Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg - Rüdiger Bernhardt - E-Book

Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg E-Book

Rüdiger Bernhardt

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Beschreibung

Die Geschichte der Bewegung schreibender Arbeiter/innen der DDR ist nur in Ansätzen geschrieben. Dieses Buch betrachten wir als Grundbaustein dazu. Vom Literaturbetrieb der Alt-BRD als Produktionsstätten von »Ideologiekitsch« verschrien, inspirierte die Bewegung den »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt«. Hier wie dort ermöglichten die Zirkel bei arbeitenden Menschen emanzipatorische, kulturpolitische Bildungsprozesse, die dem Bürgertum suspekt waren. Und sie brachten beachtliche Werke hervor. Unser Autor Prof. em Rüdiger Bernhardt begleitete die Bewegung schreibender Arbeiter/innen wissenschaftlich und ganz praktisch.

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Seitenzahl: 471

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Rüdiger Bernhardt

Vom Schreiben auf dem Bitterfelder Weg

Die Bewegung schreibender Arbeiter – Betrachtungen und Erfahrungen

Widmung

Meiner Frau Christine,

die mit großer Geduld meine Tätigkeiten

bei den Schreibenden begleitete

und oft an Veranstaltungen und Treffen teilnahm.

Inhalt

Widmung

Vorwort

Erster Teil:Willi Bredel – ein Ahnherr der schreibenden Arbeiter

Hamburg – Handlungsort des ersten proletarischen deutschen Betriebsromans

Willi Bredels Vermächtnis: bedeutende Literatur und ein »Neues Kapitel«

Zweiter Teil:Grundzüge einer Geschichte der Bewegung schreibender Arbeiter

Die I. Bitterfelder Konferenz 1959 und erste Ergebnisse

Freiwilliger Umgang mit Kunst und Kultur und auch Literatur

»In der Landschaft der Fabriken …« (Ernst Zober)

Literarische Salons des Volkskunstschaffens

Dritter Teil:Zur Geschichte einzelner Zirkel

Der Zirkel schreibender Arbeiter »Maxim Gorki« im Zentralen Haus der DSF

In der Landschaft der Fabriken …

Das Sternbild des Krans

Vierter Teil:Autoren der Bewegung schreibender Arbeiter

Von Friedensgedichten zu einer Literatur verstörten Menschseins

Die Wirklichkeit der Alpträume

Nachträge – Erhart Ellers neue Gedichte

Freiheit und Arbeit in einem Roman, der den Deutschen Buchpreis 2014 erhielt

Rudi Berger

Anhang

Veröffentlichungsnachweise

Weitere Literatur zum Thema von Rüdiger Bernhardt (Auswahl):

Über den Autor

Impressum

Vorwort

Es war vor fünfzig Jahren zu Beginn des Studienjahres 1965/66, als mich der Dozent am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. phil. habil. Wolfgang Friedrich (1926–1967) fragte, ob ich den Zirkel schreibender Arbeiter der Leuna-Werke leiten würde. Die Frage kam nicht unerwartet, denn bei meiner Einstellung als Assistent ein Jahr zuvor wurde ich in die Besonderheit des Institutes eingeführt, sich seit der I. Bitterfelder Konferenz 1959 für schreibende Arbeiter einzusetzen und dabei auch Zirkel zu betreuen. Dazu bedurfte es keines Auftrags und keiner Weisung, sondern die Hallenser Germanisten fühlten sich von den in Bitterfeld entwickelten Vorstellungen so angeregt, dass sie unabhängig von ihren Lehr- und Forschungsverpflichtungen sich in die neue Problematik einarbeiteten und auch in der späteren sehr viel größeren Sektion Germanistik und Kunstwissenschaften entsprechenden Tätigkeiten nachgingen. Sie hatten sich 1960 auf einer ersten Konferenz[1] über die Grundzüge einer solchen Tätigkeit verständigt, wurden Zirkelleiter, erarbeiteten methodische Materialien, gaben Anthologien und andere Texte heraus und übernahmen leitende und anleitende Aufgaben, so Wolfgang Friedrich als Vorsitzender der Bezirksarbeitsgemeinschaft schreibender Arbeiter beim Bezirkskabinett für Kulturarbeit, seine Frau Cäcilia Friedrich als Zirkelleiterin wie auch viele andere. Bezirksarbeitsgemeinschaften (BAG) gab es für alle Volkskunstgruppen und Genres in jedem der fünfzehn Bezirke der DDR. Als ehrenamtliche Gremien berieten die Bezirksarbeitsgemeinschaften die Bezirkskabinette für Kulturarbeit und als Zentrale Arbeitsgemeinschaften (ZAG) das Zentralhaus für Kulturarbeit in Leipzig.

1963/64 war eine Blütezeit der Bewegung schreibender Arbeiter, die sich stabilisiert hatte und auf diesem Niveau bis zum Ende der DDR, in mehreren Zirkeln auch darüber hinaus bestehen blieb. Auch von den massiven kulturpolitischen Eingriffe wie dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 blieb sie weitgehend verschont; nur einige Zirkelleiter, die Schriftsteller waren wie Hasso Grabner, gerieten in die Schusslinie. Bei der Stabilisierung der Bewegung sind nicht alle Vorstellungen der Politiker und Initiatoren in Erfüllung gegangen – sofern es solche genauen Vorstellungen gegeben hat und es nicht um einen allgemeinen, für notwendig erachteten Bildungsprozess ging, der eingeleitet werden sollte –, aber das Ergebnis der Bewegung schreibender Arbeiter war insgesamt und von »unten« her betrachtet beeindruckend, wie 25 Jahre nach der I. Bitterfelder Konferenz auf einer Konferenz in der Maxhütte Unterwellenborn 1984 eingeschätzt wurde.[2] Für 1964, das Jahr der II. Bitterfelder Konferenz, wurden die schreibenden Arbeiter von bürgerlichen Literaturwissenschaftlern jedoch totgesagt, bestenfalls belächelt: »Eine heute exotisch anmutende massenkulturelle Initiative versandete wieder.«[3] Sie reagierten so auf einen Bildungsvorgang, der ihnen suspekt war, weil er sich auf einen ihnen fremden sozialen Teil der Gesellschaft bezog, dessen Besonderheit sie zwar ahnten, aber nicht wahrhaben wollten und den sie deshalb auch nicht zur Kenntnis nahmen. Deshalb gaben sie gravierende Fehlurteile ohne jede Kenntnis der Entwicklung und Fakten ab. Das Verfahren blieb aktuell; die Beispiele sind zahlreich und einige finden sich in diesem Band dokumentiert. Nur eines wird hier noch vorgestellt: Spiegel online veröffentlichte am 28. März 2013 einen Beitrag mit der seriös erscheinenden, wenn auch nicht ganz korrekten Überschrift »Greif zur Feder, Kumpel!«[4] Aber schon der Vorspann zeigte den aller Seriosität Hohn sprechenden Ansatz, denn »weil der SED viele Autoren des Landes verdächtig waren, sollte in ›Zirkeln schreibender Arbeiter‹ das Volk fabulieren«. Weder das Ziel noch der Vorgang waren richtig. Zwar benutzte die Verfasserin das Archiv Schreibende ArbeiterInnen in Berlin, aber bereits die Eröffnung machte den Tenor des Artikels deutlich: Das Archiv sei »staubig und grau«, der Schriftsteller Jürgen Kögel, der zwanzig Jahre im Zirkel am Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war und sich ehrenamtlich um das Archiv bemüht, wurde als »Rentner« vorgestellt, der die Texte des Archivs »innig« liebe. Hohn und Geringschätzung, mit der Josefine Janert an ihr Thema ging, sind kaum zu überbieten. Ihr Verfahren entspricht dem der üblichen Herabsetzungen: Im Archiv lagere »die versammelte proletarische Dichtkunst des Arbeiter- und Bauernstaates«, Schriftsteller wie Erik Neutsch und Christa Wolf seien »brav« aufgebrochen, »um das Leben der Werktätigen kennenzulernen«, bei den »sich zuspitzenden Widersprüchen des Sozialismus« hätten sich die Autoren ins Private »geflüchtet«. Zu solchen Verdrehungen und Herabwürdigungen werden jene Bemerkungen aus Zirkeln gestellt, die kritischer Art sind, besonders bemerkenswert bei Brigitte Reimann, deren kritische Einschätzungen aus dem Zusammenhang gerissen verwendet werden, deren bedeutende Rolle als Zirkelleitern mit keinem Wort erwähnt wird, auch nicht der Einfluss der Zirkelarbeit auf ihren Roman Franziska Linkerhand. Da ist das Ergebnis eines solchen »seriösen« Artikels natürlich klar. »Große Schriftsteller gingen aus den Zirkeln zwar nicht hervor, wohl aber Autoren, deren Werke sich verkauften.« Dafür habe der »Bitterfelder Weg« »Ideologiekitsch« produziert Voller Häme und Geringschätzung, ohne genaue Kenntnis und vor allem ohne nur ansatzweise begriffen zu haben, dass es beim Bitterfelder Weg zuerst um einen Bildungsvorgang ging, wird von solchen Journalisten drauflos schwadroniert was das Zeug hält.

Janert setzte damit fort, was andere ihr vorgemacht hatten: 1998 schrieb Gero Hirschelmann über eine objektive Behandlung des Themas auf einer Konferenz in Vockerode,[5] vorbereitet von Manfred Jendryschik, einem Schriftsteller, der selbst aus einem Zirkel gekommen war: »Sah Schütrumpf doch im ›Bitterfelder Weg‹ vor allem den Versuch, ›alte Eliten durch neue zu ersetzen‹. Ein Rekrutierungsprogramm sei damals angelaufen, das mit stalinistischen Methoden versucht haben soll, unbotmäßige Intellektuelle auszuschalten.«[6] Mit »Schütrumpf« meinte er den Berliner Historiker Jörn Schütrumpf, der eine Darstellung »Stürmt die Höhen der Kultur!« Der Bitterfelder Weg während einer Führung der Tagungsteilnehmer durch die Ausstellung gegeben hatte, die den Bitterfelder Weg entschieden ablehnte und wofür er entschiedenen Widerspruch erntete. Schütrumpfs Darstellung ging zurück auf ein Diskussionsangebot aus dem Jahre 1997, in dem nichts aus der DDR anerkannt wurde. Der Fehler des Verfassers lag darin, dass er die Gesamtentwicklung ausschließlich aus den offiziellen Dokumenten der Partei, nicht aber aus den Leistungen der Menschen ableitete. Dabei entging ihm der Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit.[7]

Die Journalisten und Historiker setzten nur fort, was Schriftsteller wie Erich Loest und Werner Heiduczek[8] auf der sogenannten 3. Bitterfelder Konferenz, an anderer Stelle Wolfgang Hilbig ihnen vorgesprochen hatten, die den Bitterfelder Weg als »Feldweg, Irrweg und Holzweg« (Loest) sahen. Sie waren jedoch unter den Schriftstellern Ausnahmen. Und die 3. Bitterfelder Konferenz brachte erwartungsgemäß, da auch sie die entstandenen literarischen Dokumente und substanzielle persönliche Erfahrungen und Erlebnisse nicht einbezogen hatte, für eine objektive Geschichtsschreibung nichts.

Natürlich fragt man sich, warum Wissenschaftler und Journalisten derart hemmungslos Falsches oder Herabwürdigendes verkünden, ohne exakt recherchiert zu haben, Material zu studieren und ordentliche Studien zu treiben, was sie sonst – ich unterstelle es – tun. Die Erklärung ist, dass ihre Voreingenommenheit und ihre Vorurteile jede Sorgfalt hinfällig werden ließen, weil sie sich in arroganter Überheblichkeit diesen Prozessen, die sie nicht kannten, überlegen fühlten. Daraus entstand auch das gewollte Missverstehen: Die Bitterfelder Konferenz wurde gleichgesetzt mit den schreibenden Arbeitern, dabei ging es um alle Künste und der Akzent, bis in die Leitbegriffe und die Konferenzlosung, lag auf »Kultur« bzw. »Nationalkultur«, nicht auf Literatur. Deshalb erinnerte Harald Bühl, der das Präsidium des Bundesvorstandes des FDGB auf der Konferenz 1984 in Unterwellenborn vertrat, nachdrücklich daran, dass es um »ein hohes Kultur- und Bildungsniveau der Arbeiterklasse und ein reiches geistig-kulturelles Leben seiner Mitglieder (des FDGB, R.B.)«[9] gegangen sei und gehe. Es waren jedoch auch namhafte Schriftsteller, die sich geradezu über die schreibenden Arbeiter entrüsteten. Als Arno Schmidt 1973 mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt a.M. geehrt wurde, polemisierte er in seiner Dankesrede nicht nur gegen den Bitterfelder Weg im Allgemeinen (»anmaßend geführter Arbeiter= und Bauernkrieg gegen die Phantasie«), sondern auch gegen die schreibenden Arbeiter im Besonderen: »… die marxistisch beliebte Formulierung vom ›schreibenden Arbeiter‹ (bedeute) imgrunde eine Diffamierung des Berufsschriftstellers – gleichsam wie wenn man derlei auch ohne lebenslange mühsame Ausbildung, so nach Feierabend nebenbei mit=ausüben könne«. Schmidt, der sonst großen Wert auf Genauigkeit und wissenschaftliche Gründlichkeit legte, war hier von größter Oberflächlichkeit und kaum zu übertreffender Unkenntnis, die jedoch unwidersprochen blieb: Schmidt polemisierte gegen etwas, was die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht dulden wollte. Unter diesen Umständen fehlt bis heute eine zuverlässige Darstellung der Geschichte der schreibenden Arbeiter und ihres Wirkens. Auch lexikalische Darstellung müssen eingeschlossen werden: Das Metzler Lexikon DDR-Literatur[10]gibt weder unter dem Stichwort Bitterfelder Weg (S. 41–43) noch unter Zirkel schreibender Arbeiter (S. 377–378) zuverlässige Informationen. Bei den Zirkeln geistert u.a. immer noch »nach sowjetischem Vorbild« und die »neue ›bessere‹ deutsche Nationalliteratur« neben vielen anderen falschen Fakten durch den Text, die Zahlen beziehen sich auf 1960 und einzelne Aussagen von Hilbig u.a. werden unstatthaft verallgemeinert. Nicht ein einziger Zirkel wird genannt, nicht ein einziges Dokument eines Zirkels erwähnt. Von ähnlicher Qualität ist der Beitrag zum Bitterfelder Weg, bei dem »schnell eine einheitliche Ablehnung« durch die Schriftsteller »erkennbar« gewesen sei, während das Gegenteil nachweisbar ist und dokumentiert werden kann. Auch hier wurde auf eine Bilanz verzichtet, da die »Erträge in dem Bereich der Breitenkultur … schwer zu fassen« seien, weshalb der Versuch gar nicht erst unternommen wurde. Er wäre, wie die Auswahlbibliografie zeigt, nicht so schwer gewesen, zumal auch Hefte der ndl (Neue Deutsche Literatur; z.B. 1968, 3 und 4) und andere Zeitschriften sich dem Gegenstand gewidmet haben. Die Geschichte der schreibenden Arbeiter der DDR ist nach wie vor nur ansatzweise geschrieben, die des Bitterfelder Weges noch weniger.

Ich wurde also 1964 gefragt, ob ich an dieser Arbeit teilnehmen und einen Zirkel leiten wolle. Volkskunstschaffen und Bitterfelder Weg waren mir nicht neu, nur hatte ich mich bis dahin als Kabarettist und junger Lyriker betätigt, zuerst ganz im Stillen, dann während der Armeezeit im Zittauer Artillerie-Regiment 7 1958–1960, als Folge der I. Bitterfelder Konferenz, in dem Kabarett Das Bajonett, das sehr erfolgreich war und aus dem bekannte Künstler hervorgingen wie der Schauspieler Siegfried Voß (1940–2011) und Wolfgang Schaller (geb. 1940), der nach seiner Armeezeit Pädagogik studierte, Lehrer in Görlitz wurde und 1970 in die Dresdner Herkuleskeule eintrat, die er von 1986 bis 2012 leitete. Am Ende der Armeezeit betreute ich das Kabarett Die Kugelblitze, reichte Gedichte für den Zentralen Ausscheid junger Talente ein und wurde ausgezeichnet.[11] In der Chronik des künstlerischen Volksschaffens findet man in diesem Zusammenhang Namen schreibender Arbeiter oder späterer Zirkelleiter, die ebenfalls ausgezeichnet wurden: Irmgard Heise, Reinhard Kettner, Ulrich Völkel und andere.

Zu Beginn des Studium in Leipzig 1960 war ich in einem Zirkel schreibender Studenten, an dem auch Volker Braun und Bernd Schirmer teilnahmen, der nur kurze Zeit existierte. Zudem gab ich das Schreiben auf, weil ich mich mit dem zunehmendem Wissen um Literatur mehr der analytisch-wissenschaftlichen als der schöpferisch-künstlerischen Arbeit widmen wollte. Einfluss auf diese Entscheidung hatte mein hochverehrter Lehrer Prof. Dr. Hans Mayer, der wohlwollend Gedichte von mir gelesen hatte, aber in einem persönlichen Gespräch riet, mich zwischen wissenschaftlicher und schöpferischer Beschäftigung mit Literatur zu entscheiden. Ich tat es.

Erneut mit dem Bitterfelder Weg direkt in Berührung kam ich, als ich 1963 an einer Diplom-Arbeit über Willi Bredel schrieb und dabei nicht nur mit ihm Briefe wechselte, sondern im Zusammenhang mit einem Praktikum beim Rundfunk ihn am 18. Februar 1963 in Berlin besuchte. Bredel hatte 1959 auf der I. Bitterfelder Konferenz über seinen Weg vom schreibenden Arbeiter zum Schriftsteller gesprochen; im Gespräch mit ihm, das vor allem seine Erzählung Das schweigende Dorf betraf, kam er darauf zu sprechen und beschrieb seinen Weg zum Schreiben, aber auch den Zusammenhang mit fortwährend erworbener Bildung, für deren privaten Erwerb er ein vorbildliches Beispiel bot (Die Prüfung).

Ich erklärte mich also 1965 bereit und übernahm den Zirkel in Leuna im Januar 1966. Es blieb nicht bei der Zirkelleitung in Leuna: Nach dem frühen Tod Wolfgang Friedrichs 1967 übernahm ich den Vorsitz der BAG (Bezirksarbeitsgemeinschaft) und arbeitete in der ZAG (Zentrale Arbeitsgemeinschaft) mit, die im Oktober 1960 in Leipzig gegründet worden war und deren erster Vorsitzender Hasso Grabner wurde, den ich in Leuna als Zirkelleiter ablöste. Auch führte ich die Kontakte zur Dortmunder Gruppe 61 und Josef Büscher sowie zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt, die Wolfgang Friedrich geschaffen hatte, kontinuierlich weiter.[12] Hinzu kam ein brieflicher, auch persönlicher Kontakt zum Schriftsteller Peter Schütt, als er sich noch als linken Dichter gab, und der Hamburger Werkstatt.

Später wurde ich bis 1986 selbst Vorsitzender der ZAG, Mitglied in verschiedenen Beiräten des Ministeriums für Kultur, hielt Vorlesungen zur Methodik in Zirkeln schreibender Arbeiter am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, war bei den Wettbewerbern der schreibenden Arbeiter in Jurys tätig, organisierte Lesungen bis hin zu den Arbeiterfestspielen u.a.

Die ich schreibe, Zeitschrift für schreibende Arbeiter erlebte dreißig Jahrgänge; verantwortlicher Redakteur unter dem Chefredakteur Hanns Maaßen war zuerst Andreas Leichsenring, dann Ursula Dauderstädt. Seit 1964 veröffentlichte ich darin kontinuierlich und gehörte dem Redaktionsbeirat an. 1976 erschien das »Sachbuch für Schreibende« Vom Handwerk des Schreibens, 1983 nach erstaunlichem Erfolg in zweiter Auflage. Ich hatte es gemeinsam mit Andreas Leichsenring und Hans Schmidt (1926–1990) herausgegeben und mehrere Kapitel darin verfasst. Auch in der Bundesrepublik wurde auf die Einmaligkeit und Besonderheit dieses Buches aufmerksam gemacht: Manfred Durzak erklärte in einem Gespräch mit Günter Kunert, in der Bundesrepublik gebe es kein Buch, »das sich ähnlich als Handwerksinstrument für Schreibende versteht«.[13] Es gab kein Feld in der Bewegung schreibender Arbeiter, mit dem ich mich nicht beschäftigte oder auf dem ich nichts zu tun hatte. Zahlreiche Zirkel und sehr viele Schreibende kannte ich persönlich. Am intensivsten und dauerhaftesten aber war die Arbeit im Leunaer Zirkel – nach 1989 nannte er sich, weil die Bindung an das Werk abrupt mit der beginnenden Arbeitslosigkeit beendet wurde, Literarische Werkstatt Leuna. Ich leitete diese Gruppe von 1966 bis 2008. Dann gaben wir die Zirkeltreffen auf – zu viele waren gestorben, sehr alt, krank oder konnten keine Reisen mehr antreten –, aber die Verbindung mit den verbliebenen Zirkelmitgliedern brach nicht ab und dauert bis heute an.

Im zurückliegenden Jahrzehnt hat es Interessierte aus dem Inland,[14] aber vor allem aus dem Ausland gegeben, die sich nach den schreibenden Arbeitern und dem Bitterfelder Weg erkundigten und bei mir ein und aus gingen. Daraus sind wissenschaftliche Arbeiten entstanden[15] oder entstehen gerade.[16] Rundfunk und Presse interessierten sich zu nehmend dafür; ein Höhepunkt wurde 2009 zum 50. Jahrestag der I. Bitterfelder Konferenz erreicht. Aus dem, was für mich eine weitgehend ehrenamtliche Nebenbeschäftigung gewesen war, ist ein wesentlicher Teil meines Lebens geworden, neben der Berufstätigkeit an Universitäten des In- und Auslandes, in Verlagen, bei der Presse usw. Immer öfter trafen und treffen Anfragen ein, wollten interessierte Menschen Aufklärung. Daraus entstanden nach 1989 einige größere Aufsätze, Rezensionen und andere Beiträge. Einige von ihnen wurden hier vereinigt, beginnend mit einem der Ahnherrn der Bewegung, Willi Bredel, und endend mit Aufsätzen über einige Autoren, die an der Bewegung schreibender Arbeiter beteiligt waren, von Lutz Reichelt alias Erhart Eller über Alfred Salamon bis zu Lutz Seiler, dessen Roman Kruso 2014 den Deutschen Buchpreis bekam. Noch immer kommen junge Autoren und legen Manuskripte vor, wollen beraten werden und staunen, wenn man ihnen von der Vielfalt des literarischen Lebens in den Zirkeln erzählt, die nicht vorrangig auf Veröffentlichungen zielten, sondern von der Gemeinsamkeit, dem Lernen, dem Begreifen und dem Genießen von Kunst und Literatur lebten.

Im Zusammenhang mit Rückfragen und Bitten um Informationen fand ich offene Ohren. Der Kulturpolitiker Johannes Kunze (geb. 1956) vom Burgenlandkreis, einst von 1984 bis 1989 Mitglied in dem von Alfred Salamon geleiteten Zirkel in der Schuhfabrik Weißenfels, schickte mir auf meine Bitte hin einige Angaben und Material des Zirkels und fügte an, was viele andere mit ähnlichen Worten mitteilten: »Ist ja auch meine Geschichte, die mich einst sehr geprägt hat! Möchte ich nicht missen!«[17] Er schrieb im Zirkel, schrieb auch danach hin und wieder weiter und schreibt heute Reden für den Landrat.

Um Interessierten einen Überblick und Anregungen zu geben werden diese Texte veröffentlicht, zum freundlichen Gebrauch und zur nachhaltigen Erinnerung. Wenn in den letzten Jahrzehnten viel Werbung für Kreatives Schreiben gemacht wurde, wenn Sachbücher entstanden wie ein Lehrbuch des kreativen Schreibens (2001, Verfasser: Lutz von Werder) und sein Einsatzgebiet angepriesen wird als »neues Lehrgebiet«, kann daran erinnert werden, dass das alles nicht neu ist, sondern auf hohem Niveau in der DDR in den Zirkeln schreibender Arbeiter gepflegt wurde. Auch zur Historisierung dieses Niveaus und um das Wissen darüber nicht völlig zu verdrängen soll das vorliegende Buch dienen und so auch den Grundstein für eine Geschichtsschreibung zur Bewegung schreibender Arbeiter legen.

Die meisten Beiträge liegen gedruckt vor, sind allerdings oft schwer zugänglich; sie wurden weitgehend in der ursprünglichen Fassung, von Fehlern, einzelnen journalistischen Formulierungen und größeren Wiederholungen bzw. Überschneidungen bereinigt und durch Anmerkungen teils aktualisiert, aufgenommen. Manche Fakten kommen dennoch mehrfach vor, was in Anbetracht der geringen Kenntnisse zu diesem Thema von Nutzen sein kann, die selbst bei Wissenschaftlern, die sich mit dem Bitterfelder Weg beschäftigt haben, festzustellen sind. Das Register verzeichnet die we­sent­lichen Namen, Einmalnennungen sind nicht alle aufgenommen worden.

[1] Am 1.–2. Juli 1960 fand am Germanistischen Institut eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema Die Bewegung schreibender Arbeiter und die Aufgaben der Germanistik statt. Beteiligt waren Schriftstellerverband, Mitteldeutscher Verlag und Hochschulgruppe des Kulturbundes. Das Referat arbeiteten die späteren Professoren Hans-Georg Werner und Günter Hartung gemeinsam mit Dr. Wolfgang Friedrich und Dietrich Allert aus.

[2] Vgl. die Dokumentation der Konferenz Ein gutes Wort zur guten Tat. 25 Jahre Bewegung Schreibender Arbeiter, hrsg. vom Bundesvorstand des FDGB, zwei Hefte, Berlin 1984.

[3]Von den zahlreichen Beispielen sei nur dieses genannt, weil durch eine Literaturgeschichte weit verbreitet, Wolfgang Emmerlich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Leipzig 1996, S. 130.

[4]Josefine Jagert: Schreibzirkel in der DDR. »Greif zur Feder, Kumpel!« Spiegel online vom 28. März 2013. – Im Original ist kein Komma vorhanden.

[5]Die Autoren und der Bitterfelder Weg, Propaganda – Illusion – Blick­erweiterung. Tagung im Rahmen der kulturhistorischen Ausstellung »mittendrin – Sachsen-Anhalt in der Geschichte« in Vorbereitung der expo 2000.

[6]Gero Hirschelmann: Ein Blick zurück auf den Bitterfelder Weg. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 13. Juli 1998.

[7] Jörn Schütrumpf: Ausstellung ›mittendrin‹. Abschnitt ›Bitterfelder Weg‹. Diskus­sionsangebot für die konzeptionelle Debatte am 28. Juli 1997 vom 12. Juli 1997.

[8] Vgl. Klaus Staeck (Hg.): Kunst. Was soll das? Die Dritte Bitterfelder Konferenz. Göttingen 1994, S. 13 (Loest) und 15 (Heiduczek).

[9]Ein gutes Wort zur guten Tat. a.a.O., Heft 2, S. 23.

[10] Michael Opitz, Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Stuttgart-Weimar 2009.

[11]Vgl. Chronik des künstlerischen Volksschaffens 1958–1962. Teil I. Jahrbuch 1968, Leipzig 1968, S. 55.

[12] Vgl. Sokoll: Von Gelsenkirchen nach Leuna und zurück – ein deutsch-deutscher Briefwechsel zwischen Josef Büscher und Prof. Dr. Rüdiger Bernhardt. In: Ute Gerhard/Hanneliese Palm (Hg.): Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur. Die Dortmunder Gruppe 61. Schriften des Fritz-Hüser-Instituts, Bd. 25, Essen 2012, S. 215–233.

[13] Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart, a.a.O., S. 85.

[14] Vgl. Anne M.N. Sokoll: »Ein gutes Wort zur guten Tat«. Die Zirkel schreibender Arbeiter im Spannungsfeld zwischen staatlichen Anforderungen und dem Streben nach Freiraum innerhalb der DDR-Volkskunstbewegung und in ihrer Außenwirkung nach Westdeutschland. In: Cepl-Kaufmann, Grande (Hg.): Schreibwelten – Erschriebene Welten, a.a.O.

[15] Vgl. William James Waltz: The Movement of Writing Workers in the German Democratic Republic: The Vision of Cultural Revolution and the Reality of Popular Participation. Dissertation: University of Wisconsin-Madison, 2014.

[16] Anne M.N. Sokoll schreibt an einer Dissertation, die kurz vor ihrer Beendigung steht.

[17] Mail vom 28. Mai 2015 an den Autor.

Erster Teil:Willi Bredel – ein Ahnherr der schreibenden Arbeiter

Hamburg – Handlungsort des ersten proletarischen deutschen Betriebsromans

Der erste Band einer Hamburger Trilogie:Willi Bredels »Maschinenfabrik N. & K.«

Willi Bredel, der 1901 in Hamburg geborene Schriftsteller, ist ein Klassiker der deutschen, speziell der sozialistischen deutschen Literatur geworden, mit allen Vorzügen und Nachteilen einer solchen Stellung. Zu den Vorzügen gehört, dass er Beispiel und Vorbild für spätere Autoren geworden ist, deutlich in der Rolle, die sein Schaffen zum Beispiel für Max von der Grün oder im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gespielt hat, und mit der ihm auch, besonders in der anekdotischen Zuspitzung des Erzählens, in der von ihm gepflegten episodischen Reihung seiner Texte und dem Einsatz von Gestaltungsmitteln wie Korrespondenzen und Reportagen innerhalb eines Romans, literarisch gefolgt wurde. Die Nachteile eines Klassikers sind, dass er mehr verehrt als gelesen wird. Dabei ist die Lektüre seiner Werke ästhetischer Gewinn und manche seiner Texte sind von brennender Aktualität.

I

Es war auf den ersten Blick ein sonderbarer Roman, der 1930 auf den Markt kam: Sein Titel Maschinenfabrik N & K[1] versprach nichts von den traditionellen Romaninhalten, vor allem fehlten in ihm Hinweise auf Menschen. Auch die verwendeten Namen, die auf Besitzer der Fabrik hinweisen könnten, waren auf Initialen reduziert und signalisierten, dass individuelle Schicksale oder persönliche Erlebnisse in einem anderen Kontext aufgegangen waren. Wer trotz des sachlichen, einer Anzeige ähnlichen Titels Hoffnungen auf einen anderen Inhalt hatte, wurde mit der Überschrift des den Roman eröffnenden ersten Abschnitts Das Werk endgültig auf Technik und Arbeit verwiesen. Die durchgestaltete Romanfabel des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts suchten die Leser vergeblich. Diejenigen dagegen, die mit den Erwartungen des Films umzugehen verstanden, mit Simultantechnik und schnellen Szenenwechseln vertraut waren, fanden diese Elemente in Bredels erstem Roman wieder. Er erschien 1930 in der Reihe Eine-Mark-Roman des Internationalen Arbeiter-Verlages als vierter Band; eröffnet wurde die Reihe mit Hans Marchwitzas Sturm auf Essen, Band 2 war Klaus Neukrantz’ Barrikaden am Wedding, und andere, heute vergessene Titel dieser Reihe, neun Bücher waren es insgesamt vom August 1930 bis Ende 1932. Als Band 6 erschien 1931 ein weiterer Roman Willi Bredels, der ebenfalls in Hamburg spielte: Rosenhofstraße. Roman einer Hamburger Arbeiterstraße. Weitere Veröffentlichungen wurden vorbereitet, darunter erneut ein Roman Bredels: Der Eigentumsparagraph. Er konnte allerdings nicht mehr in Deutschland erscheinen; die Nazis vernichteten die Matern. Eine Abschrift, die Bredel in die Sowjetunion geschickt hatte, ermöglichte es, dass dieser dritte Roman Willi Bredels 1933 in russischer Sprache in der Sowjetunion erscheinen konnte.[2] Erst 1961 erschien er erstmalig, von Regina Czora adäquat aus dem Russischen[3] rückübersetzt, in deutscher Sprache. Es war die erste Trilogie Willi Bredels, der später berühmte Trilogien wie Verwandte und Bekannte (Die Väter, Die Söhne, Die Enkel; 1943–1953) und Ein neues Kapitel (Chronik einer Wandlung, 1964) schreiben sollte. Bredel sah in seinen ersten drei Romanen aus der Zeit seiner Festungshaft »literarische Drillinge«, die eine Einheit bildeten und deren »dokumentarischer Wert … zweifellos größer (sei) als ihr literarischer«.[4] Die »Drillinge« sind Bredels erste Hamburger Trilogie; Verwandte und Bekannte wurde die weitaus berühmtere zweite, ebenfalls mit Hamburg als Handlungsort; Ein neues Kapitel schließlich ist die dritte Trilogie, die einer anderen, neuen gesellschaftlichen Formation verpflichtet war.

Die Titel der ersten drei Romane Bredels machten das Programm der Reihe deutlich: Sie zielte auf einen proletarischen Massenroman, dessen Inhalt der politische Kampf sein sollte. Es waren Romane aus dem Alltag der Arbeit, dem revolutionären Kampf und der rücksichtslosen Unterdrückung durch das Kapital. Das Leben der Familie spielte dagegen keine Rolle. Als diese literarische Reihe eingeführt wurde, sah man sie als repräsentative Literatur für den proletarischen Massenroman und als politisches Werkzeug im Klassenkampf. Die präzise zu beschreibenden Aufgaben wurden nicht unterschwellig vermittelt, sondern waren der Tenor der offiziellen Berichterstattung.

Der jugoslawische Kunst- und Literaturkritiker Oto Bihalji-Merin (1904–1993), Vorstandsmitglied des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller, der unter dem Kurznamen O. Biha vor seinem Gang ins Exil 1933 in der linken Presse publizierte und Redakteur der Zeitschrift Die Linkskurve war, stellte die Reihe in der Roten Fahne am 2. August 1930 vor und gab ihr ein Motto aus Lenins Parteiorganisation und Parteiliteratur mit auf den Weg: »Das Literaturwesen muss zu einem Bestandteil der organisierten, planmäßig vereinheitlichten Parteiarbeit werden.«[5] Das bedeutete, dass Literatur weitgehend auf ihren Unterhaltungswert zu verzichten hatte; sie wurde zu einem Bestandteil des politischen Kampfes. Nur wenn dieser Ansatz verstanden, ernst genommen und mit den gesamten ästhetischen Entwicklungen in Beziehung gebracht wird, lassen sich die besondere Rolle der Literatur in allen sozialistischen Entwicklungen und ihre seismographische Bedeutung für Sieg oder Niederlage begreifen, die immer begleitet wurden von einer erhöhten Aufmerksamkeit der politischen Funktionsträger und ihrer Sicherheitsapparate für die Literatur, in der sie ein Abbild der und eine Handlungsanleitung für die politische Arbeit sahen. Das wurde auch in Bihas Vorstellungsartikel deutlich: Die Reihe sollte »eine Bresche schlagen in den Gürtel der feindlichen Literatur«.[6] Bekämpft wurden die Massenromane »des klassenlosen Idylls«,[7] in dem Harmonie auch im wirtschaftlichen Geschehen dominierte, Vaterlandsliebe und Heroismus bei der Überwindung der Niederlage des Ersten Weltkrieges triumphierte und einen verspäteten Sieg unterstellte, deutsche Wertarbeit und ertragreicher Besitz von keinen sozialen Verteilungsvorstellungen gestört werden sollten. Das literarische Umfeld von 1930 machte die konsequente Bestimmung eines proletarischen Romans notwendig, denn den Markt beherrschten neben herausragenden Einzelwerken wie Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) vor allem gut beworbene und in großen Auflagen gedruckte Weltkriegsromane wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929). Der zeitgeschichtliche Hintergrund für die Bücher über den Ersten Weltkrieg von Erich M. Remarque, Edlef Köppen, Ludwig Renn, Arnold Zweig und anderen war ein doppelter: Einmal behandelten sie den Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 und einen Teil des Vor- und Nachkriegs; zum anderen erschienen sie nach 1929, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und dem nahen Ende der Weimarer Republik, die 1933 von der nationalsozialistischen Diktatur abgelöst wurde. Diese Zeit behandelte auch Bredels Maschinenfabrik N. & K.; in Hamburg kam es, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, zu einem Hafenarbeiterstreik und ein Streik von Fabrikarbeitern bildet den Höhepunkt von Bredels erstem Roman.

Erich Maria Remarques Buch Im Westen nichts Neues wurde in dieser Zeit zum Bestseller und gehört zu den literarischen Ausnahmeerfolgen im 20. Jahrhundert. Alle anderen Werke Remarques konnten sich nie aus dem Schatten dieses Buches lösen. Es gehört in eine Reihe von Werken, die nicht Wissen um den Krieg vermitteln wollen, denn das war inzwischen sowohl bekannt als auch bereits wieder verdrängt. Andere Werke aus dieser Reihe sind Ludwig Renns Krieg, (1928), Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1928) und Adam Scharrers Vaterlandslose Gesellen (1930); sie wollten vor der Wiederholung des Krieges und vor erneutem Militarismus warnen.

Die Grenzen bei der Bewertung des Krieges in Im Westen nichts Neues und anderer Titel sind deutlich: Der Krieg wird aus der Perspektive der leidenden Soldaten betrachtet. Der Krieg wird für sie zu einem unmenschlichen, sinnlosen und pervertierenden Vorgang. Die Texte stellen die Frage nach dem Sinn des Krieges und lassen Soldaten darüber nachdenken, ohne eine befriedigende Antwort zu finden. Die Grenzen lassen sich mit einer pazifistischen Grundhaltung erklären, der Krieg wird als Verbrechen verstanden, nicht aber als Ausdruck von Herrschaftspolitik. Fragen wurden zahlreich gestellt, Antworten keine gegeben. Darin lag eine wesentliche Aufgabe des neuen proletarischen Romans; deshalb hat Bredels erster Roman auch einen deutlich belehrenden Gestus. Alfred Melmster gibt Antworten auf Fragen des Klassenkampfes. Dagegen kamen die Soldaten in den Romanen zum Ersten Weltkrieg nicht auf die historisch korrekten imperialen Hintergründe und die daraus sich ergebenden Antworten, die Ziele der nationalen Machthaber blieben ihnen verborgen und das politisch-ökonomische Interesse der Industrie und der Politiker wurde den Betroffenen an der Front nicht bewusst. Diesen Grenzen stellten sich die neuen proletarischen Romane entgegen, die vorhandenen Lücken wollten sie schließen, indem sie die ökonomisch-politischen Ursachen für Kriege, Kämpfe und politische Auseinandersetzungen aufzudecken versuchten. In Bredels in Deutschland 1933 nicht mehr veröffentlichten Roman Der Eigentumsparagraph wird die Beziehung zwischen dem Hurrapatriotismus von 1914 und dem Kriegsgewinnler am Beispiel erläutert, es wird auch der unmenschliche Preis genannt, der für diese Gewinne gezahlt werden musste, wenn eigene »Kinder für Heeresaufträge verkauft«[8] wurden. In Bredels Maschinenfabrik N. & K. wird nicht nur die Schwere und Gefährlichkeit der körperlichen Arbeit ausführlich und detailliert beschrieben, sondern dem Arbeiter wird die Aufgabe übertragen, sich genaue Kenntnisse über die Planung von Arbeit, den Gewinn und die Verteilung zu erwerben. Alfred Melmster, in gewisser Weise eine Art Hauptfigur und Alter Ego von Willi Bredel, belehrt die Genossen, die er in der Maschinenfabrik antrifft: Wir »müssen auch in den Betrieben gute, wissbegierige Arbeiter sein, die nicht nur ihr Handwerk, sondern auch noch die Kalkulation beherrschen und möglichst noch von Vertrieb und Umsatz eine Ahnung haben, denn wir wollen doch später mal die Betriebe sozialisieren; und wer sollte sie dann leiten, wenn nicht wir?« (29) Melmster ist die Alternativgestalt zu den literarischen Helden der bürgerlichen Romane, denn er weiß und gibt Antworten.

II

Den Inhalten des proletarischen Massenromans werden auch dafür notwendige Formen beigefügt wie die »Arbeiterkorrespondenz« (26), die auch die Grundlage für die einzelnen Abschnitte des Romans ist und zum Titel eines Abschnitts avancierte (»Arbeiterkorrespondenz 2516«, 51). Die Arbeiterkorrespondenz spielt in den ersten drei Romanen Bredels eine strukturelle Rolle, indem sie einzelne Handlungsvorgänge auslöst, Hintergrundinformationen öffentlich macht und Handlungsanweisungen übermittelt.

»Arbeiterkorrespondenz« und »Betriebszeitung« waren entscheidende literarische Mittel für die soziale Auseinandersetzung; beide gehören zu den publizistischen Formen. In Bredels Maschinenfabrik N. & K. bilden sie das Gerüst des Geschehens und werden in unveränderter Form aus der Betriebszeitung in den Roman übernommen (68f.). Damit wird der Roman selbst zu einer der Reportage nahestehenden Form. Das war ein Ansatz für die Diskussion und Auseinandersetzung, die Georg Lukács mit dem konstituierten Gegensatz von Reportage oder Gestaltung? 1931/32 an den Beispielen von Ernst Ottwald und Willi Bredel auslösen sollte. Bredel setzte die Arbeiterkorrespondenz als spezifisches journalistisches Mittel auch in den anderen Romanen ein; in Der Eigentumsparagraph gibt der Verlagsleiter der Hamburger Volkszeitung dem Inhaber der Wäscherei eine Lehrstunde über die Bedeutung der Arbeiterkorrespondenz für die Existenz der Zeitung, die nicht nur von Arbeitern gelesen, sondern »zum großen Teil«[9] auch von ihnen gemacht werde.

Neben den Inhalten, denen sich der proletarische Roman widmen sollte, wurden von O.Biha in einem groben Raster ästhetische Besonderheiten und formale Mittel genannt, sie wurden empfohlen und blieben nicht dem Zufall überlassen. Die zentrale literarische Kategorie des Helden wurde zu Gunsten der Masse aufgegeben; lediglich eine Art Räsoneur – in diesem Fall Alfred Melmster – trat an diese Stelle und kommentierte bzw. belehrte die handelnden Personen. Es war kein Zufall, dass in diesem Zusammenhang Georg Büchners Dantons Tod und Gerhart Hauptmanns soziales Schauspiel Die Weber von 1892 mehrfach Aufmerksamkeit bekamen. Der überaus belesene Bredel war bereits als Jugendlicher vom Theater begeistert, sang neunjährig als Chorknabe am Hamburger Stadttheater, lernte Opern und Schauspiele kennen und bezog berühmte literarische Beispiele immer wieder in seine Romane ein. Er las zudem sehr viel und entwickelte eine besondere Vorliebe für Themen aus dem deutschen Bauernkrieg, der Reformation und der Französischen Revolution von 1789,[10] Themen, die in Gerhart Hauptmann und Georg Büchner ihre Dichter fanden. In Literaturzirkeln der Arbeiterjugend und einem von dem Schriftsteller Wilhelm Lamszus geleiteten Zirkel gab es, »wie sich Bredel später noch erinnerte, lebhafte wochenlange Diskussionen anlässlich der Aufführung von Dramen Gerhart Hauptmanns, Henrik Ibsens und Georg Kaisers«.[11]

1927 erschien der Film Die Weber (Regie: Friedrich Zelnik, Drehbuch: Fanny Carlsen, Willy Haas; Maskenbildner und Zwischentitel: George Grosz), der Film galt zeitweise als deutsche Entsprechung zu dem berühmten Film Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, der wie auch sein Schöpfer Bredel begeisterte. Er selbst hatte seine ersten literarischen Versuche der Französischen Revolution von 1789 gewidmet – drei verloren gegangene Schauspiele – und sich dabei auf Georg Büchner berufen. Sein erstes veröffentlichtes Buch war 1924 die historische Studie Marat der Volksfreund. – Individuelle Konflikte und Leidenschaften sollten in dem proletarischen Massenroman nur Bedeutung erlangen, wenn im Individuellen »die Konflikte der Zeit und die Kämpfe der Massen«[12] gestaltet worden seien.

Formal bediente Bredel sich der Mittel, die er als Arbeiterkorrespondent und Redakteur erfolgreich eingesetzt hatte: Es gab keine aufwendige Handlung, die in mehrere Kapitel geteilt wurde, sondern fast blitzlichtartig wurden kurze Beschreibungen von Ausschnitten gereiht. Eine zeitliche Struktur wurde durch Wiederholungen geschaffen. Der Roman beginnt mit einer genauen Zeitangabe (»Jetzt war es 15 Minuten vor 7.«; 5), dem Arbeitsbeginn; auf seinem Höhepunkt, während des Streiks, wird mit dieser gleichen Zeitangabe auf den Streik verwiesen (»Kein Rad drehte sich … Jeden Morgen 15 Minuten vor 7 …«; 135). Diese Wiederholungen – es finden sich mehrere wie das Treffen auf der Latrine, Versammlungen usw.- geben dem Roman seinen Wechsel von Arbeit und Streik. Das unterstützte die Bemühungen, individuelle Schicksale und private Konflikte fast gänzlich zu verdrängen und durch politische Vorgänge zu ersetzen. Eines der erschütternden Beispiele in Bredels Roman – der alte Dreher Johann Holt, »ein Greis von 76 Jahren« (54), nimmt sich mit seiner Frau das Leben, als er zum 50-jährigen Dienstjubiläum statt der erwarteten Betriebsrente Brosamen erhält – erinnert an Gerhart Hauptmanns alten Hilse aus den Webern, der wie Bredels Johann Holt, der mit 76 noch arbeiten muss, der herrschenden Macht lebenslang diente und dann ihr Opfer wird. – An die Stelle poetischer Metaphorik trat, mit einer Ausnahme am Ende, die reale Beschreibung, die den proletarischen Roman der naturalistischen Epik vergleichbar werden ließ. Die Geräusche der Arbeit waren nicht mehr »die so oft angedichtete Sinfonie der Arbeit«, sondern eine Qual, »in der die Arbeiter von morgens bis abends ihr ganzes Leben lang schufteten und lebten.«[13] Die traditionellen erzählerischen Mittel wurden ergänzt durch journalistische und agitatorische Elemente.

An die Stelle der Beschreibung trat das politische Referat (»Genossen, ich eröffne unsere außer der Reihe eingerufene Zellensitzung.« 21), statt der Intensität der Milieubeschreibung wurden Analysen geboten (»Es gab tatsächlich nur wenige Jungarbeiter, die aktive Parteigänger der SPD waren.« 33) Es gab eine genaue Publikumsvorstellung im Umkreis des proletarischen Romans: Neben den Arbeitern, denen diese Literatur Lehrbuch sein sollte, galt die Aufmerksamkeit der Jugend, den Bauern und den Frauen, also jenen sozialen Gruppen, die vom politischen Kampf bisher nicht unmittelbar in Anspruch genommen worden waren.[14] Dem Publikumsbild entsprechend galt es, Handlung und Entwicklungen in den Romanen möglichst leicht überschaubar und die darin angelegten politischen Informationen ohne einen größeren theoretischen Überbau zu vermitteln. Willi Bredel gelang das in überzeugender Weise: Als er die Genossen zu einem ersten Gespräch mit dem »Neuen« zusammenführt, geschieht das auf der »Latrine«, »atemerstickend war der Gestank, der einem entgegenschlug« (16). Da blieb nur die Möglichkeit schneller Verständigung, nicht die ausführlicher Erörterung.

III

Über die Entstehung des Romans hat der Schriftsteller mehrfach ausführlich Auskunft gegeben. In einem Nachwort zur Neuausgabe 1960 beschrieb er das Buch als Ergebnis seiner zwei Haftjahre, die er für seine publizistische Tätigkeit bei der Hamburger Volkszeitung und der Norddeutschen Zeitung bekam; die Haftjahre wurden für ihn »schriftstellerische Lehrjahre«.[15] Er arbeitete 1927–1928 in der Hamburger Maschinenfabrik Nagel & Kaemp als Dreher. Nachdem er dort entschieden für die Interessen der Arbeiter eingetreten war, wie sein Alfred Melmster in Maschinenfabrik N. & K., wählten ihn die Arbeiter in den Betriebsrat: Die Besetzung des Betriebsrates ist eine wesentliche Handlung im Roman, gilt es doch, den Betriebsrat aus den Händen gefügiger Sozialdemokraten, die den Willen der Direktion erfüllen, in die Hände kämpferischer Arbeiter zu geben und dabei die Mehrheit der Arbeiter hinter sich zu wissen. Nachdem Bredel Mitglied des Betriebsrates geworden war, entließ man ihn, angeblich wegen Arbeitsmangels. Das im Roman Beschriebene war Selbsterlebtes: Die Fabrik erschien als Negel & Kopp im Roman und als Maschinenfabrik N. & K. schließlich im Titel.

Seit dem Juli 1928 arbeitete Bredel in der Redaktion der Hamburger Volkszeitung; die Bezirksleitung der KPD hatte ihn »auf Anregung Ernst Thälmanns«[16] berufen. Er begann Theaterkritiken und Buchbesprechungen zu schreiben. Als er wegen seiner Tätigkeit als »verantwortlicher Schriftleiter der Hamburger Volkszeitung und der NorddeutschenZeitung«[17] der Vorbereitung zum literarischen Hoch- und Landesverrat angeklagt und verurteilt wurde, schrieb er während der Haft die Erlebnisse seiner Betriebszugehörigkeit nieder. Das Manuskript schickte er an den Schriftsteller Ludwig Renn, der seit dem Erscheinen seines Romans Krieg (1928) ein berühmter Autor geworden war und dessen Buch Bredel fasziniert hatte. Renn war zudem nicht nur ein entschiedener Kriegsgegner; sein Buch wurde neben Remarques Im Westen nichts Neues am erfolgreichsten und erlebte 23 Übersetzungen. Auch literarisch stand Renns Buch dem Remarques nicht nach, jedoch hatte der Verlag viel weniger Werbemittel zur Verfügung und zudem ging Renn der Ruf voraus, ein entschiedener Linker zu sein. Gerade das aber machte ihn für die entstehende proletarische Literatur vertrauenswürdig. So wurde Bredels Manuskript in einem von der Linkskurve verbreiteten Preisausschreiben, das auf die Entwicklung einer proletarischen Literatur zielte, gewürdigt und schließlich in einer stattlichen Auflage von 30.000 Exemplaren veröffentlicht.

Die Entstehung verlief von vornherein mit den Forderungen an die proletarischen Korrespondenzen kongruent, die im Umfeld des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller bewusst und zielstrebig gefördert wurden. Diese Arbeiterkorrespondenzen wollte Bredel ursprünglich lediglich erweitern; dabei entstand jedoch eine Form des proletarischen Massenromans: Es ging um politische und soziale Konflikte in einem Betrieb, also unter einer Masse von Arbeitern; Privates trat fast völlig zurück. Seinen Wert bekam dieser Roman nicht durch die schöpferische Phantasie des Autors, sondern durch die wahrhaftige Abbildung des zeitgenössischen politischen Geschehens in Hamburg.

Die Handlung des Romans bestand im wesentlichen aus Szenen über Auseinandersetzungen der bei N. & K. arbeitenden Kommunisten und mit ihnen kämpfenden Sozialdemokraten mit der reformistischen Führung der Gewerkschaft. Verschärft wurde die Auseinandersetzung dadurch, dass am 1. Mai 1929 der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Karl Zörgiebel, auf die demonstrierenden Arbeiter hatte schießen lassen und ein Blutbad angerichtet hatte, das sich in ganz Deutschland auswirkte. Dadurch verschärften sich die Arbeitskämpfe auch in anderen Städten, so auch bei N. & K. in Hamburg. Bredel hatte dazu in der Hamburger Volkszeitung (Extrablatt) ausführlich am 2. Mai 1929 Stellung genommen.[18] Die Hamburger Sicherheitsbehörden wurden unsicher und vermuteten, es könnte wie 1923 ein Aufstand ausbrechen. Diese Ahnungen setzte Bredel in seinem Roman Maschinenfabrik N. & K. um: Als die Arbeiter streiken, ermordet die Polizei einen jungen Tischler, es kommt zu Gewaltakten und bewaffneten Auseinandersetzungen. Im Zusammenhang mit Bredels Extrablatt erwartete die Polizei, dass es zu »gesteigerte(r) Erregung der Versammlungsbesucher« und »gesteigerte(r) Alarmbereitschaft der Polizei«[19] käme, wie ein Polizist 1929 vor Gericht gegen Bredel aussagte. Im Roman ist das Wirklichkeit geworden: Alles drängt zum Höhepunkt des Romans, dem Streik der Arbeiter gegen die Sparmaßnahmen der Betriebsleitung, die Lohnabbau und verstärkte Ausbeutung zur Folge hätten. Die Streikfront setzt sich aus unterschiedlichen Kräften zusammen, die unter der Führung der kommunistischen Streikleitung, nach deren Verhaftung unter der Führung Melmsters, eine gemeinsame Strategie erarbeiten und durchsetzen. Dabei werden Spitzel enttarnt, reformistische Verräter verdrängt, vor allem aber wird das Wirken der korrupten sozialdemokratischen Betriebsräte zeitweise erschwert. Der Streik führt jedoch zu keinem Sieg: Einerseits setzen sich die alten sozialdemokratischen Arbeiterräte wieder durch, nachdem die Kommunisten durch die Betriebsleitung aus dem Betrieb vertrieben worden sind, andererseits wissen aber nunmehr viele Arbeiter, wie Betriebsratswahlen manipuliert werden, wie »alle oppositionellen und der Opposition verdächtigen Arbeiter entlassen« (179f.) werden können. Das stärkt die Gemeinsamkeit der Arbeiter und kann so mindestens zum Teil auch als ein Sieg und als Option auf die Zukunft verstanden werden.

Bredel beschrieb es so: Auf dem gemeinsamen Weg zum Arbeitsamt, wo sich die aus der Haft entlassene Streikleitung melden muss, entsteht bereits wieder ein eindrucksvoller Demonstrationszug: »Schweigend schritten die achtzig Arbeiter mit schweren, dröhnenden Schritten durch die Straßen.« (183) Dabei entsteht neben dem Gemeinschaftsgefühl auch das Gefühl kommender Siege und die demonstrierenden Arbeiter beginnen gemeinsam die Internationale zu singen.

Die Hamburger Volkszeitung hatte am 2. Mai 1929 ein Extrablatt herausgebracht, das die arbeiterfeindliche Politik der SPD-Führung beschrieb. Es wurde beschlagnahmt und gegen Bredel als dem verantwortlichen Redakteur wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Hinzu kam, dass sich die Nationalsozialisten bereits in diese Kämpfe einmischten; Bredel fügte zu Beginn des letzten Viertels seines Romanes Ein Kapitel über Faschismus (149ff.) ein und ließ darin Alfred Melmster den streikenden Arbeitern eine Lehrstunde über faschistische Methoden erteilen, obwohl diese noch gar nicht den Grund für die Lektion erkennen oder erkennen können. Bredel und sein Alter Ego wussten Anfang 1930, was im Januar 1933 mit der Machtübergabe an Hitler politische Wirklichkeit werden sollte. Diesen historischen Hintergrund, der dem zeitgenössischen Leser bekannt war und der deshalb nicht explizit ausgebreitet werden musste – Bredel begnügte sich, den Faschismus als eine neue Gefahr dabei ausnehmend, mit sparsamen Hinweisen – machte der Schriftsteller zum Gegenstand seiner Hamburger Trilogie: Handelte Maschinenfabrik N. & K. vom Kampf um Arbeitsbedingungen und Lohn in den Betrieben in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und des heraufziehenden Faschismus, so dominierte in der Rosenhofstraße die politische Arbeit im Wohngebiet unter den gleichen Vorzeichen und im abschließenden dritten Roman Der Eigentumsparagraph ging es konzentriert um die Abwehr des Faschismus. Gemeinsam bildeten diese drei in Hamburg spielenden Romane »eine kleine Trilogie aus den Geburtsjahren der proletarisch-revolutionären Literatur«.[20] Auch später, 1960, bezeichnete Bredel die Trilogie als »ein wahrheitsgetreues Dokument aus den damaligen politischen Kampfjahren«.[21]

Die politische Thematik wirkte sich auf die Gestaltung aus: Literarisches verband sich mit Agitatorischem, Erzählerisches nahm Propagandistisches auf, neben die Beschreibung von Produktions- und Arbeitsvorgängen wurden Flugblätter mit Lohnforderungen, Presseartikel und Korrespondenzen usw. gestellt. In den Dialogen wurde auf eine individuelle sprachliche Ausgestaltung verzichtet und dafür das politische Vokabular des Parteitribunen verwendet (Melmster: »Die Frage des Klassenkampfes und der revolutionäre Kampf der Arbeiter ist keine besondere Frage der Generationen.« 81).

Literatur wurde zum Parteitext; Ästhetisches und Politisches überlagerten sich gewollt. Daraus entstand einerseits die aktuelle Wirksamkeit dieser Literatur, andererseits lösten diese veränderten Gestaltungsmittel eine heftige Diskussion aus, die insbesondere von Georg Lukács bestimmt wurde, sich an Bredels ersten Romanen entzündete und dann noch detaillierter in Aufsätzen über Ernst Ottwalt ausgeführt wurde.[22] Lukács forderte, einer realistischen Literatur ihre spezifischen ästhetischen Merkmale zu belassen und nicht den politischen Einzelfall, sondern die historische Gesamtsituation zu erfassen, bei der dann auf die politisch motivierten nichtliterarischen Elemente wie Montagen, Reportagen und Korrespondenzen verzichtet werden konnte. Das allerdings machte eine wesentliche Besonderheit der ersten Romane Bredels aus, der die Kritik zum Teil akzeptierte, wohl auch aus dem Bewusstsein des Anfängers heraus. Tatsächlich jedoch nahm diese Gestaltung Elemente der naturalistischen Literatur und der Neuen Sachlichkeit auf und bereitete die Moderne vor. Die Leser stellten sich auf die Seite Bredels und lasen seine Romane als Kampfschriften, ihnen kam es nicht auf »künstlerische Literatur an, sondern auf den Wert des Buches im Klassenkampf«.[23] Nur eine einzige Passage in Maschinenfabrik N. & K. fällt aus dem gestalterischen Rahmen heraus und zeigt, dass Willi Bredel durchaus mit den traditionellen Elementen der Literatur umzugehen verstand: Es ist das Ende. Zwar ist der Streik sieglos geblieben, aber der Mut ist nicht verloren gegangen. Zwar hat es Opfer gegeben, aber die Hoffnung ist nicht gestorben. Im Angesicht der verbleibenden Zuversicht stimmen die Arbeiter die Internationale an. In diesem Augenblick verändert Bredel den stilistischen Ablauf. Der Gesang der Arbeiter wird personifiziert, fast mythisch überhöht: »Der Gesang stürmte die Straßen entlang, kletterte an den Häusern hoch und drang in die Türen und Fenster.« (184) Dieses metaphorisch überhöhte Ende erinnert an den Beginn von Anna Seghers Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928), in der es auch um einen Aufstand ging, sein Ende, die Trauer und die Hoffnung. Zu Beginn sitzt der Aufstand auf »dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gepflegt und behütet hatte für das, was für sie am besten war«.[24] In beiden Fällen werden der Aufstand bzw. der aufständische Gesang personifiziert und in ihnen wird, bei allem Wissen um die Niederlagen, die Hoffnung weitergetragen in die Zukunft. Die metaphorische Überhöhung bleibt die absolute Ausnahme im sachlichen, fast spröden literarischen Text Bredels.

Bredel gelang mit seinem ersten Roman ein großer Wurf. Er wurde zum führenden proletarischen Schriftsteller, der den »ersten und besten proletarischen Betriebsroman geschrieben«[25] habe. Der Mitherausgeber der Linkskurve Kurt Kläber (1897–1959) lobte Bredel in höchsten Tönen und stellte ihn »mitten« in die proletarische Armee. Er sah in Maschinenfabrik N. & K. alle Voraussetzungen für den proletarischen Roman erfüllt, zum Beispiel den Verzicht auf Individuelles und Privates. Dafür gehe der Roman mitten in den »Kampf der proletarischen Avantgarden um Betrieb und Betriebsarbeiter«, statt der üblichen Konfliktkonstellationen zwischen Personen sei es hier »der Kampf der revolutionären Elemente gegen die Nationalsozialisten und gegen die Sozialfaschisten«, schließlich sei das Buch nicht nur ein Roman, sondern ganz im Sinne des vorangestellten Lenin-Zitates sah Kläber darin »ein Lehrbuch. Das Abc unserer täglichen Kämpfe.«[26] Ähnlich reagierte O. Biha in der umfangreichen Abhandlung Die proletarische Literatur in Deutschland:[27]»Es ist der erste Roman, der tatsächlich eine Fabrik vom Standpunkt des Arbeiters aus schildert, der derartig realistisch und wahrhaftig Leben, Kampf und Arbeitsprozess schildert.«[28] Andere verwiesen darauf, dass zum ersten Mal »die politische Rolle einer kommunistischen Parteizelle literarisch«[29] gestaltet worden sei. Die Aufzählung ähnlicher Urteile ließe sich mühelos fortführen; darin würde auch deutlich, was der Roman nicht leistete: Es gab in ihm keine Beschreibungen von Natur und territorialer Besonderheiten – auch der Handlungsort Hamburg bekam kaum Konturen –, es wurden keine emotionalen Beziehungen und Konflikte gestaltet und es gab für den Leser keine kathartischen Lösungen, die im klassischen Erziehungssinn zu seiner Reinigung geführt hätte. Dafür gab es grundlegende und ausführliche Belehrungen und Handlungsanweisungen für die politischen Kämpfe.

Als Willi Bredel 1932 nach seiner zweijähriger Haft wegen Hochverrats entlassen wurde, waren seine ersten drei Romane, darunter Maschinenfabrik N. & K. in einer Auflage von 100.000 Exemplaren, in russischer Sprache erschienen.[30] Es folgten Übersetzungen ins Ukrainische, Dänische, Jiddische, Holländische und Japanische sowie in Esperanto. Das Buch wurde ein großer Erfolg. Bredel bereiste 1932 die Sowjetunion und wurde als Schriftsteller gefeiert. Gleichzeitig musste er sich jedoch von erfahrenen Kollegen wie Konstantin Fedin sagen lassen, dass diese Bücher keine oder noch keine Literatur seien. Fedin listete Bredel als Mängel auch Elemente auf, die das Programm des proletarischen Massenromans ausgemacht hatten: »Die Konzeption ist zu unklar, der Dialog ist nicht so aufgebaut, wie es sein müsste, die Sprache ist nicht die beste, die Gestalten sind nicht richtig herausgearbeitet und so weiter«.[31] Ähnliche Kritik hatte es auch bereits wenige Monate nach der Veröffentlichung der ersten Romane der Reihe in Deutschland gegeben: O. Biha, der die programmatischen Forderungen 1930 wesentlich entwickelt und propagiert hatte, sah deren Umsetzung bereits im Januar 1931 in Bredels Maschinenfabrik N. & K. kritisch. Zu nahe war seiner Meinung nach die Konzentration auf den proletarischen Kampf der naturalistischen Beschreibung gekommen. Bredel – neben ihm auch Marchwitza – sei einem »fotografischen Naturalismus« gefolgt und habe dabei die Verwendung von »mehr beschreibenden als gestaltenden Mitteln«[32] gepflegt. Ausgebaut und weitergeführt wurde diese Kritik im November 1931 von Georg Lukács mit dem Aufsatz Willi Bredels Romane in der Linkskurve. Er ging den programmatischen Forderungen nach und prüfte sie an den inzwischen vorhandenen Gegenständen. Ohne hier diesen Ausführungen zu folgen, sei festgestellt, dass Lukács die Grenze zwischen künstlerischer Literatur und Reportage bestimmte. Den entscheidenden Unterschied sah er in der Gestaltung emotionaler Haltungen durch den politischen Kampf und in der Individualisierung der politischen Handlungen. Daraus entwickelte Lukács eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen zwei Möglichkeiten der Literatur: Einmal der schöpferischen Gestaltung und zum anderen die Vermeidung der gestalterischen Elemente; Lukács prägte die Gegenüberstellung von Gestaltung und Reportage,[33] so überschrieb er einen seiner Artikel. Die Debatte ging über Bredels Romane hinaus und betraf Grundsätzliches einer sozialistisch-realistischen Literatur.

1960 erschien Willi Bredels Maschinenfabrik N. & K. erneut. In einem Nachwort im Neudruck beschrieb Bredel ihn als Leistung eines schreibenden Arbeiters von 1929. Als der Neudruck erschien, machte die Kritik auf zwei Bedeutungen aufmerksam: Einmal könne nun das spätere Schaffen Bredels im Vergleich mit den Anfängen erst »gebührend« eingeschätzt werden. War diese Bewertung noch mehr eine Höflichkeitsbezeugung, so traf die zweite Feststellung den Kern: Mit diesen frühen Romanen, insbesondere mit Maschinenfabrik N. & K und der Rosenhofstraße, hat Willi Bredel bedeutsame Literatur geschaffen. »Gewiss haben diese Romane Schwächen – der Komposition, der Sprache usw. –, das soll keineswegs verhehlt werden; aber sie besitzen trotz aller Schwächen eine Kraft der Überzeugung, die auch den heutigen Leser zu packen und zum Nachdenken zu bringen vermag.«[34]

IV

Und Hamburg? In den ersten drei Romanen Bredels spielt Hamburg eine Rolle als Stadt einer engagierten Arbeiterbewegung, die sich gegen reformistische Entwicklungen in der Gewerkschaftsbewegung zur Wehr setzt. Dabei war in Willi Bredels Denken Ernst Thälmann, über den er gemeinsam mit Michael Tschesno-Hell ein Filmszenarium Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (uraufgeführt 1954) geschrieben hatte, immer gegenwärtig. Im Titel des ersten Romans Maschinenfabrik N. & K. spielt eine Hamburger Fabrik eine entscheidende Rolle: Das Eisenwerk Nagel & Kaemp wurde 1865 in Hamburg-Winterhude gegründet, stellte Turbinen, Pumpen, Mühlen usw. her und war allen Hamburgern bekannt. Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts kamen Krananlagen dazu, die unter dem Namen Kampnagel in aller Welt bekannt wurden; 1889 wurde das Werk zu einer Aktiengesellschaft, die im Namen weiterhin »vorm. Nagel & Kaemp« trug. Bredel konnte von dem Initialtitel ausgehend erwarten, dass seine Hamburger Leser den Handlungsort sofort erkannten. Für diese Leser war der Roman durch die Anbindung an die Presse zuerst gedacht, entsprach er doch den Arbeiterkorrespondenzen der Tagespresse. Der zweite Roman Rosenhofstraße trägt im Untertitel den Hinweis auf Hamburg: Roman einer Hamburger Arbeiterstraße. Auch hier war der Straßenname bekannt als Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof, bebaut in der Gründerzeit. Bredel nutzte das äußere Erscheinungsbild der Straße, um auf die sozialen Konflikte bildhaft hinzuweisen: »Der letzte Hauseingang links sah fast noch abscheulicher aus als die ersten, noch verfallener. Knapp über der Parterrewohnung klaffte ein breiter Riss in der Hauswand, der den baufälligen Charakter des Hauses noch erhöhte. Alles war schmutzgrau.«[35] Im dritten Roman Der Eigentumsparagraph wird der wichtigste Handlungsort mit seiner Adresse angegeben: Dampfwäscherei Frauenlob, Hamburg-Lenndorf, Besitzer B. Volkmar, Tel. 44–73.[36] Hamburg ist in den Romanen präsent, aber es ist nicht die weltoffene Stadt mit dem Hafen, den Sehenswürdigkeiten und der hanseatischen Seriosität, sondern es ist das Hamburg der sozialen und politischen Widersprüche, das Hamburg Ernst Thälmanns. Maschinenfabrik N. & K. ist ein Roman aus dem proletarischen Alltag Hamburger Klassenkämpfe. Willi Bredels frühe Romane insgesamt bilden eine erste proletarische Trilogie aus Hamburg, deren Gegenstand das sozial konfliktreiche Geschehen im Hamburg um 1930 ist.

[1] Bredel: Maschinenfabrik N. & K. a.a.O. Im weiteren Verlauf werden die Zitate durch nachgestellte Seitenangaben ausgewiesen.

[2] Vgl. zur Geschichte des Manuskripts: Willi Bredel: Der Eigentumsparagraph. Roman. Mit einem Nachwort des Verfassers. Berlin: Dietz Verlag, 1961, S. 227f.

[3] Vgl. ebd., S. 227.

[4] Ebd., S. 228.

[5] O. Biha: Der proletarische Massenroman. In: Die Rote Fahne vom 2. August 1930, Nr. 178, abgedruckt in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten, 4 Bände. Berlin und Weimar 1979, Bd. 1, S. 219.

[6] Ebd., S. 220.

[7] Ebd.

[8]Bredel: Der Eigentumsparagraph, a.a.O., S. 29f.

[9] Ebd., S. 212.

[10] Karl-Heinz Höfer: Willi Bredel. Leipzig: Bibliographisches Institut, 1976, S. 16f.

[11] Ebd., S. 18.

[12] Biha: Der proletarische Massenroman, a.a.O., S. 220.

[13] Bredel: Maschinenfabrik N. & K, a.a.O., S. 7.

[14] Vgl. dazu Manfred Nössig, Johannes Rosenberg, Bärbel Schrader: Literaturdebatten in der Weimarer Republik. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1980, S. 605.

[15]Bredel: Maschinenfabrik N. & K., a.a.O., S. 185.

[16] Höfer: Willi Bredel, a.a.O., S. 28.

[17] Vgl. die Anklageschrift. In: Walther Victor (Hrsg.): Willi Bredel. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Berlin und Weimar, Aufbau-Verlag, 1966, S. 385ff.

[18] Vgl. ebd., S. 388ff.

[19] Ebd., S. 392f.

[20] Bredel: Der Eigentumsparagraph, a.a.O., S. 228.

[21] Bredel: Maschinenfabrik N. & K., a.a.O., S. 186.

[22] Vgl. dazu: Walter Fähnders, Martin Rector: Linksradikalismus und Literatur. Band 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1974, dnb 58, S. 219ff.

[23]Ebd., S. 221.

[24]Anna Seghers: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Berlin: Aufbau-Verlag, 1958, S. 5.

[25]Kurt Kläber: Marsch auf die Fabriken. In: Die Linkskurve 1930, Nr. 11, abgedruckt in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten, 4 Bände. Berlin und Weimar 1979, Bd. 1, S. 225.

[26]Ebd.

[27]O. Biha: Die proletarische Literatur in Deutschland. In: Literatur der Weltrevolution, 1931, Nr. 3, abgedruckt in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten, 4 Bände. Berlin und Weimar 1979, Bd. 1, S. 239–271.

[28]Ebd., S. 262.

[29]P. Vondel: Wegweiter durch die proletarische Literatur. In: Der Rote Aufbau 1932, Nr. 24, abgedruckt in: Zur Tradition der deutschen sozialistischen Literatur. Eine Auswahl von Dokumenten, 4 Bände. Berlin und Weimar 1979, Bd. 1, S. 556.

[30] Vgl. Stanislaw Roshnowski: Zum letzten Mal in Moskau. In: Victor (Hrsg.): Willi Bredel, a.a.O., S. 462.

[31] Ebd., S. 463.

[32] O. Biha: Proletarische Massenliteratur in der Offensive. In: Die Rote Fahne vom 31. Januar 1931, vgl. Nössig, Rosenberg, Schrader: Literaturdebatten in der Weimarer Republik, a.a.O., S. 606.

[33] Georg Lukács: Reportage oder Gestaltung? In: Die Linkskurve 1932, Jg. 4, Nr. 7, S. 23–30, in Auszügen in: Eberhard Lämmert u.a.: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880. Königstein/Ts.: Athenäum, 1984, S. 189ff.

[34] Franz Hammer: Wie der Anfang war. Neues Deutschland vom 1.10.1960, Nr. 40, Beilage.

[35] Willi Bredel: Rosenhofstraße. Berlin: Dietz Verlag, 1960, S. 10.

[36] Bredel: Der Eigentumsparagraph, a.a.O., S. 166.

Willi Bredels Vermächtnis: bedeutende Literatur und ein »Neues Kapitel«

Zum 50. Todestag des Volksdichters Willi Bredel

Willi Bredel starb nach einem arbeitsreichen Leben überraschend am 27. Oktober 1964. Der Abschied von ihm wurde in Berlin zu einer der größten Trauerfeiern, die die Stadt erlebte. An seinem Sarge standen neben den führenden Politikern der DDR auch Mitkämpfer und Freunde, von Anna Seghers bis zu Erwin Strittmatter, von Wolfgang Langhoff bis zu Ernst Busch, von Hermann Kant bis zu Herbert Nachbar. Seither sind fünfzig Jahre vergangen und der 1901 in Hamburg geborene Schriftsteller ist ein Klassiker der deutschen, speziell der sozialistischen deutschen Literatur geworden, mit allen Vorzügen und Nachteilen einer solchen Stellung.

Zu den Vorzügen eines Klassikers gehört, dass er Beispiel und Vorbild für spätere Autoren geworden ist, deutlich in der Rolle, die sein Schaffen im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt gespielt hat, deutlich auch in Bekenntnissen beim Tode des Schriftstellers wie dem Max von der Grüns, der in Bredels Werk vorbildlich gestaltet »die Würdigung und damit das Verständnis jener Epochen« fand, die Bredel durchlebte. Deren waren viele; immer stand Bredel in vorderster Front. Die Nachteile eines Klassikers sind, dass er mehr verehrt als gelesen wird. Dabei hat Willi Bredel ein nicht nur lesenswertes eindrucksvolles literarisches Werk hinterlassen, sondern in diesem Werk findet sich eine Aktualität, wie sie nur ein dialektischer Kopf schaffen konnte. Erinnert man sich der gewerkschaftlichen Kämpfe, wie sie in Bredels erstem Roman Maschinenfabrik N. & K. beschrieben wurden, wie um die kämpferische Klarheit und um die Einheit der Kämpfenden gerungen wurde, um den gewerkschaftlichen Solidargedanken nicht preiszugeben, ließen sich die dort konzentrierten Erfahrungen mühelos auf unsere Gegenwart übertragen.

Auf den ersten Blick war es ein sonderbarer Roman, der 1930 auf den Markt kam: Sein Titel Maschinenfabrik N & K versprach nichts von den traditionellen Romaninhalten. Auch die verwendeten Namen, die auf Besitzer der Fabrik hinweisen könnten, waren auf die Initialen reduziert und signalisierten, dass individuelle Schicksale oder gar persönliche Erlebnisse in einem anderen Kontext aufgegangen waren. Wer trotz des sachlichen Titels Hoffnungen auf einen anderen Inhalt hatte, wurde mit der Überschrift des ersten Abschnitts Das Werk endgültig auf Technik und Arbeit verwiesen. Wer dagegen mit den Erwartungen des Films umzugehen verstand, mit Simultantechnik und schnellen Szenenwechseln vertraut war, fand diese Elemente in Bredels erstem Roman wieder. Er erschien 1930 in der Reihe Eine-Mark-Roman des Internationalen Arbeiter-Verlages. Als Band 6 erschien 1931 ein weiterer Roman Willi Bredels: Rosenhofstraße. Roman einer Hamburger Arbeiterstraße. Weitere Veröffentlichungen wurden vorbereitet, darunter wiederum ein Roman Bredels: Der Eigentumsparagraph. Er konnte nicht mehr in Deutschland erscheinen; die Nazis vernichteten die Matern. Eine Abschrift, die Bredel in die Sowjetunion geschickt hatte, ermöglichte es, dass dieser dritte Roman 1933 in russischer Sprache in der Sowjetunion erscheinen konnte. Erst 1961 wurde er erstmalig, rückübersetzt aus dem Russischen, in deutscher Sprache veröffentlicht. Es war die erste Trilogie Willi Bredels, der später berühmte Trilogien wie Verwandte und Bekannte (Die Väter, Die Söhne, Die Enkel; 1943–1953) und Ein neues Kapitel (1964) schreiben sollte. Bredel bezeichnete seine ersten drei Romane, geschrieben in der Festungshaft »als literarische Drillinge«. Die »Drillinge« sind aber auch Bredels erste Hamburger Trilogie; Verwandte und Bekannte wurde die weitaus berühmtere zweite und ebenfalls mit Hamburg verbunden, Ein neues Kapitel schließlich die dritte, die einer anderen, neuen gesellschaftlichen Formation verpflichtet war. Hamburg gehörte Bredels Liebe lebenslang, deutlichster Ausdruck wurde der schöne Band Unter Türmen und Masten (1960). Die offizielle Verwaltung der Stadt dankte ihm seine Liebe nicht; noch 1951 versagte man ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt.

Sein literarisches Wissen eignete er sich selbst an: Er las viel und entwickelte eine besondere Vorliebe für Themen aus dem deutschen Bauernkrieg, der Reformation und der Französischen Revolution von 1789, Themen, die in Gerhart Hauptmann und Georg Büchner ihre Dichter fanden; beide wirkten, neben anderen, auf Bredel. In Literaturzirkeln der Arbeiterjugend und einem von dem Schriftsteller Wilhelm Lamszus geleiteten Zirkel gab es, wie sich Bredel erinnerte, heftige Diskussionen anlässlich der Aufführung von Dramen Gerhart Hauptmanns und anderer. Auch die nächste Haft Bredels führte zum literarischen Ergebnis: Seit dem 1. März 1933 saß er im Zuchthaus Fuhlsbüttel, das die Faschisten in ein KZ verwandelten. Dreizehn Monate hielt man ihn dort fest, elf Monate in Einzelhaft. Den qualvollen Umständen begegnete Bredel mit höchster Konzentration; er ließ sein Leben und die ihn begeisternden Kunsterlebnisse an sich vorüberziehen und entwickelte daraus die Konzeption seines berühmtesten Buches Die Prüfung, das 1935 im Malik-Verlag in Prag erschien und in 17 Sprachen übersetzt wurde.

Der Titel will auf die Gefahr hinweisen, der die Arbeiterbewegung nach der faschistischen Machtergreifung ausgesetzt war: Es geht um die Standhaftigkeit der Häftlinge; jeder hatte sich zu prüfen. Willi Bredel ließ an der seinen keinen Zweifel, ob im Exil in der Sowjetunion, ob als Mitglied des Thälmann-Befreiungskomitees in Paris, ob bei der Herausgabe der Zeitschrift Das Wort, ob als Kriegskommissar des Thälmann-Bataillons der Internationalen Brigaden in Spanien, ob an der Front vor Moskau und bei Stalingrad, endlich 1943 bei Kiew, ob als Gründungsmitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland – die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Nicht einmal ansatzweise sind jene Tätigkeiten erfasst, die die vielfältige journalistische Arbeit Bredels ausmachten, von der Hamburger Volkszeitung über