“

„Was genau?“, fragte ich.

„Die Welt. Sie ist wunderschön. Manchmal muss man einfach innehalten, Inventur machen und den guten Deal zu schätzen wissen, den man erwischt hat.“

Ich hatte keinen Schimmer, was er meinte. Aber so war Clete – ein Mann mit Janis Joplin im Kopf und immer Volldampf voraus und einem Schwarz-Weiß-Foto in der Brieftasche, das die meisten Menschen am liebsten aus ihren Erinnerungen geätzt hätten. „Kommst du?“, fragte er.

Mark Shondell lebte oben am Bayou zwischen Virginia-Eichen, von denen das Louisiana-Moos herabhing, in einem nach seinen eigenen Vorstellungen gebauten Haus aus Glas und Stahl, das in unserer Plantagen-Kultur so fremd wirkte wie ein Raumschiff. In jüngeren Jahren war er der Co-Produzent von 18 zweitklassigen Hollywoodfilmen gewesen und hatte ein Vermögen verloren. Als er Los Angeles das letzte Mal verließ, sagte er angeblich: „Eines Tages werde ich Hollywood zerstören. Und die Juden, die es leiten.“

Er war ein Exzentriker, ein Gelehrter, ein Technokrat, ein Absolvent der Sorbonne und ein Einsiedler. Einige behaupteten, seine Vorfahren seien Adlige aus dem italienischen Piemont und Verbündete der Borgias; andere sagten, die Shondells stammten von den Hugenotten ab, die ihre Freude daran hatten, katholische Ikonen zu zertrümmern; mindestens ein Shondell war ein Mitglied der Vichy-Regierung, nachdem Frankreich sich Hitler ergeben hatte.

Mark Shondell war 40, eindeutig gut aussehend und hatte hervorragende Manieren. Äußerlich war er freundlich, respektvoll, zurückhaltend und eckte nie an. Doch in unseren Restaurants aß er allein zu Abend und lud nie jemanden ein. Wenn er für wohltätige Zwecke spendete, dann immer ohne große Umstände. Aufgrund seiner vornehmen Art und der solipsistischen Distanz in seinem Blick waren einfacher gestrickte Menschen häufig von ihm eingeschüchtert und konnten nicht ohne einen Frosch im Hals mit ihm reden.

Anders als viele andere in unserem Bundesstaat, verdiente er seinen Reichtum nicht in der petrochemischen Industrie und der Kultur, die die Cancer Alley nach sich zog, einem Lehrstück der Umweltzerstörung. Die Shondells besaßen Frachter, Segeljachten und Plantagen in Chile, Costa Rica und Kolumbien. Lateinamerikanische Diktatoren, deren Militäruniformen vor Medaillen nur so klimperten, gingen in seinem Haus ein und aus.

Abgesehen von seinem vornehmen Getue und der kosmopolitischen Ausbildung hatte er Schrullen, die ich nicht nachvollziehen konnte. Er trug diverse Ringe, als wäre er aufgrund eines genetischen Fehlers blind für Prahlerei. Seine Augen wanderten ab, wenn ein Mädchen vorbeiging, das zu jung für ihn war. Im Restaurant beugte er sich oft über sein Essen und schaufelte es in sich hinein. Oder er benutzte einen Zahnstocher, während er immer noch am Tisch saß, deckte ihn mit der Hand ab und ließ ihn dann auf dem Teller liegen wie ein Zeichen der Verachtung.

Clete und ich bogen in seine Einfahrt ein und parkten vor der Veranda. Sein Garten war ein loderndes Blütenmeer aus Rosen, Hibisken und Bougainvilleen, die schattigen Bereiche in weichen Farben mit blauen und rosafarbenen Hortensien, der Wurzelbereich der Bäume umpflanzt mit Wunderblumen und Kaladien. Der Stahl und das Glas seines dreistöckigen Hauses schienen dem Himmel das Sonnenlicht zu entziehen. Ich ging zur Veranda und drückte mit meinem Daumen auf die Klingel. Shondell kam zur Tür, als hätte er uns erwartet, obwohl ich nicht vorher angerufen hatte.

„Kommen Sie herein, Dave“, sagte er. „Ihr Freund auch. Ich habe zwar gleich etwas vor, aber es ist nett, Sie zu sehen.“

„Ich bin Clete Purcel“, sagte Clete und trat ein, wobei sein Blick durch den großzügigen Raum schweifte. „Dave und ich haben zusammen in der Mordkommission des NOPD gearbeitet.“

Shondell trug einen dunklen Anzug und ein vanillegelbes Hemd mit Rubin-Manschettenknöpfen. Sein Gesicht sah älter aus, als er war, jedoch auf eine erwachsene Weise, als wäre seine Weisheit ein Geschenk und keine Errungenschaft, die vom Geist einen Tribut fordert. Er deutete auf die weiße Ledergarnitur im Wohnzimmer. „Bitte setzen Sie sich. Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.“

„Wir machen uns Sorgen um ein Teenager-Mädchen namens Isolde Balangie“, sagte Clete, bevor ich antworten konnte. „Das letzte Mal, als sie jemand gesehen hat, war, als sie Ihrem Neffen Johnny auf einem Vergnügungspier drüben in Texas zugesehen hat.“

Ich hätte ihn umbringen können.

„Darüber weiß ich nichts“, sagte Shondell.

„Dann hatte ich Ärger mit zwei Privatdetektiven, die das Mädel und Dave beschattet haben“, sagte Clete. „Deswegen habe ich das Loch hier im Arm.“

So viel zu Cletes Vorstellung von einer Fliege-an-der-Wand-Methodik.

Shondell saß uns gegenüber. Er faltete die Hände. „Dave, könnten Sie das für mich aufklären? Ich weiß wirklich nicht, worum es geht.“

„Es ist so, wie Clete schon gesagt hat. Ich habe Isolde Balangie am Pier gesehen. Sie behauptete, Ihr Neffe würde sie an Sie ausliefern.“ Beim Beenden des letzten Satzes musste ich husten.

„Das muss ein Missverständnis sein“, sagte er. „Wissen Sie was: Ich habe gerade einen Brunch für ein paar Freunde vorbereitet. Lassen Sie uns einen Happen essen und die Angelegenheit besprechen. Was ich da höre, gefällt mir nicht.“

„Das ist nicht notwendig“, sagte ich.

„Doch, ist es. Ich bin gleich zurück.“

Man stritt sich nicht mit Mark Shondell. Er gab einen Befehl oder hob einen Finger und beraubte die Menschen ihrer Worte, bevor sie sie aussprechen konnten. Sind die Superreichen anders als du und ich? Was für eine absurde Vorstellung. Oder sollte man besser fragen: Auf welche Weise ähneln sie uns?

Durch die Schiebeglastüren konnte ich einen Mann sehen, der, mit dem Rücken zu uns, im Schatten eines ausgefransten Strohhuts mit breiter Krempe auf den Knien Unkraut jätete. Ich hörte Räder über den Teppich quietschen und sah dann einen Schwarzen mit weißem Jackett, der einen Servierwagen aus der Küche schob. Darauf standen Speck, Schinken und Rührei sowie jeweils ein Krug Orangen- und Tomatensaft; außerdem standen darauf noch Flaschen mit Rum, Brandy, Whiskey und Wodka, die bei den Bewegungen des Wagens klirrten.

Ich sah Cletes warnenden Blick. „Mr. Shondell, wir rauben Ihnen Ihre Zeit. Wir wollten uns nur vergewissern, was die Situation dieses Mädchens angeht. Wissen Sie, wo sie ist?“

„Nein, tue ich nicht“, entgegnete Shondell. „Um ehrlich zu sein, gefällt mir Ihr Ton genauso wenig wie Ihre Andeutungen.“

„Was ist mit Ihrem Neffen, dem Rock-and-Roll-Sänger?“, fragte Clete. „Ist er hier irgendwo?“

„Nein, ist er nicht.“

„Ich habe gehört, dass er bei Ihnen gewohnt hat?“, sagte Clete.

„Hat er. Ich habe ihn großgezogen.“ Shondells Blick schweifte von uns ab und kehrte dann zurück, als hätte er seine Gefühle und Gedanken wieder im Griff. Sein Profil war so scharf wie Blech. Er goss Orangensaft in zwei Gläser, schenkte dann in beide noch Brandy und reichte mir eines. „Bitte bedienen Sie sich, Mr. Purcel. Prost, Dave. Sie waren schon immer ein anständiger Kerl. Sie haben bei den Golden Gloves die Besten der Besten geschlagen.“