Verstreut über alle fünf Kontinente - Reinhold Busch - E-Book

Verstreut über alle fünf Kontinente E-Book

Reinhold Busch

0,0

Beschreibung

Das Buch schildert den Aufstieg zweier Brüder der jüdischen Familie Rosenthal in Witten zu stolzen Kaufhausbesitzern und geachteten Mitgliedern der Gesellschaft. Ihre 18 Kinder und deren Ehegatten gründen - meist im Raum Südwestfalen - weitere Kaufhäuser und Fabriken, bis die Machtergreifung Hitlers 1933 ihrem Streben ein Ende setzt. Während des Holocaust verlieren siebzehn Familienmitglieder ihr Leben, während den übrigen die Auswanderung glückt. In ihren neuen Heimatländern auf allen fünf Kontinenten gelingt es ihnen, Fuß zu fassen und sich nach anfänglichen Schwierigkeiten eine neue Existenz aufzubauen. Heute gehören mehr als 200 ihrer Nachkommen als Wissenschaftler, Ärzte, Psychologen, Juristen oder Leiter von Wirtschaftsunternehmen zur Oberschicht ihrer neuen Heimatregionen. In zahlreichen Selbstzeugnissen, Dokumenten und Fotos zeigt das Buch das Leben dieser Familie vor der Machtergreifung, die Mechanismen der Ausplünderung, der Schikanen und Entrechtung sowie die physische Vernichtung während der NS-Zeit und den Wiederaufstieg nach der Emigration.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 458

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum:

© 2018 Reinhold Busch

Layout, Bildbearbeitung u. Umschlaggestaltung: Angelika Fleckenstein; Spotsrock

Die verwendeten Bilder und Dokumente wurden mit freundlicher Genehmigung der Eigentümer in diesem Buch verwendet. (s. auch Danksagung S. 422)

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7469-5160-7

Hardcover:

978-3-7469-5161-4

e-Book:

978-3-7469-5162-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Reinhold Busch

Verstreut über alle fünf Kontinente

Das Schicksal der jüdischen Familie Rosenthal aus dem Ruhrgebiet

Meiner Frau Marlene, die mich bei diesem Buch mit Geduld und vielen guten Ratschlägen unterstützte, mit großem Dank gewidmet

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung: Mechanismen der Judenverfolgung

Prolog: Ein Foto aus den Niederlanden

Eine jüdische Großfamilie aus Witten-Annen

1. Antonie Rosenthal und Gustav Meyer

2. Johanna Rosenthal und Siegmund Hesse

Auswanderung in die USA

3. Elfriede Rosenthal und Joe Meyer

Fritz Meyer und seine Familie

Dr. med. Heinz Meyer, Arzt in Braunschweig

Jüdische Ärzte in der NS-Zeit

Zunehmende Verfolgung und Ausplünderung

Reichskristallnacht – Dr. Meyer in Buchenwald

Familie Meyer emigriert in die USA

Niederlassung in Konnarock, Virginia

Margrit Meyer

Dr. med. Ernst Jochen Meyer – Kindheit in Braunschweig

Schulbesuch in Konnarock und Studienjahre

Dr. med. Klemens Meyer

Eine musikalisch hochbegabte Familie

4. Joseph Rosenthal und Else Weinberg

Verkauf von Geschäft und Immobilien

Mißhandlung in der Kristallnacht

Paul Jakob Rosenthal, später Rover: Auswanderung nach Indien

Weiter in die USA

Vivien Rosenthal und Ron Goldman

To know or not to know that has been the question

5. Albert Rosenthal und Selma Kaufmann

Eine Jugend in Haspe

Lore Rosenthal – weder Approbation noch Promotion

Emigration nach Israel über England

Ermordung der Eltern in Auschwitz

Leben in Israel nach dem Krieg

Margot Smith geb. Rosenthal erinnert sich an die Verfolgung

Das Geschäft „Gebrüder Rosenthal“ wird aufgegeben

Margot Rosenthal hilft bei der Emigration

Auswanderung nach England

Es war schwer, in England Fuß zu fassen

Familiengründung in England

6. Hugo Rosenthal und Laura Schöneberg

Zwangsverkauf des Geschäfts

Hans Jakob Rosenthal – verhinderte Berufskarriere

Reichskristallnacht – Hugo und Hans Jakob im KZ Sachsenhausen

Die Auswanderung nach Palästina scheitert. Tod im Ghetto Riga

Hans Jakob emigriert nach Israel

Auch Hanna Rosenthal emigriert nach Israel

7. Bertha Rosenthal und Adolf Mendel

8. Martha (Mathilde) Rosenthal und Albert Rosenberg

9. Adolf Rosenthal und Katharina Ehemann

10. Selma Rosenthal und Julius Schönenberg

Tod in Theresienstadt

Erna Schönenberg emigriert in die Niederlande

Günter Schönenberg folgt seiner Schwester

Günter Schönenberg taucht unter und überlebt in Frankreich

Kriegsende. Emigration in die USA

11. Josef Rosenthal und Johanna Weinberg

„Arisierung“ des Kaufhauses Rosenthal

12. Siegmund Rosenthal und Elise Bauer

Mißhandlung in der Kristallnacht und Emigration nach Australien

Heinz Albert Rosenthal

Auch Heinz Albert Rosenthal emigriert nach Australien

13. Ida Rosenthal und Albert Weinberg

Artur Steinberg wird Witwer

Terror in der Reichskristallnacht

Tod der zweiten Ehefrau. Deportation der Familie nach Zamosc

14. Jenny Rosenthal und Daniel Nussbaum

Aus Theresienstadt freigekauft – Juden gegen Dollars

15. Hermann Rosenthal und Emmy Lion

16. Max Rosenthal, geb. am 25. Januar 1880 in Annen

17. Alma Rosenthal und Albert Neuwahl

Hilde Martin geb. Neuwahl emigriert in die USA

Denise Martin und Dr. Hans Heilbronn

18. Fedor Rosenthal und Hete Gompertz

Im KZ Sachsenhausen zu Tode geprügelt

Hans Walter Rosenthal folgt seinem Onkel nach Australien

Epilog: Stolpersteine als Erinnerung

Danksagung

Ausgewählte Literatur

Im Gedenken an die Angehörigen der Familie Rosenthal, die im Holocaust umkamen

Albert Rosenthal, geb. 23.4.1879 in Annen

Selma Rosenthal geb. Kaufmann, geb. 1.1.1880 in Moers

Selma Schönenberg geb. Rosenthal, geb. 13.5.1898 in Annen

Erna Gradenwitz geb. Schönenberg,geb. 1.4.1915 in Gelsenkirchen

Joseph Gradenwitz, geb. 27.2.1914 in Tarnowitz

Antonie Meyer geb. Rosenthal, geb. 1.9.1872 in Annen

Hugo Rosenthal, geb. 23.6.1881 in Annen

Laura Rosenthal geb. Schöneberg, geb. 19.12.1887 in Dortmund

Johanna Rosenthal geb. Weinberg, geb. 15.3.1871 in Ramsbeck

Jenny Nußbaum geb. Rosenthal, geb. 23.9.1876 in Annen

Albert Rosenberg, geb. 28.7.1880 in Osnabrück

Alma Neuwahl geb. Rosenthal, geb. 25.7.1881 in Annen

Albert Neuwahl, geb. 26.5.1864 in Soest

Fedor Rosenthal, geb. 8.3.1883 in Annen

Artur Steinberg, geb. 6.1.1892 in Geseke

Alice Paula Steinberg, geb. 3.10.1927 in Geseke

Albert Günter Steinberg, geb. 10.8.1930 in Geseke

_________________________

Auschwitz – Riga – Sachsenhausen – Theresienstadt – Zamosc

Vorwort

In Witten steht im Ortsteil Annen an der Ecke Bebelstraße/Stockumer Straße ein größeres, mehrstöckiges Jugendstil-Haus. Im Eingang findet der Besucher mehrere Schilder: Rosenthal-Residenz, Rosenthal-Appartements und im Hausprospekt den Hinweis: „Die Rosenthal-Residenz ist ein historisches Haus Annens und ist am 3. September 2011 nach einer vollständigen Renovierung neu eröffnet worden.“ Und im Ortsteil Stockum wurde mit dem Rosenthalring eine Familie dieses Namens geehrt.

Haus Bebelstraße 9 in Witten-Annen ehemaliges Kaufhaus Gebrüder Rosenthal

Wer waren die Rosenthals? Zum ersten Mal stieß ich auf den Namen bei den Recherchen zu meinem Buch „Das Schicksal jüdischer Familien aus Hagen“, in dem ich über jüdische Ärzte und Zahnärzte meiner Heimatstadt berichtete. Eine von ihnen war Lore Rosenthal, Tochter von Albert Rosenthal, der mit seinem Vetter Hermann gemeinsam das Kaufhaus „Gebrüder Rosenthal“ in Hagen-Haspe führte. Geschäfte mit diesem Namen gab es auch in Gevelsberg, Witten-Stockum und Witten-Annen, in Hagen außerdem das Schuhgeschäft Rosenbaum, dessen Inhaber Johanna Rosenthal und ihr Mann Julius Hesse waren.

Rosenthalring in Witten-Stockum

Einleitung: Mechanismen der Judenverfolgung

Die Judenpolitik im „3. Reich“ vollzog sich grob gesehen in vier Phasen. In der ersten (1933–1935) definierte man bestimmte deutsche Bürger als Juden und machte ihnen wirtschaftliche Schwierigkeiten – schon am 1. April 1933 wurde erstmalig zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen; in der zweiten (1935–1938) wurden die Rechte der Betroffenen massiv eingeschränkt bzw. beseitigt. Die Nürnberger Gesetze von 1935 schlossen sie aus der Gemeinschaft deutscher Staatsbürger aus. In der dritten Phase (1938–1941) wurden sie schikaniert, fast vollständig ihres Vermögens beraubt und zur Auswanderung genötigt, insbesondere nach der Reichspogromnacht im November 1938. In der vierten Phase nach 1941 wurden die danach völlig Verarmten und Zurückbleibenden zur Vernichtung in den Osten deportiert;7 die erste Deportation aus Westfalen erfolgte aber bereits am 13. Dezember 1939 aus Münster und Bielefeld.8 Besonders erwähnen möchte ich dabei die Perfidität, mit der ehemalige jüdische Soldaten behandelt wurden, die im 1. Weltkrieg ihr Leben für ihr Vaterland eingesetzt und vielfach auch verloren hatten. Zum Dank wurden viele von ihnen in die Vernichtungslager deportiert und dort umgebracht.

Um die in diesem Buch geschilderten Vorgänge besser zu verstehen, sei kurz eine Erklärung zur Verfolgung der Juden und der Mechanismen ihrer Ausplünderung und Drangsalierung vorangestellt. Wer heute ins Ausland reist oder auswandert, nimmt einfach Bargeld oder Kreditkarte mit und kann sich dort unbeschränkt bis zur Höhe seines Kreditlimits jede andere Währung verschaffen.

Das war schon vor 1933 anders: Wegen hoher Staatsverschuldung, Auslandsschulden und Mangels an Devisen erließ der Reichspräsident am 1.8.1931 eine Notverordnung zur Devisenbewirtschaftung, mit der der Erwerb von Devisen sowie die Ausfuhr der Reichsmark nur beschränkt erlaubt und genehmigungspflichtig wurden. Um die Kapital- und Steuerfluchtflucht reicher Staatsbürger zu begrenzen, wurde per Verordnung vom 8.12.1931 die sog. Reichsfluchtsteuer9 eingeführt. Der Steuersatz wurde bei einem Vermögen von 200.000 Reichsmark bzw. einem Jahreseinkommen von mehr als 20.000 RM auf 25 % des Gesamtvermögens bzw. der Einkünfte festgesetzt.

Nach 1933 wurde das Gesetz stufenweise verschärft; schon 1934 wurde die Vermögensgrenze auf 50.000 RM herabgesetzt. Bei Verdacht einer Ausreiseabsicht konnte die Devisenstelle bei der Oberfinanzdirektion jetzt eine Sicherheitsleistung in Höhe der geschätzten Reichsfluchtsteuer fordern. Dies traf nun vorwiegend jüdische Emigranten, die mit dieser Steuer wesentlich zum Reichshaushalt beitrugen. Mit dieser Zahlung war aber noch nicht gewährleistet, daß weiteres Vermögen sowie Hab und Gut ins Ausland mitgenommen werden konnte. Die Freigrenze für Devisen wurde 1934 auf 10 RM pro Person festgesetzt10. Vor der Genehmigung zur Ausreise hatte jedoch das Finanzamt noch zu bescheinigen, daß der Antragsteller keine Rückstände an Reichssteuern hatte.

Das Reichsbürgergesetz vom 15.9.193511 teilte die deutsche Bevölkerung in Reichsbürger – das bedeutete „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ – und „einfache“ Staatsangehörige ein; das waren „Angehörige rassefremden Volkstums“, zu denen jetzt die Juden zählten. Das Gesetz ermöglichte ab jetzt die Entrechtung der als minderwertig angesehenen Staatsangehörigen und zielte auf deren Ausgrenzung ab. Die Erste Verordnung zu diesem Gesetz vom 14.1.1935 definierte dann: „Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt, jüdischer Mischling ist, wer von einem oder zwei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt“. Ob die Betroffenen der jüdischen oder einer christlichen Religionsgemeinschaft angehörten, spielte dabei keine Rolle.

Am 1. Dezember 1936 wurde das Devisengesetz12 geändert. Jetzt waren die Devisenstellen befugt, bei Verdacht einer Vermögensverschiebung Verfügungsbeschränkungen zu erlassen. Die Devisenstelle für die Provinz Westfalen war beim Oberfinanzpräsidenten in Münster angesiedelt und wurde zu einem umfassenden Lenkungsund Kontrollorgan ausgebaut; sie konnte Pässe einziehen, Geldstrafen verhängen, die Verfügungsmöglichkeit über das individuelle Vermögen entziehen, das Umzugsgut auswanderungswilliger Juden überprüfen lassen und mit hohen Sonderabgaben belegen sowie den Kapitaltransfer einschränken. Einkünfte aus Renten, Pensionen, Versicherungszahlungen und Dividenden durften nicht ins Ausland transferiert werden; das Geldvermögen wurde auf ein „Sperrmark-Konto“ eingezahlt. Ein Devisenumtausch war nur über die Deutsche Golddiskontbank möglich, die den schlechten Umtauschkurs zudem mit einem hohen Disagio belegte. Diese sog. „Dego-Abgabe“ betrug 1934 noch 20 % und stieg bis Oktober 1936 auf 81 %, im Juni 1938 auf 90 % und zuletzt im September 1939 auf 96 %! Wurde sie nicht bezahlt, und der betroffene „Steuerflüchtling“ setzte sich ins Ausland ab, wurde er steckbrieflich zur Fahndung ausgeschrieben. Dabei konnten über die Grenze Fliehende verhaftet werden. Die Zahl der Beamten beim Zoll und den Zollfahndungsstellen wurde daher beträchtlich erhöht. Wer erwischt wurde, konnte nicht mit Nachsicht rechnen.

Um eine möglichst lückenlose Überwachung der jüdischen Steuerpflichtigen zu gewährleisten, wies das Landesfinanzamt Münster am 25. November 1935 die Finanzämter, Hauptzollämter, die Zollfahndungsstelle Dortmund und die Devisenstelle an, „über alle Fälle, in denen Steuerpflichtige – insbesondere nichtarische Personen – ihre Bank- oder Postscheckguthaben abheben oder ihre Wohnungseinrichtung, Grundstücke, Maschinen u. dgl. zu verkaufen versuchen und hiernach anzunehmen ist, daß sie ins Ausland flüchten wollen, sofort der zuständigen Staatspolizei ihres Bezirks und der Zollfahndungsstelle Dortmund Kenntnis zu geben“13. Mit einem Erlaß vom 29.12.1936 verschärfte der Reichsfinanzminister diese Verordnung dadurch, daß jetzt ein zweiseitiger Vordruck für alle Fälle vorgeschrieben war, in denen Indizien für Ausreisevorbereitungen sprachen.14 Ab 1937 wurden in die Überwachung der jüdischen Auswanderung noch Post, Reichsbahn, Makler und Spediteure einbezogen; ab jetzt fahndeten die Devisenstellen in enger Zusammenarbeit mit Banken, Grundbuchämtern, Polizei- und Zollbehörden nach Anhaltspunkten für eine geplante Flucht wie Verkauf von Immobilien, Möbeln und Teppichen, Schmuck und Edelsteinen. Nach der Verordnung vom 26. April 1938 hatte nunmehr jeder Jude sein gesamtes inund ausländisches Vermögen anzumelden und zu bewerten.

Sicher hatte er jedoch die „Judenvermögensabgabe“ zu entrichten, die allen Juden aufgrund des § 2 der „Verordnung über eine Sühneleistung der Juden und des § 3 der „Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben“ vom 12. November 193815 auferlegt wurde, die 20 % des Vermögens betrug und in vier Raten bis zum 15. August 1939 bezahlt werden mußte. Die anläßlich der Pogromnacht entstandenen Schäden sollten von den Juden selbst beseitigt werden. Eigentlicher Hintergrund war, daß 1938 ein Haushaltsdefizit von zwei Milliarden Reichsmark bestand und befürchtet wurde, daß das Deutsche Reich zahlungsunfähig würde.

Weil 1938 die Zahl der Flüchtlingsströme jüdischer Auswanderer enorm angestiegen war, trafen sich auf Einladung des Präsidenten der USA vom 6. bis zum 15. Juli 1938 die Vertreter von 32 Nationen in Évian-les-Bains am Genfer See zu einer Konferenz, um die Situation der aus Deutschland auswandernden Juden zu regeln. Da aber nationalistische und antisemitische Vertreter aus Osteuropa auf Millionen auswanderungswilliger Staatsbürger ihrer Länder hinwiesen, war kaum noch ein Land bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Die Weigerung der Völkergemeinschaft, im Rahmen konkreter Kontingente Juden aufzunehmen, erinnert fatal an die derzeitige Haltung von Mitgliedsländern der EU. Die moralische Katastrophe wird mit den Worten von Golda Meir über diese Konferenz deutlich: „Zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, daß sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: ‚Wißt ihr denn nicht, daß diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?‘“

Prolog: Ein Foto aus den Niederlanden

Es ist Mittwoch, der 8. April 2015. Da schreibt Jacqueline Shelton-Miller, Enkelin von Selma Schönenberg geb. Rosenthal: „Dies ist die Jahreszeit, in der wir Geschichten erzählen. Zum Pesachfest sollen wir die Geschichte vom Exodus unserer Vorfahren aus Ägypten berichten. Wir erinnern uns an diese Historie, als ob wir selbst aus Ägypten herauskämen, aus der Sklaverei zur Freiheit. Für die Generation der Holocaust-Überlebenden und ihrer unmittelbaren Nachkommen reicht diese Geschichte aber erst eine oder zwei Generationen, nicht tausende von Jahren zurück. Und zu dieser Jahreszeit erinnern wir uns auch an ihre Berichte, sowohl auf unseren Seder-Tafeln27 als auch in der folgenden Woche an Yom Hashoah.28

Vor zweieinhalb Jahren erhielt ich eine mysteriöse E-Mail aus Holland. Eine holländische Wissenschaftlerin hoffte, ich könne ein Foto identifizieren, das, wie sie glaubte, von meinem Vater sei, aufgenommen von Annemie Wolff 1943 in Amsterdam. Sie fragte, ob sie mir sein Porträt zusenden könne. Mein Vater war vor zehn Jahren verstorben, so daß ich ihn nicht mehr befragen konnte. So schickte ich ihr eine kurze Mail-Antwort, und wie durch ein Wunder schaute ich Augenblicke später auf ein unbekanntes Foto meines Vaters im Alter von 22 Jahren, das mich anstarrte. Eine Reise in die Niederlande folgte kurz darauf.“29

Annemie Wolff war eine deutschgeborene Fotografin, die während des Krieges meist offizielle Fotos des Hafens und des Flughafens Amsterdam aufgenommen hatte. Nach ihrem Tod fand man in ihrem Archiv Filmrollen mit den Porträts von über 400 Personen aus Amsterdam; die Hälfte von ihnen waren Juden, und viele trugen den gelben Stern. Unter Frau Shelton-Millers verantwortlicher Leitung folgte die Weltpremiere von „Lost Stories, Found Images: Portraits of Jews in Wartime Amsterdam by Annemie Wolff“ vom 26.2. bis zum 17. April 2015 im Goethe-Institut San Francisco. „Ich weiß nicht, warum mein Vater sein Foto von Annemie Wolff im Juli 1943 aufnehmen ließ. Was ich weiß, ist, daß die Entdeckung dieses Fotos und die darauf folgende Organisation von ‚Lost Stories, Found Images‘ mein Leben verändert hat.“

Porträt Günter Schönenbergs,aufgenommen von Annemie Wolff 1943 in Amsterdam

Während dieser Arbeit erfuhr sie, daß vor dem ehemaligen Wohnhaus ihrer Familie in Gelsenkirchen Stolpersteine verlegt werden sollten. So nahm sie ihre Söhne mit nach Deutschland, um ihren Kindern den Geburtsort ihres Vaters und den Geburtsort seiner Mutter zu zeigen. Danach reisten sie in die Niederlande, um die Orte und Adressen aufzusuchen, wo ihr Vater zwischen 1938 und 1943 gelebt hatte. Hier der Bericht von ihrem Besuch in Witten-Annen: „Jacqueline Shelton-Miller steigen Tränen in die Augen, als sie die Bilder ihrer Vorfahren in der Rosenthal-Residenz sieht. Das frisch sanierte Gebäude an der Ecke Bebel- und Friedrich Ebert-Straße gehörte einst der Familie ihrer Großeltern. Heute ist das Haus ein Seniorenheim; eine ältere Dame zeigt sich ein wenig verwundert über den Besuch. Mit ihr betreten auch zwei ihrer Kinder, ein paar Freunde und einige andere Interessierte das Gebäude. Die Familie knipst Fotos vor allem von der Wand, an der Bilder ihrer Vorfahren hängen. ‚Ich kannte die Motive an sich zwar schon, aber sie hier zu sehen, das war einfach nochmal etwas anderes‘, sagt die dreifache Mutter nach dem Besuch.

Neben dem alten Familienhaus besucht die Familie auch den jüdischen Friedhof in Annen, auf dem Jakob und Sarah Rosenthal begraben sind. Die Söhne legen kleine Steine auf die Ruhestätten ihrer Ururgroßeltern; das ist jüdische Tradition. ‚Und ihre Art, eine Verbindung zu ihren Angehörigen zu knüpfen‘, erklärt Jacqueline Shelton-Miller in fließendem Deutsch. Sie muß hier vor allem an ihren Vater denken, Günter Schönenberg, der als einziger Überlebender 1947 in die USA emigrierte. ‚Ich weiß, er fände es bedeutsam, daß wir hier sind. Er hat sich immer so sehr für die Geschichte seiner Familie interessiert.‘ Der zehnjährige Sohn fügt hinzu: ‚Sie haben Steine auf das Haus unserer Großeltern geworfen. Wir wollen selber einmal sehen, wo dieser Ort ist.‘ Sie seien stolz auf ihr jüdisches Leben und auf ihre Vorfahren, und sie waren so wichtige Leute in Witten, sagt die Amerikanerin bewundernd.“30

Jacqueline Shelton-Miller und ihre Söhne waren nicht die einzigen Nach kommen der Familie Rosenthal, die im Laufe der letzten Jahre die Wirkungsstätten und Gräber ihrer Vorfahren besuchten. Wer waren diese Rosenthals?

Eine jüdische Großfamilie aus Witten-Annen

Laut Familientradition, so berichtet Dr. John Albert Roberts, Enkel von Siegmund Rosenthal aus Witten-Annen, war die Familie spanischen Ursprungs und wurde unter der Herrschaft von Ferdinand und Isabella aus Spanien vertrieben, zog in die Niederlande und von da nach Deutschland.31 Der belegbare Ursprung der Familie Rosenthal in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt in Dortmund-Dorstfeld. Hier hatten sich Juden niedergelassen, da es ihnen von 1600–1807 nicht gestattet war, in der Stadt Dortmund zu wohnen, bezeichnet als „Vorjudenschaft“ von Dortmund. Ihr Wohnrecht wurde durch Schutzbriefe gesichert, die ab 1793 für alle dort lebenden Juden als sog. „Generalvergleitung“ ausgegeben wurden. Stammvater ist Moises Joseph, verheiratet mit Anna Koelmans. Beider Sohn war Philipp Moses Rosenthal, geb. etwa 1753/54, verstorben 1824. Seine Ehefrau war Judith Marcus. Das Paar hatte zwei Kinder: Joseph Philipp Rosenthal, geb. 21.11.1784 in Dorstfeld, und Markus Rosenthal, geb. 16.10.1787 in Dorstfeld, verst. 12. Januar 1876 in Waltrop. Zu dieser Zeit lebten 28 jüdische Familien in Dorstfeld und Huckarde, meist von Kleinhandel sowie Vieh- und Pferdehandel, den sie in Dortmund ausübten. Nach Gewährung der Freizügigkeit 1812 zogen viele Juden wieder nach Dortmund.

Joseph Philipps erste Frau Esther Cohen (oder Cohn bzw. Kahn), geboren 1792, starb bereits am 1. März 1824 im Alter von 32 Jahren in Waltrop, wohin das Paar gezogen und kinderlos geblieben war. Danach vermählte Joseph Philipp sich mit Berta Heimann aus Huckarde, geboren 1805. Die Ehe wurde mit zehn Kindern gesegnet.

Bis zur gesetzlichen Regelung war der jüdischen Bevölkerung das Tragen von Familiennamen weitgehend fremd. Die Annahme fester Familiennamen wurde in Westfalen erst zur preußischen Zeit 1846 endgültig abgeschlossen, obwohl dort schon 1808 unter Napoleon feste Familiennamen vorgeschrieben waren. Die Königlich Preußische Regierung in Münster bescheinigte am 1. Juli 1846: „Nachdem in Gemäßheit der über die Verpflichtung der Juden zur Führung selbstbestimmter und erblicher Familiennahmen ergangenen Allerhöchsten Kabinets-Order vom 31. October 1845 der Händler und Metzger Joseph Rosenthal vor der Polizei-Obrigkeit seines Wohnorts Waltrop im Kreise Recklinghausen erklärt hat, den Namen Rosenthal ferner als Familiennamen führen zu wollen, so wird Solches von der unterzeichneten Königlichen Regierung genehmigt und darüber demselben für sich und seine Nachkommen dieser Ausweis ertheilt.“

Waltrop war eine kleine Gemeinde im Kreis Recklinghausen, inder bis Anfang des 19. Jahrhunderts keine Juden gelebt hatten. Um 1840 stieg ihre Zahl auf 26, vor allem Angehörige der Familie Rosenthal. 1858 hatte der Ort 3.000 Einwohner.

Eine Geschichte aller zehn Nachkommen von Joseph Philipp und Berta Rosenthal würde wohl mehrere Bände füllen. Daher beschränke ich mich auf die zwei jüngsten Kinder des Paares, Jakob, geboren am 19. Juni 1838 in Waltrop, und Isaak, geboren am 6. April 1841, ebenfalls in Waltrop. Von ihnen, den Gebrüdern Rosenthal und ihren Nachkommen, soll in diesem Buch die Rede sein.

Jakob Rosenthal und seine Frau Sara geb. Hesse

Antonie Gerson geb. Hesse schreibt in ihren Memoiren: „Die zwei Brüder Rosenthal, die in Annen wohnten, heirateten zwei Schwestern Hesse aus Borgholzhausen: Isaak heiratete Jettchen (Henriette, geb. 5.2.1846 in Borgholzhausen, verst. 25.11.1927 in Witten-Annen) 1869 und hatte fünf Söhne und drei Töchter. Beide waren das schönste Paar; ich kannte sie nur, als sie schon weißhaarig und älter waren; sie pflegten einen gehobenen Lebensstil. Sehr beeindruckt war ich von ihrem Bernhardiner, während meine Mutter eine schöne Schäferhündin besaß. Jakob heiratete Sara (geb. 14.10.1848 in Borgholzhausen, verst. 26.10.1926 in Witten-Annen) am 6. Dezember 1871 und bekam vier Söhne und sechs Töchter.“ Und Hildegard Neuwahl schrieb über ihre Großeltern, Isaak habe seinen Lebensunterhalt zunächst als Hausierer verdient, während Jettchen als Dienstmädchen arbeitete. „Sie sollen solch ein stattliches, schönes Paar gewesen sein, daß sich die Leute, denen sie auf der Straße begegneten, nach ihnen umdrehten.“ Borgholzhausen war ein kleiner Ort bei Halle/Westfalen, in dem 1858 acht jüdische Familien lebten, die ihren Lebenserwerb mit dem Hausier-, Altwaren- und Pferdehandel sowie dem Metzgergewerbe bestritten.

Isaak Rosenthal und seine Frau Henriette (Jettchen) geb. Hesse

Großvater der Schwestern war Samuel Abraham Hesse, der am 19.Februar 1833 im Alter von 70 Jahren starb. Er war Viehhändler, hatte nebenbei eine kleine Landwirtschaft und bekam mit seiner Frau Julie Meier Silberberg einen Sohn, Abraham Samuel, und zwei Töchter. Abraham Samuel Hesse, geb. im März 1811, verstorben 13. Januar 1887, heiratete 1838 Negel „Recha“ Weinberg (geb. 4.5.1812, verst. 22.2.1870). Mit vier Töchtern und zwei Söhnen wohnten sie in der Kuhstraße 112. Seine Geschäfte wurden als unbedeutend eingeschätzt; er war Schlachter, war aber auch im ambulanten Gewerbe tätig und handelte unter Zuhilfenahme eines Frachtfuhrwerks mit Vieh, Fellen, Talg und Erzeugnissen der Landwirtschaft.32 Jettchen und Sara Rosenthal, so Antonie Gerson, „wohnten mit ihren Großfamilien über ihren Geschäften in einem großen Doppelhaus.

Isaak und Jettchen hatten drei Töchter und fünf Söhne, Jakob und Sara sechs Töchter und vier Söhne. Immer erzählten sie uns, wie sie am Abend ihre Kinder heraussuchten. Jakob betrieb ein Lebensmittelgeschäft, Isaak einen Laden mit Kurzwaren sowie Damen- und Herrenbekleidung.“ Hilde Neuwahl fügt noch hinzu, daß die Schwester von Sara und Jettchen, Frida, gegenüber ein Schuhgeschäft betrieb.

Familie Hesse aus Borgholzhausen 1905:stehend von li.: Arthur, Siegmund, Johanna-Henny Gerson, Jakob, Julius;sitzend: Rickchen und Samuel

Das Wohnhaus der Familie Hesse in Borgholzhausen

Jakob und Isaak Rosenthal eröffneten 1869 ein Manufakturwarengeschäft in Witten und verlegten es 1872 in das kleine Bergwerkstädtchen Annen, wo sie es handelsgerichtlich unter dem Namen „Gebrüder Rosenthal“ eintragen ließen. Dieser Ort bildete mit dem Dorf Wullen die Landgemeinde Annen-Wullen und war Ende des 19. Jahrhunderts dem Landkreis Hörde bei Dortmund als Amt zugeordnet, bevor er 1929 nach Witten eingemeindet wurde. Es war die Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg, in der ein wirtschaftlicher Aufschwung begann, von dem auch die beiden Brüder profitierten. Das Manufakturwarengeschäft erhielt in dem früheren Haus des Bauunternehmers Maiweg an der Wittener Straße Unterkunft, während das Kolonialwarengeschäft in dem Fuhrmann’schen Haus an der Bismarckstraße eingerichtet wurde. 1878 erwarben die Brüder die ehemalige Besitzung des Grubenverwalters Carl Baltes an der Bismarckstraße; im Jahre 1890 erbauten sie auf dem Grund des danebenliegenden Gartens, Ecke Bismarck- und Friedrichstraße, ein größeres Geschäftshaus.33

„Man sprach von meinem Großvater Jakob und seiner Familie als ‚Hüben‘, was ‚auf dieser Seite‘ bedeutete; Onkel Isaak war ‚Drüben‘, also auf der anderen Seite. Es gab keine jüdische Schule in Annen, einem kleinen Bergwerkstädtchen. Sie engagierten einen jungen jüdischen Lehrer, der bei ihnen wohnte und die Kinder unterrichtete. Auch die Angestellten des Geschäftes bekamen ihr Mittagessen, so daß jede Familie im Laufe der Jahre zu einem enormen Haushalt wuchs. Später besuchten die Kinder öffentliche Schulen und Oberschulen.“

Margot Smith geb. Rosenthal erzählt: „Liebevolle Erinnerungen habe ich an alle Onkel und Tanten. Als ich zwischen neun und vierzehn Jahren alt war, betete ich einfach meine unverheirateten Onkel an, die stets die nettesten Geschenke für mich hatten und mich wie eine Erwachsene behandelten. Die Eltern meiner Mutter waren Jakob Rosenthal und Großmutter Sara. Jakob starb, als ich drei Jahre alt war, daher kannten Lore und ich ihn nicht. Man erzählte uns, er habe Schwierigkeiten damit gehabt, irgendeins seiner Kinder zu bestrafen; für ihn war es die letzte Maßnahme, wenn selbst seine Geduld zu Ende war. Wir liebten Großmutter, aber es gab etwas, was uns nicht gefiel: Wann immer sie zu einem Besuch erschien – als wir unter zehn Jahren alt waren – sagte sie zu meiner Mutter: ‚Die Kinder brauchen eine Wurmkur!‘ Sie dachte, wir müßten Würmer haben, weil wir solchen enormen Appetit zeigten. Mein Vater lud sie einmal ein, uns in den Ferien in ein schönes Seebad an der Ostsee zu begleiten. Das war der Höhepunkt in ihrem Alter. Wir verlebten eine wunderbare Zeit zusammen in Boltenhagen – Mutter, Großmutter, Elsbeth und ich; mein Vater kam später zu Besuch.“

„In der Zeit vor Fernsehen, Radio und Film sorgten die Leute selbst für ihre Unterhaltung. Die Kinder bekamen Musikunterricht, rezitierten Gedichte, und alle Verwandten oder Freunde wurden eingeladen und hörten zu. Es gab reichlich Talent Hüben und Drüben. Meine Tanten erzählten mir, daß Großvater Jakob Geige spielte, Gedichte schrieb, und sie einmal ein Schauspiel aufführten, das er verfaßt hatte. Töchter und Söhne besaßen schöne Stimmen. Ich erinnere mich sogar, daß meine Mutter jahrelang Gesangsstunden erhielt; der Lehrer kam ins Haus. Zum Ärger meiner Mutter konnten wir keinen Ton halten! Die Familie war lebhaft, und trotz all der Arbeit und der langen Stunden hielten und gestalteten sie ihre Musikabende und waren untereinander sehr gesellig.“34

Margot Smith ergänzt: „Was für eine Menge an Onkel, Tanten, Vettern und Kusinen! Familientage waren ein großes Vergnügen. Wenn nur die Verwandten einer Familie, z. B. der ‚Rosenthals‘ kamen, waren dann da wenigstens zwanzig Erwachsene, abgesehen von Vettern und Kusinen. Wenn eins der Kinder gefragt wurde: ‚Wie viele Schwestern und Brüder seid ihr zu Hause?‘, war die Antwort stets: ‚Ich und die anderen 17!‘35“ Hilde Neuwahl fügte hinzu: „Ihre Jugend muß sehr schön gewesen sein. Sie spielten zusammen Theater, und sämtliche Geburtstage wurden zusammen gefeiert. Einmal, als mein Großvater von dem Lärm vor dem Haus verärgert war, sagte er streng: ‚Kinder, geht nach Hause!‘ Die Antwort lautete: ‚Aber Vater, wir sind alle Deine Kinder!‘“

„Großmutters richtiger Name war Josephine, und ich hoffe, der Bericht, warum sie in Sara umbenannt wurde, ist korrekt. Als sie geboren wurde, war Urgroßvater sehr beschäftigt, und der Weg zum Standesamt war eine lange Reise. So bat er seinen Knecht, der in die Stadt mußte, die Geburt seiner Tochter registrieren zu lassen, während er sich dort aufhielt, und der stimmte zu. Dann erinnerte sich Urgroßvater, daß er für seinen jüngsten Sprößling keinen Namen genannt hatte, und fragte: ‚Welchen Namen hast du angegeben?‘ ‚Nun, da du mir keinen Namen gesagt hast, habe ich sie Josephine genannt!‘ Von da an wurde sie Sarah genannt, weil Josephine kein Name aus dem Alten Testament war. Dann waren da Vaters Tanten. Züge waren damals offenbar noch ein Luxus. Eine von Vaters Tanten bestand darauf, mindestens zwei Stunden vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof zu sein, falls er früher käme. Verärgert, daß sie dann so lange auf den Zug warten mußte, holte sie den Stationsvorsteher raus, um den Zug anzuhalten.“

Jakob Rosenthal war langjähriges Mitglied im Turnverein „Eintracht“, im Annener Männergesangverein und im Männergesangverein „Grüne Eiche“ Ardey. Nach seinem Tod am 20. Oktober 1907 traten die Mitglieder der Vereine in ihren Vereinslokalen an, um bei der Beerdigung am 23. Oktober präsent zu sein. Die Leitung des Geschäfts in diesem Jahr übernahmen sein Sohn Joseph und Isaaks Sohn Siegmund.

Jakobs Bruder Isaak starb am 14. August 1918. Er hatte an drei Kriegen teilgenommen: dem Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, bei dem er bei der Eroberung der Insel Alsen mit dem Alsenkreuz dekoriert wurde, dem Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 und am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Für seine Verdienste erhielt er auch Kriegsgedenkmünzen. Daher war er auch langjähriges Mitglied des Landwehr- und Kriegervereins und des Annener Kriegervereins. Daneben gehörte er wie sein Bruder dem Turnverein „Eintracht“ Annen und dem Männergesangverein „Grüne Eiche“ Annen-Ardey an. Hilde Neuwahl berichtete: „Er war ein Patriot. Sein Flur war voll von Fotos seines Königs, Kriegserinnerung und Ähnlichem. Er bekam 1870 solche Herzbeschwerden, daß er 1871 nicht mehr am Krieg teilnehmen konnte. Seine Frau kümmerte sich um die Familie; sie legte ihre Babys in die Schublade unter ihrem Ladentisch. Sie gebar elf Kinder, zwei von ihnen Zwillinge, aber nur acht überlebten. Ich erinnere mich daran, wie Großvater am Fenster seiner Wohnung über dem Laden stand und darüber nachdachte, wie lange sein Begräbnis mit den verschiedenen militärischen Organisationen und Kapellen dauern werde, wobei er sich vorstellte, wie die erste im Leichenzug am Grab stehen würde, während die letzte noch vor dem Haus stehen würde. Und genauso kam es bei seinem Tod.“36

Sara Rosenthal

Im ersten Teil wird die Geschichte der Nachkommen von Jakob und Sara Rosenthal vorgestellt:

1. Antonie Rosenthal und Gustav Meyer

Antonie Rosenthal war die älteste der Kinder von Jakob und Sara Rosenthal, geboren am 1. September 1872 in Annen. Über sie berichtet Antonie Gerson: „Antonie, meine Tante Toni, eine große, blonde Schönheit, heiratete am 8. Juli 1897 Gustaf Meyer, geb. am 14. März 1864 als Sohn von David Meyer und Julie Michelsohn in Kachtenhausen.“

Von re. nach li.:Antonie, Johanna (Hesse) und Elfriede (Meyer) Rosenthal

Der ursprüngliche Name war Me’ir; 1761 ist auf einem Oerlinghauser Grabstein Channa, Tochter des Mosche Me’ir aufgeführt.37 1855 beantragte die „Witwe J. Meyer“ aus Oerlinghausen beim Amt für ihren Sohn David die Konzession für eine Lohgerberei und Lohmühle, die sie auf einem für 750 Taler angekauften Grundstück in Kachtenhausen errichten wollte. David Meyer wurde 1831 in Oerlinghausen als Sohn von Jonas und Esther Meyer geboren; im Alter von 30 Jahren heiratete er am 2.1.1861 in Oerlinghausen die 23-jährige Julie Michelsohn; ihr Vater Josef war Lederfabrikant in Kachtenhausen. David hatte den Beruf des Lohgerbers ausweislich seines Lehrbriefes erlernt, denn er hatte über sechs Jahre als Geselle in mehreren der ersten Fabriken Deutschlands und Frankreichs gearbeitet. Damit war David Meyer wohl einer der ersten ausgebildeten jüdischen Handwerker im Fürstentum Lippe, da den Juden hier wie überall in Deutschland eine handwerkliche Tätigkeit außer der des Schlachtens untersagt war.

Das Gelände, Nr. 68 der Bauerschaft Wellentrup, lag westliche der Kachtenhauser Heide an der Chaussee von Lage nach Oerlinghausen, war aber kein günstiger Standort, weil der Rohstoff Lohe – Eichenrinde – mangels Eichen im westlichen Lippe teurer als im Osten war. Der Anfang war schwierig, jedoch konnte sich die Lederfabrik etablieren. 1893 wurde Davids Sohn Gustav zum Mitgesellschafter ernannt; nach dem Tod des Vaters am 1. August 1912 (die Ehefrau Julie am 21. Juni 1918) führte er die Fabrik allein. Antonie Gerson schreibt: „Er besaß eine Lederfabrik, stellte das feinste Kalbsleder her und hatte nur einen Kunden: die deutsche Marine. Sie wohnten in Wellentrup und Bielefeld und hatten keine Kinder, und Tante Toni versuchte immer, anderen zu helfen. Sie war eine elegante Dame, und ich liebte sie. Sie unternahm sogar eine Reise nach New York, um Affidavits zu bekommen. Danach kehrte sie nach Deutschland zurück.“ Antonie hinterließ ein merkwürdiges Testament: Nur Neffen und Nichten, die noch in Deutschland lebten, sollten ihr Geld erben. Daher fiel es an eine Nichte, die einen Christen geheiratet hatte; das wurde erst Jahre nach dem Hitler-Regime geklärt.“ Nach dem Tod Gustav Meyers schon am 17. Februar 1929, womit ihm die Zeit des Nationalsozialismus erspart blieb, erlosch die Lederfabrik, was am 23.12.1930 aktenkundig wurde. Die Gebäude liegen heute im Orts teil Helpup der Stadt Oerlinghausen, Lagesche Straße 100, und werden von verschiedenen Firmen benutzt.

Die Boykottmaßnahmen wirkten sich in dem kleinen Ort Kachtenhausen besonders aus. Die Fenster von Antonies Haus wurden wiederholt eingeschlagen und ihre Haustür mit unflätigen Aufschriften beschmiert. Außerdem rief ihr die Jugend die gemeinsten Schimpfworte nach.38

In den letzten Jahren vor Kriegsbeginn suchten bei der Witwe in Wellentrup Nr. 68 noch zahlreiche Verwandte Zuflucht. Am 14. Februar 1938 traf Antonie Schwester Martha Rosenberg aus Witten-Stockum ein, bevor sie am 16. Oktober des nächsten Jahres nach Tel Aviv emigrierte; nach ihnen die Tochter Gertrud ihres Vetters Dr. Max Meyer und deren nichtjüdischer Mann Wilhelm Denninghaus; sie waren am 4. Dezember 1935 zugezogen. Hinzu kam im März 1939 noch ihre Tochter Ursula Denninghaus aus Berlin, geboren 1918. Wilhelm Denninghaus war Sozialdemokrat und aktiver Reichsbanner-Mann; er wurde dann nach dem Krieg Bürgermeister in Kachtenhausen und starb 1955. Ursula, ebenfalls engagierte Sozialdemokratin und Gewerkschafterin, heiratete später den Sohn von Ministerpräsident Amelunxen und starb 1983.39

Am 29. September 1938 zog auch Dr. Meyer nach Aufgabe seiner Praxis zu Antonie. Im selben Jahr überwies sie ihrer Schwester Martha 1.000 Reichsmark nach Tel Aviv sowie fünfmal pro Monat 200 RM „für Krankheits- und Unterhaltungskosten“; mehr wurde von der Devisenstelle offenbar nicht genehmigt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde auch das Haus in Wellentrup von „Unbekannten“ aufgesucht; sie schlugen einige Fensterscheiben ein und beschlagnahmten ein altes Gewehr. Später wurden Dr. Meyers Auto und die Bibliothek von den Nazis eingezogen. Bevor er auswandern konnte, erkrankte er schwer und verstarb am 25.11.1941 im Krankenhaus in Lage.40 Vor ihrer Auswanderung wohnten vom 25.9. bis zum 11.10.1939 auch Berta und Adolf Mendel aus Arnstadt bei Antonie, ferner Erna Schönenberg ab 21.2.1939 bis zu ihrer Emigration nach Rotterdam am 17.6.1939.

Antonie Meyer verkaufte am 23. Mai 1940 ihr Wohnhaus Kachtenhausen Nr. 68 für 30.000 Reichsmark, da sie ins jüdische Altersheim Bielefeld, Stapenhorststraße 35 umzog. Selma Schönenberg, Antonies Schwester, blieb bis zu ihrer Deportation bei ihr in Bielefeld.41 Antonies Antrag vom 1.5.1940 auf Befreiung von der Nachweispflicht wegen ihres Alters und ihrer Krankheit wurde von der Gestapo in Bielefeld abgelehnt. Am 5. November 1940 verfügte sie notariell: „Ich habe bisher meinen Bruder Adolf Israel Rosenthal in Mannheim immer unterstützt. Um die Unterstützung für die Zukunft zu sichern, vor allen Dingen, für den Fall, daß ich sterbe, schenke ich ihm einen Betrag von 20.000 Reichsmark.“ Ob sie eine Vorahnung dessen hatte, was noch kam? Vor dem Notar Albert Seibertz erteilte sie noch ihrem Bruder Adolf aus Mannheim Generalvollmacht, sie in allen Angelegenheiten auch über ihren Tod hinaus zu vertreten42; ob sie wohl ahnte, daß Adolf wegen seiner Heirat mit einer nichtjüdischen Frau den Holocaust überleben würde? Zwei Tage vor ihrer Deportation schenkte sie am 6. Juli 1942 vier weiteren Verwandten, darunter Albert Rosenthal in Hagen, je 5.000 Reichsmark. Das Geld wurde wohl kaum noch ausgezahlt, da sie längst keine Verfügung mehr über ihr Depot hatte.43 Schon zwei Tage später, am 8. Juli 1942, wurde Antonie Meyer im Alter von 70 Jahren zusammen mit ihrer Schwester Selma, George Sheltons Mutter, nach Theresienstadt deportiert; auf dem Weg dorthin beging sie Selbstmord. Mit Wirkung vom 8.5.1945 wurde sie vom Amtsgericht Oerlinghausen für tot erklärt.

Nach dem Krieg klagte eine Erbengemeinschaft auf Entschädigung für Antonies Vermögensverluste. Sie besaß Wertpapiere im Betrag von 28.234,01 Reichsmark, für die sie die Judenvermögensabgabe von 5.646,80 RM gezahlt hatte.44 Wegen dieser und anderer Wertpapiere war vor dem Landgericht Bielefeld am 21.3.1961 ein Vergleich geschlossen worden, in dem der Erbengemeinschaft für diesen Verlust ein Betrag von 18.958,71 DM zugesprochen wurde. In den Jahren 1940 bis 1942 wurden von Antonies Konto insgesamt 20.475 RM an die Reichsvereinigung der Juden überwiesen, am 4.8.1939 dazu 5.741,18 RM als Judenvermögensabgabe an die Finanzkasse Detmold. Für beides standen den Erben 5.243,24 DM als Entschädigung zu. Dieser Betrag wurde am 4.11.1963 auf 7.543,24 DM erhöht; eine Korrektur ergab, daß an die Reichsvereinigung der Juden 30.475 RM gezahlt worden war, so daß der Entschädigungsbetrag noch einmal um 300 DM erhöht wurde. Durch Beschluß des Landgerichts Bielefeld vom 10.4.1962 wurden den Erben außerdem insgesamt 25.400 DM als Entschädigung für Schaden am Eigentum wie Hausrat, Pelzsachen, Waffen etc. zugesprochen.45

Weitere Ansprüche seitens der Erbengemeinschaft wurden am 16.8.1963 durch Beschluß des Regierungspräsidenten in Detmold zurückgewiesen.46Antonies Haus in Wellentrup Nr. 68 war durch die Militärregierung einem Treuhänder unterstellt und zum 1. Juli 1950 an den Erben Adolf Rosenthal überschrieben worden.47

2. Johanna Rosenthal und Siegmund Hesse

Johanna Rosenthal wurde am 19. Januar 1874 geboren und starb am 7. August 1919 in Hagen. Sie heiratete am 18. Februar 1900 ihren Vetter Siegmund (Simson) Hesse, den Sohn von Abraham Hesse und Rika Weinberg aus Borgholzhausen, geb. am 31. Oktober 1873. Johanna und Siegmund Hesse bekamen drei Kinder: Fritz, geboren am 15. November 1901, Antonie, geboren am 1. April 1904, und Elsbeth, geboren am 4. Januar 1906.

Johanna Hesse geb. Rosenthal

Antonie Gerson schildert ihre Mutter Johanna: „Sie war eine hübsche, feminine Frau, die sich während der Kriegsjahre 1914–1918 alle Mühe gab, ihr Schuhgeschäft aufrecht zu erhalten. Ware war nicht zu bekommen, und häufig hatten die Schuhe hölzerne Sohlen. Alles war rationiert, und es gab sehr wenig zu essen. Ich war meiner Mutter sehr eng verbunden und teilte während des Krieges die Probleme mit ihr.“ Und über ihren Vater: „Als Teenager lebte er jahrelang mit Tante und Onkel in Witten-Annen. Er war ein äußerst kluger Schüler, und seine Eltern wollten ihm eine höhere Schulbildung in Hagen ermöglichen. Jeden Morgen nahm Siegmund den Zug nach Hagen und kehrte nachmittags zu Onkel und Tante zurück.“

Johanna und Siegmund Hesse mit ihren KindernElsbeth, Fritz und Antonie

Nach dem Besuch der Volksschule in Borgholzhausen besuchte Siegmund Hesse die Gewerbeschule (Abtlg. Höhere Bürgerschule) in Hagen bis zur Reifeprüfung am 17. März 1890; danach absolvierte er eine dreijährige kaufmännische Lehre in der Firma H.& L. Freudenberg in Essen, Manufaktur- und Modewaren. Nach einem anschließenden freiwilligen einjährigen Militärdienst trat er als Angestellter in das Schuhgeschäft seiner Tante Friedchen Hesse (geb. 13.6.1850, verst. 7.3.1915) und ihres Mannes Bernhard Rosenbaum in Hagen ein,48 das an der Ecke Marienstraße/Elberfelder Straße lag und das es heute noch gibt.49 Da das Paar kinderlos geblieben war, erbte er später das Geschäft. Das war ein gutgehendes Kaufhaus im Stadtzentrum von Hagen mit drei Etagen, das in den Jahren zwischen 1929 und 1932 einen Umsatz von über einer Million Reichsmark erzielte, so daß der Familie Hesse ein Reineinkommen von 25.000 RM jährlich blieb.

Johanna Hesse mit ihren Töchtern Antonie und Elsbeth

Siegmund Hesse als Soldat

Siegmund Hesse wurde 1914 zur Armee einberufen und bis 1918 meist an der russischen Front und in Rumänien eingesetzt. Im November 1918 kehrte er heim; nicht lange danach starb Johanna am 7. August 1919 nach einer Operation. Am 6. Dezember 1922 heiratete er in Hagen Claire Stock, geb. am 11. April 1878 in Stommeln, die ebenfalls in Hagen wohnte.

Schon früh verließ Siegmunds Tochter Elsbeth Deutschland und ging nach Stockholm. Am 15. Oktober 1936 folgte der Sohn Fritz, der bis August bei den Eltern in der Mittelstraße 23 gewohnt hatte. Am 11. August dieses Jahres bevollmächtigte er seinem Vater von Südafrika aus mit der Wahrnehmung seiner Geschäfte.

Antonie Hesse mit ihrer Schwester Elsbeth

Auch das Ehepaar Hesse dachte früh an eine Emigration. Daher wurde das Schuhgeschäft samt dem Haus Mittelstraße 23 schon am 30. März 1936 für 310.000 Reichsmark an die Firma Salamander Kornwestheim verkauft; der Kaufvertrag einschließlich des Hauses Marienstraße 1 wurde am 17.12.1935 abgeschlossen.50 Für Waren und Geschäftseinrichtung ergaben sich trotz eines Werts von 35.000 RM nur 6.000 Reichsmark, da die Firma Salamander nur die Schuhe aus eigener Produktion übernehmen wollte. Alle anderen Waren gingen durch Räumungsverkauf weg. Ein Mietrecht der Familie für zehn Jahre konnte wegen der Emigration nicht genutzt werden. Das Gebäude wurde im Juli 1940 durch einen Luftangriff der Allierten stark beschädigt und nach dem Wiederaufbau dann in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober 1943 total zerstört; erst nach dem Krieg erfolgte der Wiederaufbau.

Die Familie Hesse besaß aber noch weitere Grundstücke: Ein großes Gelände von mehr als 7.000 qm, Emster Straße 86, wurde durch Kaufvertrag vom 14. Dezember 1938 für 23.420 RM an den Metzger Louis Rosenkranz verkauft, der darauf ein Einfamilienhaus errichtete.51 Ein weiteres Haus, Marienstraße 3 gegenüber dem Geschäftshaus, wurde von Siegmunds Schwager Albert Rosenthal am 14.2.1940 für 41.900 RM an die Metzgerei Karl Fischer verkauft, nachdem Siegmund seinen Schwager am 17. Januar 1938 zu seinem Unterbevollmächtigten zu seiner Vertretung bei den Behörden bestellt hatte.52 Auch dieses Haus wurde am 1. Oktober 1943 total zerstört.

Für die Auswanderung wurde bei der Commerzbank ein Auswandererkonto eingerichtet. Im Fragebogen für Auswanderer vom 10. Dezember 1938 gab Siegmund Hesse ein Gesamtvermögen von 222.150,84 Reichsmark an.53

In der Reichskristallnacht kamen die Hesses mit einem blauen Auge davon, während die männlichen Juden ins Konzentrationslager geschickt wurden. Seltsamerweise gab es jedoch zwischen all dem Schrecken auch einige komische Augenblicke. Margot Smith berichtet: „Meine Kusine, die damals in Schweden lebte,54 hatte ihre Eltern mit ihrer damals achtzehn Monate alten Tochter besucht. Sie erlebte die ‚Kristallnacht‘, was sie zu dem Wunsch veranlaßte, wieder nach Schweden zurückzukehren. Sie ließ ihren Koffer zurück, um ihn nachschicken zu lassen. Ich brachte ihn zum Bahnhof und stand etwa fünfzehn Minuten in der Schlange, bevor ich an der Reihe war. Auf die Frage ‚sind Sie Jüdin?‘ und meine Antwort ‚ja‘ wurde ich wieder an das Ende der Schlange zurückbeordert. Nach einer weiteren Wartezeit war ich wieder vorn und wurde wieder gefragt, ob ich Jüdin sei. Diesmal antwortete ich: ‚Ja, ich bin Jüdin, aber der Koffer gehört einer schwedischen Dame!‘ Ich erhielt eine Entschuldigung und nach Überprüfung der Adresse wurde ich zum richtigen Schalter geschickt. Dort wurde mein Koffer angenommen und untersucht. Ich hatte meiner Kusine gesagt, sie solle alle Babysachen zuletzt einpacken und ganz oben das Töpfchen … Sie sollten das Gesicht des Beamten gesehen haben, als ich den Koffer öffnete! Der wurde wirklich schnell abgefertigt.“

Siegmund Hesse: „Ich war krank, sonst hätte man mich auch geholt. Es war überhaupt ein Wunder, daß unsere Wohnung unberührt blieb. Unsere größte Sorge waren Elsbeth und Brita, die bei uns zu Besuch waren. Wir packten schleunigst ihre Koffer und brachten sie nach Hamburg, benutzten den Nachtzug, der gegen 21 Uhr abgeht und morgens vor 6 Uhr einläuft. Es war gut, daß wir diesen Zug nahmen, denn die Hotels, besonders der Reichshof, waren überfüllt von jüdischen Gästen, wie wir nachher feststellten.

Wir blieben den Freitag in Hamburg und fuhren Samstagabend zu gleicher Zeit wie Elsbeth nach Hause. Freitagvormittag erhielten wir ein verabredetes Telegramm, das uns sagte, es wäre zu Hause nichts weiter passiert. Daraufhin blieben wir die Nacht im Hotel, nachdem wir Lore Rosenthal mit ihrem Bräutigam getroffen hatten, die uns über die Vorgänge in Hamburg orientierten. Nachmittags stellten sich bei mir plötzlich die schon häufiger gehabten Koliken ein. Ich sprach aber nicht darüber und unterrichtete Lore, die mir ein Beruhigungsmittel verschaffte. Gegen 24 Uhr waren wir zuhause und fanden alles gut vor. Es war ein Glück, daß wir abgefahren waren, denn am selben Abend war große Juden-Razzia im Hotel, und in der Nacht wiederholten sich bei mir die Koliken in einer nicht gekannten Stärke, so daß ich besonders froh war, daheim und nicht im Hotel zu sein, wo man mich sicher verhaftet hätte. Obwohl es Sonntag war, kam Dr. Riess und entschied, daß es wohl Nierensteine seien, zwei links und einer rechts.“55

Auswanderung in die USA

Am 31. Januar 1939 verließ das Ehepaar Hesse endgültig die Heimat. Der Hausrat ging direkt in die USA. Antonie Gerson: „Nach den schrecklichen Ereignissen in der ‚Kristallnacht‘ am 9. November 1938 gelang es meiner Schwester Elsbeth, beide sofort aus Deutschland nach Stockholm herauszuholen. Dort mußten sie auf ein Visum für die Vereinigten Staaten warten. Zu diesem Zeitpunkt gab es dort eine große Kolonie von Emigranten, die alle auf ihr Permit warteten. Nach zwei Jahren waren unsere Eltern die Allerersten, die vom amerikanischen Konsul ihre Einwanderungspapiere erhielten.“

Siegmund Hesse schrieb am 15.12.1940 aus Stockholm an die Devisenstelle: „Jetzt habe ich das Visum für Amerika erhalten und fahre am 9. Januar mit meiner Frau hier ab. Um die Bezahlung der Überfahrt für uns beide zu ermöglichen, bitte ich dringend, die Erlaubnis zu erteilen, daß der Betrag von 16.000 Reichsmark von meinem Auswanderer- Sperrkonto bei der Commerzbank an mich transferiert werden darf.“ Die Devisenstelle lehnte am 24.12.1940 „aufgrund der z. Zt. geltenden Bestimmungen“ natürlich ab, ebenso wie einen erneuten Antrag vom 18.3.1941.56 Nicht lange danach wurde das gesamte Vermögen des Ehepaares eingezogen. Die Gestapo Hagen schrieb am 27. November 1941 an die Devisenstelle: „Mitteilung über die Beschlagnahme von Vermögenswerten emigrierter Juden. Vorgang: Erlaß des Reichsministers der Finanzen vom 5.12.1940 (0 2011-203 VI) und Erlaß des Reichswirtschaftsministers vom 12.12.1940 (W Dev. 6/ 40082/40): Mit Verfügung vom 27.11.1941 habe ich das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen des Juden Siegmund Israel Hesse staatspolizeilich beschlagnahmt.“57

Antonie Hesse

Antonie Gerson schildert die Weiterreise ihrer Eltern: „Es gab jedoch keine Möglichkeit, den Atlantik zu überqueren: Der Krieg in Europa war ausgebrochen, und deutsche U-Boote beherrschten den Seeweg – keine Passagierschiffe mehr. Der einzig mögliche Weg war die Gegenrichtung.

Sie flogen nach Riga und bestiegen den sibirischen Expreß nach Wladiwostok. Es dauerte dreizehn Tage und 13 Nächte, bevor sie ihr Ziel erreichten. Mein Vater erzählte uns, daß die Reise sehr hart, die Mahlzeiten einfach, aber gut und schmackhaft waren und der Zug beheizt. Das war im Dezember 1940. In Wladiwostok war das Hotel schrecklich und sehr kalt, weil die Fenster zerbrochen waren. Von dort erwischten sie ein japanisches Schiff, das sie nach Yokohama brachte. Hier blieben sie ein paar Tage und setzten ihre Reise auf einem anderen japanischen Schiff fort, einem komfortablen Passagierschiff, das nach San Franzisco fuhr.

Etwas Merkwürdiges geschah, als sie an Bord gingen. Jemand rief aufgeregt ‚Mr. Hesse!‘ Es war ein alter Geschäftsfreund, Schuhgroßhändler, der über die Jahre zahlreiche Geschäfte mit meinem Vater getätigt hatte. Der arme Mann hatte aus Deutschland fliehen müssen und endete in Japan, während es seine Familie nach England geschafft hatte. Er war sehr einsam und daher überglücklich, einen alten Freund zu sehen. Jahre später hielt sich sein Enkel, damals in der Armee, kurz in Kansas City auf und besuchte meine Eltern.

In San Franzisco wurden meine Eltern von Siegfried und Hilde Kadden empfangen und fuhren dann mit dem Zug nach Kansas City. Die Reise hatte einen ganzen Monat gedauert. Sie waren überglücklich, mit uns wieder zusammen zu sein, und so ging es auch uns. Mit den Jahren wurden sie wohlsituiert und zufrieden in Kansas City. Nach Vaters Tod lebte ‚Oma Claire‘, wie sie genannt wurde, mit Oskar und mir noch weitere zwanzig Jahre und starb am 25. August 1971 in Kansas City.

Mein Bruder Fritz, vier Jahre älter als ich, befand sich in der Schule. Als er 17 Jahre alt war, wurde er zum Heer einberufen. Deutschland verlor den Krieg; Fritz emigrierte 1934 nach Südafrika. Nach Jahren, 1970, besuchten Oskar und ich ihn in Johannesburg. Er war nie verheiratet und immer ein Einzelgänger. 1971 starb er im berühmten ‚Our Parents Home‘, einem Altenheim, das von deutschjüdischen Einwanderern der Hitlerjahre gegründet und unterstützt wurde.

Meine Schwester Elsbeth, mit der ich immer eine schöne und sorgenfreie Zeit hatte, wurde am 4. Januar 1906 geboren.“ Elsbeths Tochter Brita berichtet über sie: „Sie ging nicht gern zur Schule. Soweit mir bekannt ist, arbeitete sie im Schuhgeschäft. Am 26. August 1934 heiratete sie Ludwig Lion, der schon in den 1920er Jahren nach Stockholm gezogen war und dort für einen Onkel arbeitete.“ Ludwig Lion war am 23. Juni 1897 als Sohn von Karl Lion und Leontine Blandine Vollmer in Spiesen/Neunkirchen, Saarland, geboren worden. „Irgendetwas mußte geschehen sein, denn wir hatten keinen Kontakt mehr mit dieser Familie.58 Mein Vater war Großhändler; er verkaufte Bänder und Borten für Kleidung und Hüte für Geschäfte. Beide wohnten in Stockholm und zeigten keine Neigung, nach Amerika auszuwandern. Wir versuchten, sie dazu zu bewegen, aber sie war einmal emigriert, hatte eine neue Sprache gelernt und ihre Wurzeln in Schweden. Solange sie dazu in der Lage war, besuchte sie uns einmal im Jahr, als ihre Enkel geboren wurden. Nachdem sie nicht länger reisen konnte, besuchten Eva und ich sie jedes Jahr.“ Ludwig Lion starb am 14. Juni 1966 in Stockholm, seine Frau Elsbeth am 9. Januar 2005.

Brita