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Die Violet-Grave-Mystery-Thriller – Alle vier Bände in einem Box-Set Friedhöfe mit dunklen Geheimnissen, vergessene Gräber und ein übernatürliches Talent, für das Violet einen hohen Preis zahlt. Grabkünstlerin Violet Grave hat eine besondere Gabe: Sie verleiht den Toten eine Stimme. Mit ihrer Verbindung zu Gräbern kann sie mysteriöse Todesfälle aus längst vergangenen Zeiten lösen. Doch in jedem der vier fesselnden Mystery-Thriller wird ihre Berufung auf die Probe gestellt. In Grabschwestern beginnt alles, als sie versucht, Knochen aus einem schottischen See neben einer verlassenen Nervenheilanstalt zu identifizieren – doch die Überreste wollen ihr nichts verraten. In Grabgesang lockt der Totengesang einer Banshee Violet nach Irland, wo sie im geisterhaften Moor in tödliche Gefahr gerät. Grabsüchtig führt sie in die Welt der viktorianischen Spiritisten und damit tief in die Vergangenheit ihrer eigenen Familie, während Weihnachtsgrab sie in ein düsteres Spiel auf einer verschneiten Insel verstrickt, das sie nicht gewinnen kann, ohne alles zu riskieren, was ihr lieb ist. "Spannend", "packend" und "schaurig schön" finden Leser/innen die Serie. Beim Kauf dieses Box-Sets 50 % im Vergleich zu den vier Einzelbänden sparen. Jetzt lesen und in die düstere Welt von Violet Grave eintauchen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2024
Felicity Green
Violet-Grave-Mystery-Thriller
Gesamtausgabe
© Felicity Green
GRABSCHWESTERN, 1. Auflage 2021
GRABGESANG, 1. Auflage 2021
GRABSÜCHTIG, 1. Auflage 2022
WEIHNACHTSGRAB, 1. Auflage 2022
Gesamtausgabe: 1. Auflage 2024
www.felicitygreen.com
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79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: CirceCorp design - Carolina Fiandri
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Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen, Orte und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert.
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Titel
Grabschwestern
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Epilog
Grabgesang
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Epilog
Danksagung
Grabsüchtig
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Kapitel fünfunddreißig
Nachwort
Weihnachtsgrab
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Nachwort & Dank
Gratis Violet-Grave-Novelle
Highland-Hexen-Krimis mit Violet Grave
Die Autorin
Die Knochen blieben stumm.
Die braunen Gebeine auf dem Grund des halb ausgetrockneten Loch Laggandhu wollten Violet ihre Geheimnisse nicht verraten.
Nicht das leiseste Raunen war zu vernehmen. Da war bloß das Rauschen des Windes in den Kiefern, die den tiefen See im Cairngorms Nationalpark umgaben.
Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung machte sich in ihr breit.
Violet würde Cat bestätigen müssen, dass sie ihr nicht helfen konnte. Sie hatte doch gewusst, dass es töricht von ihr gewesen war, sich überreden zu lassen, nach Schottland zu kommen.
Dennoch verursachte es ihr körperliches Unbehagen, dass sie beim Anblick der Toten so rein gar nichts spürte – weder sachte Vibrationen noch eine leise Ahnung.
Es wäre das Vernünftigste, sie setzte sich gleich wieder ins Auto und fuhr zurück nach Brighton, ohne dieser Sache weitere Bedeutung zuzumessen.
Violet drückte den Rücken durch und streckte das Gesicht in den Wind, obwohl sie an diesem empfindlich kühlen Apriltag in den schottischen Highlands die Nase lieber in den schwarzen Fellbesatz ihres Mantelkragens gesteckt hätte. In 360 Metern Höhe waren die Temperaturen hier um einiges niedriger als in ihrer Heimat in Südengland.
Aber sie weigerte sich, sich von den stur schweigenden Knochen und der wilden, unwirtlichen Umgebung einschüchtern zu lassen.
Natürlich spürte sie hier nichts.
Es handelte sich um verstreute Skelette, die nicht einmal begraben worden waren.
Kein Stein markierte ihre Grabstätte und verankerte sie in der Gegenwart.
So konnte Violet selbstverständlich keine Verbindung mit ihnen aufnehmen, denn sie hatte eine besondere Affinität zu Gräbern. Es waren die Grabsteine, die ihr Geschichten erzählten, nicht die Überreste derer, die darunter beerdigt worden waren.
Genau das hatte sie Cat auch schon gesagt.
Violet wandte sich vom See ab und kletterte über Baumwurzeln, Steine und Kriechgewächse den Uferhang hinauf. Sie erschauderte, als ihr in den Sinn kam, dass Laggandhu »dunkle Senke« bedeutete. Genauso fühlte sich dieses Loch auch an und das Düstere im Rücken machte sie unruhig. Vielleicht waren es doch die Knochen, die dieses Gefühl verursachten? Vielleicht sendeten sie ihr doch Signale …? Violet drehte sich noch einmal um, aber ihr ursprünglicher Eindruck änderte sich nicht.
Sie war froh, als sie die Bäume hinter sich ließ, die den See wie ein Ring von Wächtern umgaben, auch wenn der Wind ihr hier auf dem ungeschützten Gelände die schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht blies.
Violet stapfte über die unwegsame Heide auf eine der wenigen noch stehenden Außenmauern der ehemaligen Nervenheilanstalt zu. Dort waren Zelte aufgebaut worden, und Cat und ihr Team von Highland Archaeology warteten nur darauf, dass sie mit der Bergung der Knochen anfangen konnten.
Violets Blick ging suchend zwischen den wuselnden Menschen umher, bis er auf Cat traf. Die hatte ihre rötlich blonden Haare zu einem nachlässigen Dutt zusammengebunden und trug, wie die anderen Mitglieder ihres Teams, wetterfeste Kleidung in Erdtönen. Sie führte eine lebhafte Unterhaltung mit einem älteren, größeren Mann. Wenn Cat so heftig gestikulierte, dann hieß das, dass sie unter Strom stand.
Kein Wunder. Cats Job stand auf dem Spiel, wenn sie und ihr Team nicht hervorragende Arbeit leisten würden.
Violet seufzte. Sie hatte keine große Lust, ihrer Freundin gleich erklären zu müssen, dass sie ihr nicht helfen konnte.
Wieder wünschte sie sich, sie wäre gar nicht erst hergekommen. Aber Cat konnte sehr energisch sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ihre Überredungskünste waren so gut, dass sich Violet nach dem gestrigen Telefongespräch gleich ins Auto gesetzt hatte und losgefahren war.
Den Verlauf der Unterhaltung hatte sich Violet während der langen Fahrt quer durch das nächtliche Großbritannien immer wieder in Erinnerung gerufen.
»Wie du weißt, ist das mein erstes großes Projekt mit dieser Firma«, hatte Cat gesagt. »Dir gegenüber kann ich es zugeben: Ich war teilweise leicht überfordert. Bislang ist es glimpflich abgelaufen. Aber jetzt … jetzt geht alles den Bach runter, Violet. Und ich weiß nicht, was ich machen soll. Wenn ich das verbocke, ist meine Karriere bei Highland Archaeology beendet.«
Violet hatte einen Moment lang geschwiegen. Cat hatte ihr in den letzten Wochen immer wieder vorgeschwärmt, wie toll dieses Grabungsunternehmen war. Es beschäftigte über hundert Leute und war die größte private Grabungsfirma, die archäologische Baubegleitung, privat finanzierte Ausgrabungen und Beratung zu Denkmalschutz unter einem Dach vereinte. Violet wusste nicht recht, was sie als unabhängigkeitsliebende Künstlerin von dieser kommerziellen Archäologie halten sollte. Erst hatte sie gar nicht richtig verstanden, was Baugebietserschließungen, Windparks, Straßenbau und dergleichen mit Archäologie zu tun hatten, bis Cat ihr erklärte, dass private und staatliche Bauunternehmungen sich auf diese Weise absicherten. Wenn man bei einem schon vorangeschrittenen Projekt auf archäologisch bedeutsame Zufallsausgrabungen oder irgendetwas im Bereich Kulturerbe stieß, dann kam es zu einem Baustopp. Deshalb wurde vorher alles ausgelotet, um eine solche, oft mit hohen Kosten verbundene Unterbrechung später zu vermeiden. Aus dem Grund heuerten die Bauunternehmen Firmen wie Highland Archaeology an.
Doch anscheinend war in diesem Fall, der Anlage eines großen Luxus-Golfresorts, gerade das passiert, was Cats Firma hätte verhindern sollen.
Nachdem das Gelände mit der Ruine einer alten Nervenheilanstalt untersucht und eine Lösung für den Schutz eines kleinen Friedhofs gefunden worden war; nachdem das Bauunternehmen sich mithilfe von Scotland Enterprise, einer staatlichen Behörde für Wirtschaftsentwicklung, gegen Umweltschützer durchgesetzt hatte und nachdem dem Bauantrag dank Cats Gutachten stattgegeben worden war und erste Bauarbeiten begonnen hatten … waren menschliche Überreste auf dem Areal entdeckt worden.
Verständlich also, dass Cat Panik schob. Eigentlich hatten sie und ihr Team versagt. Dass sie jetzt damit beauftragt wurde, die Knochen untersuchen zu lassen, war sozusagen ihre Bewährungsprobe. Wenn Cat nicht dafür sorgte, dass sie das »kleine Problem« schnell und effizient aus dem Weg räumte, dann war sie ihren Job los.
»Ich würde dir wirklich gerne helfen, Cat«, hatte Violet gesagt. »Aber ich bin doch kein ... menschlicher Leichendetektor. Ich habe lediglich eine besondere Verbindung zu Gräbern. Friedhöfe sind mein Metier. Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, was ich da genau machen soll …«
»Ich weiß es auch nicht genau, Violet«, war Cats etwas verzweifelt klingende Antwort gewesen. »Aber wir müssen das gesamte Gelände absuchen, um sicherzustellen, dass es nicht noch weitere Leichen gibt. Die wir anscheinend übersehen haben. Natürlich haben wir Geräte, die uns dabei helfen können. Doch das Gebiet ist so groß und ich stehe unter riesigem Druck, in kürzester Zeit zu bestätigen, dass es sich nur in diesem unseligen See um Knochenfunde handelt, von denen wir unmöglich etwas wissen konnten. Von denen niemand etwas erfahren hätte, wenn Loch Laggandhu nicht ausgetrocknet wäre. Ich meine, wie hätten wir ahnen können, dass es Leichen auf dem Grund gibt?« Cat hatte in beschwörendem Tonfall hinzugefügt: »Ich erwarte nichts von dir, Violet. Aber wenn es eine klitzekleine Chance gibt, dass du auch nur eine winzige übernatürliche Ahnung hast, wo sich noch mehr Überraschungen auf dem Grundstück verbergen, dann würdest du mir damit wirklich helfen.«
»Ich weiß nicht. Ich will dich natürlich nicht im Stich lassen, aber …«
»Denk nur an den Friedhof.« Cat hatte triumphierend geklungen, als sie dieses Ass aus dem Ärmel zog. »Den alten Friedhof, der zu der Nervenheilanstalt gehört hat. Einer der Gründe, warum Highland Archaeology überhaupt beauftragt wurde. Der Golfkurs muss um diesen Friedhof herumgebaut werden, die alten Gräber bleiben erhalten. Auf jeden Fall wäre das doch was für dich, oder? Der Friedhof einer alten viktorianischen Irrenanstalt? Genau dein Ding.«
Alte Friedhöfe zogen Violet in der Tat magisch an. Das viktorianische Zeitalter war ihr Spezialgebiet. Davon abgesehen war Cat eine ihrer einzigen wahren Freundinnen und sie brauchte sie.
So hatte sie sich tatsächlich zu diesem Trip nach Schottland verleiten lassen, obwohl sie sich geschworen hatte, so bald nicht mehr dorthin zurückzukehren. Die schmerzlichen Erinnerungen an das, was hier vor ein paar Jahren vorgefallen war, saßen zu tief. Widersprüchlicherweise war alles um den Tod ihres Exfreundes Ethan nur noch sehr nebulös in ihrem Gedächtnis vorhanden. Vielleicht lag es einfach daran, dass ihre Psyche sich gegen eine Auseinandersetzung mit dieser traumatischen Zeit wehrte, sodass sich immer wieder ein dunkler Schleier über den Blick in diese Vergangenheit legte, sobald sie ihn wagte.
Auf jeden Fall hatte sie es seither vermieden, in diese Ecke Großbritanniens zurückzukehren. Nun, die Cairngorms befanden sich viel weiter nördlich als alles, was sich um Ethans tragischen Tod herum abgespielt hatte. Und der Versuchung, mal wieder einen schottischen Friedhof zu erleben, war schwer zu widerstehen.
Nun war sie schon einmal hier, sagte sich Violet jetzt, und ging auf Cat zu. Auch wenn sie sich vorhin, am dunklen See, vorgenommen hatte, gleich wieder nach Hause zu fahren, wusste Violet, dass sie nicht heimkehren würde, ohne den Friedhof der viktorianischen Nervenheilanstalt zu sehen.
Und sie musste Cat, die ihr Gespräch mittlerweile beendet hatte und sie erwartungsvoll anschaute, vielleicht noch nicht so ganz enttäuschen.
Vielleicht würden ihr die Gräber tatsächlich etwas verraten, was die Knochen im Loch Laggandhu verschwiegen.
»Lauf doch einfach noch ein bisschen herum«, schlug Cat mit einem hoffnungsvollem Blick vor, nachdem Violet ihr hatte eröffnen müssen, dass sie bei den Knochen am See nichts spürte. »Das Gelände ist groß, aber den Friedhof kannst du eigentlich nicht verfehlen.« Sie zeigte in die Richtung, in der er lag. »Hinter dem Wäldchen dort.«
Violets Blick folgte der imaginären Linie zwischen Cats Zeigefinger und den Bäumen. Wahrscheinlich bildete sie es sich nur ein, aber der im Moment noch versteckte Friedhof fühlte sich an wie ein Kraftfeld. Oder wie der ersehnte Schatz am Ende des Regenbogens. Ihre Füße setzten sich wie von alleine langsam in Bewegung, um den verheißungsvollen Ort zu erkunden.
»Such mich, wenn du zurückkommst, denn ohne mich findest du wahrscheinlich nicht zu unserem Cottage. Es ist ziemlich abgelegen«, rief Cat ihr hinterher. Violet nickte nur, auch wenn sie noch nicht wusste, ob sie Cats ursprüngliches Angebot, in dem von ihr angemieteten Häuschen zu übernachten, annehmen würde.
Um die ehemalige Klinik herum hatte man Rasenflächen angelegt, die unlängst gemäht worden waren. Doch dann begann die unebene Moorheide und der Weg zu der Baumgruppe wurde beschwerlicher. Violet hatte guten Halt in ihren altmodischen schwarzen Schnürstiefeln, doch sank sie mit den kurzen Absätzen öfter ein. Wanderschuhe wären praktischer gewesen. Vielleicht hatte Cat noch ein zweites Paar, das Violet ausleihen konnte, falls sie weitere Expeditionen über das Klinikgelände unternehmen sollte.
Doch je näher Violet dem Friedhof kam, desto weniger machte ihr das unwegsame Gelände oder die kalte Witterung etwas aus. Ein schmaler Pfad führte durch die Baumgruppe und nachdem Violet ein paar Meter gegangen war, fühlte sie sich, als hätte sie eine andere Welt betreten – ähnlich wie beim Loch Laggandhu. Die dicht stehenden Kiefern schützten sie vor dem Wind und es herrschte eine andere, irgendwie intimere Atmosphäre als in den Weiten des Moors. Es wurde dunkler und das leise Flüstern des Windes in den Baumkronen verstärkte die Stille nur noch. Violet kam es vor, als ob sie den Mittelgang einer Kapelle durchschritt. Und als sich nach kaum mehr als fünf Minuten Fußmarsch die Bäume wieder lichteten und den Blick auf den kleinen Friedhof freigaben, kam sie nicht umhin, es mit dem Erreichen des heiligen Altars zu vergleichen.
Violets Herz schlug ein bisschen schneller und sie beschleunigte ihre Schritte. Der Friedhof genoss zwar den Windschutz der Bäume, aber sobald sie aus dem Wäldchen trat, wurde es wieder merklich kälter.
Eine niedrige, teils in sich zusammengefallene Mauer mit verwitterten, moosbewachsenen Steinen umgab die Gräber. An einer Stelle, direkt gegenüber von dem Pfad durch die Bäume, gab es eine Lücke in der Umgrenzung von der Breite eines Gartentors. Verrostete Ösen verrieten, dass es dort wohl auch einmal eines gegeben hatte.
Gespannt durchquerte Violet die Friedhofsumgrenzung. Selbstverständlich hatte sie schon über die Mauer hinweg gesehen, dass es sich nicht um eine Begräbnisstätte mit Mausoleen oder gar kunstvoll gearbeiteten großen Grabskulpturen handelte. Viele hätten diesen Friedhof wohl für recht langweilig gehalten. Man konnte noch nicht mal genau sagen, wie viele Verstorbene hier beerdigt lagen. Kleine Grabsteine aus Sandstein waren teils umgefallen, verwittert und von der Natur wieder eingenommen worden.
Aber Violet fand den Friedhof alles andere als unspektakulär. Für sie hatte jeder seinen eigenen Charme. Als Grabkünstlerin fertigte sie Reproduktionen von besonderen Grabsteinen an – und da verkauften sich natürlich auffälligere Steine wie keltische Kreuze oder Engelsskulpturen am besten. Sie hielt deshalb immer Ausschau nach solchen. Aber sie hatte auch ein Auge für Besonderheiten auf unscheinbar wirkenden Grabmälern. Sie kannte sich mit den darauf eingravierten Symbolen aus, besonders mit denen aus dem viktorianischen Zeitalter. So wurde jede Friedhofserkundung eine Art Schatzsuche nach diesen Zeichen, die anderen, ahnungslosen Besuchern entgehen würden.
Aus Erfahrung wusste sie auch, dass selbst auf dem kleinsten Grabstein, hinter einer Schicht grünen Mooses, ein wunderbarer, einzigartiger Epitaph schlummern könnte, von der Sorte, die sie sammelte und öfter auf ihrer Website veröffentlichte.
Abgesehen von diesen äußerlichen, ja, man könnte sagen oberflächlichen Besonderheiten, die ein Friedhof vielleicht zu bieten hatte, wusste Violet aber noch etwas anderes zu schätzen.
Das hatte mehr mit dem zu tun, was unter der Friedhofserde lag.
Es spielte keine Rolle, wie der Grabstein aussah. Ein jeder konnte mit Violet sprechen, wenn der darunter Begrabene noch eine Geschichte zu erzählen hatte.
So sah Violet in jedem der Steine, die vielleicht verborgen unter einer Schicht Pflanzen auf diesem Friedhof lagen, eine Art Energiequelle. Mit einer Mischung aus Respekt, Vorfreude und Angst wartete sie darauf, dass sie die Vibrationen spüren würde, die ihren ganzen Körper von den Fingerspitzen bis zum Knochenmark durchfuhren.
Sie war sich fast hundertprozentig sicher, dass es hier einen, wenn nicht mehrere von der Sorte Grabsteine geben würde.
Die Nervenheilanstalt Laggandhu House war eine private Klinik für psychisch kranke Frauen gewesen, die ein englischer Arzt im Jahre 1888 gegründet hatte. Mehr wusste sie nicht darüber. Aber allein diese Tatsache verleitete sie zu der Annahme, dass hier Frauen lagen, die aus einem Leben mit unausgeschöpftem Potenzial gerissen worden waren. Frauen, die noch eine Geschichte zu erzählen hatten.
Und genau die waren schließlich Violets Spezialität. Es waren ihre Grabsteine, die mit ihr »redeten«. Die Geschichten dieser Frauen hatte Violet in den Episoden ihres Podcasts Grave Secrets erzählt, und sie selber spürte immer das befriedigende Gefühl der Erlösung, das sie diesen Toten geben konnte. Wenn sie danach erneut ihre Gräber besuchte, dann gab es einen Unterschied.
Sie konnte es niemandem erklären, fand es selber schwer, Worte dafür zu finden. Vielleicht war es ein bisschen so, als hätte der Grabstein vorher in einem dunklen Schatten gelegen, der sich mittlerweile gehoben hatte. Oder als wenn etwas das Grab niedergedrückt hatte und es jetzt freier stand und mehr Platz besaß.
Auf jeden Fall war es ein anderes Gefühl, wenn sie den kühlen, rauen Stein eines Grabes berührte, nachdem sie Leben und Tod der darunter Begrabenen recherchiert und vielleicht etwas Verborgenes aufgedeckt oder ein Unrecht wiedergutgemacht hatte.
Violet war Einzelgängerin und hatte nicht viele Freunde. Aber für sie war jede Frau, der sie auf diese Weise geholfen hatte, eine Freundin. Auch wenn ihre, man könnte sagen übernatürliche Begabung ihr manchmal Angst machte, auch wenn sie dabei des Öfteren mit Sachen konfrontiert wurde, die ihr Albträume bereiteten, und obwohl ihre Lebensaufgabe und ihre Faszination für Friedhöfe sie zu einer Außenseiterin machten, so freute sie sich doch bei jedem Besuch dieser Ruhestätten auf eine solche Verbindung.
In Anbetracht all dessen, was sie über Frauen, psychische Krankheiten und das viktorianische Zeitalter wusste, müsste Violet bei ihrer Vergangenheit prädestiniert dafür sein, eine geeignete Freundin für eine oder mehrere der hier beerdigten Frauen zu werden.
Und tatsächlich. Es gab ein Grab, das Violet sofort anzog. Es war zufällig das mit dem größten Grabstein, der im Gegensatz zu den meisten anderen auch noch aufrecht in die Höhe ragte.
Ja, man könnte fast glauben, musste Violet etwas amüsiert feststellen, dass die umliegenden kleinen, schiefen Grabsteine sich vor diesem hohen verneigten.
Violet spürte die Anspannung im ganzen Körper und ihr Herz raste, als sie nahe genug war, um die Inschrift zu lesen.
Der Stein war wie die anderen verwittert, aber Name und Jahreszahlen ließen sich trotzdem gut erkennen.
Verwirrung und Enttäuschung machten sich in Violet breit, als sie den Namen der hier beigesetzten Person entzifferte. Ihr Blick huschte immer wieder über den eingemeißelten Schriftzug, so als müsste sie sich vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hätte.
George William Bellamy.
Hier lag ein Mann.
Violet brauchte eine Weile, bis sie ihre Erwartungen und die Realität in Einklang gebracht hatte. Da hier Patientinnen bestattet worden sein sollten und es sich um eine Klinik für Frauen gehandelt hatte, war sie einfach davon ausgegangen, dass auf diesem Friedhof ausschließlich Frauen begraben lagen. Es passte zu ihrem persönlichen Muster, dass es hauptsächlich Frauen waren, deren Geschichten sie erzählte.
Aber es war auch schon vorgekommen, dass ein Stein, der zu ihr gesprochen hatte, das Grab eines Mannes markierte. Dass sie die Vibrationen dieses Steins spürte, war also nicht komplett ungewöhnlich. Wer wusste schließlich schon, warum die Grabmäler mit Violet sprachen und was die Verbindung zwischen ihr und diesen ganz besonderen Toten ausmachte?
In einer Anstalt wie Laggandhu House lebten nicht nur Patienten, sondern auch Personal. Es konnte sehr gut sein, dass einige davon ebenfalls hier begraben worden waren und dass darunter auch Männer waren.
Der Grabstein von George William Bellamy hob sich von den anderen ab, was dafür sprach, dass er vielleicht eine höhere Stellung in der Anstaltshierarchie eingenommen hatte.
Diese logischen Schlussfolgerungen hätten Violet eigentlich beruhigen sollen, aber ihre Hand zitterte trotzdem, als sie sie ausstreckte, um das Grab zu anzufassen.
Kaum berührten ihre Fingerspitzen den kühlen Stein, durchzuckte Violet das altbekannte Gefühl, das einem elektrischen Schock glich.
Es gab keine Zweifel, dass dieser Stein eine Verbindung mit ihr suchte – ihre »Ahnung« war sogar stärker als bei vielen anderen Grabmalen zuvor. Ihre Hand verkrampfte sich ohne ihr bewusstes Zutun um den abgerundeten Rand des Steines. Als ob ihr Körper magnetisch angezogen würde, sank sie darüber zusammen.
Violet wusste nicht, wie lange sie dort auf dem feuchten Gras und Moos gekniet und den Stein quasi umarmt hatte, aber als sie sich schließlich benommen wieder aufrichtete, war die Kälte des Bodens in ihre Knochen gezogen.
Ihre Gelenke waren steif und ihre Wange, mit der sie auf dem Stein gelegen hatte, war so kalt, dass sie sie kaum noch spürte. Gedankenverloren rieb sie sie mit der Hand, während sie George William Bellamys Grab anstarrte.
Ihre Reaktion auf das Grab dieses Mannes befremdete sie – aber sie musste zugeben, dass Gräber und Friedhöfe sie schon öfter zu einem Verhalten gebracht hatten, das »normale« Menschen wahrscheinlich für sonderbar halten würden.
Violet zog ihr Handy aus der Tasche, schaltete die App mit der Diktierfunktion ein und sprach mit heiserer Stimme: »George William Bellamy. 1856 bis 1904.« Sie hielt auch die Lage des Grabes auf dem Friedhof fest, die Maße und weitere Besonderheiten des Steins.
Als sie damit fertig war, zögerte sie einen Moment, bevor sie auch die Impressionen protokollierte, die ihr vorhin gekommen waren.
»Arzt«, sagte sie schließlich. »Ein respektierter Arzt, dem seine Patientinnen sehr am Herzen lagen.«
Nachdem Violet ihr Handy wieder weggesteckt hatte, brauchte sie noch eine Weile, bis sie es schaffte, sich von dem Grab abzuwenden.
Schließlich ging sie langsam zum ehemaligen Eingangstor zurück.
Erst als sie sich dort noch einmal umdrehte, fiel ihr auf, dass sie sich nicht weiter auf dem Friedhof umgesehen hatte. Bestimmt war hier noch einiges zu entdecken. Und wer wusste es schon, vielleicht gab es doch noch das eine oder andere Grab einer Patientin, das sie besonders ansprechen würde?
Doch Violet spürte, dass sie gerade keine Kraft mehr dafür hatte.
Erschöpft machte sie sich auf den Rückweg zur Klinik.
Als sie sich der Ruine näherte, fragte sie sich, wie die spärlichen Mauerreste des ehemals bestimmt imposanten Gebäudes wohl auf sie wirken würden, wenn es nicht wie jetzt vor Menschen wimmeln würde.
Sie versuchte sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, wegen der Cat sie hergebeten hatte.
Violet streckte im übertragenen Sinne ihre Fühler aus, ähnlich, wie sie es auf einem Friedhof tat.
Aber es überraschte sie nicht, dass sie dabei nichts empfand. Auf einem Friedhof hatte sie ja schließlich auch kein Gespür für die Leichen unter der Erde. Wie sie Cat schon gesagt hatte, sie war kein Kadaverhund.
Violet hatte noch nie Geister gesehen, wusste auch nicht, ob sie an sie glaubte. Ihre Verbindung zu den Toten hatte etwas mit den Grabsteinen zu tun. Es kam ihr vor, als wären diese Grabsteine wie Ankerverbindungen zwischen der Vergangenheit der Toten und der Gegenwart. Und wenn auf dem Gelände der ehemaligen Nervenheilanstalt Leichen begraben waren, dann waren ihre Gräber offensichtlich nicht markiert. Es ergab für Violet Sinn, dass die Geschichten der möglicherweise verscharrten Toten sie gar nicht erreichen würden, wenn es diese Steinanker nicht gab.
Sie seufzte beim Gedanken daran, wie sie Cat das erklären sollte und fühlte sich auf einmal noch müder.
Statt die Ruine der Klinik zu betreten, beschloss sie, Cat zu finden und ihr zu sagen, dass sie sich dringend ausruhen musste.
Violet fand Cat bei den Zelten. Sie war mit einem Mann im Gespräch, der trotz seines grimmigen Blickes sehr attraktiv wirkte.
Violet wartete höflichkeitshalber ein paar Schritte entfernt, um einen geeigneten Moment zu erwischen, mit Cat zu sprechen.
Die Arme um den Körper geschlungen trippelte sie von einem Fuß auf den anderen. Sie war mittlerweile richtig durchgefroren.
Der Mann warf ihr immer wieder einen abschätzenden Blick unter den dunklen, vollen Augenbrauen zu. Er hatte die Sorte stechend blaue Augen, die einen irgendwie immer ein bisschen aus der Fassung brachten.
Nach einer Weile legte er die Hand auf Cats Arm, um sie zu unterbrechen. »Entschuldigung, Catriona.« In gereizterem Ton rief er Violet zu: »Können wir Ihnen helfen?«
Cat drehte sich zu Violet um. Offensichtlich hatte sie deren Anwesenheit noch gar nicht bemerkt, so vertieft war sie in die Unterhaltung mit dem grimmigen Mann gewesen.
»Ah, Violet«, sagte sie jetzt. »Irgendetwas gefunden?« Cat warf dem Mann einen nervösen Seitenblick zu, der Violet verriet, dass sie nicht ins Detail gehen sollten.
Deshalb schüttelte sie nur den Kopf.
»David, das ist Violet Grave. Sie hilft … sie ist eine Beraterin.« Cat setzte ein charmantes Lächeln auf, um ihre Unsicherheit zu überspielen. »Violet, Dr. David Bennett ist unser Knochenexperte. Ein Osteoanthropologe, der an der Universität von Dundee forscht. Er wird die Knochenfunde untersuchen, um uns hoffentlich mehr darüber erzählen zu können. Hauptsächlich müssen wir selbstverständlich wissen, wie alt die Skelette sind. Die Polizei ermittelt in Fällen, die fünfzig bis siebzig Jahre zurückliegen, denn nur dann kann ja noch jemand für ein etwaiges Verbrechen verurteilt werden.« Cat zeigte auf den älteren Herrn, mit dem Violet sie vorhin zusammen gesehen hatte, und der jetzt mit mehreren uniformierten Polizisten in einem Grüppchen beieinanderstand. Offensichtlich leitete er die Ermittlungen. »Deshalb ist unsere oberste Priorität, herauszufinden, ob das Ganze noch ein Fall für die Polizei ist«, plapperte Cat weiter.
»Aha. Du, ich bin todmüde und mir ist kalt«, unterbrach Violet sie. »Ich muss unbedingt zu diesem Cottage und mich hinlegen. Wenn du mich nicht hinbringen kannst, dann versuche ich es mit Koordinaten und meinem Navi.«
Cat warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Doch, doch, ich bringe dich besser. Wenn so weit erst mal alles klar ist, David?« Sie schaute zu Dr. Bennett hoch. Der nickte, war jedoch ganz offensichtlich nicht besonders erfreut, dass Violet die wichtige Arbeit seines Teams unterbrach.
»Gut, dann sage ich schnell dem DCI Bescheid, dass ich kurz weg bin.«
Sie ging zu den Polizisten und ließ Violet und David Bennett alleine.
Violet war schon bei bester Laune kein Fan von Smalltalk und hoffte, dass der Knochenexperte sich von ihr verabschieden und sich mit seiner wichtigen Arbeit befassen würde.
Doch Dr. Bennett stand immer noch am gleichen Fleck. Als Violet ihren Blick von den Fußspitzen hob und in seine Richtung huschen ließ, hatte er die Arme vor der Brust verschränkt und sah sie unverwandt aus diesen beunruhigend blauen Augen an.
»Was genau ist denn Ihre beratende Funktion, wenn ich fragen darf?«
Violet beschloss, die Herausforderung anzunehmen und erwiderte seinen Blick. »Ich bin Expertin für Gräber. Ich habe mir den Friedhof angesehen.«
Die Furche zwischen Davids Brauen wurde noch tiefer. »Sie heißen Grave und sind Grabexpertin?«
Violet zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Lust, Dr. Bennett zu erklären, dass Grave ein Künstlername war. Er kam ihr wie der Typ Wissenschaftler vor, der sich über ihre Tätigkeiten als Grabkünstlerin und Podcasterin lustig machen würde. Violet fand nicht, dass sie es nötig hatte, diesem herablassenden Typen beweisen zu müssen, auch ohne akademische Titel eine Expertin in Grabkunde zu sein. Es gab sicher wenige, die sich beispielsweise so gut mit viktorianischer Grabikonografie auskannten wie Violet. Aber wahrscheinlich würde David Bennett ihr das nicht glauben.
Deshalb schwieg sie einfach, während der Anthropologe sie von Kopf bis Fuß musterte und sich ganz offensichtlich über ihre Kleidung wunderte. Violet zog ihren langen zweireihigen Mantel mit dem kürzeren Rockschoß enger um sich.
Schließlich sagte er: »Ich dachte, die Untersuchung des Friedhofs sei schon längst abgeschlossen und dem Bauantrag deshalb stattgegeben worden? Oder hat hier jemand den Verdacht geäußert, dass die Knochen auf dem Grund des Loch Laggandhu aus den Gräbern des Friedhofs stammen und erst in letzter Zeit von dort in den See gebracht wurden? Nach meinen Untersuchungen in situ kann ich mir das schlecht vorstellen.«
An diese Möglichkeit hatte Violet gar nicht gedacht. »Auf dem Friedhof gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Grabstätten in letzter Zeit gestört worden wären oder gar etwas ausgegraben wurde«, sagte sie nur, froh, Cat auf sie zueilen zu sehen und so um ein weiteres Verhör herumzukommen.
»Bis nachher, David«, rief Cat dem Knochenexperten zu und machte eine ungeduldige Kopfbewegung in Richtung Violet. Die verabschiedete sich mit einem knappen Nicken und hechtete Cat hinterher, ohne David Bennetts Reaktion abzuwarten.
Violets Wagen stand in der Reihe geparkter Autos um einiges weiter hinten als der von Cat. Als sie bei ihrem Auto angekommen war, stand ihre Freundin schon mit laufendem Motor und heruntergedrehter Fensterscheibe in umgekehrter Fahrtrichtung neben ihr. »Folg mir einfach«, rief Cat ihr zu und fuhr noch ein weiteres Stück vor.
Es dauerte eine Weile, bis sich Violet mit ihrem alten Corsa auf dem matschigen Untergrund aus der Lücke zwischen den Autos vor und hinter ihr herausmanövriert hatte. Etwas neidisch blickte sie auf das Heck von Cats nigelnagelneu aussehendem Wagen – es war eines dieser Schiffe mit Allradantrieb, das ihren eigenen Gebrauchtwagen im Vergleich dazu wie eine rostende Konservendose wirken ließ.
Cat hatte immer schon eine Vorliebe für die schöneren Dinge im Leben gehabt. Die meisten Archäologen konnten sich ein solches Auto wohl kaum leisten, obwohl Violet zugeben musste, dass es bestimmt praktisch war, weil Ausgrabungen öfter auf schlecht zugänglichem Gelände stattfanden. Wenn Cats Job bei Highland Archaeology so gut bezahlt wurde, dann war es kein Wunder, dass ihre Freundin unbedingt alles dafür tun wollte, ihn zu behalten.
Der Weg zu Cats Cottage führte zunächst durch den Ort, durch den Violet auch gekommen war.
Nethy Bridge, ein beschauliches Kaff am Rande des Abernethy Forest. Beim Durchqueren entdeckte Violet nicht viel mehr als einen kleinen SPAR-Laden mit Postfiliale, ein Café und viele B&B-Schilder. Bestimmt gab es noch irgendwo einen Pub, womit der Ort alles hatte, was Touristen brauchten.
Es war nicht so, dass Violet auf mehr Highlife aus war, im Gegenteil, aber das typische Highland-Örtchen weckte dunkle Erinnerungen an ihren letzten Besuch weiter südlich in der Gegend. Sie wollte nicht darüber nachdenken und sagte sich, dass sie mit Nethy Bridge wahrscheinlich gar nicht viel zu tun haben würde. Sie hoffte, Cats Kühlschrank war gefüllt, dann müsste sie dort noch nicht mal einkaufen.
Beim Gedanken daran meldete sich ihr Magen. Mist, sie hätte Cat vorher danach fragen sollen.
Eigentlich wollte sie ja morgen sowieso schon wieder nach Hause fahren. Der beeindruckende Besuch auf dem Friedhof hatte sie das irgendwie vergessen lassen. Aber sie war schließlich nicht wegen dieses George William Bellamy hier, was immer sein Grab von Violet auch gewollt hatte.
Sie war hergekommen, um Cat zu helfen. Wie befürchtet, konnte sie die Hoffnungen ihrer Freundin nicht erfüllen – sie konnte ihr weder etwas über die Knochen sagen noch andere vergrabene Leichen finden. Auch wenn Violet nichts versprochen hatte, würde es bestimmt eine Enttäuschung für Cat sein.
Wenn sie jetzt auf dem Friedhof etwas nachforschte, falls es dort einen weiteren ungelösten Fall gab, dann wäre das nur ein weiterer Stein, den sie Cat in den Weg legte. Und damit würde sie ihre Freundin nicht nur enttäuschen, sondern die Situation auch noch schlimmer für sie machen.
Wahrscheinlich sollte sie George William Bellamy wirklich besser vergessen und wie geplant so bald wie möglich abreisen.
Dennoch spürte Violet den Drang, dem Friedhof noch mal einen Besuch abzustatten, um wenigstens Fotos zu machen.
Schon bald konnte Violet nicht mehr gedanklich das Für und Wider debattieren, weil sie sich auf die Straßen konzentrieren musste – wenn man die Feldwege überhaupt Straßen nennen konnte. Cat hatte nicht gelogen, als sie behauptete, das Cottage sei abgelegen.
Sie waren noch nicht lange östlich von Nethy Bridge unterwegs, als die Zahl der Behausungen sehr spärlich wurde und die Straße nicht mehr asphaltiert war. Die Karte auf Violets Navi beschrieb die triste, von vielen Bächen durchkreuzte Moorlandschaft als Dorback-Tal.
Violets Corsa holperte über Schlaglöcher, vorbei an einer dichten Wand Kiefernwald. Violet wollte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn es hier mal so richtig regnete. Der Weg würde unbefahrbar werden. Sie hoffte, sie würde von dem Cottage auch wieder wegkommen.
Was um alles in der Welt hatte Cat dazu bewogen, eine so abgeschiedene Unterkunft zu wählen, fragte sich Violet, als sie den Wald hinter sich gelassen hatten und nun auf ein freistehendes Cottage zusteuerten, das weit und breit das einzige Gebäude war. Schließlich hatte es im Ort doch genug B&B-Zimmer gegeben.
Als sie ihr Ziel endlich erreichten, beantwortete sich Violets Frage von selbst.
Blaeberry Cottage, wie auf dem Holzschild am Eingang stand, war ein zweistöckiges, geräumiges Häuschen mit zwei Schlafzimmern. Auf der Terrasse mit atemberaubendem Ausblick auf die Cairngorm Mountains stand ein Whirlpool.
Die Küche bot viel Platz und war modern eingerichtet, mit allen möglichen technischen Geräten, die einem das Leben leicht machten.
Im Wohnzimmer gab es einen stilechten großen Kamin und die Möbel sahen zumindest so aus wie wertvolle Antiquitäten.
Blaeberry Cottage war eine Luxus-Unterkunft. Ein gewöhnliches Drei-Sterne-B&B-Zimmer war wohl nicht gut genug für Catriona Balfour.
Violet hingegen hätte sich in einem solchen wahrscheinlich wohler gefühlt. Obwohl das Cottage aus groben, grauen Natursteinen mit weiß getünchtem Vorbau und Erkerfenstern von außen eher rustikal wirkte, erinnerte das Innere an ein Museum mit Einrichtungsgegenständen aus dem 19. Jahrhundert. Die dunklen Möbel und die alten Bilder an den Wänden hätten Violet eigentlich ansprechen sollen, wenn man ihre Vorliebe für das viktorianische Zeitalter in Betracht zog. Stattdessen wirkte das Cottage irgendwie kalt und bedrückend auf sie.
Vielleicht brauchte sie gerade einfach etwas Gemütliches.
Aber sie wollte sich nicht beschweren.
Cat ließ sie umsonst hier übernachten, und Violet war immer knapp bei Kasse.
Und wenn sie erst mal ausgeschlafen und sich wieder aufgewärmt hatte, dann sähe sie das Luxus-Cottage wahrscheinlich mit anderen, wertschätzenderen Augen.
Cat zeigte ihr noch die Kühl- und Küchenschrank-Inhalte und wies sie an, sich einfach zu bedienen. »Ich bringe heute Abend etwas aus dem Laden mit, dann können wir uns was Nettes kochen. Und dann haben wir auch Zeit, deine Eindrücke zu besprechen.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr; offensichtlich wurde sie bald wieder auf dem Klinikgelände erwartet. Trotzdem konnte sie es wohl nicht aushalten, bis abends zu warten. »Du hast also nichts … gespürt? Oder meinst du, sonst gibt es dort keine weiteren Überraschungen – nur die Leichen im See?« Hoffnungsvoll sah sie Violet an.
»Das kann ich dir leider nicht beantworten«, meinte Violet zerknirscht. »Ich habe auf jeden Fall nichts Ungewöhnliches bemerkt. Aber das muss nichts heißen«, fügte sie rasch hinzu.
Cat kaute auf der Unterlippe herum. Schließlich nickte sie. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als auf dem ganzen Gelände Bodenradarmessungen durchzuführen«, seufzte sie. »Trotzdem danke ich dir, Violet, dass du extra hergekommen bist. Ich weiß das zu schätzen.«
Violet zuckte nur etwas hilflos mit den Schultern. Sie wünschte wirklich, sie hätte etwas für Cat tun können. Ob sie ihr doch etwas von ihrem Erlebnis auf dem Friedhof erzählen sollte? Vielleicht würden Recherchen zum Bellamy-Grab irgendwie dazu beitragen, den Fall mit den gefundenen Knochen zu lösen …
Sie beschloss, sich das noch einmal gründlich zu überlegen, sobald sie sich ausgeruht hatte.
Nachdem Cat sich verabschiedet hatte, blieb Violet in der Küche. Im Hängeschrank fand sie eine Auswahl an Dosensuppen und sie machte sich eine Gemüsebrühe mit Fleischklößchen warm. Sie schmeckte überraschend gut, aber natürlich kaufte Cat selbst Konserven nur in bester Bio-Qualität. Als sie ihre Schüssel geleert und noch mit der letzten Scheibe frischen Weißbrots ausgewischt hatte, fühlte sich Violet schon wieder wie ein neuer Mensch.
Sie duschte kurz und heiß – jetzt war sie froh über das moderne Badezimmer mit einem Wasserboiler auf dem neuesten technischen Stand – und zog frische Unterwäsche und einen gemütlichen Frottee-Pyjama aus ihrer Reisetasche.
Unter der fremd riechenden Bettdecke im knarzenden, altmodischen Einzelbett des Schlafzimmers mit seinen steilen Dachschrägen, das Cat ihr zugewiesen hatte, kam bei Violet nur kurz noch einmal das Gefühl des Unwohlseins hoch, das sie bei ihrer Ankunft hier überkommen hatte.
Aber das währte nicht lange, denn kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, war sie auch schon eingeschlafen.
Als Violet aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war.
Desorientiert setzte sie sich auf und schlug sich dabei den Kopf an der Dachschräge an.
Das Zimmer war in Dunkelheit getaucht. Der etwas hellere, rechteckige Ausschnitt des Fensters zog Violets Blick auf sich, als sie sich den Schädel rieb. Sie blinzelte ein paar Mal und machte die Umrisse des Schaukelstuhls in der Ecke aus, der auf beunruhigende Weise irgendwie den Eindruck erweckte, als säße jemand darauf und beobachtete sie.
Violets Hand tastete nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe neben ihrem Bett. Der schwache Lichtstrahl erhellte das Zimmer nicht wesentlich, aber doch genug, um erkennen zu können, dass niemand außer Violet anwesend war.
Der altmodische, niedrige Schaukelstuhl aus dunklem Holz war ihr zwar direkt zugewandt, darauf befand sich allerdings nichts anderes als Violets eigene Reisetasche.
Die zusammenhanglosen Fetzen eines verwirrenden Traums, die Violet noch im Kopf herumschwebten, hatten sich jetzt gänzlich aufgelöst. Als sie versuchte, sich daran zu erinnern, blieb nichts außer einem beklemmenden Gefühl in der Brust.
Violet legte die Hand auf ihren Oberkörper, atmete tief ein und aus, stand dann auf und zog eine dicke Hoodie-Jacke aus der Reisetasche.
Nachdem sie sich diese übergezogen hatte, ging sie auf Socken aus dem Zimmer. Im Cottage war Licht an und sie hörte Geklapper aus der Küche unten. Schon im Treppenhaus kam Violet ein verführerischer Geruch entgegen und ihr Magen zog sich hungrig zusammen.
Es duftete nach Knoblauch und Tomaten.
In der Küche traf sie Cat an, die mit einem Topf über der Spüle hantierte.
»Oh, schön, dass du wach bist.« Sie lächelte Violet über den Wasserdampf hinweg an. »Das Essen ist gleich fertig.«
»Toll. Kann ich dir noch was helfen?«
»Hier, du kannst gleich die Spaghetti ins Wohnzimmer bringen. Ich habe schon den Tisch gedeckt. Ich komme dann gleich mit der Soße und dem Knoblauchbrot.«
Violet nahm Cat den Topf ab und ging damit in das Zimmer mit dem großen Kamin. Darin prasselte ein Feuer. So wirkte der Raum gleich viel gemütlicher.
Sie stellte den Topf auf einen der bereitgelegten Untersetzer auf dem großen Holztisch.
Cat hatte schon eine Flasche Rotwein geöffnet, und Violet schenkte ihnen beiden etwas davon ein.
Bald saßen sie am Tisch, jede eine großzügige Portion der einfachen, aber appetitlichen Mahlzeit vor sich auf dem Teller.
Auch Cat musste wohl sehr hungrig sein, denn sie beide konzentrierten sich zunächst einmal gänzlich auf das Essen, ohne sich zu unterhalten.
Nach ein paar Bissen hob Violet ihr Glas Rotwein. »Prost«, sagte sie und stieß mit Cat an. »Vielen Dank fürs Kochen.«
»Ist doch kein Ding«, sagte Cat und nahm ebenfalls einen Schluck. »Mir war auch nach einer heißen Mahlzeit und das war ja nicht aufwendig. Die Sauce ist aus dem Glas.«
»Schmeckt toll«, sagte Violet ehrlich. »Und ich weiß es zu schätzen. Du hast doch bestimmt einen anstrengenden Tag gehabt. Wie ist es gelaufen?«
Cat seufzte. »Na ja, die gute Nachricht ist, dass wir bisher keine weiteren Knochen auf dem Gelände gefunden haben. Die im Loch Laggandhu wurden geborgen, aber der See wird natürlich weiter abgesucht. Wer weiß, was der noch für Geheimnisse birgt«, fügte sie mit ominösem Unterton hinzu.
»Wie kommt es, dass die Knochen bisher nicht entdeckt wurden? Hat der See erst seit Kurzem so wenig Wasser?«, fragte Violet und nahm sich noch ein Stückchen Knoblauchbrot.
Cat nickte kauend. »Loch Laggandhu ist über den Winter sehr ausgetrocknet. Der See hat in kürzester Zeit so viel Wasser verloren, dass manche es sogar schon als unheimlich bezeichnen. Als der Wasserstand um ungefähr anderthalb Meter gesunken war, alarmierten Umweltschützer SEPA, die Scottish Environment Protection Agency. Es kursierte das Gerücht, dass das Bauunternehmen für den sinkenden Wasserstand verantwortlich sei. Das war natürlich Öl ins Feuer derer, die schon immer gegen dieses Bauvorhaben waren. Und ein gefundenes Fressen für die Zeitungen, die ausführlich darüber berichteten. Da war meine Firma schon nicht glücklich drüber.« Cat machte selber ein leidendes Gesicht, so als wäre sie damals ins Büro ihres Chefs zitiert worden und sich hätte verantworten müssen.
»Ja, aber dafür kannst du doch wirklich nichts. Und deine Firma auch nicht. Ich meine, ihr seid doch nicht für die PR der Baufirma zuständig, oder?« Violet verstand zumindest nicht, was diese Umweltprobleme mit Archäologie zu tun hatten.
»Nein. Aber schlechte Presse ist auch nicht gut für Highland Archaeology. Und Kulturgutpflege ist unser zweites Standbein. Es ist nicht in unserem Interesse, dass wir für eine Firma arbeiten, die im Cairngorms Nationalpark Schaden anrichtet. Die Natur ist in den Highlands schließlich so etwas wie Kulturgut.«
Violet fand, dass der Bau eines riesigen Golfkurses im Widerspruch dazu stand, die Natur in dem Park zu schützen – und wenn Highland Archaeology sich von einer solchen Baufirma beauftragen ließ, dann machten sie automatisch gemeinsame Sache. Gab es da nicht so ein Sprichwort: Wer sich mit dem Teufel ins Bett legt, muss sich nicht wundern, wenn er in der Hölle aufwacht?
Aber sie sagte nichts. Das Thema war bestimmt komplexer. Die Gegend lebte vom Tourismus und da musste ein Gleichgewicht zwischen Naturschutz und Infrastruktur für Fremdenverkehr geschaffen werden.
»Ist denn etwas dran an den Gerüchten?«, fragte sie. »Ich meine, ist die Baufirma für den sinkenden Wasserstand im Loch Laggandhu verantwortlich?«
Cat zuckte mit den Schultern. »Der See wird von einer unterirdischen Quelle gespeist. Und die Firma hat tatsächlich in der Nähe ein Bohrloch für die Bewässerung des Golfkurses anlegen lassen. Die Umweltschützer behaupten, es könnte dabei das Grundwasser abgezwackt werden, das sonst in der Quelle im Loch ankommt. Aber ich kann mir das nicht wirklich vorstellen. Auch die Einrichtung dieses Bohrlochs war bewilligt worden und Scottish Waters wird das schon genau untersucht haben, damit so etwas nicht passiert.«
»Okay.«
»Es gab auf jeden Fall noch eine Untersuchung seitens SEPA und in deren Report steht nichts von dem Bohrloch. Stattdessen wird auf den ungewöhnlich trockenen Winter verwiesen, den wir hatten. In der Gegend herrscht wohl grundsätzlich ein niedriger Grundwasserpegel. Mittlerweile ist der Wasserstand im Loch Laggandhu um 2,4 Meter gesunken. Tja, und so wurden dann auch die Knochen auf dem Grund des Sees zutage gefördert.«
Cat schob ihren Teller von sich, obwohl er noch nicht leer war. Der Gedanke an die unglücklichen Umstände, die sie vielleicht ihren Job kosten würden, hatten ihr wohl den Appetit verdorben. Nachdenklich nahm sie einen tiefen Zug vom Rotwein.
Violet drehte die letzten Spaghetti auf ihrer Gabel auf. Kauend überlegte sie, wie sie ihre Freundin trösten könnte. Schließlich sagte sie:
»Also, ich finde es ziemlich unfair, dich für den Fund verantwortlich zu machen. Wenn die Baufirma mit ihrem Bohrloch zuständig ist, kann sie sich an die eigene Nase fassen. Aber selbst wenn nicht: Du hättest ja nie und nimmer von diesen Knochen wissen können. Wer weiß, wie alt die sind und wie lange sie dort noch gelegen hätten, wenn der See nicht diesen merkwürdig niedrigen Wasserstand hätte.«
Cat lächelte schwach. »Man braucht halt einen Sündenbock und als Projektleiterin bin ich diejenige, die dafür den Kopf hinhalten muss.«
Nachdenklich nahm Violet einen Schluck Wein. Wieder wünschte sie, sie könnte etwas für Cat tun. »Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann.«
Cat seufzte erneut. »Ich war so scharf auf den Job und wusste, er ist ein bisschen außerhalb meiner Liga. Als ich ihn dann hatte, dachte ich: Jetzt hab ich es geschafft. Und am Anfang lief auch noch alles ganz gut. Das Bauvorhaben war ja schon bewilligt. Ich war bereits mitten in einem anderen Auftrag, als alles den Bach runterging. Und ich hab mich schnell daran gewöhnt, Violet, endlich gutes Geld zu verdienen. Ich halte es nicht aus, wenn ich meinen Lebensstil wieder dem einer armen Archäologin anpassen muss.« Cat verzog das Gesicht.
Violet wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie starrte auf die roten Schlieren Tomatensauce auf ihrem Teller. Ihr Lebensstandard lag wahrscheinlich weit unter dem, den sich Cat vorstellen konnte. Aber ihr machte es nicht sonderlich viel aus – nur wenn ihr das Geld für Reisen zu den geliebten Friedhöfen in anderen Ländern fehlte, dann wünschte sie sich, sie hätte mehr davon.
Aber irgendwie reichte es dann doch immer. Und zur Not ackerte sie dann besonders hart, um mehr Grabstein-Reproduktionen herzustellen, die sie verkaufen konnte. Wenn sie ehrlich war, machte sie sich nicht allzu viele Gedanken darüber. Natürlich genoss sie Luxus, Behaglichkeit und finanzielle Sorgenfreiheit wie jeder andere auch, aber sie konnte auch ohne und kam irgendwie immer zurecht. Das war von jeher etwas, in dem Cats und ihre Vorstellungen auseinandergegangen waren. Schon an der Uni hatte ihre Freundin große Karriereambitionen gehabt, öfter von Prestige und Lebensstil gesprochen. Bereits damals hatte sich Violet gewundert, warum Cat ausgerechnet Archäologie als Studienfach gewählt hatte – mit einer anderen Fachrichtung hätte sie schneller das erreichen können, was sie anstrebte.
So als hätte Cat ihre Gedanken erraten, sagte sie jetzt: »Das Problem ist, dass ich Vollblut-Archäologin bin. Ich liebe es einfach, im Dreck herumzubuddeln und auf Schatzsuche zu gehen.« Cats blaugrüne Augen leuchteten jetzt im Schein des flackernden Kaminfeuers auf, und Violet zweifelte nicht an, dass sie die Wahrheit sagte. »Das fehlt mir sogar in meinem Job, in dem es viel um Delegation und vor allem Papierkram geht. Und die Verantwortung, die auf meinen Schultern lastet, ist einfach enorm. Oft sitze ich an meinem Schreibtisch und wünsche mir, bei einer Ausgrabung dabei zu sein. Dieses langsame, aber ganz methodische Vorgehen, wo Zentimeter um Zentimeter Erde bewegt wird, bis einmal etwas zum Vorschein kommt, das vielleicht unsere Perspektive auf die Geschichte der Menschheit ändert …« Sie brach ab.
Vielleicht war es der Lichtwechsel durch das herunterbrennende Feuer im Kamin, aber es war Violet, als legte sich ein Schatten über Cats Gesicht. »Es ist bestimmt Karma, weißt du.« Cat warf Violet einen schnellen Blick zu, schaute dann aber wieder weg.
»Karma?«
»Ach, ich habe in meinem Lebenslauf ein kleines bisschen geflunkert, als ich mich auf die Stelle beworben habe. Und dann habe ich beim Bewerbungsgespräch … hmmm, sagen wir mal, meinen ganzen Charme eingesetzt, um den Job zu bekommen.«
Violet richtete sich auf. »Wie meinst du das? Hast du etwas Unmoralisches getan?«
Cat verzog das Gesicht. »Ist Flirten unmoralisch?«
»Ach so. Ich dachte schon … Hmm. Wahrscheinlich nicht. Ich nehme an, die meisten machen alles in Bewerbungsgesprächen, um einen guten Eindruck zu hinterlassen und den Job zu bekommen.« Violet versuchte, diplomatisch zu bleiben. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Cat sich benommen hatte. Flirten hatte sie schon immer gut gekonnt. Sie wusste ihren Charme aufzudrehen und unheimlich hübsch und adrett rüberzukommen, wenn sie es darauf anlegte. Damit war sie ein wahres Chamäleon, denn Violet hatte sie auch schon völlig unscheinbar und natürlich erlebt.
»Ja. Ich weiß nicht.« Die ganze Situation hatte Cat offensichtlich in für sie untypische Selbstzweifel gestürzt. Violet glaubte nicht, dass sie viel tun konnte, um das zu ändern. Es war eine Art Berufungs- oder Identitätskrise, die ihre Freundin für sich selbst lösen musste. Dabei hoffte sie natürlich, dass es Cats eigene Entscheidung bleiben würde, wie sie beruflich weitermachte, und dass sie nicht gefeuert wurde.
»Kann denn schon etwas über die Knochen gesagt werden?«, fragte sie, nachdem sie beide den Tisch abgeräumt hatten und sich in der Küche um den Abwasch kümmerten. »Weiß man schon, ob es sich um ein Verbrechen handelt? Du hast heute Mittag so etwas gesagt, dass die Polizei nur ermittelt, wenn die Knochen nicht älter als siebzig Jahre sind …«
Cat schüttelte den Kopf. »Nein, David Bennett muss sie erst noch untersuchen. Er konnte mir nur sagen, dass es sich definitiv um menschliche Skelettreste handelt. Manchmal sehen Knochen von bestimmten Tieren denen von Menschen erstaunlich ähnlich. Aber hier gibt es wohl keine Zweifel. Zu etwas anderem hat er sich noch nicht geäußert. Eine der Schwierigkeiten ist wohl, dass die Knochen verstreut sind – sich also nicht mehr im Skelettverbund befinden. Das hat wohl damit zu tun, dass Körperteile unterschiedlich schnell verwesen und dann entsprechend unterschiedlich schnell davontreiben können … und dass natürlich Aasfresser Knochen mit sich nehmen und verschleppen. Na ja, auf jeden Fall müssen die Gebeine erst einmal zugeordnet werden. Dann wissen wir, um wie viele Personen es sich handelt. Und dann kann David feststellen, wie alt die Personen waren, als sie gestorben sind, ob es Frauen oder Männer waren und so weiter. Das, was uns brennend interessiert, nämlich, wie lange die Knochen dort schon liegen, ist leider gar nicht so einfach herauszufinden.«
»Ich dachte, da macht man eine Radiokarbondatierung. Hab ich zumindest mal gelesen.«
»Ja, das ist richtig.« Cat reichte Violet den letzten Teller zum Abtrocknen. »Aber diese C-14-Methode ist keineswegs jahresgenau. Da gibt es schon mal Abweichungen von plus minus 100 Jahren. Für ältere Knochen ist es nützlich, aber für ganz alte und jüngere …«
Violet machte wohl ein ratloses Gesicht, denn Cat erklärte: »C-14 ist ja ein radioaktives Isotop und entsteht durch Kernreaktionen in der oberen Schicht der Atmosphäre. Es bildet sich immer wieder neu und zerfällt und so entsteht ein Gleichgewicht im Verhältnis zwischen C-14 und normalem Kohlenstoff, C-12. Durch die Pflanzen gerät C-14 in die Biosphäre und so auch in alle lebenden Organismen. Das gleiche Verhältnis wie in der Atmosphäre ist dann auch in diesen vorhanden – zu Beispiel in unseren Knochen. Wenn wir sterben, dann wird dieser Austausch mit der Atmosphäre unterbrochen. Ab dem Zeitpunkt gibt es also durch den Zerfall des C-14-Isotops immer weniger davon in unseren organischen Resten. Da die Halbwertszeit berechnet werden kann, kann anhand des Verhältnisses von C-12 zu C-14 dann auch bestimmt werden, wie alt die Knochen sind, die man findet. Aber die Methode hat eben auch ihre Grenzen. Nach zehn Halbwertszeiten, das sind etwa 57000 Jahre, ist der Anteil von C-14 kaum mehr nachweisbar. Außerdem ist der Kohlenstoffgehalt in der Atmosphäre nicht immer stabil. Er ändert sich durch kosmische Strahlung, zum Beispiel die Sonnenaktivität – und die nimmt zyklisch ab und wieder zu. Auch die Klimaveränderung hat Einfluss auf dieses Verhältnis. Und seit den 1950er-Jahren verdoppelte sich der C-14-Gehalt beinahe, und zwar aufgrund der Atomwaffentests. Zwischen 1650 und 1950 gab es eine Phase, in der der C-14-Gehalt von Funden kaum variierte.«
»Hmm.« Chemie war nicht gerade Violets Stärke, und bestimmt waren ihre Augen während der Erklärung mal glasig geworden, aber sie glaubte, das Gröbste verstanden zu haben. »Heißt das, mit der Methode kann zumindest festgestellt werden, ob die Knochen älter als siebzig Jahre sind, aber es wird schwierig festzustellen, ob sie zum Beispiel aus dem neunzehnten oder achtzehnten Jahrhundert stammen?«
»So ungefähr. Aber wer weiß, vielleicht liegen sie schon seit dem Mittelalter oder noch länger dort im See, dann ist die Radiokarbonmethode durchaus nützlich. Außerdem entwickeln sich ganz rasant neue Methoden. Es kommt auch darauf an, ob DNA erhalten ist. Ich vertraue darauf, dass David Bennett uns einige hilfreiche Informationen über die Knochenfunde geben kann.«
Cat lächelte zuversichtlich und schnappte sich die noch halb volle Flasche Wein. »Noch ein Glas? Wir können uns auf die Terrasse setzen. Es gibt da ein paar gemütliche Liegestühle mit kuschelig warmen Decken.«
Violet zuckte mit den Schultern und hielt Cat dann ihr Glas hin. »Wieso nicht.«
Violet und Cat zogen ihre Mäntel und Stiefel an, begaben sich nach draußen, machten es sich auf den Stühlen bequem und drapierten die Decken über sich.
Es war kalt und der Himmel sternenklar.
Abgesehen von den Himmelskörpern war weit und breit kein anderes Licht zu sehen.
Violet wurde sich wieder bewusst, wie abgelegen das Cottage war. Sie erschauderte, trotz der Felldecken.
»Macht es dir nichts aus, ganz allein so weit ab vom Schuss zu wohnen? Ich meine … ist das sicher?«
»Ich mag es eigentlich. Ich wollte mein eigenes, komfortables Häuschen haben statt eines durchschnittlichen Zimmers in einem B&B, wo mir am Morgen ein fettiges, unappetitliches Frühstück serviert wird und ich mich den Rest der Zeit von Pub-Mahlzeiten und Supermarkt-Sandwiches ernähren muss. Dieses Cottage war frei und hat meinen Vorstellungen entsprochen. Eigentlich ist es so abgelegen, dass hier keiner herkommt. Angst hab ich nicht, wenn du das meinst.«
»Ja, aber …« Violet spähte in die Ferne. Es war zu dunkel für die Aussicht, die sie tagsüber gehabt hatte. Aber sie wusste, dass das Cottage frei stand und dass rings um sie herum nichts als Heide und Wiesen waren, bis zum Rand des dichten Kiefernwaldes. Ihre Kopfhaut prickelte beim Gedanken daran. »Das Haus ist so ungeschützt, noch nicht mal hinter ein paar Bäumen versteckt … es kommt mir so … ich weiß auch nicht, exponiert vor.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ein besserer Ausdruck fällt mir dafür nicht ein.«
Cat lachte. »Du redest ja so, als würden hier um uns herum irgendwelche Räuber lauern, die uns beobachten. Glaub mir, nach hier draußen verschlägt es niemanden.«
Violet versuchte, auch zu lächeln. »Bestimmt hast du recht«, sagte sie, um wieder zu dem angenehmen Plauderton ihres bisherigen Gesprächs zurückzukehren. Aber so ganz konnte sie das unheimliche Gefühl nicht abschütteln.
Cat und Violet tranken ihren Wein aus und gingen wieder rein.
Erst oben im Flur, als sie sich gute Nacht sagten, fiel Violet noch etwas ein, das sie Cat hatte fragen wollen:
»Sagt dir der Name George William Bellamy im Zusammenhang mit der Nervenheilanstalt etwas?«
»Ja. Warte …« Cat machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ach, ja, Dr. Bellamy. Das war der Gründer und Oberarzt von Laggandhu House. Wie kommst du darauf?«
Violet musste schlucken. Ihr Hals war auf einmal ganz trocken. »Er liegt auf dem Klinikfriedhof begraben.«
Cat nickte und wartete, ob Violet noch etwas zufügen würde. Nach ein paar Sekunden sagte sie: »Also, schlaf gut, bis morgen.«
»Bis morgen.« Violets Stimme war heiser.
Sie blieb noch einen Moment im kalten Hausflur stehen, nachdem Cat in ihr Zimmer mit eigenem Bad verschwunden war. Sie wusste nicht recht, warum sie ihrer Freundin nichts von ihrer Verbindung zu Dr. Bellamys Grab erzählt hatte.
Als sie in ihr eigenes Schlafzimmer ging, redete sie sich ein, dass sie Cat einfach nicht unnötige Hoffnungen oder gar Sorgen machen wollte, weil sie noch nicht wusste, was es zu bedeuten und ob es etwas mit dem Knochenfund zu tun hatte.
Aber irgendwo tief in Violets Innerem schlummerte das Bewusstsein, dass sie einfach ein Geheimnis mit Dr. George Bellamy bewahren wollte – auch wenn sie noch keine Ahnung hatte, was es für ein Geheimnis war.
Violet warf sich eine gefühlte Ewigkeit in ihrem Bett hin und her – vermutlich war sie aufgrund ihres Schläfchens vor ein paar Stunden einfach noch nicht müde genug.
Sie machte die Nachttischlampe an, um zu lesen. Aber ihr gefiel die Beleuchtung nicht, die diese Lampe abgab – sie war fast zu schwach, um die Buchstaben auf den Seiten erkennen zu lassen, tauchte das Zimmer aber in ein unheimliches, gelbes, lange Schatten werfendes Licht.
Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder aufwachte. Die Traumfetzen ließen sich diesmal nicht abschütteln, sondern blieben ihr auf unangenehm intensive Weise im Gedächtnis. Es waren nur Impressionen, die sich nicht zu einer zusammenhängenden Geschichte zusammenfügen konnten und sich Violets Deutungsversuchen entzogen.
Einmal befand sie sich mit anderen Frauen in einem altmodischen Raum. Die Einrichtung erinnerte ein bisschen an die im Cottage. Die Frauen hatten sich im Zimmer verteilt … eine saß dort auf einem Sessel, ein Buch in der Hand. Eine andere hockte auf der Kante eines hochlehnigen Stuhls und nähte. Zwei saßen sich an einem Beistelltisch gegenüber und spielten Karten. Alle trugen hochgeschlossene Kleider und Hauben von einer unbestimmten beige-grauen Farbe. Und als Violet an sich hinuntersah, stellte sie fest, dass sie das Gleiche anhatte. Es war still, bis auf das Ticken einer großen Standuhr in der Ecke.
Im nächsten Moment hingegen herrschte Chaos. Alle Frauen schienen in Aufruhr, manche heulten mit ohrenbetäubendem Gekreische. Eine Frau lag zuckend auf dem Boden, die Hände zu Krallen verkrampft, Schaum vor dem Mund.
Dazu gab es Traumepisoden, in denen Violet allein war – in einem dichten Kiefernwald, in der wilden Moorlandschaft der Cairngorms – und sie stand ganz unbeweglich, konnte sich nicht rühren, so als wäre sie in ihrem eigenen Körper gefangen. Sie spürte Gefahr, wäre am liebsten weggelaufen, doch sie musste stocksteif verharren, wo sie war.
Violet wachte jedes Mal mit einem Druckgefühl in der Brust auf, als könnte sie nicht mehr atmen.
Irgendwann, gegen fünf Uhr morgens, gab sie auf. Sie ging ins Bad, dann zog sie sich an. Unten in der Küche machte sie sich einen starken Kaffee.
Gestern hatte sie vergessen, Cat danach zu fragen, ob es in diesem abgelegenen Cottage Internetzugang gab.
Probeweise machte sie ihren Laptop an und stellte fest, dass zumindest ein Netzwerk vorhanden war.
Im Wohnzimmer fand sie den Router mit seinen grün blinkenden Lämpchen und daneben auch das WLAN-Passwort.
Violet checkte ihre E-Mails, kümmerte sich ein bisschen um ihre Website und prüfte Zahlungseingänge.
Dann gab sie »George William Bellamy« in die Suchmaschine ein.
Nervös überflog sie die Ergebnisse.
Es gab tatsächlich etwas über den Doktor zu lesen. Bellamy war ein Engländer aus einer wohlhabenden Familie. Er hatte versucht, sich in staatlichen Anstalten als Oberarzt einen Namen zu machen, konnte aber anscheinend aufgrund seiner etwas zu progressiven Methoden nicht Fuß fassen. Dann hatte er mit privaten Mitteln Laggandhu House gegründet.
Violet fand es interessant, dass Bellamy als »Alienist« beschrieben wurde und beschäftigte sich mit dem Begriff, der im 19. Jahrhundert geprägt wurde. Er ging zurück auf die Idee, dass psychisch Kranke geistig von jeglicher Normalität und auch von der normalen Gesellschaft entfremdet waren. Der Alienist untersuchte und kümmerte sich um diese »Entfremdeten.« Das war zu einer Zeit, in der Psychiatrie und Psychologie noch in den Kinderschuhen steckten. Ja, der Begriff Psychiater, so las Violet, wurde erst im 20. Jahrhundert gebräuchlich. Mit den Theorien von Freud und Jung kam ein neues Gedankengut auf, das überhaupt erst psychologische Ursachen für geistige Krankheiten suchte, wohingegen vorher neurologische und physiologische Störungen für solche Leiden verantwortlich gemacht worden waren.
Bellamys Therapie, soweit Violet sich das in den kurzen Abschnitten über den Arzt im Internet zusammenreimen konnte, schien ein kurioser Mix aus alten und neuen Methoden gewesen zu sein. Sie las etwas über Gesprächstherapie, aber auch Hydrotherapie – sie verstand nicht mehr, als dass es etwas mit Wasser zu tun hatte. Dann fand sie einen weiteren interessanten Artikel über die psychiatrische Fotografie, in dem auf Bellamy verwiesen wurde, ohne näher auf seine Rolle in der Entwicklung dieses Therapieansatzes einzugehen.
Aber sie fand es faszinierend zu lesen, dass die Fotografie eingesetzt wurde, um die äußere Erscheinung von Krankheitsbildern festzuhalten. Man versuchte so, Erkrankungen auf empirische Weise zu typologisieren. Die Fotos halfen aber auch dabei, die Patienten mit ihrem Abbild zu konfrontieren und sie dazu zu ermutigen, Selbsterkenntnis über ihren Zustand zu gewinnen. So wurden ihr Selbstwertgefühl und der Wunsch nach Heilung gefördert.
Violet hatte gerade ihren Computer wieder zugeklappt und angefangen, Frühstück zu machen, als Cat herunterkam.
»Was hast du heute vor? Kommst du mit auf das Gelände?«, fragte Cat sie, nachdem sie gegessen hatten. Es war offensichtlich, dass ihre Freundin sie nicht drängen wollte, aber hoffte, dass Violet weiter mit nach etwaigen anderen Knochen suchen würde.
Violet kam um eine verbindliche Antwort herum, weil in diesem Moment Cats Handy klingelte.
»David, hallo!« Cat klang halb erfreut und halb nervös, aber im Laufe des Gesprächs hellte sich ihr Gesicht merklich auf.
Nachdem sie aufgelegt hatte, rief sie: »Die Knochen sind mindestens hundert Jahre alt. Es wird keine polizeilichen Ermittlungen geben.«
»Aber es werden doch weitere Untersuchungen gemacht, oder?«, fragte Violet.
»Ja klar. Trotzdem sind das gute Nachrichten. Stell dir mal die Presse vor, wenn es ein jüngerer Massenmord gewesen wäre, mit aktiven Ermittlungen und der Suche nach dem Mörder. Ich bin wirklich froh, um so etwas herumzukommen.«
»Schon komisch«, meinte Violet nachdenklich. »Als ob es das weniger schlimm macht, dass ein etwaiger Mörder mittlerweile schon eines natürlichen oder anderen Todes gestorben ist … Für die Opfer, meine ich. Sie haben ja deshalb nicht weniger verdient, Gerechtigkeit zu erlangen.«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Cat versöhnlich. »Aber so sind die Menschen nun mal. Von einem Mörder, der vielleicht noch da draußen herumläuft, hat man etwas zu befürchten. Er könnte weiterhin anderen etwas antun. Von dem geht eine Gefahr aus.«
»Klar.«
»Und wir wissen ja immer noch nicht, ob es sich um einen Massenmord handelt. Wer weiß, wie die Knochen in den See gekommen sind. David muss erst noch die Todesursachen feststellen.«
Violet nagte auf ihrer Unterlippe herum. »Meinst du nicht, die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es sich um Leichen aus der Zeit handelt, als Laggandhu House aktiv betrieben wurde?«
»Das kann durchaus sein.«
»Ich würde gerne mehr über diese Zeit herausfinden. Und über den Arzt, Dr. George Bellamy, der die Klinik gegründet hat. Wer könnte wohl Informationen darüber haben?«
»Ich wette, David könnte dir dabei helfen. Er hat mir gesagt, er muss für seine Untersuchungen auch den Kontext der Funde recherchieren. Dazu gehört die Geschichte der Klinik, denn wie du schon richtig gesagt hast, war das die Zeit, in der überhaupt Menschen in der Nähe des Fundortes gelebt haben.«
Violet verzog das Gesicht. Sie freute sich nicht darauf, noch einmal mit dem Mann zu sprechen, der ganz offensichtlich nicht sehr viel von ihr hielt.
Gleichzeitig wollte sie sich aber auch nicht von dem arroganten Dr. Bennett einschüchtern lassen.
Und die Informationen, die sie im Internet gesammelt hatte, machten Violet sehr neugierig. Eigentlich hatte sie heute wieder nach Hause fahren wollen, aber sie beschloss, noch einen Tag zu bleiben und mehr über die Klinik herauszufinden.