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Dies ist die Fortsetzung meiner Geschichte. Sie handelt davon, welch zerstörerische Kraft einer Depression innewohnt. Einer Krankheit, die leider in unserer Gesellschaft argwöhnisch und mit Unsicherheit betrachtet - und oft genug als "Burnout" abgetan wird. Was aber passierte mit jemandem, der - wie ich - fest im Sattel der Selbständigkeit saß, eine Familie gegründet, ein Haus gebaut und einen Baum gepflanzt hatte?Die Ironie dabei war, dass ich meinen Kunden über 12 Jahre lang genau die Versicherung empfohlen hatte, welche sich jetzt - im Leistungsfall - so vehement weigerte...
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Seitenzahl: 163
Veröffentlichungsjahr: 2013
www.tredition.de
Über mich…
Simon Keller, Jahrgang 1966, ehemaliger erfolgreicher Vermögensberater. Dann 2008 Borreliose, 2010 Burn-Out und Depression.
Mit dem Ende der Gesundheit begann der Kampf gegen meinen ehemaligen Finanzvertrieb, meine Versicherung, deren Gutachter und gegen die schiefen Blicke der Mitmenschen, wenn sie meine Diagnose hörten.
Als Autor trat ich mit meinem Erstlingswerk mANnSICHTSSACHE gefolgt von NEBELHIRN in Erscheinung. Dies ist die Fortsetzung meiner Geschichte.
Danken möchte ich all den Menschen, denen ich etwas bedeute.
„Glück! Hätte ich es nie empfunden, so würde ich es nicht vermissen …“
Glück! Würde ich es nicht vermissen, so suchte ich es jetzt nicht …“
Glück! Suchte ich es jetzt nicht, hätte ich so vieles nicht gefunden …“
Simon Keller
Von Sternen und Planeten
Depression … Erklärungsversuche des Unerklärlichen
Viele von uns könnten ihre Geschichte schreiben. Aber eine Geschichte, die vom Scheitern, von Erkrankung und Leid handelt, wird eben meist NICHT erzählt. Aus falscher Scham, aus Kraftlosigkeit oder aus Resignation.
Dies ist meine Geschichte - oder ihre Fortsetzung. Sie handelt davon, dass man eigentlich alles richtig machen kann - und dann doch vor dem Nichts steht.
Sie handelt von der verlogenen Versicherungsund Finanzwelt. Von hörigen Gutachterinstituten und davon, wie lang der Weg der eigenen, kleinen Gerechtigkeit sein kann.
Die Alternative zu diesem Buch wäre gewesen, aufzugeben. Ich entschied mich anders, stellte mich diesen übermächtigen Gegnern, welche in den Geldtürmen sitzen und am Glücksrad drehen, entgegen.
Möglicherweise mache ich einigen Menschen Mut, sich ebenfalls zu wehren. Möglicherweise glauben sie nach diesem Buch nicht mehr alles, was im schönen Verkaufsprospekt ihrer Versicherung steht. Und möglicherweise sehen sie depressive Menschen nun mit anderen Augen. Das wäre mir ein Herzenswunsch.
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© 2013 Simon Keller
Umschlaggestaltung, Illustration: Simon Keller
Lektorat, Korrektorat: Karin Rietz
weitere Mitwirkende: Das reale Leben
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-7171-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Vorwort:
Aufgrund der Erfahrungen mit meinem ersten Buch zum Thema Depression, möchte ich gleich zu Beginn einige persönliche Anmerkungen machen.
Das Thema Medikamenteneinnahme habe ich bewusst nicht tiefer dargelegt. Dies begründet sich in der individuellen (Un)Verträglichkeit von Psychopharmaka. Ja sogar gänzlich unterschiedlicher Einstellung zur Sache und den damit verbundenen individuellen Ängsten. Somit wäre das Benennen meiner Medikamente nicht ziel führend für andere. Ich kann jeden Betroffenen allerdings nur bestärken, mit diesem Thema achtsam umzugehen – und - so wie ich, mehrmals die Medikamente zu wechseln, sollten sie sich mit der aktuellen Medikation nicht „gut“ fühlen. Bitte immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt! In Internetforen habe ich neben einigen wertvollen Informationen zu diesem Thema, sehr viel fundiertes Halbwissen in Kombination mit Besserwisserei gefunden. Sie sind einzigartig. Ihre Seele und ihr Körper. Daher gilt es, für sie allein herauszufinden, ob die konventionelle Medizin, die Alternativen des Marktes, oder eine Mischung aus beidem bei ihnen Linderung schaffen.
Noch eine Anmerkung zur Schreibtherapie. Depressive Menschen können trotz, oder gerade wegen ihrer Erkrankung die Sinnfragen des Lebens stellen, in vielen Fällen durchdenken (grübeln), und in einigen Fällen sogar beantworten. Das alles macht mich natürlich immer noch nicht zu einem professionellen Autor.
Meine Biographie beruht daher zu allererst auf der Tatsache, dass mir das Niederschreiben meiner Ängste, Gedanken und Geschehnissen gut tat.
„Meine Wahrheiten“ sind das Ergebnis, wie ich bestimmte Situationen emotional erlebt und verarbeitet habe. Ein anderer Betroffener hätte diese Lebensreise gänzlich anders wahrgenommen. Mein Schreiben war und ist auch heute noch MEINE Art, Gedanken auf Papier oder im PC zu bannen. In diesem Aufschreiben kann ich alles herauslassen, mich artikulieren, um Verständnis bitten und die mir widerfahrenen Ungerechtigkeiten anprangern. Es war nie meine Absicht, ein Fachbuch zu erstellen. Daher kann ich Ihnen, lieber Leser, gerne anbieten mich nach dieser Lektüre zu kontaktieren, sollten Sie noch Fragen zum Thema oder meiner Person haben. Gerne - und im Rahmen meiner Kräfte - werde ich jede Frage beantworten.
Bitte mailen Sie mir unter: [email protected]
… was bisher geschah:
Im November 2010 erlitt ich einen nächtlichen Panikanfall, der mich am nächsten Tag ins Behandlungszimmer meiner Hausärztin katapultierte.
Ihre Diagnose bedeutete das Ende meiner erfolgreichen selbständigen Tätigkeit, sowie den Beginn eines zermürbenden Überlebenskampfes in den Mühlen von Versicherungen, Kliniken, Gutachterkonzernen und dem eigenen sozialen Umfeld.
Was zuerst nach völligem Ausgebrannt sein aussah, verwandelte sich zunehmend in eine tiefe Depression. Einer heimtückischen Erkrankung, welcher in unserer Gesellschaft mit Argwohn und Unverständnis begegnet wird. Auch ich gehörte einmal zu denen, die glaubten, mit „reiß dich zusammen“ und „hab dich nicht so“ einen guten Ratschlag für Menschen parat zu haben, welche einfach nicht mehr weiter konnten. Keinen einzigen Schritt mehr.
Nun hatte es mich getroffen. Mir eröffnete sich unfreiwillig eine Welt, die allen Nicht-Betroffenen nie völlig zugänglich sein wird. Eine Welt aus Diagnosenroulette, Versicherungsgebaren, Ignoranz - aber auch echter Zuwendung, Tiefe, Erkenntnis und Freundschaft. Die größte Chance, welche solch einer Lebenskrise innewohnt, liegt in der Reise zum eigenen ICH.
Wir alle sind tagtäglich fast nur noch per „Autopilot“ im AUSSEN unterwegs. Wir definieren uns über Konsumgüter, Karrieren, Bankkonten oder ob das Handy, welches wir benutzen, das neuste Modell ist. Was aber bleibt von jedem übrig, wenn wir einmal alle Äußerlichkeiten weglassen?? Der nackte Mensch!
Viele haben so große Angst davor, sich in dieser Art zu betrachten, dass sie lieber einem falschen und zerstörerischen Wertesystem nacheifern. Bis es eben keinen Schritt mehr vorwärts geht - weil der Körper streikt, der Geist nicht mehr will, oder die innere Leere so laut brüllt, dass es nun nicht mehr zu überhören ist.
Es ist für mich fast so, wie in der phantastischen Trilogie „Matrix“. Die Welt, in der wir zu leben scheinen, ist nur ein Trugbild. Wir sind gänzlich dazu da, einer Kommerzmaschine zu dienen. Wir sollen kaufen, verbrauchen, konsumieren und funktionieren. Wir werden täglich auf allen Kanälen mit aggressiver Werbung zugepflastert und zu Quotenerfüllern für den alles dominierenden Konsumklimaindex degradiert.
Selbst, wenn wir ansatzweise zufrieden mit unserem Leben sein könnten, wird uns suggeriert, dass wir nur mit diesem Auto, jenem Waschmittel und einem spießigen Bausparvertrag zu besseren Menschen werden würden. Und so tapern wir durch unser Leben und werden anhand von Markenklamotten, Gehaltsschecks und sonstigen Äußerlichkeiten gewogen und gemessen – und für zu leicht befunden.
Klaglos, freudlos und ewig unzufrieden - bis wir eines Tages aufwachen.
Wie Neo, der Held des Films - oder zusammenbrechen!
14.10.2011 Hello again…
Erstens läuft es anders, und zweitens, als man denkt. Hätte mir jemand im April, also ziemlich genau vor sechs Monaten gesagt, dass ich nun wieder hier in der Parkklinik Heiligenfeld sitzen würde, ich hätte ihm wahrscheinlich den Vogel gezeigt.
Hätte er auch noch behauptet, dass ich aus freiem Willen und aus eigenem Entschluss wieder in diesen „heiligen Hallen“ wandeln würde, wäre es mit meiner guten Kinderstube gänzlich vorüber gewesen.
Aber es ist nicht zu bestreiten. Auf dem Ortsschild stand gut leserlich „Bad Kissingen“ und diese Klinik sah genau so aus, wie die, in der ich den Frühling verbracht und mein letztes Buch geschrieben hatte. Sollte ich also nicht aus unerfindlichen Gründen durch ein Wurmloch in ein Paralleluniversum gerutscht sein, dann war ich tatsächlich wieder hier.
Mir fiel es leicht, wieder anzukommen. Zumindest leichter, als beim ersten Mal. Natürlich war es augenscheinlich von Vorteil für mich, schon einmal neun Wochen im Räderwerk dieser Klinik gewesen zu sein. Die Abläufe und die Räumlichkeiten waren nahezu unverändert. Sogar das Essen hatte ich schon mehrmals genießen dürfen. Alles wie gehabt.
Fast alles. Mir fiel auf, dass es nun merklich ruhiger zuging. Es schien mir, als ob die Klinik nur zur Hälfte belegt wäre, und tatsächlich. Die Dauerbaustelle vom April war nun fertig. Viele Patienten residierten in den neu ausgebauten Häusern. Dort gab es nun einen eigenen Speisesaal, eigene Seminarräume und alles, was das Psychoherz so begehrt.
Daher nahm ich es diesmal als merklich angenehmer wahr, wenn ich durch die so gut bekannten Flure lief, ähnliche Gespräche wie damals führte und die gleichen Gedanken begannen wie von selbst wieder, aus ihren bekannten Höhlen zu kriechen. Alles jedoch in einer ruhigeren, angenehmeren Atmosphäre, die mich nicht dauernd an die Betriebsamkeit in einem Bienenstock erinnerte.
Mir war klar - halbwegs zumindest - dass der größte Fehler, den ich machen konnte, meinen erneuten Aufenthalt als eine Art Routine zu betrachten.
Weiterhin konnte ich fehl gehen, indem ich die beiden Aufenthalte, also den im Frühling und den jetzigen, miteinander verglich. Die Menschen, die Therapeuten, die Therapien, das Essen, die Stadt, eben alles, was mir so gut und traulich bekannt zu sein schien.
„Nicht vergleichen“ stand somit auch ganz oben auf meiner Liste der verbotenen Sachen.
Aber genauso, wie man nicht „nicht an gelbe Elefanten“ denken konnte, so wollte es mir nicht immer gelingen, nicht zu vergleichen!
Es war für mich wie ein Zurückkehren in dasselbe Kino, nur diesmal lief ein anderer Film…
Intensivwoche.
Wie der Name schon vermuten lässt, bedeutet eine Intensivwoche, welche in regelmäßigen Abständen fester Therapiebestandteil in Heiligenfeld ist, dass es diesmal gleich richtig „zur Sache“ gehen würde. Als Teilnehmer einer solchen hat man die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Themenbereichen, die in dieser Woche bearbeitet werden sollen, auszuwählen.
So stand ich nun, den Stundenplan studierend, im Eingangsbereich der Klinik und erschrak.
Drei der Vier Gruppierungen betonten das Thema „Tanzen“ in unterschiedlichen Graustufen.
Tanz dein Leben, tanz dich frei, und, das durfte nicht fehlen, für Männer gab es eine rituelle „Tiger, Trommel und Schwertkampftanzgruppe!“
Daher, fast aus Verzweiflung und um einen Ausweg aus den in meinem Kopf stattfindenden Tanzkursphantasien zu finden, war da noch eine Malgruppe.
„Farbbegegnungen“ stand in großen Lettern über der Einschreibungsliste, und ehe ich es bewusst entschieden hatte, kritzelte meine rechte Hand schon meinen Namen hinein. Malen war O.K.
Die vielen Stunden, in denen ich vor einigen Jahren zur nächtlichen Stunde im bayerischen Fernsehen den bekannten amerikanischen Maler „Bob Ross“ fasziniert angeschaut hatte, sollten mir hoffentlich jetzt helfen können.
Ich war seit damals sogar stolzer Besitzer einer „Bob Ross Malereigrundausstattung“, mit der ich einige ganz passable Bilder fertigbrachte.
Doch wie bei vielen Dingen im Leben, die ich aus dem Stadium des Anfängers auf die Stufe eines Könners hätte bringen können, verließ mich auch hierbei das Durchhaltevermögen.
So bin ich ein ganz passabler Langbogenschütze, ein mittelmäßiger Mountainbiker, ein Gesangstalent im Badezimmer und in der Astrophysik kam ich leider nie über die Einstein-Rosenbrücke hinaus.
Alles in Allem bin ich ein Allrounder. Ich kann nichts richtig.
Pinsel, Staffelei und Farbpalette stehen daher schon seit Jahren in meiner Garage auf Parkposition.
Meine aufkommenden Perfektionsgedanken beiseite schiebend, versuchte ich das zu praktizieren, was mich mein letzter Aufenthalt hier gelehrt hat. Ich wollte nicht alles planen, sondern wie diesen Kurs, einfach auf mich zukommen lassen.
Die Angst des Malers vor dem ersten Pinselstrich war dennoch in mir greifbar, und so beschloss ich, dass ich in dieser Gruppe genau richtig war.
In meinem bisherigen Leben habe ich schon genug nachgeahmt, kopiert und abgezeichnet. Es wurde nun höchste Zeit für meine eigenen Werke. Und falls mich alsbald eine fiese Malblockade heimsuchen würde, dann wäre eine unbefleckte Leinwand allemal besser, als die 28. Kopie eines anderen Bildes.
Aber, weiße Leinwände haben es schwer in einem Malraum voller Farbe und eifriger Künstler. Sie, die Leinwände, werden verächtlich beäugt, beobachtet und als etwas Fremdes, Unfertiges ausgegrenzt. Die stolzen Blicke der schon wild Aquarellfarbe auf ihren Blättern verteilenden Mitmaler beim Betrachten ihrer Werke, verwandelte sich augenblicklich in mitleidiges Verstehen, als sie mich sinnierend vor meinem jungfräulichen Blatt sitzen sahen.
Irgendwann schaltete sich, nach einer gefühlten Ewigkeit, meine Kreativabteilung wieder ein. „Mach etwas Anderes, etwas Besonderes, etwas, auf das die Malmusterschüler in deinem Kurs nicht kommen…!“
„Revolution im Malraum“, so tönte es durch meinen Kopf und ich musste lachen. Revolution im eigentlichen Sinne bedeutet fast immer, das bestehende System zu zerstören, zu bekämpfen oder drastisch zu verändern.
Daher waren es keine wirklich revolutionären Gedanken, die ich gerade hatte, sondern es ging mir mehr darum, die vom Obermalkurstherapeuten verkündete Aufgabe einfach etwas ANDERS zu lösen.
Die Aufgabe hieß: Selbstportrait mit Kreide.
Die Lösungsversuche meiner Mitstreiterinnen begrenzten sich daher auf Papier und den Kreidekasten.
Ein Film über den Künstler „Andy Goldsworthy“, den wir im Rahmen unseres Kreativkurses am Vorabend sahen, inspirierte mich noch immer sehr stark. Dieser Mensch mit dem ungewöhnlichen Namen, fesselte mich durch seine Objekte, die er in der Natur und nur aus Materialien aus der Natur baute. Ich beneidete ihn darum, dass er, da für ein Leben in einer Stadt oder einer monotonen Fließbandarbeit gänzlich ungeeignet, wie ein großes Kind mit offenen Augen und unglaublicher Geduld seine Träume inmitten der freien Natur Wirklichkeit werden lassen kann.
Er hat die Gabe, die Stimmung eines Waldes, eines Küstenstreifens, die Seele eines Sees oder den Zauber der Highlands zu erfassen. Und dann baut er, was er fühlte.
Wissend, dass meine empathischen und künstlerischen Fähigkeiten nicht im Mindesten an ihn heranreichen können, schien mir aber seine VORGEHENSWEISE die Lösung für meine noch immer schneeweiße Leinwand zu sein.
Ich saugte die Stimmung in diesem Malraum ein, schaute mich um, betrachtete Details, schoss wie vom Blitz getroffen hoch und sammelte halbwegs zielstrebig eine Schere, Kleister, Pinsel, Strohhalme, Papierhandtücher und Spachteln ein. Ich nahm einfach das, was da war. Wie Mr. Goldsworthy auch. Danke für diesen Tipp, Mr. G!
So klebte, schnitt, colagierte, spachtelte ich munter drauf los. Missbrauchte die Unterseite von Wassergläsern in Ermangelung eines Zirkels als Kreisschablone, ließ mir nasse Einwegpapierhandtücher von einer Mitmalerin auf mein Gesicht legen, mit Kleister bestreichen und die erhabenen Stellen mit Farbe verzieren. Dieser eher misslungene Versuch, die Vorgabe eines Selbstportraits zu realisieren, führte nun zur erhofften Unruhe am Tisch der fleißigen Maler.
Aus mitleidigen Blicken wurden gemurmelte Anerkennungen. Die Verzweiflung derer, die beim detailgetreuen Kopieren ihres Antlitzes geradewegs zur Schlucht der völligen Verzweiflung gelangt waren, konnte ich sehr gut nachempfinden. Mir wäre es mit Sicherheit genauso ergangen. Es funktioniert für den Hobbymaler einfach nicht, wenn er ein Porträt zeichnen soll. Spätestens beim Augenausdruck ist für gewöhnlich Schluss.
Diesmal hatten ich und der Geist von Mr. G. eine Lösung für die von den Therapeuten gestellte Aufgabe.
Und ähnlich wie im richtigen Leben, wollen wir meist die an uns herangetragenen Anliegen perfekt erfüllen. Aber nicht, weil es die Anderen von uns verlangen. Nein! Der Grund ist, dass wir nur glauben, die Anderen würden dies tun. Wir selbst verlangen diesen Perfektionismus von uns!
Unser eigener Perfektionismus lässt uns dann sogar daran scheitern, schmackhafte Kartoffelklöße zu kochen, gerade wenn die Schwiegereltern zu Gast sind. Dann wollen sie nicht gelingen. Sie werden zu weich und verklumpen.
Und warum? Weil wir sie an diesem Tag besonders perfekt machen wollten.
Dann, wenn der Kloßteig als trübe Pampe im dampfenden Topf herumschwimmt, und es spontan Nudeln geben wird, sind wir unsere größten Kritiker.
Wir hadern mit uns und damit, dass es sonst immer gelänge, nur heute, da es perfekt werden musste, gelang es nicht.
Wie sagt schon ein Schlossersprichwort, das vom Festziehen einer Schraube handelt:
„Fest ist ab und ein viertel Umdrehung zurück!“
Das Problem ist, bei der Schraube, wie im richtigen Leben, dass das „ab“, also das Abreißen, unvermittelt, plötzlich und nicht mehr korrigierbar passiert.
Eine Sekunde zu lange gedrückt und alles ist kaputt.
Eine Minute zu lange gekocht und alles ist zerfallen.
Eine Stunde zu perfekt gemalt und alles ist Verzweiflung.
Verändere das Spielfeld! Schau dich um, es ist alles da. Ob in der Küche in der Natur oder in anderen Lebenssituationen.
Koche doch gleich Nudeln, wenn die Schwiegereltern kommen wollen.
Ziehe eine Schraube nur fest an, wenn du noch eine Ersatzschraube hast.
Sei anders, kreativ, wenn dir jemand eine Aufgabe stellt, an der du entweder verzweifeln oder scheitern wirst. Danke Andy G.
Danke für diesen Schlüssel, der diese Tür so leicht geöffnet hat.
Einzelgespräch bei „Mata Hari“
Nach dem Farbenrausch und kreativen Werkeln der Intensivwoche kehrte in der Klinik und mir langsam wieder der Alltag ein. Die Stundenpläne füllten sich mit den schon vom letzten Aufenthalt durchlaufenen Therapiesitzungen. So saß ich nun hier auf dem Stuhl vor dem im Stundenplan ausgewiesenen Zimmer, um auf das Einzelgespräch bei einer Therapeutin zu warten, deren Namen ich mir beim besten Willen nicht merken konnte. Daher nannte ich sie „Mata Hari“. Der Name geisterte plötzlich durch meinen Kopf und erfüllte wenigstens die wichtigste Eigenschaft eines Kunstnamens. Er war ihrem richtigen Namen sehr ähnlich und ich konnte ihn seltsamerweise behalten.
Da ich diesmal schon zwei Vollzeittherapeuten in unserer Kerngruppe hatte, verwunderte mich das Ansetzen dieses zusätzlichen Termins.
Ohne große Erwartungen saß ich zehn Minuten vor der angegebenen Zeit nun hier, mich fragend, was das ganze wohl solle.
Sie kam die Treppe herauf, sah mich kurz an, und … etwas passierte.
Da meine Therapeutengesprächserfahrung mittlerweile für zwei Leben reicht, glaubte ich bis jetzt zu wissen, wie das vor mir liegende Gespräch ablaufen würde. Aber weit gefehlt! Ich begann zu erzählen. Mit jedem Satz, oder jeder Frage von ihr, ging mein persönlicher Schutzschild ein wenig nach unten. Alsbald fühlte ich mich zum ersten Mal während dieses Aufenthaltes WIRKLICH verstanden.
Ich ließ alles raus. Meine Wut, Verzweiflung, Angst und alle Gefühle, die sich in dieser Fülle für mich sehr überraschend gerade in Worte verwandelten. Was in dieser Stunde geschah war Balsam für meine Seele, oder wie das in mir kränkelnde Organ auch immer genannt wird. Es war befreiend, löste aber auch eine tiefe Traurigkeit aus. Denn Trauer war die konsequente, gefühlte Schlussfolgerung aus dem Gespräch und was wir dabei entdeckten.
Dass mein eigentliches Wesen eher verschlossen, melancholisch und in mich gekehrt sei, das war mir bereits vorher halbwegs klar gewesen. Aber die Folgen meiner Verhaltensmuster während all der Jahre, seit ich mich von dem inneren, kleinen Jungen verabschiedet hatte, waren es nicht.
Verhaltensmuster, wie Streben nach Anerkennung, Lob, angenommen und akzeptiert zu werden. Nach Liebe und Erfolg.
Ziele, die ich mit Energie, Fleiß und vollem Einsatz verfolgte, führten jetzt, am Ende meiner statistisch ersten Lebenshälfte dazu, dass ich fast zerrissen wurde.
Ich konnte nun meine Abscheu, ja meinen Hass auf die Finanzbranche und meine Tätigkeit darin besser erklären. Es war die finale Eruption meines Körpers, kurz bevor der Vulkan in mir ausbrechen und alles zerstören würde.
Die zwölf Jahre, die ich als begeisterter Vermögensberater für meinen Beruf, meine Kunden und für die Annerkennung durch meine Vorgesetzten, lichterloh brennend alles gegeben habe, führten mich Lichtjahre von mir selbst weg.
Ich war, wie Mata es so schön erklärte, nur noch im AUSSEN. Also bei den Problemen der Anderen. Bei den Vorgaben und Zahlen, die von mir gefordert wurden. Als Krönung war es sogar so, dass ich selbst diese Vorgaben von mir abforderte. Immer gemäß dem Slogan meines Chefes. „Wer aufhört besser zu werden, hat aufgehört gut zu sein“.
Dauerhaftes Wachstum wurde von oben an die Mitarbeiter als Zielanweisung befohlen.
In einem Bericht über Körperzellen habe ich letztens gelesen, dass es in der Natur kein dauerhaftes, stetiges Wachstum gibt. Eine natürliche Entwicklung bewegt sich immer in Wellen. Auf und ab. Frühling und Herbst, Zeiten der Ruhe und Zeiten der Expansion.
Nur eine Zelle im Körper wächst dauerhaft und unkontrollierbar: Die Krebszelle!
Das Ergebnis ist, dass der Organismus, also das Gesamtsystem, schwer geschädigt wird oder sogar stirbt.
Und doch strömen am Jahresbeginn hoch motivierte Menschen aus der Finanzbranche zu den „Startertreffen“ und auf die Klausuren, um den neuen, höheren und besseren Leistungszielen zu huldigen. Sie brennen lichterloh, geben fast alles auf, nur um an die Wurst, welche diesmal wieder ein Stückchen höher gehängt wurde, heranzukommen. Urlaube, Schiffsreisen, Auszeichnungen und Sonderboni - aber die gibt es nur, wenn die Zahlen stimmen. Jeden Monat aufs Neue müssen die Zahlen stimmen. Fast egal um welchen Preis!
Von Sternen und Planeten.