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Eine, die Mut macht: Deutschlands bekannteste Notärztin über den Wert des Zuhörens Mit ihrer zupackenden Art hat sie im Fluchtsommer 2015 und während der Pandemie das ganze Land bezaubert. Ihre Patient*innen wissen indes schon lange, was sie an Lisa Federle haben: eine Ärztin, die hinschaut, wenn sich andere abwenden, die nachfragt, wenn dem Gegenüber die Worte fehlen. In ihrem neuen Buch fasst Lisa Federle die großen gesellschaftlichen Probleme an, die ihr in ihren Jahrzehnten als Ärztin täglich begegnen: Einsamkeit, Sucht, Demenz, Angst, Depression, Burn-out, von den psychosomatischen Folgen persönlicher Krisen nicht zu schweigen. All diese Leiden hängen zusammen und lassen sich durch Medikation oft nur lindern, nicht aber heilen. Doch indem wir wieder lernen einander zuzuhören, können wir die Probleme an ihrer Wurzel packen. Anhand ihrer eigenen turbulenten Berufs- und Lebenspraxis zeigt Lisa Federle, wie solch ein rücksichtsvolles Miteinander aussehen könnte. »Menschen wie sie bilden den Kitt in unserer Gesellschaft – und das nicht nur in Krisenzeiten.« Bundespräsidialamt
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2023
Dr. med. Lisa Federle
mit Isabelle Müller
Wie uns gute Beziehungen stark machen
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Mit ihrer zupackenden Art hat sie im Fluchtsommer 2015 und während der Corona-Pandemie das ganze Land bezaubert. Ihre Patient*innen wissen indes schon lange, was sie an Lisa Federle haben: eine Ärztin, die hinschaut, nachfragt und seit vielen Jahren ihre Schicksale und Lebensträume begleitet.
In ihrem neuen Buch spricht Lisa Federle über die Probleme, mit denen sie täglich konfrontiert wird. Dazu gehören Einsamkeit, Demenz, Angst, Depression, von den psychosomatischen Folgen persönlicher Krisen ganz zu schweigen. Nicht selten aber sind auch Liebesbeziehungen Ursache für gesundheitliche Krisen - und die Scham, darüber zu sprechen, ist bei den Betroffenen groß. Denn allzu oft geht es um Dinge, die über das persönliche Schicksal hinaus auch gesellschaftliche Fragen betreffen.
So erzählt Lisa Federle von einer Frau, die 30 Jahre als Schattenfrau eines verheirateten Mannes scheinbar ihre Erfüllung findet und große Zugeständnisse macht. Doch das ständige Hoffen, die Einsamkeit und die vielen Lügen finden eines Tages ein schmerzhaftes Ende. Hier wie in vielen anderen Geschichten dieses Buches wird klar, wie sehr gesellschaftliche Konventionen ein Leben belasten und krank machen können. Doch Lisa Federles Erfahrungen machen Hoffnung: Jede und jeder kann einen Weg zum persönlichen Glück finden!
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Prolog
Nächtliche Erlebnisse
Lebenskraft
Alltag
Der Preis für die besten Jahre
Ein uneinsichtiger Patient
Schönheit liegt im Auge des Betrachters
Kompensationsmechanismus
Weihnachten
Ein Leben im Wartemodus
Unabsehbare Belastungen
Ein grausamer Zwiespalt
Ausgebrannt
Dr. med. Google
Entsorgungsprobleme
Ein bescheidener Tag …
Lebenseinstellung
Hürdenlauf
Eine gute Entscheidung
Ein wunderschöner Tagesbeginn
Das Leid der Frauen
Fragen über Fragen
Balsam für die Seele
Kurs Richtung Selbstzerstörung
Das Alibi
Leben ist eine prima Alternative
Leben im Paradies
Der Kurschatten, oder wie weit geht Verantwortung?
Osterüberraschung
Berührungsängste
No Sports
Immer wieder: Einsamkeit
Ein mühsamer Weg
Prioritäten setzen
Eine schwere Rolle
Mit dem Tod ist nicht zu spaßen
Große Irrtümer und einfache Wahrheiten
Ein überraschender Besuch
Wichtige Lektionen
Das Mülleimersyndrom
Ein unerwartetes erwartetes Ende
Abschied im Schatten
Die andere Seite der Medaille
Herausforderungen
Neue Wege
Judiths Neuer
Zusammenhalt
Ansteckungsgefahr
Nüchtern betrachtet
Aus der Krise geboren
Schwerwiegende Probleme
Die Angst vor der Angst
Heimsuchungen und Hausbesuche
Kindertag oder die Auseinandersetzung mit dem Tod
Kleine Alltagsgeschichten
Das Leben, ein Auf und Ab
Das Leben kann so schön sein
Eine willkommene Normalität
Dank
Mut machen! Das war der Antrieb, ein Buch über mein Leben zu schreiben. Wenn eine zeitweise alleinstehende Mutter mit vier Kindern und ohne Schulabschluss es schafft, auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur zu machen, Medizin zu studieren und leitende Notärztin zu werden, dann mag dieses Beispiel anderen ein Ansporn sein. Vielleicht wurde das Buch deshalb zum Bestseller. Damit hatte niemand gerechnet, was nun wiederum mir Mut machte, ein zweites Buch zu schreiben, das Sie nun in Händen halten.
Abermals geht es um wahre Geschichten, die ich entweder in meinem ärztlichen Alltag oder meinem Bekannten- und Freundeskreis erlebt habe.
Es sind bewegende, aufrüttelnde, verblüffende, ernste und bisweilen auch heitere Geschichten. Alles ist echt, allerdings nicht immer originalgetreu, sondern meist verfremdet. Um die Persönlichkeitsrechte Dritter zu wahren, habe ich manchmal unterschiedliche Erlebnisse zu einem Erzählstrang zusammengefügt. Zudem habe ich Namen, Altersangaben, Berufe und Orte verändert, um die Anonymität aller Beteiligten zu gewährleisten. Dies hat nicht nur mit ärztlicher Schweigepflicht zu tun. Mir liegt nichts ferner, als das Vertrauen meiner Patienten, Bekannten oder Freunde zu enttäuschen.
Egal, womit und mit wem ich mich bei der Arbeit auseinandersetzen muss, ich bedauere keine Sekunde, Ärztin geworden zu sein, auch wegen der vielen Herausforderungen, die dieser Beruf mit sich bringt. Die Geschichten hinter den Menschen, die mir dabei begegnen, sind bemerkenswert vielfältig, interessant und komplex. Dies ist auch einer der Gründe, warum mich der Zusammenhang von seelischen Ereignissen und den körperlichen Reaktionen darauf so fasziniert und ich, zusätzlich zu meiner Notarztausbildung, eine psychosomatische Weiterbildung absolviert habe. Mich interessiert, wie psychische Belastungen körperliche Beschwerden auslösen oder verstärken können.
Meine Arbeit ist breit gefächert. Richtig zuzuhören gehört zur allerersten Aufgabe eines guten Arztes, um nicht nur die Symptome zu bekämpfen, sondern auch die meist vielschichtigen Ursachen zu ergründen, sie beheben und das Risiko neuerlicher Beschwerden vermindern zu können.
In diesem Buch geht es hauptsächlich um Beziehungen – ein Thema, das jeden von uns betrifft. In meinem Beruf als Haus- und Notärztin bin ich freilich auch mit den schmerzlichen Folgen menschlicher Beziehungen konfrontiert. Mit krankhafter Eifersucht, die zu Exzessen führt. Mit Vereinsamung. Mit Depressionen.
So unterschiedlich die Menschen sind, so vielfältig sind ihre Beziehungen.
Sind die vermeintlich guten alten Zeiten der »Ehe bis ans Lebensende« wirklich längst vergangen? Was sagen die Scheidungsraten dazu? Monogamie und Treue werden neu gedacht und anders gelebt als im vorigen Jahrhundert. Der Verlust starrer Regeln geht nicht selten mit zunehmender Unsicherheit einher. Neue Freiheiten sorgen für neues Glück, doch bisweilen auch für neues Leid.
Da gibt es jene Frau, die seit Jahrzehnten ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat und sich einfach ihrem Schicksal fügt, was für Außenstehende kaum nachvollziehbar erscheint. »Liebe wird aus Mut gemacht«, heißt es in einem Hit, aber nicht jeder hat tatsächlich auch immer den Mut, gut zu handeln – sei es für sich selbst oder für den Partner oder gar Dritte. In manchen Fällen übernehmen Feigheit und Bequemlichkeit oder auch die Angst vor dem Alleinsein die Regie. Was geschieht, wenn der heimliche Partner dieser Schattenfrau schwer erkrankt und die Welt der Schattenfrau zusammenbricht?
Dieses Buch möchte aber mehr sein als eine Sammlung von Beziehungsgeschichten: Es ist ein Kaleidoskop über die (Un-)Möglichkeit von menschlichen Beziehungen jeglicher Art, in dessen Geschichten sich so manche und mancher wiederfinden dürfte. Ich erzähle, wie ein Friedhofsbesuch in Griechenland endet, warum heiraten ansteckend sein kann, warum eine Handtasche ein Drama auslösen kann, weshalb man ein Kind nicht auf der Toilette zur Welt bringen sollte und manches andere mehr.
Es geht im Kern darum, zu erkennen, wie wichtig das Zuhören ist. Ein offenes, verständnisvolles Ohr löst oft mehr Probleme als aller Sachverstand – das gilt für jede Art von Beziehung, egal, ob es die Kinder, den Partner, den oder die Geliebte, einen Patienten, eine Kollegin oder die Freunde betrifft.
Nicht nur als Ärztin oder Freundin, sondern als Mensch versuche ich stets, mich in die Lage anderer Menschen hineinzuversetzen und eigene Erfahrungen einzubringen. Um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, die kleinen Glücksmomente im Leben nicht zu übersehen, weil man auf größere wartet. Um die Bedeutung des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft zu betonen. Um gute Wege aus Krisen zu finden und zufriedener durch das Leben zu gehen, indem man fürsorglich auch mit sich selbst umgeht.
Man muss schließlich nicht Medizin studiert haben, um all das zu erreichen.
»Liebe braucht man wie die Luft zum Atmen«, diesem Graffiti aus meiner alten Studentenkneipe Boulanger folgend, wird das Buch hoffentlich zu geistigen Atemübungen und neuen Gedanken anregen. Denn schließlich schreibt das Leben die besten Geschichten.
Am Ende sollten Sie sagen können, dass Sie erkannt haben, wie sehr gutes Reden und Zuhören Beziehungen stärkt und gleichzeitig den eigenen Horizont erweitert.
Was hätte ich bloß dafür gegeben, den schrillen Ton des Weckers an diesem frühen Herbstmorgen aus meinem Kopf zu verbannen! Es war sechs Uhr dreißig, eigentlich eine normale Zeit für Berufstätige, um aufzustehen. Doch an diesem Morgen war nichts normal. Ich hatte gerade eine harte Nacht hinter mir und fühlte mich wie gerädert.
Seit über zwanzig Jahren schon stand mir das kleine Zimmer im DRK-Gebäude wie ein zweites Zuhause zur Verfügung. Es war spartanisch eingerichtet, als müsse ich ständig daran erinnert werden, wie anstrengend und manchmal auch hart der Dienst als Notärztin ist. Im Kleiderschrank gab es keine Kleiderbügel, nur Fächer, macht nichts. Es war schließlich nur ein Schlafplatz für zwischendurch. Die Schichten dauerten 12 oder 24 Stunden, und in den letzten zwei Jahrzehnten war es nur ein einziges Mal vorgekommen, dass es keinen Einsatz gab.
So schlief ich jedes Mal, wenn ich Notarztdienst hatte, in meiner Dienstkleidung auf dem schlichten Bett aus hellbraunem Kiefernholz, das mich an früher erinnerte, als ich noch sehr bescheiden lebte. Auf der weichen Matratze versank man geradezu, und ich hoffte den Dienst ohne Rückenschmerzen oder sonstige Gebrechen zu überstehen.
Ein Glas stilles Wasser stand neben meinem Handy, meiner Lesebrille und dem Melder auf dem Nachttisch. Jederzeit könnte er mit seinem durchdringenden Ton losgehen. Letzte Nacht war das zuletzt um drei Uhr morgens der Fall gewesen. Die Durchsage lautete: »Frau mittleren Alters – Reanimation«.
Schlagartig war ich wach. Wie vorgeschrieben, zog ich meine Sicherheitsschuhe an. Draußen wartete der Rettungsassistent schon im Notarztwagen auf mich. Los ging’s. Kein Mensch war um diese Uhrzeit unterwegs, außer uns. Gemeinsam mit dem Rettungswagen erreichten wir schnell den Einsatzort.
Mit Koffern und EKG beladen, eilten wir in die Wohnung im ersten Stock. Im Wohnzimmer bot sich uns ein bizarres Bild. Auf dem Teppichboden konnte man unter einer grauen Decke die Umrisse eines Körpers erkennen. Drum herum knieten zwei dunkel gekleidete Frauen auf dem Boden. Daneben stand ein unrasierter, wild gestikulierender Mann mittleren Alters. Alle hatten ein südländisches Aussehen. Die Frauen waren verschleiert und starrten mich aus angsterfüllten, dunklen Augen an. Der Mann hatte ebenfalls dunkle Augen, deren Ausdruck ich nicht deuten konnte. Die wilden, braunen Locken unterstrichen seine markanten Züge. Unaufhörlich schrie er aufgebracht: »Meine Frau ist tot! Meine Frau ist tot! Machen Sie was!«
Stöhnend und kreischend warfen sich die Frauen mit ihren Oberkörpern abwechselnd auf die Decke.
Ich bedeutete den Frauen, Platz zu machen, um unter die Decke schauen zu können. Als ich die wegzog, kam eine Frau zum Vorschein – ihr Alter schätzte ich auf Mitte vierzig.
Ich sah sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich kaum wahrnehmbar. Ihr Puls war gut tastbar, und ihre Augenlider zitterten fast unmerklich, als ich sie ansprach. Was war hier los?, fragte ich mich.
In dem ganzen Geschrei und Getöse stellte sie sich tot, während ihr Mann brüllend hinzufügte: »Wir hatten Streit, und jetzt ist meine Frau wegen mir gestorben!«
Ich merkte schnell, dass ich so nicht weiterkam, und bat Georg, meinen Rettungsassistenten, sie alle nach draußen zu bringen.
»Ihre Frau ist definitiv nicht tot. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, beruhigte ich den Mann. »Ich werde Ihre Frau jetzt untersuchen und in Ruhe mit ihr reden.«
Mit aufgerissenen Augen starrten mich alle drei an, als hätte ich gerade ein Wunder vollbracht und die Totgeglaubte ins Leben zurückgeholt. Mit offenem Mund verstummten sie schlagartig, während Georg sie sanft, aber bestimmt aus dem Zimmer bugsierte.
Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, setzte sich die Frau kerzengerade auf und sah mich an. Routiniert begann ich mit den üblichen Untersuchungen, während ich sie fragte, was ihr denn fehle. Sie begann zu schluchzen und stammelte voller Empörung: »Mein Mann hat andere Frau. Er lügt. Ist abends immer weg. Und ich zu Hause immer alleine mit Kindern. Habe keine Freundin. Niemand mir helfen.«
Spontan fragte ich: »Und warum stellen Sie sich tot und lassen die anderen den Notarzt rufen?«
»Ich wollen meine Mann Angst mache.«
Ungläubig sah ich sie an. Einerseits verstand ich ihre Situation. Die Frau sorgte sich um ihre Ehe und machte etwas durch, das sie überforderte. Dass Menschen in Ausnahmesituationen manchmal durchdrehen und unerklärliche Dinge tun, war für mich nichts Neues. Sie tat mir leid. Andererseits ging es gar nicht, dachte ich, nachts um drei ein Notarztteam wegen Eheproblemen rufen zu lassen, geschweige denn, den eigenen Tod vorzutäuschen! Ganz abgesehen von den hohen Kosten, die dadurch entstehen, bestand die Gefahr, kostbare Zeit für einen potenziellen nächsten Einsatz, bei dem es um Leben und Tod geht, zu verlieren.
Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich mich jetzt ärgern oder die Empathie in dieser seltsamen Komödie siegen lassen? Wie verzweifelt musste ein Mensch sein, um zu solchen Mitteln zu greifen?
Nach der Untersuchung ließ ich die Familie wieder hereinkommen. Die Frauen hatten sich die Tränen abgewischt und lächelten jetzt etwas verlegen, als der Mann seine Frau freudestrahlend umarmte und mit lauten Liebesbekundungen überschüttete, als sei nichts gewesen. Ziel erreicht! Meine Patientin schien darüber entzückt und kicherte. Es war verrückt. Um dem Paar trotzdem weiterzuhelfen, führte ich, bevor ich ging, noch ein längeres Gespräch mit den beiden. Ich empfahl ihnen, gemeinsam eine Eheberatung in Anspruch zu nehmen.
Bei diesem nächtlichen Einsatz zeigte sich wieder einmal, wie psychosomatische Beschwerden ihren Lauf nehmen. Am Anfang stehen Probleme, die nicht lösbar scheinen und zu merkwürdigen Verhaltensweisen führen. Aber irgendwann schlägt es um, und die Krise zeigt sich auch in körperlichen und seelischen Krankheitssymptomen.
Ob die Eifersucht dieser Frau grundlos war oder nicht, vermochte ich nicht zu beurteilen. Bei dieser Patientin hatte ich keinerlei Anzeichen für körperliche Misshandlungen feststellen können. Für mich war die Frau nur sehr einsam. Sie kümmerte sich tagtäglich um ihre Kinder und hatte wenig Kontakt zur Außenwelt. Im Gegensatz zu ihrem Mann konnte sie sich nur schwer verständigen. Vermutlich kam noch Heimweh dazu, was am Ende dazu führte, dass ihre eigenen Bedürfnisse komplett untergingen. Sie war vollkommen von ihrem Mann abhängig und lebte ein unerfülltes Leben.
Ob ihr Mann tatsächlich Überstunden machte und deshalb spät nach Hause kam oder sich, wie von seiner Ehefrau behauptet, anderswo auslebte, hatte ich in dieser Nacht nicht herausfinden können. Es spielte für mich auch keine Rolle. Dennoch schweiften meine Gedanken ab, und mir kamen die verschiedenen Beziehungskonstellationen in den Sinn, mit denen ich bisher als Ärztin und in meinem privaten Umfeld immer wieder konfrontiert wurde.
Meine Ablösung war da und wartete im Aufenthaltsraum auf mich. Ich fuhr mir noch schnell mit dem Kamm durch die zerzausten Haare und putzte mir die Zähne. Aus dem Spiegel schaute mir mein müdes Gesicht entgegen. Der letzte Notfall war noch sehr präsent.
Ich überreichte meinem Kollegen den Melder, machte eine kurze Übergabe und stieg in mein Auto. Die Arbeit in der Praxis wartete auf mich.
Bevor ich in die Praxis ging, wollte ich noch kurz mit meinem jüngsten Sohn Jonathan frühstücken. Zu dieser Zeit studierte er BWL, wie Benjamin, mein ältester Sohn, und Simone, meine Tochter, es auch getan hatten. David, ein weiterer Sohn von mir, schlief noch. Er studierte Medizin in Ulm und war ebenfalls für ein paar Tage nach Hause gekommen. Obwohl nur wenig Zeit blieb, um miteinander zu reden, war mir die gemeinsame Zeit mit meinen Kindern immer kostbar.
Diese Alltagsroutine gab mir nicht nur das Gefühl, ihnen nahe zu sein und ein normales Familienleben zu führen. Sie half mir auch, mein schlechtes Gewissen, zu wenig Zeit für sie zu haben, etwas zu beruhigen, und schaffte gleichzeitig ein enges Verhältnis. Wichtig für mich war aber auch der Austausch, um eigene dramatische Erfahrungen zu verarbeiten und das Gefühl zu bekommen, auch ein Stück intakte Welt zu erleben und neue Kraft zu schöpfen.
Eigentlich wollte ich nur noch kurz frisches Gemüse und ein bisschen Obst auf dem Markt holen. Ich mochte das geschäftige Treiben und das bunte Leben so früh morgens auf dem Tübinger Marktplatz. Freitags waren immer besonders viele Stände da. Auf dem Weg dorthin klingelte mein Handy. Es war meine Freundin Heike. Seit der Erkrankung ihres Mannes Gregor war ich immer ein bisschen besorgt, wenn ihr Name auf dem Display erschien. Vor einigen Jahren hatte ein Kollege von mir bei ihm Leukämie diagnostiziert. Ein Zufallsbefund bei einer Routineuntersuchung. Sein Blutbild hatte Auffälligkeiten gezeigt. Gleich nachdem die beiden die schlimme Nachricht aufgenommen hatten, waren sie zu mir gekommen, um sich weiteren Rat zu holen.
Füreinander da zu sein, nicht nur auf der ärztlichen, sondern auch auf der zwischenmenschlichen Ebene, besonders in einer schweren Situation, gehört zu einer echten Freundschaft dazu. Zu wissen, dass man mit seinem Schicksal nicht allein gelassen wird, gibt Kraft und Hoffnung für den weiteren Weg.
Auch wenn mich einiges mit Heike verband, hatten wir teilweise völlig unterschiedliche Ansichten, besonders wenn es um Partnerschaften ging. Da konnte sie ziemlich rigoros und stur sein. Ich wusste, dass sie meine Beziehung mit einem verheirateten Mann nicht guthieß. Sie hatte mir das in den letzten Jahren immer wieder unter die Nase gerieben und nie verstehen können, warum ich nicht längst auf die Scheidung seinerseits gedrängt hatte, um endlich klare Verhältnisse zu schaffen. Deshalb hatte ich mich in unseren Gesprächen meistens zurückgehalten, wenn es um diese Themen ging.
»Ich hoffe, ich störe nicht, Lisa, und wollte nur fragen, ob wir zusammen ein Geschenk für Sabine besorgen sollen. Was hältst du von einem Seidentuch?« Bevor ich zu Wort kam, fuhr sie fort: »Kommst du allein oder kommt der mit?« An ihrem Unterton hörte ich schon wieder heraus, dass sie es bevorzugte, wenn ich allein käme, und insgeheim ärgerte es mich. Es machte aber keinen Sinn, wieder mit ihr darüber zu diskutieren.
»Super Idee! Es wäre toll, wenn du das besorgen könntest. Das Geld gebe ich dir, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Übrigens, ich komme weder zu zweit noch allein, ich komme gar nicht«, antwortete ich. »Ich habe morgen Abend eine Sitzung beim DRK, und da ich dort Präsidentin bin, muss ich auch hin.«
»Alles klar, besorge ich gern! Gregor kommt natürlich auch mit, du weißt ja, wir machen immer alles zusammen.«
Für den Markt reichte es mir leider nicht mehr. So holte ich nur frische Brezeln beim Bäcker und beeilte mich. Jonathan war noch ein paar Tage bis zum Ende der Semesterferien da.
»Wie war die Nacht, Mama?«, empfing er mich liebevoll.
»Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Heute Nacht bin ich tatsächlich als Notärztin wegen eines Ehestreits aus dem Bett geholt worden. Ich kann es immer noch nicht fassen. Aber was es nicht alles gibt.« Ich schilderte ihm kurz den Einsatz.
Danach erkundigte ich mich nach seinen Plänen für den Tag. Wir verabschiedeten uns mit einer festen Umarmung. Er ging in sein Zimmer, um sich auf eine Klausur vorzubereiten, ich ging unter die Dusche. Mit geschlossenen Augen ließ ich das warme Wasser lange an mir herunterlaufen und genoss das Gefühl, damit die nächtlichen Erlebnisse abzuspülen. Der Tag konnte beginnen.
Es war nicht das erste Mal, dass ich mit komplizierten und schwierigen Beziehungskrisen konfrontiert wurde, sowohl in meiner Tätigkeit als Ärztin in meiner Praxis als auch im privaten Bereich. Es gibt viele Erkrankungen wie Depressionen, Angstzustände, Essstörungen, nur um einige zu nennen, die seelisch bedingt sein können und auf unbewusste Konflikte wie partnerschaftliche Probleme zurückzuführen sind.
Diese Krankheitsbilder können durch Einsamkeit, Existenzängste wegen des Verlusts des Partners, des Arbeitsplatzes oder auch durch politische Konflikte, gar Krieg ausgelöst werden. Gerade in den letzten Jahren war und ist unsere Gesellschaft wiederholt mit Krisensituationen wie der Coronapandemie, dem Klimawandel, der Energiekrise oder der Inflation konfrontiert. Der Ukrainekrieg und die Angst vor einem Atomkrieg kommen noch hinzu. Jedes Mal wird nicht nur der gesellschaftliche Zusammenhalt auf die Probe gestellt, sondern auch die seelische Widerstandsfähigkeit der Menschen.
Krisen machen Angst. Angst und Stress führen zur Ausschüttung von Adrenalin, was auf Dauer zu erhöhtem Blutdruck und anderen gesundheitlichen Belastungen führen kann.
In Zeiten wie diesen herrscht Hochbetrieb in den Arztpraxen – auch in meiner.
Im Lauf meiner beruflichen Tätigkeit als Ärztin fiel mir auch auf, dass sich das Zusammenspiel von seelischen Belastungen und körperlichen Reaktionen in Beziehungskrisen besonders gut erkennen lässt. Regelmäßig habe ich es mit Patienten zu tun, die eine schwere Lebensphase durchmachen und mit ihren Kräften am Ende sind. Frauen, die Opfer eines Betrugs in der Beziehung sind oder umgekehrt mit ihrer Rolle als Ehefrau oder Geliebte nicht mehr klarkommen. Männer, die sich ihren Ehefrauen nicht öffnen, weil sie selbst zu schwach sind oder nicht genug Selbstvertrauen besitzen oder sich schämen. Andere, die ihre Ehefrau betrügen, obwohl sie sie lieben und nicht im Traum daran denken, sie zu verlassen.
Jede gesellschaftliche Schicht ist vertreten, und immer wieder kann ich beobachten, wie jeder einzelne Mensch auf seine eigene Art mit Gefühlen umgeht oder eine neue Herausforderung anpackt oder auch nicht.
Entsprechend sind die Geschichten, die diese Menschen zu erzählen haben, und auch ihre Schicksale sehr unterschiedlich. Die meisten von ihnen kommen in die Praxis und suchen Rat, manchmal auch Seelenfrieden, vor allem aber möchten sie in einer gesunden Balance leben und ihre Sehnsucht nach etwas Glück im Leben stillen.
Als Ärztin und Person ihres Vertrauens versuche ich zunächst einmal zuzuhören, um dann so sachlich und differenziert wie möglich herauszufinden, womit sie innerlich und oft unbewusst zu kämpfen haben, was sie wirklich belastet und sie krank macht, um ihnen anschließend helfen zu können. Ich mache mir immer wieder bewusst, dass jeder Patient seine eigene Geschichte mitbringt, jeder Fall unterschiedlich ist und empfunden wird, auch unterschiedlich behandelt werden muss. Es gibt keine Lösung für alle, kein klares Richtig oder Falsch. Wichtig ist, eine empathische Beziehung zum Patienten aufzubauen und sich in ihn hineinzuversetzen, wobei die langjährige Erfahrung von Vorteil ist. Oft sagen mir Patienten, dass sie froh sind, mit mir über alles reden zu können. Und mir gibt es sehr viel, diesen Menschen helfen zu können.
An dieser Stelle möchte ich noch die Bedeutung einer guten Kommunikation betonen. Ich bin keine Halbgöttin in Weiß, zu der man aufblickt, sondern ein Mensch, der mit beiden Füßen auf dem Boden steht, in Jeans und Pullover. Ich versuche immer, mich auf Augenhöhe mit meinen Patienten zu unterhalten. Wenn einer von ihnen medizinische Begriffe oder schwierige Redewendungen nicht versteht, passe ich meine Wortwahl an. Wenn Menschen eher eine bildliche Sprache benutzen, beschreibe ich in Bildern, was ich ihnen sagen möchte. Ist jemand ängstlich oder misstrauisch, versuche ich mich in die Person hineinzuversetzen. Oder ich gehe auf mich zurück und erzähle, dass ich Ähnliches erlebt habe. Auf diese Weise schaffe ich Bindung und Vertrauen und kann vermitteln, dass ich genau weiß, wovon ich rede. Diese Kompetenz habe ich mir über die Jahre erarbeitet. Im Medizinstudium kommt sie leider zu kurz.
Wenn ich einem Patienten gegenübersitze, habe ich stets eine Aussage von Peter Ferdinand Drucker, einem US-amerikanischen Unternehmensberater österreichischer Herkunft, im Hinterkopf, die lautet: »Das Wichtigste in der Kommunikation ist, das zu hören, was nicht gesagt wurde.« Ich würde ergänzen: »… und natürlich auch das, was gesagt wurde, und dann beides zu verbinden.«
Wenn etwas ist, melden Sie sich sofort bei mir. Über das Handy können Sie mich jederzeit erreichen«, sagte ich. »Ansonsten machen Sie bitte einen Termin an der Rezeption für nächste Woche zur Urinkontrolle.«
Die junge Frau nickte dankbar und steckte das Rezept in ihren Rucksack. Sie gehörte zu den Patientinnen, mit denen ich nicht zu sehr in die Tiefe gehen musste, um sie erfolgreich behandeln zu können. Sie hatte eine leichte Blasenentzündung, die sie sich auf einer Party von einer Studentenverbindung geholt hatte. Ich dachte, zum Glück bin ich aus dem Alter raus, um aus Eitelkeit frieren zu müssen und mir eine Blasenentzündung zuzuziehen. Ich ging davon aus, dass sie es sich draußen geholt hatte. Solche Infekte kann man sich ja durchaus auch beim zwischenmenschlichen Näherkommen einfangen. Es war also nichts Besorgniserregendes.
Wir verabschiedeten uns. Die Uhr an meinem Handgelenk zeigte halb neun. Die Praxis war normal besetzt. Ich war einigermaßen entspannt. Kein Notarztdienst mehr, kein Wettlauf gegen die Zeit, in der jede Sekunde zählt und über Leben und Tod entscheidet. Bei meiner Tätigkeit weiß man allerdings nie so recht, was der Tag noch mit sich bringen wird. Das ist auch der Grund, warum ich, wenn ich Sprechstunde habe, mich, so gut es geht, in Gelassenheit übe und die Dinge einfach auf mich zukommen lasse. Dem Anschein nach konnte ich mir nun richtig Zeit für meine Patienten nehmen.
Die nächste Patientin war Judith. Sie kam zur Tetanus-Auffrischungsimpfung, und ich freute mich richtig auf sie. Obwohl wir befreundet waren, hatte ich sie einige Zeit nicht gesehen. Es kam immer wieder vor, dass ich mehrere Wochen gar keine Zeit für meine Freunde hatte, weil ich mehr oder weniger rund um die Uhr als Ärztin und mit meinen Ehrenämtern beschäftigt war und auch noch meine Familie hatte. Trotzdem versuchte ich immer für meine Freunde da zu sein.
Judith betrat das Zimmer, hübsch und elegant hergerichtet wie immer, eine schwarze Markenhandtasche hielt sie fest in der rechten Hand. Über ihr durchaus markantes Gesicht huschte ein Lächeln, als sie mich sah, aber ich erkannte sofort, dass sich dahinter eine gewisse Traurigkeit verbarg. Ihre tiefe Blässe im Gesicht, die der rote Lippenstift besonders hervorhob, ließ mich kurz erschrecken und erinnerte mich wieder an unsere erste Begegnung vor ungefähr zehn Jahren.
Damals, wie fast jedes Wochenende, hatte der Wecker um sechs Uhr geklingelt und mich jäh aus dem Schlaf gerissen. Draußen war es noch dunkel und neblig, Spätherbst … Ich duschte, schlüpfte in Jeans und Pullover und trank gemütlich meinen Milchkaffee. Das Frühstück ließ ich meistens ausfallen. Anschließend meldete ich mich bei der Leitstelle zum Notdienst. An diesem Tag vertrat ich meine niedergelassenen Kollegen und wartete auf Anrufe der Rettungsleitstelle, die mir die Hausbesuche für die kranken Patienten durchgeben sollte.
Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, ein Hausbesuch nach dem anderen fiel an. Mein Sohn David begleitete mich. Er fuhr das Auto und half mir, die Patienten aufzunehmen, Blutdruck zu messen, und unterstützte mich bei meinem Dienst. Ich war froh, nicht alles allein machen zu müssen. Er war zu dieser Zeit durch seine Ausbildung zum Rettungsassistenten sehr sachkundig und damit eine große Hilfe.
Wir standen vor einem unscheinbaren, fabrikähnlichen Haus und suchten die Klingeln nach dem Namen »Gärtner« ab. Im ersten Stock befand sich eine Anwaltskanzlei mit diesem Namen. Aber das oberste Schild trug denselben Namen, also entschieden wir uns für die oberste Klingel. Trotz des dörflichen Charakters befanden wir uns in einem Gewerbegebiet. Während wir auf das Öffnen der Tür warteten, ging mir kurz durch den Kopf, was eine Anwaltskanzlei wohl inmitten eines Gewerbegebiets machen würde. Der Summer ertönte. Wir stiegen die Treppen der vier Stockwerke hoch. Das Treppenhaus machte einen schäbigen Eindruck, ein neuer Anstrich hätte ihm sicherlich gutgetan. Oben angekommen, öffnete uns eine schätzungsweise fünfzig Jahre alte Frau mit dunklen Haaren. Sie trug einen weißen Bademantel. Im Gegensatz zum Treppenhaus machte sie einen sehr gepflegten Eindruck.
»Guten Tag«, sagte sie, »kommen Sie bitte rein, mir ist total übel und schwindelig.« Sie war kalkweiß und sah richtig krank aus. Trotzdem hatte sie sich noch zurechtgemacht, und ihre Lippen schimmerten rot.
»Bitte legen Sie sich wieder hin, wir untersuchen Sie dann in Ruhe«, bat ich sie. Wir betraten das Schlafzimmer. Die gesamte Wohnung war in Weiß gehalten. Kunstwerke hingen an den Wänden, und der Marmorboden glänzte in Grautönen. Die Wohnung war traumhaft eingerichtet, geschmackvoll und edel, aber ich spürte sofort, dass hier irgendwie die Seele fehlte. Ich vermisste die Dinge, die ein gemütliches Wohnen ausmachten. Keine Blumen, keine persönlichen Dinge. Diese Räume erinnerten mich an Wohnungen, die ich aus Katalogen kannte und die zur Ausstellung dienten. Nicht mal ein Buch lag auf dem Nachttisch oder irgendein Gegenstand, ein Wecker, Tempo-Taschentücher, oder was sonst so auf Nachttischen liegt oder rumsteht.
Während ich die Frau untersuchte, lag sie ganz still auf dem Bett und machte auf mich einen traurigen, einsamen Eindruck. Seit mehreren Tagen fühlte sie sich nicht wohl und hatte sich jetzt dazu durchgerungen, einen Arzt zu rufen. Beim Untersuchen fiel mir auf, dass sie einen Nystagmus hatte. Das bedeutete, dass bei einer bestimmten Bewegung ihre Augen unkontrolliert zitterten. Außerdem wurde ihr sofort wieder übel, und Schweiß lag ihr auf der Stirn. Ich ahnte schnell, was mit ihr los war, wollte aber zuerst noch in Ruhe alle meine Untersuchungen durchführen. Ihr Blutdruck war okay, der Bauch weich, kein Durchfall, kein Fieber, und wenn sie sich nicht bewegte, war sie fast symptomfrei.
»Haben Sie auf einem Ohr ein Geräusch oder hören schlechter als sonst? Und hatten Sie viel Stress in letzter Zeit?«
Sie nickte mit dem Kopf und zeigte auf ihr rechtes Ohr. Seit zwei Tagen hatte sie einen leichten Tinnitus, der in der Nacht etwas stärker geworden war.
»Ich habe seit einer Woche große private Probleme«, fügte sie hinzu und schloss ihre Augen. Man merkte ihr deutlich an, dass sie darüber nicht sprechen wollte. Das respektierte ich. Ich legte ihr eine Nadel, hängte ihr eine Infusion an und spritzte ein Mittel gegen Übelkeit. Außerdem füllte ich ein Rezept aus und fragte sie, ob jemand für sie zur Apotheke gehen könne. Sie dachte nach.
»Meine Putzfrau, ja, wenn ich sie heute überhaupt erreichen kann.«
»Haben Sie sonst keine Freundin oder Nachbarn, die oder der es holen kann?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin ganz allein hier, und in diesem Haus befinden sich außer meiner Wohnung nur Büroräume.«
Traurig, schoss es mir durch den Kopf. Eine so sympathische Frau, so allein, irgendwie auch merkwürdig. Was mochte wohl dahinterstecken? Vorsichtshalber ließ ich ihr ein paar Tabletten zusammen mit meiner Handynummer da und bat sie, sofort anzurufen, falls ihr Zustand sich verschlimmern oder nicht bessern würde. Ich ahnte in keiner Weise, was tatsächlich hinter ihrer Einsamkeit steckte. Etwas Geheimnisvolles umgab sie, und dazu passte ihre Verschlossenheit. Ob ihr Leben ausschließlich aus Arbeit bestand?, fragte ich mich. Jedenfalls sollte ich ab diesem Tag eine neue Patientin und sie eine neue Hausärztin haben. Es war der Beginn einer langen Freundschaft.
Im Auto machten David und ich uns Gedanken über diese eigentümliche Situation. Die kühle, unpersönliche Atmosphäre in dieser Wohnung war abweisend und bedrückend. Vielleicht waren es aber auch zusätzlich das am Wochenende völlig verlassene Umfeld und die spürbar triste Stimmung in diesem Gewerbegebiet. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Wir schüttelten die schweren Gedanken ab und machten uns auf den Weg zum nächsten Patienten, in der Hoffnung, danach eine Kaffeepause einlegen zu können.
In solchen Situationen versuche ich mich immer auf andere Gedanken zu bringen, und sei es nur, dass ich mich auf den nächsten Augenblick mit einer Tasse dampfenden Kaffees freue. Solche einfachen Dinge können das Leben schön und leicht machen. Der Seele eine Auszeit gönnen, um die Intensität des Moments zu empfinden und sich auch an einer Kleinigkeit zu erfreuen. Wie bei anderen die Zigarette, ist Kaffee für mich mit einem bestimmten Lebensgefühl verbunden. Schon die Vorfreude darauf! Und sobald ich die Tasse in der Hand halte, kann ich abschalten, ich lasse die Seele baumeln und fühle mich glücklich und frei. So kann ich dem Pop- und Jazzmusiker Roger Cicero nur zustimmen, der mal sagte: »Guter Kaffee ist wie gute Musik – beides berührt die Seele.«
Der Tag verlief weiter ohne dramatische Ereignisse, und die Nacht ließ uns gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen, denn wir arbeiteten fast durchgehend. Immer wieder, wenn wir uns gerade ins Bett gelegt hatten, kam der nächste Anruf, für eine Samstagnacht nicht ungewöhnlich. Da der Dienst am nächsten Tag gleich weiterging, war ich dankbar, als ab vier Uhr dann alle offensichtlich erst mal versorgt waren. Zumindest bis um 7:30 Uhr. Da begann es dann von Neuem. David blieb tapfer dabei, und wir brachten auch diesen Dienst hinter uns. Sonntagnacht kamen wir deutlich mehr zum Schlafen.
Bei Judith Gärtner hatte ich noch mal angerufen. Es ging ihr nach Infusion und Medikament schon viel besser. Am Montag wollte sie bereits wieder arbeiten. Das war jetzt zehn Jahre her, und dazwischen war einiges passiert.
Judith zog ihre Jacke aus, nahm auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch Platz und legte mir ihren Impfpass hin.
»Hast du irgendwelche Erkrankungen wie Husten, Schnupfen, Halsweh, Fieber?«, fragte ich sie routiniert. Sie verneinte, und ich klärte sie über die Impfung auf. Während sie ihre Bluse aufknöpfte, betrat Corinne das Zimmer, gab mir die Spritze und trug die Daten in Judiths Impfpass ein, bevor sie wieder hinausging. Corinne arbeitete schon seit Jahren bei mir. Sie war die gute Seele der Praxis. Dank ihrer freundlichen und humorvollen Art mochten sie alle Patienten, auch wenn sie mit einer Spritze vor ihnen stand, so wie hier.
Es gab einen kleinen Piks. Ich wusste, dass Judith so gut wie keine Zeit hatte. Vermutlich wartete schon der nächste Mandant in der Kanzlei auf sie. Trotzdem wollte ich sie nicht gehen lassen, ohne ein paar persönliche Worte mit ihr zu wechseln. Ich fragte sie: »Und wie geht es dir sonst? Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so blass heute.« Sie zögerte kurz, und ich sah, wie sich ihr Gesicht veränderte. Dann brach es aus ihr heraus.
»Ich kann jetzt eigentlich nicht reden, aber ich mache mir große Sorgen um Walter. Ich habe große Angst, ihn zu verlieren. Er scheint mir in letzter Zeit öfter durcheinander zu sein, und irgendwie habe ich das Gefühl, es geht ihm nicht gut.«
Ich kannte Walter. Mit ihm verband mich allerdings keine Freundschaft wie mit Judith, denn er sprach wenig über private Angelegenheiten und schon gar nicht über seine Liebesbeziehung zu zwei Frauen. Auch hatten wir wenig Gemeinsamkeiten, und manchmal musste ich mich zusammenreißen, um seine Eigenarten nicht zu kommentieren. Er war ebenfalls mein Patient, ging aber grundsätzlich nur zum Arzt, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.
Zwanzig Jahre Altersunterschied trennten die beiden. Lange wusste ich nicht, dass sie eine Beziehung miteinander führten. Erst als Walter bei ihr zu Hause einen Schwächeanfall erlitt und sie mich um Hilfe bat, vertraute sie mir an, dass sie schon seit über zwei Jahrzehnten seine heimliche Geliebte war. Von Anfang an war er ein aufmerksamer Gesprächspartner und kluger Stratege gewesen, besonders in juristischen Fragen, denn er war selbst studierter Jurist, arbeitete aber in der Immobilienbranche. Judith schätzte es, sich mit ihm auszutauschen und über komplizierte Fälle zu diskutieren. Sie war froh über seine Unterstützung. Beruflich stand er ihr immer mit Rat und Tat zur Seite, doch nicht nur das gemeinsame Interesse an rechtlichen Fragen verband die beiden. Auch hatte sie in ihm einen Beschützer gefunden, bei dem sie sich sicher und geborgen fühlte. Sie bewunderte ihn mehr als jeden anderen, und ich zerbrach mir öfter den Kopf über ihre bedingungslose Abhängigkeit von ihm.
»Ich weiß, du darfst mir nichts über seinen Gesundheitszustand sagen, weil er dein Patient ist«, fuhr sie fort. Ihre Worte trafen genau den Zwiespalt, in dem ich mich befand. Sie warf einen nervösen Blick auf ihre Uhr. »Ich würde so gern mit dir reden, aber ich muss los.« Sie stand auf, griff hastig nach dem Impfpass, umarmte mich fest und verabschiedete sich.
Nachdem ich die restlichen Patienten in der Praxis versorgt hatte und mit den anschließenden Hausbesuchen fertig war, rief ich noch kurz Heike an. Wir verabredeten uns für die Woche darauf in der Stadt, dann machte ich Feierabend. Ich ging die Treppe hoch an der Praxis vorbei, erleichtert, alles erledigt zu haben, und freute mich auf den Abend. Die Nacht als Notärztin steckte mir noch in den Knochen, und der lange Tag in der Praxis hatte nicht gerade dazu beigetragen, mich davon zu erholen. Auch die Geschichte mit Judith und Walter ließ mich nicht gleich los, ganz zu schweigen von dem Konflikt, in dem ich steckte. Ich machte mir um ihn als Patienten seit geraumer Zeit Sorgen. Umso erleichterter war ich jetzt, abschalten zu können.
Heiner hatte ich vor vielen Jahren kennengelernt. Er gehörte zwar nicht zu meinem engen Bekanntenkreis, dennoch waren wir befreundet und konnten uns immer aufeinander verlassen. Irgendwann war er mit der Frage auf mich zugekommen, ob ich ihn und seine Frau Cornelia als Hausärztin betreuen könnte. Selbstverständlich hatte ich Ja gesagt. Seitdem waren beide meine Patienten. Cornelia bekam ich fast nie zu Gesicht, dafür aber bald Olga, seine Geliebte, die er mir kurz darauf noch vorgestellt hatte. So brachte er je nach medizinischem Bedarf gelegentlich seine Ehefrau oder aber seine Geliebte mit.
An diesem Tag hatte er mich zuvor per SMS kontaktiert. Er brauche dringend einen Termin! Dieses Mal kam er allein.
»Lisa, du musst mir bitte helfen. Über meine Krankheiten brauchen wir heute nicht reden, und ich weiß selber, dass ich gerade viel zu viel trinke. Heute geht es um Conny. Ich habe sie extra nicht mitgebracht. Es wird immer stärker mit ihrer Vergesslichkeit, und eigentlich kann ich sie mit gutem Gewissen nicht mehr allein zu Hause lassen. Sie hat wieder vergessen, den Herd auszuschalten, und neulich hat sie tatsächlich dreimal hintereinander das Haus verlassen, ohne den Hausschlüssel mitzunehmen. Manchmal kann ich mich gut mit ihr unterhalten, und im nächsten Moment hat sie vergessen, worüber wir vorher geredet haben. Das geht schon eine ganze Weile so. Ich mache mir jetzt immer mehr Sorgen, weil ihre Demenz zunimmt. Du weißt, ich würde alles für sie tun, was ich kann. Niemals würde ich mich scheiden lassen, das weiß Olga ganz genau, auch wenn es schwer für sie ist, das zu akzeptieren. Aber ich kann nicht die ganze Zeit bei meiner Frau sein. Ich muss noch arbeiten. Die Galerie ist erfolgreich, und das Geschäft brummt. Aber das mit Conny ist bedrückend und belastend, ich brauche noch einen Ausgleich, um das Ganze zu ertragen, und muss auch an mich denken. Von Anfang an habe ich mich völlig nach meiner Frau gerichtet. Ich wollte immer Kinder haben, aber Conny wollte keine, wegen ihrer Figur. Du weißt, als Fitnesstrainerin hat sie immer viel Wert auf ihren Körper gelegt, und ich konnte ihr auch keinen Wunsch abschlagen. Aber es wird einsamer um mich, weil ich mit ihr nur noch über allgemeine Dinge reden kann. Selbst da vergisst sie viel und nimmt nur noch wenig Anteil. Langsam glaube ich, sie lebt in einer eigenen Welt. Seit Jahren schon will sie keinen Besuch bei uns zu Hause. Ihr war es immer zu viel. Jetzt bin ich sogar froh darüber, weil es bei uns inzwischen aussieht wie im Saustall. Das hält kein Mensch aus, und ich auch nur, weil ich eine Freundin habe. Olga ist zwar viele Jahre jünger, und ich muss ihr einiges bieten, aber dafür gibt sie mir auch das Gefühl, noch etwas vom Leben zu haben. An ihrer Seite fühle ich mich jung und lebendig. Sie genießt es, Gäste einzuladen und Feste zu organisieren, und sie liebt mich über alles. Aber ich komme von zu Hause immer schlechter weg, weil Conny eigentlich nicht länger allein bleiben sollte. Du weißt, ich unternehme immer noch gern etwas mit ihr. Wir fahren regelmäßig ins Allgäu, dort lebt auch ihr Bruder.« Hilflos zuckte er mit den Schultern, hob die Hände und sah mich an. Er schien unschlüssig. »Was soll ich tun? Ich brauche doch ein bisschen Freude am Leben. Sonst halte ich es nicht durch. Ich möchte sie auf keinen Fall ins Heim geben, sie soll bei mir bleiben. Deshalb brauche ich dringend eine Lösung. Wir haben eine Dachwohnung, die frei steht. Kennst du jemanden, der nach meiner Frau schauen würde? Eine Krankenschwester oder so?«
»Eine Krankenschwester zu engagieren wird teuer, denn du brauchst auch Ersatz, wenn sie Urlaub macht oder selbst krank wird«, antwortete ich. »Aber es gibt gute Pflegeagenturen, die eine bezahlbare Betreuung durch ausländische Pflegekräfte zu Hause ermöglichen und im Krankheitsfall für Ersatz sorgen. So wäre deine Frau gut versorgt und nicht allein. Das ist auch finanziell zu stemmen. Und durch die Demenz bekommt sie auch eine Pflegestufe. Allerdings musst du dich darauf einstellen, dass die Pflegekräfte häufig wechseln, so alle paar Monate.«
Ich fand es großartig, dass Heiner seine Frau nicht im Stich ließ und loyal zu ihr hielt. Heutzutage ist das keine Selbstverständlichkeit mehr, weil es immer mehr Beziehungen auf Zeit gibt. Ich konnte Heiner verstehen und fand es besser, es so zu handhaben, als sich scheiden zu lassen. Eine Geliebte zu haben, war aus seiner Sicht nachvollziehbar. Niemand muss sich bis zur Selbstaufgabe aufopfern, auch wenn es ein Eheversprechen gibt. Sich selbst zu schützen, ist nicht nur legitim, sondern manchmal überlebensnotwendig.
Es stellte sich allerdings heraus, dass er dabei war, seine Probleme im Alkohol zu ertränken. Früher hatte er nur bei offiziellen Anlässen getrunken, inzwischen gehörte eine ganze Flasche Wein zum Abendritual. Dabei fielen mir die Worte meines Doktorvaters wieder ein, bei dem ich meine Dissertation über Alkoholismus geschrieben hatte. Seine Definition von Alkoholsucht lautete sinngemäß und vereinfacht: »Wenn ich jeden Tag trinken muss und es keinen Tag gibt, an dem ich kein Bedürfnis nach Alkohol habe, dann gibt es ein Problem, wobei es sicherlich auch Ausnahmen und Sonderfälle gibt.«
Als Ärztin ist es wichtig, den Patienten zu begleiten und ihm zu helfen, Wege zu finden und zu gehen, die machbar sind. Wenn es aber für ihn nicht mehr erträglich ist, sollte er eine Grenze ziehen. Es ist schwierig, mit der äußeren Hülle des Menschen zu leben, dessen Innerstes zunehmend verloren geht und der nicht mehr die Person ist, in die man sich verliebt und die man geheiratet hat. Oft sind es nur die Erinnerungen und Gewohnheiten, die einen noch an diesen Menschen binden.
Es gibt viele verschiedene Formen und Entwicklungen einer demenziellen Erkrankung. Manche demente Menschen werden ängstlich und aggressiv, während andere anhänglich und kindlich werden können. Für den Angehörigen ist beides meist eine psychische Belastung, die häufig zur Überforderung führt. Dadurch können psychosomatische Beschwerden und Süchte entstehen. Heiner war ein Beispiel dafür.
Conny hatte sich offensichtlich mit der Situation arrangiert, soweit sie ihr bewusst war. Bei Olga war es sicherlich anders. Sie war eine dunkelhaarige, schöne Frau, die vor drei Jahren aus Moskau nach Deutschland gekommen war, um in der Galerie von Heiner zu arbeiten. In ihrem Heimatland war sie im Kunstgewerbe tätig. Daher kannten sich die beiden schon länger. Nachdem sie bei Heiner angefangen hatte, begann schon bald ihre heimliche Beziehung. Durch Heiner hatte sie ein Leben kennengelernt, das sie in Russland nicht führen konnte. Inzwischen verstand sie viel von Bildern und Kunst, auch wenn sie noch lange nicht Heiners langjährige Erfahrung hatte. Vor Kurzem versprach er ihr, da er keine Kinder hatte, dass sie die Kunstgalerie mal erben würde, als eine Art Entschädigung für ihre besten Jahre, die sie ihm schenkte. Mit Ende dreißig war sie allerdings in einem Alter, in dem sie sich über das Thema Familienplanung Gedanken machen musste. Ich wusste von Heiner, dass sie sich ein Kind von ihm wünschte, aber auch, dass für ihn das Thema in seinem Alter definitiv nicht mehr infrage kam. Bei Olga war ich mir nicht so sicher, ob sie sich damit arrangieren würde. Schon seit einem Jahr litt sie unter chronischen Magenschmerzen, die bis hin zur Magenspiegelung komplett abgeklärt wurden. Den Beschwerden konnte man keine körperlichen Ursachen zuschreiben. Deshalb lag die Vermutung nahe, dass diese eingeschränkte Beziehungsform psychischen Stress verursachte und ihr im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen schlug.
Natürlich besteht heutzutage auch die Möglichkeit, sich künstlich befruchten zu lassen, wenn man noch in späten Jahren ein Kind bekommen möchte. Ob sie sich zu solch einer Entscheidung irgendwann durchringen würde, war unklar. Hinzu kam die Frage, ob Olga allein die finanzielle Absicherung für ein glückliches Leben ausreichen würde, während gleichzeitig die Uhr in Sachen Kinderplanung tickte. Würde sie womöglich ein ähnliches Leben wie Judith führen, deren Alltag seit vielen Jahren darin bestand, sich nach Walter zu richten? Ein Leben aus Warten und Hoffen, die Tage und Wochenenden gefüllt mit Arbeit und vielen einsamen Nächten. Würde das der Preis sein, den die junge Frau für die Zugeständnisse in dieser Beziehung zahlen müsste?
Was ist richtig oder falsch? Im Fall von Olga bin ich mir nicht sicher. Es käme für mich niemals infrage, auf Kinder zu verzichten. Aber jeder hat einen eigenen Lebensweg und eigene Bedürfnisse. Und manchmal ist eine bestimmte Lebensform für einen bestimmten Lebensabschnitt genau die richtige. Letztlich muss das jeder für sich selbst herausfinden. Absolut wichtig dabei ist aber, etwaige körperliche Beschwerden nicht zu ignorieren, sondern deren Ursachen zu erforschen und zu beheben. Denn manchmal meldet sich die verletzte Seele über den Körper und setzt uns damit Grenzen.
Ich blickte auf die Uhr und freute mich, Heike zu treffen. Im Gegensatz zu ihr war ich dieses Mal auf die Minute pünktlich.
»Eigentlich bin ich so früh losgefahren, weil ich in Tübingen noch etwas besorgen wollte, stattdessen komme ich jetzt auch noch zu spät«, begrüßte sie mich mit hochrotem Kopf. »Tübingen ist eine einzige Katastrophe: überall Baustellen und Blitzer, jede Ampel auf Rot geschaltet, vom Stau ganz zu schweigen. Ich wollte in der Innenstadt ins Parkhaus, und was war? Auch im Umbau! Und mit meinem SUV muss ich mich hier auch noch schämen. Die hat euer OB ja ganz besonders auf dem Kieker.«
»Jetzt beruhige dich erst mal und setz dich hin«, sagte ich und unterdrückte mein Grinsen. Das impulsive Temperament dieser zierlichen Person mochte ich irgendwie. Außerdem war Heike der hilfsbereiteste Mensch, den ich kannte, auch wenn sie zuweilen ganz schön nerven konnte. Schließlich kannten wir uns schon etliche Jahre und hatten einiges gemeinsam unternommen.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie.
»Du, wie immer. Viele Patienten, viele Probleme und Herausforderungen, aber auch tolle Begegnungen. Ich finde es spannend, wenn Menschen mir von ihren Sorgen erzählen und mache mir in letzter Zeit immer mehr Gedanken, wie viele unterschiedliche Lebensformen es gibt.«
»Was meinst du mit Lebensformen?«
»Verschiedene Formen von Beziehungen.«
»Ich weiß, dass du wesentlich offener und freizügiger damit umgehst als ich. Aber das musst du selbst wissen. In der Hinsicht lässt du dir ja nichts von mir sagen.«
»Ach Heike, du musst dich einfach nur mal umschauen. Wenn du das erleben würdest, was ich häufig sehe und erlebe, dann wärst du vielleicht auch ein bisschen verständnisvoller.«
»Ich habe keinen Grund, Verständnis aufzubringen, wenn jemand so blöd ist, dass er sich betrügen lässt oder die ganze Zeit den anderen hintergeht. Das würde ich mir niemals bieten lassen. Außerdem würde Gregor so etwas nie machen. Dazu ist unsere Beziehung viel zu stabil. Wir haben uns schon immer super im Bett verstanden, an meiner Seite fehlt es ihm an nichts, deshalb hätte eine andere Frau gar keine Chance. Außerdem trägt er mich auf Händen, und das seit Jahren. Auch ich käme nicht auf die Idee, mit jemandem anzubandeln. Wenn überhaupt, dann kann man sich draußen Appetit holen, aber gegessen wird zu Hause, das gilt für uns beide.«
»Oh, Heike, du solltest dich mal mit den Menschen auseinandersetzen, mit ihren Fantasien und Träumen. Hast du gewusst, dass jeder vierte verheiratete Mann mal fremdgeht? Die Männer, die in den Puff gehen, sind auch nicht alle ungebunden.«
»Das verstehe ich sowieso nicht, was du mit Prostituierten am Hut hast.«
»Jeder meiner Patienten hat das Recht, gleichbehandelt zu werden, und du weißt auch gar nicht, warum jemand das macht.«
»Das will ich auch nicht wissen. Die Frauen in deiner Partei wollen doch das Prostitutionsverbot, oder nicht?«
»In der CDU gibt es zum Glück unterschiedliche Meinungen«, gab ich zurück.
»Das respektiere ich, und das Thema brauchen wir jetzt nicht weiter zu vertiefen. Ich glaube, das Problem ist, dass die meisten sich in einer Ehe nicht genug bemühen und sich gehen lassen. Ich bin mir sicher, wenn man gemeinsame Werte hat und etwas für die Ehe tut, dass dann so etwas gar nicht vorkommt. Würde dein verheirateter Partner etwa fremdgehen, wenn er daheim wirklich alles hätte? Hast du eigentlich immer noch keine Konsequenzen gezogen?«, fuhr sie fort.
»Das ist alles nicht so einfach. Beziehungen können sich im Lauf der Zeit auch ändern.« Prompt kam ihre Antwort: »Das hört sich nicht so gut an. Was hast du anderes erwartet? So was kann nur schiefgehen.«
Ich beließ es dabei, es brachte eh nichts. Dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass alles bei ihr reibungslos funktionierte. Das klang mir zu perfekt. Aber vielleicht führten sie auch tatsächlich eine glückliche Beziehung. Das konnte niemand wissen. Solche beachtenswerte, um nicht zu sagen, fast beneidenswerte Partnerschaften gibt es wohl auch, dachte ich, obwohl mir klar war, dass nur diejenigen, die sie führen, wissen, wie viel Arbeit wirklich darin steckt.
Ich hoffte nur inständig, dass es bei Heike nicht irgendwann mal ein böses Erwachen geben würde, und wechselte unvermittelt das Thema.
»Der Schal hat übrigens tolle Farben. Sabine hat mir ein Bild geschickt. Was kriegst du von mir dafür?«
»Fünfzig Euro.«
Wir unterhielten uns weiter über unsere Kinder – sie hatte zwei mittlerweile erwachsene Töchter –, während ich ihr von meinen süßen Enkelkindern vorschwärmte und die Freuden der Rolle als Oma beschrieb, nämlich, mit ihnen zu spielen und Spaß zu haben, aber sie im richtigen Augenblick auch wieder abgeben zu können.
Walter kam nur in die Praxis, wenn es ihm schlecht ging, also ganz selten. Seit Jahren schon war er mein Patient. Für sein Alter sah der energische Einundachtzigjährige noch richtig fit aus. Das Jackett, das er trug, erinnerte andeutungsweise an eine Trachtenjacke und unterstrich seine drahtige Figur. Er war klein von Statur und nicht besonders attraktiv, dafür aber charmant. Er war auch ein leidenschaftlicher Jäger. Einmal hatte er sogar vorgeschlagen, für mich ein Wildschwein zu schießen. Doch da ich vermutlich entgegen seinen Erwartungen sehr zurückhaltend auf sein Angebot reagierte, beließ er es dabei.
Wahrscheinlich, weil er als ehemals erfolgreicher, pensionierter Immobilienmakler viel Zeit draußen mit seiner Jagd verbrachte, hatte er eine gebräunte Haut mit vielen Falten, die im krassen Kontrast zu seinen schlohweißen Haaren stand. Eine Sonnencreme benutzte er natürlich nicht.
Durch meine Freundschaft mit Judith hatte ich ihn etwas näher kennengelernt. Wir gingen gelegentlich zusammen essen. So wusste ich auch, dass er als strenger Katholik jeden Sonntag in die Kirche ging und davon träumte, eine Privataudienz beim Papst in Rom zu bekommen. Das allerdings gestaltete sich schwierig, die Chance hatten nur hochgestellte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. So privilegiert war er dann doch nicht.
Außerdem war das Ganze mit Kosten verbunden, und Walter war sehr sparsam, um nicht zu sagen geizig. Seine gelegentlichen wohlwollenden Äußerungen über meine moderaten Arztrechnungen ließen mich immer wieder schmunzeln, im Gegensatz zu einigen seiner Macken, die ich nebenbei mitbekam. Er verlangte bei jedem Restaurantbesuch grobes Salz aus der Mühle, kein anderes, und machte richtig Theater, wenn es keins gab. Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass Judith tatsächlich immer eine Salzmühle in ihrer Handtasche mitschleppte, damit er im Falle eines Falles Ruhe gab. Natürlich nahm er die Essensreste immer »für seinen Hund« mit.
Walter war, wie gesagt, auch verheiratet. Seine Ehefrau Else kannte ich nur flüchtig. Sie hatte einen anderen Hausarzt und war nur einmal in meiner Praxis gewesen. Dennoch hinterließ ihr Besuch einen bleibenden Eindruck. Sie lebte zurückgezogen. Wie ihr Mann auch, war sie sehr gläubig. In der Sprechstunde machte sie kein Geheimnis daraus, dass diese Ehe eine reine Vernunftehe war. Sie war ein Einzelkind und wohlhabend. Ihr Mann, der damals noch bei ihrem Vater in der Rechtsabteilung angestellt war, sollte durch diese Heirat die Nachfolge der Immobilienfirma übernehmen. Aus diesem Grund hatte Walter seinen ursprünglichen Traum, eines Tages eine eigene Anwaltskanzlei zu gründen, auch aufgegeben.
Die gemeinsamen Söhne hatten sie eigentlich nur gezeugt, um die Ehe zu festigen und Erben für die Firma zu haben. Im Bett lief aber schon lange nichts mehr, wie Walter mal beiläufig in einem Nebensatz fallen ließ. Während ich sie untersuchte und ihren Blutdruck maß, meckerte sie die ganze Zeit über ihren Mann.
»Er beklagt sich immer bei mir über seine Wehwehchen. Das nervt mich langsam. Hätte er doch eine Krankenschwester geheiratet«, erzählte sie. Offensichtlich schien Walter bei ihr anders aufzutreten als bei mir in der Praxis, dachte ich. »Er könnte sich und uns auch ruhig ein bisschen mehr gönnen und bessere Hotels aussuchen, wenn wir in Urlaub fahren. Und aufhören, so akribisch aufs Geld zu schauen. Das kam damals meinem Vater sicher gerade recht, aber doch nicht beim Wurstsalat! Mit Käse kostet der fünfzig Cent mehr, wissen Sie. Und da fragt er uns noch ›Müsst ihr wirklich den Wurstsalat mit Käse essen?‹«, sagte sie voller Empörung. »Das muss doch nicht sein, oder? Auch wenn mein Vater früher von so viel Sparsamkeit ganz begeistert gewesen wäre und ihm dafür sogar recht gegeben hätte«, beendete sie das Gespräch.
Walter war also eine Marke für sich und konnte ziemlich dominant sein. Doch wenn es um seine eigene Gesundheit ging, wollte er keinen einzigen Gedanken daran verschwenden, zumindest nicht bei mir. Man musste ihn regelrecht dazu drängen, sich mal durchchecken zu lassen. Lag das vielleicht auch am Geld oder an seiner Selbstbeteiligung bei der Krankenkasse?
Vor einigen Wochen hatte ich ihn dann endlich so weit, dass er zur Vorsorgeuntersuchung kam. Die letzte lag nämlich mehrere Jahre zurück. Er konnte manchmal so stur sein! Nur weil er sich gesund ernährte und viel in den Wald ging, um zu jagen oder Holz zu machen, meinte er, würde sein Körper von allein mit allen Krankheiten fertigwerden. Meine Untersuchung ließ er mehr als halbherzig über sich ergehen.
Dann kam es, wie es kommen musste. Beim Ultraschall sah ich etwas Auffälliges. Es war aber zu früh, um eine genaue Diagnose zu stellen. Eine weitere radiologische Untersuchung war nötig, um Genaueres sagen zu können. Wieder mit Mühe und Not schaffte ich es, ihn zu überzeugen, in die Klinik zu gehen. Corinne vereinbarte einen Termin für ihn.
Als er nun wieder vor mir stand, dachte ich, er hätte den Termin wahrgenommen und würde mir die Befunde mitbringen. Entsetzt erfuhr ich, dass er ihn hatte sausen lassen und nur gekommen sei, weil er weiterhin ein Druckgefühl im Oberbauch spürte und ihm das Essen nicht mehr richtig schmeckte. Das kannte er nicht. Ich erinnerte mich an den Moment, als ich ihm während der Untersuchung mitteilte, dass ich etwas Auffälliges sah. Anstatt mir richtig zuzuhören, regte er sich fürchterlich darüber auf, wie man mit seinem armen Jagdhund Nero umgehen würde.
Das Tier hatte einen anderen Hund unvermittelt totgebissen. Seither musste sein Liebling einen Maulkorb tragen. Wütend schimpfte er vor sich hin. Insgeheim war ich gottfroh, dass dieses schwarze Ungeheuer endlich mal einen Maulkorb verpasst bekommen hatte, weil er auch mich einmal ohne Vorwarnung beim Essen unter dem Tisch in die Ferse gezwickt hatte. Und ich war nicht die Einzige. Diese Gefahr war vorerst gebannt.
Aber zurück zu Walter. Alles, was ich ihm sagte, hatte er wieder verharmlost und verdrängt. Außerdem merkte ich an diesem Tag, dass er öfter dasselbe fragte, und ich überlegte mir, ob er mir überhaupt zuhörte. Das Gespräch über seinen Hund zeigte mir zudem, dass er heute wieder mal auf Krawall gebürstet war und sich nichts sagen lassen würde. Einsicht war nicht gerade seine große Stärke. Er hätte sofort aufbrausend seine Sachen gepackt und die Praxis auf Nimmerwiedersehen verlassen. So machte ich mir nur eine Notiz in seiner Akte und vereinbarte für ihn einen neuen Termin in der Klinik. Ich machte ihm ausdrücklich klar, dass er diesen wahrnehmen müsse, sonst bekäme er es mit mir zu tun. Der zusätzliche Hinweis darauf, dass ein weiterer nicht wahrgenommener Termin womöglich mit höheren Kosten verbunden wäre, verfehlte seine Wirkung nicht. Jetzt musste ich auf die Befunde warten.
Oft mache ich mir Gedanken darüber, wie wichtig es ist, dass Menschen die für sie richtige Therapie bekommen, und ihnen trotzdem zuzugestehen, dass sie auf ihre Weise mit dem Problem umgehen. Manche möchten klar wissen, was sie erwartet, um sich vorbereiten zu können und alles zu regeln, bis hin zur Organisation ihrer Beerdigung. Andere möchten sich nicht damit auseinandersetzen, dass das Leben endlich ist und sie womöglich bald sterben werden. Auch das sollte man respektieren. Als Ärztin habe ich kein Recht, ihnen die Auseinandersetzung mit der Krankheit aufzuzwingen.
Aber bei Walter war die Lage komplizierter. Er war schon von seinem Grundcharakter her kritisch und misstrauisch. Für mich wurde es in der Tat immer schwieriger, da meine ärztliche Schweigepflicht mich zwang, gegenüber Judith Stillschweigen über Walters Arztbesuche und Diagnosen zu bewahren.
»Wir sehen uns dann zum Adventskaffee bei Judith.« Mit diesen Worten verabschiedete er sich von mir, ohne vorher gefragt zu haben, ob ich da überhaupt Zeit hätte. Als sich die Tür hinter ihm schloss, atmete ich tief durch und holte mir erst mal einen Kaffee.
Maria ging es nicht gut. Mit ihr verband mich eine langjährige Freundschaft. Wir beide kannten uns seit der ersten Grundschulklasse.
Es klingelte, und sie kam voll bepackt die Treppen hochgestapft. Wir hatten zwei Tage zuvor telefoniert, und mir war spontan die Idee gekommen, sie einzuladen, um gemeinsam über das Wochenende in den Schwarzwald zu fahren. Hauptsächlich um sie aufzumuntern, aber auch, um uns beiden eine ganz besondere Auszeit zu gönnen und uns kulinarisch verwöhnen zu lassen. So hatte ich in der Traube Tonbach, einer schönen Hotelanlage, nicht allzu weit von Tübingen, angerufen und hatte Glück. Ein Zimmer war noch frei. Leider gab es so kurzfristig keinen Tisch mehr im dazugehörigen Gourmetrestaurant, sie waren ausgebucht. Ich ließ uns trotzdem auf die Warteliste setzen. Wir freuten uns auf die gemeinsamen Tage, auch wenn es nur kurz war.
Die Landschaft lag teilweise im Nebel, und der Weg mit dem Auto führte uns durch einige verträumte Schwarzwalddörfer.
Maria konnte ein bisschen Abwechslung gebrauchen. Sie war traurig. Ihre letzte Beziehung war schon nach kurzer Zeit wieder in die Brüche gegangen. Die beiden hatten einfach nicht zusammengepasst.
Ich konnte mich sehr gut in ihre Lage hineinversetzen. Eine Beziehung zu beenden, wer macht es gern? Schluss zu machen bedeutet immer Abschied zu nehmen. Auch alte Gewohnheiten aufzugeben und wieder auf sich selbst zurückzufallen, allein Entscheidungen zu treffen und sich vom Gefühl zu trennen, jemanden an seiner Seite zu haben, der einem Nähe schenkt und dem man vertrauen kann.
»Ich würde so gerne das gemeinsame Alter planen und leben«, sagte sie, während ich fuhr. »Mit achtundfünfzig Jahren wäre es doch schön, einen Partner zu haben, mit dem man die restlichen Jahre glücklich und sorgenfrei verbringen kann. Jetzt ist alles wieder vorbei, langsam verliere ich den Mut, ständig neue Wege einzuschlagen. Vielleicht ist es alles sinnlos und besser, wenn ich allein bleibe.«
Ich wusste, dass sie sich eigentlich im Grunde ihres Herzens einen Partner wünschte und sich mit diesem Satz wahrscheinlich nur trösten wollte.
»Achtundfünfzig Jahre ist doch kein Alter, Maria, du kannst jederzeit jemanden kennenlernen. Es gibt so viele Möglichkeiten, wenn man mit offenen Augen durchs Leben geht. Auch gibt es immer mehr Menschen, die jemanden über eine Partneragentur suchen. Beim Ersten wird es wahrscheinlich nicht sofort klappen, aber mit Geduld kann man dort schon jemanden finden, in den man sich verliebt und der gut zu einem passt.«
Wir sprachen dann noch über unsere Kinder. Wie ich hatte sie auch vier und war alleinerziehend, nachdem sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte. Sie machte sich immer wieder viele Gedanken um die Kinder, meiner Meinung nach manchmal zu viele. Es gab eben die üblichen Probleme, die immer auftreten, wenn man vier Kinder hat, Pubertät, Liebeskummer, Zukunftsängste, aber sonst keine größeren Auffälligkeiten, die mich als Ärztin beunruhigt hätten.