Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten - Ulrich Karger - E-Book

Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten E-Book

Ulrich Karger

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Beschreibung

Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten erzählt Ulrich Karger und kommt in seinen neun modernen Märchen und Parabeln der Moral mit Witz und satirischer Zuspitzung auf die Spur. Ob nun der Eine den Anderen nicht versteht oder das Räumen einer Leiche aus dem Keller fällig wird – zwischen tröstlich ungebrochenem Happy End und bösem Erwachen steht es am Ende 5:4. Und solange die Hoffnung nicht gestorben ist ... "Herrlich ironisch ist Ulrich Kargers Märchen "Vom Uhrsprung", in dem der allererste Wissenschaftler eines verträumten Reiches von einer guten Fee mit einem Kuss von seinem 'bösen Zauber' geheilt wird." Sabine Rutkowski, Zitty (Berlin)

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Ulrich Karger

Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten

Moderne Märchen und Parabeln

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Zum Buch

Zum Inhalt

Vom Uhrsprung

Der Eine, der Andere

Die Gürtelschnalle

Das Haus in der Mauergasse

Das Bankgeheimnis

Der lächelnde Prinz

Zwischenbericht

Seltsames Volk

Weisheit letzter Schluss

Nachwort

Quellennachweise

Neugierig geworden?

Kirkes Ratschläge an Odysseus*

Edition Gegenwind

Impressum neobooks

Zum Buch

Gewidmet meinen beiden Märchenfeen

Regina und Marion,

die immer für eine Überraschung gut sind

Mit „Vom Uhrsprung und anderen Merkwürdigkeiten“ startete 2010 die Edition Gegenwind – der Titel liegt mit dieser Veröffentlichung nun als leicht überarbeitete und um Fotoillustrationen ergänzte Neuausgabe vor.Vier der neun hier vorgestellten Geschichten, darunter die Titelgeschichte, waren Beiträge in den mit über 100.000 verkauften Exemplaren sehr auflagenstarken Märchen-Anthologien des Hamburger Metta-Kinau Verlages, zwei sind auch noch Teil der Romancollage „Verquer“ und die verbleibenden drei wurden hier zum ersten Mal veröffentlicht.Homepage-Seite zum Buch:ulrich-karger.de/uk-vom-uhrsprung.htm

Edition Gegenwind

Reihe Belletristik

Neuausgabe

Zum Inhalt

Vom Uhrsprung

erzählt von der riskanten, einstmals aber noch heilbaren Wissenschaft des Zeitmessens

Der Eine, der Andere

verstehen sich gar nicht, kommen aber zu einem gemeinsamen Ergebnis

Die Gürtelschnalle

ist der Anfang von einem grausamen Ende

Das Haus in der Mauergasse

bietet billigen Wohnraum, der nur mit Mühe wieder zu verlassen ist

Das Bankgeheimnis

lüftet sich in einem dunklen Wald

Der lächelnde Prinz

will sein wahres Gesicht wiederhaben

Zwischenbericht

den kaum einer wahrhaben will

Seltsames Volk

zu beobachten lässt einen sich über gar nichts mehr wundern, macht aber einsam

Weisheit letzter Schluss

verspricht am Ende nur das Beste

Nachwort

Quellennachweise

Vom Uhrsprung

Es war einmal ein Land, das weder Jahre noch Sekunden kannte. Dieses Land wurde von einem Königspaar regiert, aber das störte eigentlich niemanden, denn we­der der König noch die Königin machten sich Gedanken darüber, wann sie ih­ren Amtsgeschäften nachgehen oder wann sie Urlaub machen sollten. Wie ihr Volk lebten sie in den Tag hinein, und wenn sie um einen Rat gefragt wurden, antworte­ten sie nur „Komm nach dem Essen wieder“ oder „Komm, nachdem wir geschlafen haben“.

Allerdings wussten weder das Königspaar noch die Ratsuchenden, wann das nun sein würde. Die Leute fanden dann meistens ihre eigene Lösung, nachdem sie selbst in Ruhe ge­gessen oder ihre Frage überschlafen hatten.

Und solange niemand klagte, waren alle zufrieden.

Einmal aber – keiner weiß mehr, wann das war – kam irgendjemand auf die Idee, das, was es nicht gab, zu erfinden. Weil es ihn zuerst auch nicht gab, erfand er sich kurzerhand selbst und nannte sich: WISSENSCHAFTLER.

Der Titel gefiel ihm. Stolz stellte er sich vor den Spiegel, und es kam ihm vor, als wäre er ein Stück gewachsen. Zog er nun noch sein Bäuchlein ein und tat er dasselbe mit den Wangen, schien ihm seine ganze Erscheinung zudem kühn und bewun­dernswert nachdenklich. Dieser Mann würde endlich Ordnung schaffen!

Und er begann sein großes Werk in den eigenen vier Wänden. Irgendwie musste es doch zu überprüfen sein, wie groß das Zimmer war. Einer ersten Eingebung folgend, zog er den Schnür­senkel aus seinem linken Schuh und rutschte auf den Knien immer an der Wand lang.

Neun­mal passte der Schnürsenkel an die längere Zimmerwand. Bei der kürzeren blieb ein Rest übrig, nachdem er den Senkel siebenmal angelegt hatte.

Sein Blick fiel auf den Schuh, den er bei der wissenschaftlichen Rutscherei verloren hatte, und einer zweiten Eingebung gehorchend, ver­suchte er nun, das fehlende Stück in der Ecke mit dem Schuh auszufüllen.

Passt!

Dies alles galt es festzuhalten. In fein säuberlicher Schrift übertrug er die Ergeb­nisse seiner ersten wissenschaftlichen Untersuchung auf ein Blatt Papier.

Aber was war die beste Wissenschaft ohne die gebührende Anerkennung durch die Repräsen­tanten der Macht?

Den linken Schuh in der rechten Hand, Schnürsenkel, Stift und Papier in der linken, hüpfte er die Treppen zum Schlosstor hinauf. Den obersten Treppenabsatz zierte ein in großen Lettern eingemeißelter Sinnspruch:

ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH.

„Darauf ließe sich wohl manches entgegnen“, dachte der frischgebackene Wissenschaftler, „aber eins nach dem andern.“

Hätte er erst einmal die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Königspaares, würde er auch hierzu einige Neuerungen vorschlagen. Nur – soweit kam es nicht.

„Komm nachher wieder, jetzt wollen wir beim Spiel nicht gestört werden“, hieß es.

„Wann ist denn nachher?“, wollte der neugierige Wissenschaftler wissen.

„Was soll diese Frage?“, knurrte der König. „Natürlich dann, wenn es uns keinen Spaß mehr macht zu spielen!“

Und damit war die Audienz beendet, und er wurde wie alle anderen zuvor wieder hinauskomplimentiert.

Da stand er nun – mit einem bloßen Fuß und vielen Ideen im Kopf. Aber entmuti­gen ließ er sich deswegen noch lange nicht. Spürte er doch ganz deutlich, dass er da­bei war, etwas Umwer­fendes einzuleiten – etwas, das vielleicht sogar seinen Namen tragen würde. Nur musste ihm endlich jemand zuhören, der seine Arbeit auch zu würdigen wusste.

Dem König und der Königin jedoch bereitete das Spielen ein solches Vergnügen, dass ihr Lachen noch am Schlosstor zu hö­ren war. So setzte sich der Mann, der mit seinem Schnürsenkel das Längenmaß erfunden hatte, auf die oberste Stufe der Schlosstreppe und starrte auf die Buchstaben zwi­schen den Beinen.

In einem dieser Momente, als er da so saß – keiner weiß mehr, wann das war –, folgte er einer dritten Eingebung, die ihn beinah das Leben gekostet hätte.

Nach dem angeregten Spiel war das Königspaar zu einem Spaziergang aufgebrochen. Da sah es den Wissenschaftler mitten auf dem schönen Sinnspruch sitzen. Von dem ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH war nur noch das ZUM FREU und das RUH zu erkennen, und hin und wieder lugte auch noch ein H zwischen den Beinen des Mannes hervor. Es war aber vor allem das ungewöhnliche Gehabe dieses Menschen, was den Blick des Königspaares auf sich zog.

Gerade legte der Mann einen seiner Schuhe rechts von sich auf dem steinernen Treppenabsatz ab, um nun ein schon eng beschriebe­nes Blatt Papier aufzu­nehmen und darin etwas einzutragen. Dann legte er das Blatt beiseite, ließ den Schuh links von sich auftippen, dann zwischen den Beinen, dann rechts, nahm das Papier – und das immer wieder von vorne.

Das Königspaar schaute ihm dabei eine Weile zu, bis die Königin wissen wollte: „Was machst du da?“

Um die Antwort war der Mann nicht lang verlegen: „Ich übe den U-H-R-Sprung und messe dabei, wie lange etwas dauert.“ Während er das zum Besten gab, hörte der Wissenschaftler nicht auf, den Schuh vom U des FREU zum H zwi­schen den Beinen auf das R des RUH zu tippen. Und jeder dieser Vorgänge wurde schriftlich bearbeitet – er war wirklich sehr gewissenhaft. Endlich schien der Wissenschaftler die gewünschte Aufmerksamkeit erreicht zu haben.

„Und wie lange dauert es?“, fragte der König etwas herablassend.

„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete er. „Erst wollte ich messen, wie lange ihr spielt, und dann, wie lange ihr lacht, und nun messe ich gerade, wie lange ihr euch mit mir unterhal­tet – aber das dauert und dauert ...“

„Aha“, sagte der König und verstand nichts.

„Hm“, machte die Königin, und dann gingen die beiden spazieren.

Der Wissen­schaftler jedoch begann sofort, nun auch die Dauer des königlichen Spaziergangs zu erfassen.

Das Blatt wies nur noch wenig Weißes auf, als dem Wissenschaftler der Magen knurrte, da er wohl beim Messen reden, nicht aber messen und gleichzeitig zu essen vermochte. Gerade dachte der gewissenhafte Wissenschaftler daran, wie schön es wäre, Durst und Hunger in der Schenke zu stillen, da wurde er schon wieder angesprochen.

„Was machst du da?“, hörte er erneut die Frage des Königspaars neben sich. Aber diesmal kam sie aus dem Munde einer strahlenden Fee. Der verdutzte Wissenschaftler antwortete, wie er dem Königspaar geantwortet hatte, ohne da­bei auch nur für einen Augenblick seine Messungen zu unterbrechen.

„Das muss ein schlimmer Zauber sein“, meinte die Fee. „Ich will dich davon erlösen, denn ich bin eine gute Fee.“

Und gerade als der Wissenschaftler wieder das Papier zur Hand nehmen wollte, spürte er einen warmen Kuss auf seinem Mund.

Mit immer noch leeren Händen den Nachgeschmack des Kusses genießend, fragte er sich, was er jetzt weiter tun sollte. Das fragte er auch die Fee. Da küsste sie ihn ein zweites Mal, leckte sich da­nach mit der Zunge über die Lippen und forderte ihn auf: „Komm doch mit, dann können wir uns noch öfter küssen.“

Endlich überzeugt stand der Wissenschaftler von den kalten Stufen auf und verschwand Hand in Hand mit der Fee in ihr Feenreich.

Als das Königspaar in der Dämmerung von seinem Spaziergang zurückkam, war der Mann mit dem merkwürdigen Gehabe nicht mehr zu sehen. Nur seine Utensilien la­gen noch auf dem Treppenabsatz. Der König bückte sich und hob sie auf. Im Schuh entdeckte er ein gefaltetes Stück Papier. Das gab er seiner Frau, damit sie es ihm vorlese.

„Neun Schnürsenkel lang, sieben Schnürsenkel und einen Schuh breit. Was kleiner als ein Schnürsenkel ist, ist so lang wie ein Schuh.

Der U-H-R-Sprung der Zeit, kurz Uhrsprung genannt, wird gemessen wie folgt: 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, ... – lieber Ge­mahl, hier sind lauter Einsen. Soll ich sie dir alle vorlesen?“

„Nein, lieber nicht. Ich habe Hunger. Lass uns zu Tisch gehen, Liebste.“

So sprach der König und zog dabei den Schnürsenkel durch die Löcher im Schuh. Vielleicht könnte ihn ja irgendwer noch einmal gebrauchen. Die Königin hakte sich alsdann beim König ein und steckte den ersten wissenschaftli­chen Forschungsbericht des Landes in ihre Rocktasche – wo er schnell vergessen war und dieses Land deshalb von der Zeitmessung unberührt blieb.

Nur wann das alles war, das weiß keiner mehr.

Der Eine, der Andere

Der Eine war ein Mensch, der nur schlief, um sich für den kommenden Ar­beitstag auszuruhen. Wachte er auf, rieb er sich erst mit der linken Hand das linke Auge und dann mit der rechten Hand das rechte Auge, bis aller Schlaf aus ih­nen war. Beide Hände wurden dabei zu festen Ballen, die er nach dem Öffnen der Augen gegen die Wand am Kopfende des Bettes streckte. Das ge­schah alles sehr ausgiebig und genüsslich, bis der Eine sich anspornte: „Jetzt aber los!“

Da schnellten die Fäuste zum entgegen gesetzten Ende des Bettes, und mit ihnen wurde der Oberkörper in die Senk­rechte gezogen. Die Fäuste öff­neten sich, um die Decke nach links beiseite zu wi­schen, während eine Drehung des Oberkörpers nach rechts die Beine über den Bettrand schleuderte.

Mit festem Boden unter den Füßen war der Tageslauf kaum noch aus sei­nem ge­wohnten Gang zu bringen: Kaffeewasser aufsetzen, Kaffeepulver in die Fil­tertüte schütten, den Filter auf die Kanne stellen – zwischendurch ins Bad gehen und Zähne­putzen – danach zum ersten Mal mit dem inzwischen ko­chenden Wasser den Kaffee aufgießen. Dann wieder ins Bad: Sich wa­schen und hinterher gründ­lich abtrocknen. Nun zum zweiten Mal Wasser in den Kaffeefilter nachgießen, sich anziehen, den Tisch decken, frühstüc­ken.

Anschließend den Tisch wieder abdecken, Becher, Brett und Messer ab­waschen und zum Trocknen auf die Spüle legen. Dann mit der einen Hand zur Türklinke, mit der an­deren Hand nach dem blauen Kittel greifen. In seiner Werkstatt sich das erste Stück zurechtlegen, das es an diesem Tag zu bearbeiten galt. Und dann: Arbeiten.

Um dieselbe Zeit schlief der Andere gerade ein.