Von Anfang und Ende - Uwe Timm - E-Book

Von Anfang und Ende E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

»Der legendäre ›Adorno-Hörsaal‹ VI der Frankfurter Goethe-Universität war überfüllt. (…) Man saß auf Bänken und Pulten, alle Seitengänge und selbst die Zugänge waren verstopft. Zu hören waren in geballter Verdichtung fünf konzise poetologische Vorlesungen, die es in sich hatten. (…) Uwe Timm spannte einen Bogen vom biblischen Buch Genesis und der Offenbarung des Johannes über Goethe und Camus bis hin zu Adalbert Stifter, erörterte die Elemente poetischen Schreibens und begab sich auf einige atemberaubende Expeditionen ins eigene Romanwerk.« Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung

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Seitenzahl: 141

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Uwe Timm

Von Anfang und Ende

Über die Lesbarkeit der Welt

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung1. Über den Anfang2. Anstöße3. Fundsachen4. Denkmalsturz5. Über das Ende
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Für Martin Hielscher

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1.Über den Anfang

Aller Anfang ist schwer, so der Volksmund, und das gilt auch für diesen Anfang. Ich habe, als ich mit dieser Arbeit anfing, das getan, was man neuerdings zu tun pflegt, und im Internet nachgesehen, gegoogelt, wie es neudeutsch heißt. Es finden sich etliche Eintragungen, unter anderem eine Sammlung der ersten Sätze Hunderter und Aberhunderter deutscher und ausländischer Romane, darunter auch die meiner eigenen. Eine ganz erstaunliche Fleißarbeit.

Eine andere Eintragung lautet: Der Weg zum erfolgreichen Roman, der richtige Anfang. Workshop mit Profi. Preis nach Anfrage.

Also fangen wir an.

»Am anfang schuf GOTT himmel und erde.« In diesem ersten Satz des ersten Buchs Mose stellt sich auch gleich das Problem aller Anfänge ein. Die Frage, was war davor? Bei der Frage nach dem Anfang des Anfangs kommt man in einen, wie es in der Logik heißt, infiniten Regress. Aber der hat nur einen geringen Erkenntniswert.

In der Genesis heißt es: »Und die erde war wüste und leer, und es war finster auf der tiefe, …«

Das Chaos. Unstrukturiert, ohne Zeit, das heißt kein Vorher, kein Nachher, kein räumliches, kein zeitliches. Kein Hier, kein Dort. Tiefe Dunkelheit.

»Und GOTT sprach: Es werde licht! Und es ward licht. Und GOTT sahe, dass das licht gut war.«

Die Kosmogonie des Alten Testaments findet ihre triviale Entsprechung im weißen Blatt, das in der Vorstellung der Schreibenden, auch derjenigen, die schreiben wollen, eine geradezu mythische Bedeutung hat. Was dort Dunkelheit, ist hier das unschuldige Weiß des Papiers oder aber das hellgraue Flimmern der Bildschirmfläche, die beschrieben werden soll, und zwar so, dass es gut sei. Zunächst einmal hieße das, der Schreiber, und später der Leser, möge über den ersten Satz, über die ersten Sätze hinauskommen, eine Bewegung nach vorn, eine Entwicklung, eine Chronologie verfolgen. Ein kleiner, sprachlicher Kosmos, so die selbstherrliche Vorstellung, etwas ganz Neues soll entstehen, vergleichbar dem, wenn man diese Megalomanie zulässt, was die Astrophysiker vor 13,7 Milliarden Jahren ansetzen, dem Urknall nämlich, aus dessen Energiebrei sich die Materie gebildet hat. Dieses Gebräu vor dem Anfang, vor der Festlegung, vor dem Schreibakt, wäre die Stimmung, die Ahnung, die vielleicht noch nicht einmal zu benennen ist. Man kann sich das heroisch und dramatisch vor Augen halten, wie in der Sixtinischen Kapelle dieser bärtige Riese mit raumgreifender Bewegung Hell und Dunkel teilt, wie ein Oben und Unten, ein Fest und Flüssig entstehen. Und jedes Mal wieder heißt es nach den sechs Schöpfungstagen: Und Gott sah, dass es gut war. Aber was heißt gut? Was schlecht? Es muss also eine Vorstellung des Schöpfers von dem geben, was gut, was schlecht ist. Die Schrift sagt uns nicht, was dieser Schöpfer im Sinn hatte, welche Vorstellung ihn bewegte und wie er sagen kann, das Geschaffene sei gut. Nicht alles ist gelungen in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments, hinter dem wir uns mehrere Verfasser denken müssen, es sind Ungereimtheiten und Fehler unterlaufen. Auch die derart beschriebene Schöpfung war unvollkommen, fehlerhaft, regelrecht missglückt. Ja, einen Moment lang wollte ihr Schöpfer sie wieder zugrunde gehen lassen. Alles Leben sollte ersäuft werden. Die sich hier auftuende Antinomie, die über Jahrhunderte Theologen und Philosophen beschäftigt hat, soll uns aber nicht weiter bekümmern, nur die Frage sei gestellt. Wie kann es sein, dass Gott, wenn er denn allmächtig ist, nicht sogleich eine richtige, eine gute Schöpfung hinbekommt?

Diese scholastische Frage, wie und ob man die Widersprüche erklären kann, interessiert mich hier nicht, mich interessiert allein, wie dieser Anfang anfängt. Die Schöpfungsgeschichte hat zwei Anfänge, der erste, gebetartig und durch das Wort bestimmt: »Und GOTT sprach … Und GOTT sah, dass es gut war.« Der jüngere Text, die sogenannte Priesterschrift, ist um 550 vor Christi entstanden. Er liest sich wie eine knappe Zusammenfassung des Sechstagewerkes mit einem schöpferischen Ruhetag. Der nachfolgende Text, der sogenannte Jahwistentext, ist um das Jahr 900 vor Christi entstanden, also fast 400 Jahre älter, und beschreibt das Paradies und wie der Herr dieses Gartens den Mensch hergestellt hat, »aus einem erdenkloß, und blies ihm den lebendigen odem in seine nase.« Das ist wunderbar einfach und bildhaft beschrieben, noch ganz bestimmt von der anschaulichen Erfahrung eines Töpfers. So wie später, nach dem Sündenfall, Adam und Eva, als ihnen ihre Körper, ihr Geschlecht bewusst werden, sich unter den Blättern dasjenige aussuchen, das groß genug ist und in seiner Form und Bildung von Versace nicht besser hätte entworfen werden können. Gepflückt nicht vom Baum der Erkenntnis, sondern von einem Baum, der nur Scheinfrüchte trägt: inwendig feucht, rotrosafarben, dem weiblichen Geschlecht ähnlich, die Feige. Die Geschichte von Adam und Eva ist in derart sprechenden Situationen erzählt, die zum Bildnerischen drängen, tatsächlich leicht darstellbar wurden, verstehbar auch für diejenigen, die diese Heilige Schrift nicht lesen konnten. Das Wort der Schrift wurde anschaulich. Das Wort wurde wirklich. Es konnte seine Kraft entfalten. Wie der Mensch erschaffen wurde, wie er in die Sünde, wie es zu Leid und Tod kam.

Und später, im Neuen Testament, die Verheißung, er könne erlöst werden. Er werde auferstehen. In den Darstellungen der Kreuzigung deutet der Totenkopf unter dem Kreuz auf den Urvater Adam, auf die Erbsünde, sie wird durch den Gekreuzigten überwunden. Denn erst durch ihn, den Sohn, durch sich konnte Gott erfahren, was Tod ist.

Aber wir haben vorgegriffen. Der Berichterstatter in der Genesis, von Alttestamentlern Jahwist und Elohist genannt, lässt seinen Schöpfer nochmals nachbessern. Der Herr des Gartens bemerkt, nachdem er Adam in den Garten Eden gesetzt hat, dass es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist. Vom Erzähltechnischen her könnte man sagen, er brauchte, um Adam auf die Probe zu stellen, ob der denn wirklich das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, einhalte, einen Konterpart. Darum musste eine Rippe entfernt werden, um die Männin, wie Luther ein hebräisches Wortspiel übersetzt, zu schaffen, damit die große Bewegung, die Geschichte in Gang käme. Warum muss der Herr des Gartens sein Geschöpf Adam, nachdem der vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, erst suchen? Hatte er zu Mittag geruht, so wie er am siebten Tag ruhte? Er ruft ihn, den Sünder, der sich unter Bäumen versteckt hält: »Wo bist du?« Oder ist das Rhetorik? Aber die sollte es in der Bibel nicht geben.

Es sind Bilder von einer staunenswerten Intensität, und sie haben eine große Unmittelbarkeit und einen Überfluss an Bedeutung. Sie sind in ihrem Anspruch der Offenbarung göttlicher Wahrheit uns gegenüber ganz direkt. Wenn man allerdings zu fragen beginnt, wenn man nach der Kausalität fragt, Widersprüche benennt, kommen sie in das Säurebad des Zweifels. Kausalität, Widerspruchslosigkeit sind für uns die bestimmende Form der Sinngebung, es ist der Versuch, die Welt eindeutig werden zu lassen. Die Frage, wie das eine aus dem anderen nach dem Prinzip Ursache und Wirkung logisch hervorgeht, ist übrigens keine so selbstverständlich transkulturelle, allgemein menschliche, wie es scheint, sondern eine spezifisch abendländische Frage, die in die Tradition der Aufklärung einging und sich ihrer rechnenden und durch Wiederholung überprüfbaren Methode verpflichtete. Eine Methode, die Wunder und Zauberei ausschließt. Der Ethnologe Evans-Pritchard hat am Beispiel der afrikanischen Ethnie der Zande untersucht, wie eine natürliche Kausalität höchst gering geschätzt und die Ereignisse durch eine mystische Weltsicht gedeutet werden können: durch Hexerei. Ein Mann bricht sich im Wald den Fuß. Natürlich liegen Äste herum, und natürlich muss man aufpassen, das wissen auch die Zande, nur in diesem Moment, wo er das nicht tut, ist er verhext. Bei uns gibt es ja auch noch solche Reste des magischen Denkens: Es war wie verhext. Magisch ist das Denken auch in radikal psychosomatischen Erklärungsmodellen. Nicht der Ast, nicht die eigene Schusseligkeit ist im Fokus der Wahrnehmung, sondern ein spiritueller Eingriff. Damit ändert sich selbstverständlich auch der Begründungszusammenhang des Erzählens.

Wir wollen noch einmal zum Anfang zurückkehren. »Im anfang war das wort«, heißt es in der Schrift, die dem Evangelisten Johannes zugeschrieben wird, »und das wort war bey GOTT, und GOTT war das wort. Dasselbige war im anfang bey GOTT. Alle dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das leben, und das leben war das licht der menschen. Und das licht scheinet in der finsternis, und die finsternis habens nicht begriffen.«

Dieser wunderbare Anfang verändert den Anfang von den anschaulichen Szenen und Geschichten des Alten Testaments ganz in das Geistige. Wie in einer mathematischen Gleichung werden Gott und das Wort gleichgesetzt. »Und das wort ward fleisch«, heißt es weiter, »und wohnete unter uns, und wir sahen seine herrlichkeit; eine herrlichkeit, als des eingeborenen Sohns vom Vater, voller gnade und wahrheit.« Ein philosophischer Anfang, der die dann recht realistisch erzählten Wunder beglaubigen soll. Eine Chronik des Lebens und Sterbens Jesu, dessen Wahrheit uns durch die Gnade von Gottes Wort zuteilwird.

Ein so ganz anderer, wenn man so will, weit durchgearbeiteter Anfang als der des Kollegen, der die ältere Schöpfungsgeschichte, das Paradies und den Sündenfall zu verantworten hat. Hier schimmert deutlich das mündliche Erzählen durch, ein Erzählen, das sich durch Brüche, Widersprüche, nachgetragene Begradigung und Korrektur auszeichnet. Es wird auch darüber berichtet, wie der Herr des Gartens seine Schöpfung korrigiert, verbessert und ergänzt.

So heißt es – in der Luther-Übersetzung –: »Und GOTT schuf den menschen zu seinem bilde, zum bilde GOTTES schuf er ihn; und er schuf sie als männlein und fräulein. Und GOTT segnete sie, und sprach zu ihnen: Seyd fruchtbar und mehret euch, und füllet die erde, und machet sie euch unterthan.«

Diese zweite Erschaffung des Menschen wird durch ein Ungefähres: »zu der zeit, da GOTT und der HERR erde und himmel machte«, an die sechs Schöpfungstage geflickt.

Das soll kein literaturkritisches Herumkritteln an der Bibel sein, deren Lektüre mich durch mein Leben begleitet hat. Ich möchte nur strukturell zeigen, wie schwer der Anfang ist – erst recht der Anfang aller Anfänge –, wie Brüche entstehen, die dann durch den Glauben gekittet werden müssen. Die Bereitschaft zum Glauben, zur Offenheit, muss die Lektüre begleiten, wie auch der Leser weltlicher Literatur den guten Willen haben muss zuzulassen, dass die Fiktion Realität wird, im Bewusstsein des Lesenden Gestalt annimmt. Etwas von Hexerei steckt immer noch darin.

Für die Bibel, für das Alte wie das Neue Testament, auch wenn sie von der modernen Theologie nur noch als gleichnishaft verstanden werden, gilt, dass sie Wahrheit beanspruchen, eine Wahrheit, die das Wort durch Gottes Gnade bekommen hat. Er hat gesprochen, er hat durch andere, durch die Zeugen, die Schreibenden, sprechen lassen. Das Wort gilt buchstäblich als wahr, sodass Schreibfehler in mittelalterlichen liturgischen Texten es in seiner Wirkung entwertet haben. Das Wort war dann nicht mehr heilig, sondern nur noch profan. In einer der karolingischen Kapitularien wird darauf hingewiesen, dass die Gläubigen zu Gott beten, aber die Wörter, die Sätze oft aufgrund fehlerhafter Überlieferung falsch geschrieben seien. Können fehlerhafte Gebete der Liturgie erhört werden? Nein. Das heilige Wort muss das genaue, das rechte Wort sein. Und hier stellt sich auch, wenn ich den Vergleich ins Profane erweitern darf, erneut die Frage für den Schriftsteller: Welches ist das rechte, das wahre Wort? Und wie und wann kann er von dem Geschriebenen, seinem Werk sagen: Es ist gut?

 

Ein anderer Anfang, ein erster, alles in Gang setzender Satz eines von mir bewunderten Romans lautet so: »Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen.«

Ein Anfang, der mich an die Genesis erinnert. Der Autor gibt seinem Geschöpf einen Namen, kreiert es damit und setzt es in einen Garten. Die Namensgebung ist ein Herrschaftsakt. Der Name, den wir uns nicht aussuchen können, verleiht unserem sozialen Körper, unabhängig von charakterlichen und biologischen Eigenschaften, die Unverwechselbarkeit und weist ihm eine bestimmte Stelle in der Gesellschaft zu. Mit diesem auktorialen Gestus wird denn auch der gesellschaftliche Stand festgelegt: Baron und zugleich vermögend, reich, heißt es. Zum sozialen Stand gehört auch diese Tätigkeit im Garten, das Aufpfropfen. Was Eduard, der Baron, macht, ist keine Arbeit, sondern – wir denken nicht zu Unrecht an das Paradies und dessen Herrn – Pleasure. Ganz erstaunlich, was in diesem ersten Satz alles an Informationen vermittelt wird, welcher Erwartungshorizont sich beim Leser öffnet. Zugleich wird auf die fiktionale Schöpfung hingewiesen – selbstreferenziell wäre der gängige Begriff –, denn mit dem Personalpronomen des Erzählers: »Eduard, so nennen wir einen reichen Baron« – spricht ein Pluralis Majestatis, der, und das ist das Raffinierte, zugleich in einen Pluralis Auctoris und Modestiae hineinspielt.

Die Konstellation in »Die Wahlverwandtschaften« ist bekannt, das Ehepaar Eduard und Charlotte trifft auf einen Mann, von dem wir nur den Vornamen Otto, aber ansonsten bezeichnenderweise nur die Berufsbezeichnung erfahren. Er ist Offizier, der Hauptmann, später Major, hinzu kommt noch eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, namens Ottilie. Ein mit sich zufriedenes Ehepaar wird durch zwei hinzukommende Personen aus seiner etwas arg stillen Harmonie vertrieben, und es beginnt der Wirrwarr der Gefühle, der Leidenschaften, des Wollens und doch nicht Könnens zwischen dem Anspruch auf hohe Sittlichkeit und dem dunklen Trieb, der mit Macht den einen zum anderen drängt.

Das erinnert an manche Woody-Allen-Filme, die ja eben das zeigen, wie die Triebe, die ein bärtiges ÜberIch zu zügeln versucht, sich ihren Weg bahnen gegen alle Konvention und gegen bestes Wissen und Gewissen. Das führt bei Woody Allen in einem flapsig melancholischen Ton zu einem Halb-Happy-End. Auch die »Wahlverwandtschaften« bieten am Schluss zwei glückliche Tote. Wobei das tragische Problem eines Paares, das, trotz anderer Neigungen, an der Unverbrüchlichkeit der Ehe festhält und darüber ins Unglück stürzt, sich heute, bei einer Scheidungsrate von 34 %, wie ein mentalgeschichtliches Dokument aus fernen Zeiten liest. Selbstverständlich geht es Goethe nicht um die Darstellung des grauen Ehe-Alltags. Es sei hier aus dem tiefgründigen Essay von Walter Benjamin »Goethes Wahlverwandtschaften« zitiert: »Das Mythische ist der Sachgehalt dieses Buches; als ein mythisches Schattenspiel in Kostümen des Goethischen Zeitalters erscheint sein Inhalt.« Benjamins Essay setzt sich gerade von den zahlreichen damaligen Interpreten ab, die den Roman mit den Begriffen der sittlichen Überwindung, der ideellen Transparenz, der tragischen Läuterung und zivilisierten Selbstzucht regelrecht zugegipst haben. Eine Deutungsarbeit, der Thomas Mann in seinem Aufsatz über den Roman noch ein »leuchtendes Zeichen der Möglichkeit deutscher Vollendung« hinzugefügt hat.

Zurück zu meiner Lektüre. Ich fand, dass es neben der schmerzlichen Konstellation – des geneigten Sichfindens, aber nicht Zueinanderdürfens – in dem Roman auch ironische Stellen gibt. So lese ich die langatmigen, umständlich trockenen Ausführungen über die richtige Erziehung junger Menschen, die der Gehülfe des Mädchenpensionats macht, als Anspielung auf Schiller und seine Erziehung des Menschengeschlechts. Bei aller Hochachtung, die Goethe diesem Freund entgegenbrachte, denke ich, muss ihm dessen berserkerhafter Fleiß doch wohl auf die Nerven gegangen sein. So wie Schiller übrigens sich über Goethe beklagte, der zu ihm kam, herumsaß und ihn von der Arbeit abhielt. Die Untätigkeit dessen, der das Tätige so lobte, als Faulheit gesehen, allerdings unter dem Blickwinkel eines manischen Arbeiters.

Aber zurück zum Anfang. Und das heißt immer auch, über die Schwierigkeiten beim Anfang zu reden. Wenn schon der Allmächtige seine Schöpfung nicht fehlerfrei hinbekam, so darf auch an Goethen ein wenig gekrittelt werden. Nach diesem so erstaunlichen ersten Satz, der alles bündelt, treffen sich Eduard und seine Frau Charlotte an der im Park gelegenen Mooshütte, und Eduard schlägt vor, seinen Freund, den Hauptmann, der ohne Stellung ist, einzuladen. Charlotte bringt ihre Bedenken vor, ahnungsvoll, und sie sind, wie wir wissen, berechtigt. Dann liefert Goethe in der wörtlichen Rede und in einem langen additiven, durch viele Kommata und durch eine Flut von Semikolons getrennten Satz, die Geschichte der beiden: »Mag ich doch so gern unserer frühsten Verhältnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu sättigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich älteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen musste. Wir wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen im Besitz eines großen Vermögens ließ; ich