Vor den Augen der Welt - Simon Shuster - E-Book

Vor den Augen der Welt E-Book

Simon Shuster

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Beschreibung

»Dies ist das Selenskyj-Buch, auf das wir gewartet haben.« (Catherine Belton, SPIEGEL-Bestsellerautorin von »Putins Netz«)

»Das Volk der Ukraine will Frieden. Die Staatsführung der Ukraine will Frieden. Sie tut alles dafür, was sie kann. (...) Doch wenn ihr uns angreift, werdet ihr unsere Gesichter sehen, nicht unseren Rücken.« Seit er, nur wenige Stunden vor dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022, diese Worte an die russische Regierung richtete, fasziniert – und polarisiert – der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Welt. Der einstige Comedian wurde unversehens zum Kriegspräsidenten, dessen perfekt inszenierte Medienauftritte den Verlauf des Krieges entscheidend beeinflussen.

TIME-Korrespondent Simon Shuster berichtet seit Beginn der russischen Invasion aus dem Inneren des Präsidentenpalasts, zweimal ist er mit dem ukrainischen Präsidenten an die Front gereist. Er hat, wie kaum ein anderer, Zugang zu Selenskyi, seiner Frau, seinen Freunden, seinen hochrangigen Mitarbeitern und Beratern. Mit Vor den Augen der Welt ist Shuster nicht nur eine einzigartig facettenreiche und intime Biografie des ukrainischen Präsidenten gelungen, sondern auch die fesselnde und profund recherchierte Chronik eines unsere Weltordnung nachhaltig verändernden Krieges.

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Seitenzahl: 737

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Buch

Time-Korrespondent Simon Shuster berichtet seit Beginn der russischen Invasion aus dem Inneren des Präsidentenpalasts, zweimal ist er mit dem ukrainischen Präsidenten an die Front gereist. Er hat, wie kaum ein anderer, Zugang zu Selenskyj, seiner Frau, seinen Freunden, seinen hochrangigen Mitarbeitern und Beratern. Mit Vor den Augen der Welt ist Shuster nicht nur eine einzigartig facettenreiche und intime Biografie des ukrainischen Präsidenten gelungen, sondern auch die fesselnde und profund recherchierte Chronik eines unsere Weltordnung nachhaltig verändernden Krieges.

Autor

Simon Shuster berichtet seit über fünfzehn Jahren über Russland und die Ukraine, die meiste Zeit davon als Korrespondent für das das US-Nachrichtenmagazin Time. Er wurde in Moskau geboren und emigrierte als Kind, zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in die Vereinigten Staaten. Shuster gilt als exzellenter Kenner des russisch-ukrainischen Konflikts, seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 berichtet er ausführlich über den Krieg in der Ukraine. Er lebt in Brooklyn, New York, verbringt aber derzeit einen Großteil seiner Zeit in Kyjiw.

SIMON SHUSTER

VOR DEN AUGEN DER WELT

Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine

Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind, Karsten Petersen und Thomas Stauder

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Showman« bei William Morrow, einem Imprint von HarperCollins, New York City.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe Januar 2024

Copyright © 2024 der Originalausgabe: Simon Shuster

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Cover: Uno Werbeagentur, München, nach einem Entwurf von Ploy Siripant

Covermotiv: Alexander Chekmenev

Karten: Lon Tweeten

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

EB ∙ CF

ISBN 978-3-641-30708-0V002

www.goldmann-verlag.de

Für Nina und Marie

INHALT

PROLOG

Teil eins

KAPITEL 1: Tagesanbruch

KAPITEL 2: Das Ziel

KAPITEL 3: Stadt der Banditen

KAPITEL 4: Herr Grün

KAPITEL 5: Annexion

Teil zwei

KAPITEL 6: Schlacht um Kyjiw

KAPITEL 7: Der Bunker

KAPITEL 8: Ein Unbeschriebenes Blatt

KAPITEL 9: Der Favorit

KAPITEL 10: Traue niemandem

Teil drei

KAPITEL 11: Der Kirchhof

KAPITEL 12: Ein trojanisches Pferd

KAPITEL 13: Der dunkle Prinz

KAPITEL 14: Willkommen in Ragnarök

KAPITEL 15: Schießen, um zu töten

KAPITEL 16: Blizzard 2022

Teil vier

KAPITEL 17: Die Schlacht im Donbass

KAPITEL 18: Aus der Deckung

KAPITEL 19: Rückkehr der Politik

KAPITEL 20: Unabhängigkeitstag

KAPITEL 21: Gegenschlag

KAPITEL 22: Befreiung

EPILOG

DANK

BILDTEIL

ANMERKUNGEN

REGISTER

1. APRIL 2022

DIE UKRAINE NACH RUSSLANDS ANFÄNGLICHEM VORSTOSS

1. DEZEMBER 2022

NACH DER ZURÜCKDRÄNGUNG RUSSISCHER TRUPPEN UND DER RÜCKEROBERUNG VON GEBIETEN

PROLOG

An jenem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal trafen, hinter der Bühne bei seiner Comedy-Show im Frühjahr 2019, wirkte Wolodymyr Selenskyj so verängstigt, wie ich ihn danach lange nicht mehr erleben würde. Es war nicht nur das Lampenfieber, das ihn vor Auftritten oft nervös machte. An jenem Abend schien er halb stumm vor Angst zu sein. Er hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gepresst, den Blick auf den Boden gerichtet, ohne den Lärm und die Menschen um sich herum zu bemerken. Vor etwa drei Monaten hatte er sich um das Amt des Präsidenten der Ukraine beworben, und die Premiere seiner neuen Unterhaltungsshow sollte in weniger als einer Stunde beginnen. Selenskyj würde die Hauptrolle spielen, den Zirkusdirektor in seiner besonderen Art von Kabarett, und Millionen von Zuschauern würden die Sendung im Fernsehen verfolgen, seinem bevorzugten Medium.

Die guten Plätze für das Live-Event im PalastUkrajina, einer der größten Veranstaltungshallen der Ukraine, kosteten mehr als ein durchschnittliches ukrainisches Monatseinkommen. Als ich eintraf, herrschte am Eingang Tumult. Nicht nur die High Society der Stadt stand vor den Metalldetektoren Schlange, sondern auch viele Rentner, Hipster und Büroangestellte, junge Paare, die sich einen teuren Abend gönnten, die gesamte Bandbreite der Mittelschicht, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ukraine entstanden war. Alle waren sie Fans von Selenskyj. Bald sollten sie seine Wähler werden.

Ganz vorne in der Menge stand eine seiner Medienberaterinnen, Olha Rudenko, die Selenskyj in jenem Sommer ins Parlament begleiten sollte. Sie zog mich durch die Tür und zeigte mir den Weg hinter die Bühne, wo die Darsteller bereits ihre Kostüme trugen. Einige kamen mir aus Filmen bekannt vor, aber es war schwer, in der Masse von Produzenten und Backgroundtänzern, den Schauspielern, die sich am Bühneneingang drängelten, den Maskenbildnern und Beleuchtern, dem Chor von Mädchen mit gekräuselten Haaren und weißen Kleidern, irgendjemanden zu erkennen. Die älteren Mitglieder der Truppe wussten, dass sie den Star vor der Show nicht stören durften. »Geben Sie ihm einen Augenblick«, sagte Rudenko, als sie sah, wie ich mich Selenskyj näherte. »Ich stelle Sie vor, wenn es vorbei ist.«

Er hatte viel im Kopf, viel mehr als nur die Veranstaltung des Abends. Früher am Tag hatte jemand eine Bombendrohung für die Aufführung hinterlassen.[1] Die anonyme Stimme am Telefon sagte, das Gebäude sei mit Sprengstoff präpariert, der mitten in der Vorstellung detonieren werde. Es klang wie ein Scherz, und Selenskyj riet seiner Truppe, nicht in Panik zu geraten. Höchstwahrscheinlich, so dachte er, war es ein Unterstützer einer der anderen Präsidentschaftskandidaten, der versuchte, seine große Premiere zu sabotieren. Dennoch waren die Veranstalter gesetzlich verpflichtet, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, und einige Polizeibeamte waren mit einer Hundestaffel gekommen, um die Garderobe und die Verkaufsstände zu durchsuchen. Sie fanden nichts Verdächtiges, aber die Polizisten rieten den Verantwortlichen trotzdem, die Vorstellung abzusagen. Am Nachmittag besprach sich Selenskyj mit dem Management des Hauses, und man beschloss weiterzumachen. Die Besucher wurden nicht einmal über die Gefahr aufgeklärt. Es waren mehr als dreitausend Menschen im Saal, genug, dass es zu einer Massenpanik gekommen wäre, wenn Selenskyj ihnen von der Bombendrohung berichtet hätte. Also tat er so, als wäre alles in Ordnung, und ließ sein Publikum die Vorstellung in Unkenntnis genießen.

Nicht einmal alle Darsteller waren sich der Gefahr bewusst. Während der Show saßen sie zwischen ihren Sketchen hinter der Bühne auf Kostümkoffern herum, aßen eine Kleinigkeit und stießen miteinander an. Eine Handvoll von ihnen arbeitete schon seit Jahrzehnten mit Selenskyj zusammen, und dies war die letzte große Show, bevor er bei den Wahlen von der Satire in die Politik wechselte wie Alice im Spiegelland. Sie wussten, dass er vielleicht nie mehr zurückkehren würde, und fragten sich, ob er sie ins Präsidialamt mitnähme. »Es ist nicht so, dass ich irgendeinen bestimmten Job will«, sagte einer der Komiker, Oleksandr Pikalow, nachdem er mir einen Schuss Whiskey in einen Plastikbecher eingeschenkt hatte. »Aber ich glaube, ich würde einen ziemlich guten Verteidigungsminister abgeben.«

In seinem Eröffnungsmonolog bezog sich Selenskyj auf die Absurdität seiner Kampagne und gab zu, dass es ihm nicht leichtgefallen sei, die Witze zu schreiben. Juristen hatten das Skript auf Verstöße gegen das Wahlrecht untersucht. Es gab Grenzen dafür, was er als führender Kandidat im Fernsehen sagen konnte. Er durfte seine Zuschauer nicht offen zu einer bestimmten Stimmabgabe »animieren«, auch wenn die rechtlichen Grenzen durchaus fließend waren, sobald es um Ironie und Humor ging. »Keine Wahlwerbung«, sagte Selenskyj mit einem Augenzwinkern und lachte. »Es ist nur eine Vorstellung. Fair und anständig. Außerdem habt ihr ja Geld dafür bezahlt.« Bevor er eine Atempause einlegte, um die Verrücktheit des Ganzen auf sich wirken zu lassen, fügte er hinzu: »So etwas hat die Welt noch nie gesehen.«

Die Menge war begeistert. Komiker oder Kandidat, das spielte keine Rolle. Sie liebten ihn offenbar in beiden Rollen. Als die Show vorbei war, verbrachte Selenskyj fast eine Stunde mit seinen Fans, ließ sich fotografieren und nahm Blumensträuße entgegen. Er wirkte müde, aber glücklich, und die Angst war aus seinen Zügen gewichen, als einer seiner Mitarbeiter uns miteinander bekannt machte. Seine Freunde erzählten mir später, dass er süchtig nach Applaus und Bewunderung sei. Gerade hatte er eine weitere Dosis davon erhalten, was sich in seinem entspannten Lächeln und seinen herabhängenden Schultern zeigte. »Wenn ich auf die Bühne gehe, habe ich zwei Gefühle«, sagte er einmal über diese Augenblicke.[2] »Zuerst kommt die Angst, und nur wenn man die Angst überwindet, setzt das Vergnügen ein. Das ist es, was mich immer wieder auf die Bühne lockt.« Sein ganzes Leben lang hatte er diesem Gefühl nachgejagt, seit er im Teenageralter als Comedian angefangen hatte, und es kam mir seltsam vor, dass er jetzt alles, was er aufgebaut hatte, aufgeben würde.

Die Politik mochte ihre Reize haben, aber die Resonanz, die Selenskyj von der Menge bei seinen Auftritten gewohnt war, von den Soldaten, die er an der Front unterhielt, von den Journalisten, die ihn in ihre Morgensendungen einluden, um über seine Filme zu sprechen – nichts davon würde ihm in die Präsidentschaft folgen. Sein Leben würde nicht annähernd so viel Spaß machen und wäre wesentlich komplizierter. Er wäre kein Filmstar mehr. Wie sehr er auch versuchen würde, sich der Metamorphose zu widersetzen, der Job würde ihn früher oder später in das verwandeln, was er vorgeblich verachtete: einen Politiker.

Zunächst einmal würden die Medien ihn zur Rede stellen und sich dann gegen ihn wenden. Es gäbe Fauxpas und Skandale, Budgets müssten ausgeglichen und Waffen beschafft werden. Und das Schlimmste: Es gäbe einen Krieg zu führen. Anfang 2019, als Selenskyj seine Präsidentschaftskampagne begann, befand sich die Ukraine seit fünf Jahren im Krieg mit Russland um die Kontrolle über ihre Ostgebiete. Fast wöchentlich kamen tote Soldaten in Särgen aus dem Kampfgeschehen zurück. Als Selenskyj in die Politik ging, hatten bereits mehr als zehntausend Menschen ihr Leben verloren. Wollte er diese Aufgabe wirklich? War er auch nur annähernd bereit dafür? Und selbst wenn, warum sollte er sein Leben als Schauspieler aufgeben und sich weiter von den Menschen entfernen, die er liebte – von seiner Frau, seinen Freunden, dem Unternehmen, das sie gemeinsam aufgebaut hatten? Wollte er die Macht? War er gelangweilt?

Selenskyj hatte auf solche Fragen keine klugen oder überzeugenden Antworten, als wir am Abend nach der Show in seine Garderobe zurückkehrten, um uns zu unterhalten. Er stand dort und betrachtete sich im beleuchteten Schminkspiegel. Das mit gebügelten Smokings beladene Kostümregal zu seiner Linken nahm den größten Teil des Raums ein, sodass wir nirgendwo sitzen konnten. Also stützte er sich auf den Schminktisch und beantwortete meine Frage mit einer Frage. »Das sind alles Snobs, oder was?«, sagte er und meinte damit die Führer der Welt. »Keiner von ihnen ist irgendwie unterhaltsam?«

Es klang wie ein Scherz, aber er betonte, dass er es ernst meinte. Er wollte sich nur mit denjenigen treffen, die amüsant waren, für den Rest wollte er »Profis« schicken. »Ich will mein Leben nicht ändern«, sagte er. »Ich will nicht politisch korrekt werden. Das ist nicht mein Ding.« Vielleicht war er überheblich, vielleicht wusste er auch nicht, was die Aufgabe mit sich bringen würde. Aber er schien zu glauben, dass das Amt nicht von ihm verlangen würde, sich zu ändern. Sein Leben als Showman hatte ihn gelehrt, was er brauchte, um die Rolle des Präsidenten zu spielen, und er war fest entschlossen, der Mensch zu bleiben, zu dem ihn seine Erfahrungen gemacht hatten. »Wenn man sich selbst verliert«, sagte er, »versinkt man im Sumpf.«

Es war schon spät. Er wirkte erschöpft, und seine Freunde erwarteten ihn auf der After-Show-Party. Bevor wir uns verabschiedeten, fragte ich ihn nach der Bombendrohung. Was hielt er davon? »Nun, das ist die Antwort auf Ihre erste Frage«, sagte er und meinte damit die Frage nach seinen Motiven, für das Amt zu kandidieren. Die politische Klasse in Kyjiw habe sich in einen Haufen von Possenreißern und Raufbolden verwandelt, sagte er. Sie seien auf dem besten Weg, die Wirtschaft innerhalb weniger Jahre in die Luft zu jagen. Der sinnlose Krieg in der Ostukraine lasse das Land ausbluten. In Witzen und Metaphern sprach er eine Weile über die Notwendigkeit, die Ukraine vor den derzeitigen Machthabern zu retten, und bezeichnete sie als Bedrohung für alles, was er in seinem Leben aufgebaut habe. »Wenn ich nicht kandidieren würde, wäre all das hier vielleicht bald verschwunden«, sagte er und winkte in Richtung Spiegel und Kostümständer. »Einfach so«, sagte er. »Weg.«

An jenem Abend und in den folgenden Monaten kam mir nie in den Sinn, dass ich eines Tages ein Buch über Selenskyj schreiben würde. Jetzt ist klar, dass mir unsere Begegnung im Palast Ukrajina die Tür zu diesem Buch geöffnet hat. Damals ließ mich Selenskyjs Team zum ersten Mal hinter die Bühne und in sein Umfeld. Nachdem er die Wahlen im Frühjahr gewonnen hatte, berichtete ich für Time weiter über seine Regierung. Ich verfolgte, wie er sich in seiner neuen Rolle bemühte, die Beziehungen zum Weißen Haus von Donald Trump zu pflegen und einen dauerhaften Frieden mit Russland unter Wladimir Putin auszuhandeln. Ich beobachtete ihn, als seine Gespräche mit Putin scheiterten und die Russen eine groß angelegte Invasion vorbereiteten, und ich blieb so nah wie möglich dran, als die Invasion begann.

Wenn ich in jenen Jahren von einer Reportagereise nach Kyjiw zurückkam, wurde ich oft gefragt: »Wie ist er denn so?« Meine Antworten veränderten sich mit der Zeit, ebenso wie sein Charakter. Im Wahlkampf erschien er mir als naiver Charmeur, der sich anschickte, in eine Welt von Zynikern, Oligarchen und Ganoven einzutreten, die glaubten, sie hätten mit ihm leichtes Spiel – und das nicht ohne Grund. Als wir uns im Herbst 2019 im Präsidialamt wiedertrafen, hatte er einiges vom Gift dieser Welt aufgesaugt und viel von seiner Unschuld eingebüßt. Doch die Erfahrung der Macht hatte ihn nicht abgehärtet, zumindest noch nicht, und nicht annähernd genug, um ihn auf ein persönliches Treffen mit Putin vorzubereiten.

Die größten Veränderungen bei Selenskyj, die zu einem Kernpunkt dieses Buches wurden, vollzogen sich in den ersten Monaten der russischen Invasion in der Ukraine, als er sich in einen Kriegspräsidenten verwandelte, wie er in unserem Zeitalter unmittelbarer Informationen einzigartig ist. Hartnäckig, selbstbewusst, rachsüchtig, unpolitisch, mutig bis zur Rücksichtslosigkeit, resistent gegen Druck und schonungslos gegenüber allen, die sich ihm in den Weg stellten, kanalisierte er den Zorn und die Widerstandsfähigkeit seines Volkes und brachte sie mit Klarheit und Zielstrebigkeit vor der Welt zum Ausdruck, wodurch er zu einem Symbol für jene Tapferkeit wurde, die alle Führer aufzubringen hoffen, wenn es einmal nötig sein sollte. Es war jedoch die Selbstinszenierung, die er in mehr als zwanzig Jahren als Schauspieler auf der Bühne und als Produzent im Filmgeschäft perfektioniert hatte, die Selenskyj in diesem Krieg so überzeugend machte – einem Krieg, in dem die Ukraine nicht nur die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen, sondern auch die Sympathie der Menschen und ihrer Regierungen in aller Welt gewinnen musste. Die Technik verlieh ihm die Mittel, diese Aufgabe zu bewältigen. In der Öffentlichkeit sagten seine Freunde und Mitarbeiter, Selenskyj habe schon immer die notwendigen Eigenschaften besessen, um seine Sache gut zu machen. Insgeheim gaben sie zu, dass sie von seinem neuen Ich schockiert waren. Die meisten Ukrainer glaubten nicht, dass er das Zeug dazu hatte. Ich auch nicht.

Sein Erfolg als Führer in den ersten Stunden der Invasion beruhte auf der Tatsache, dass Mut ansteckend ist. Als alle realisierten, dass der Präsident nicht aufgab, verbreitete er sich in den politischen Reihen der Ukraine. Die anderen Funktionsträger, die für den Zusammenhalt des Staates verantwortlich waren, stellten sich daraufhin größtenteils hinter ihn. Anstatt um ihr Leben zu rennen, griffen viele Ukrainer zu allen erdenklichen Waffen und eilten los, um ihre Städte gegen eine mit Panzern und Kampfjets bewaffnete Invasionsmacht zu verteidigen.

Inwieweit ist diese Verteidigung Selenskyjs Verdienst? Zu Beginn der Invasion war er darüber unterrichtet, dass die Russen beabsichtigten, Kyjiw einzunehmen und seine Regierung zu stürzen, und er gab den Befehl, sie mit allen Mitteln aufzuhalten. Doch die ukrainischen Streitkräfte brauchten seine Anordnung nicht, um die Hauptstadt zu verteidigen. Die Maschinerie des Widerstands war bereits in Gang gesetzt, und Selenskyj saß nicht am Steuer. Monatelang hatte er die Gefahr eines größeren Krieges heruntergespielt, selbst als die US-Geheimdienste warnten, dass dieser unmittelbar bevorstehe. Als der Krieg begann, überließ er den Militärs die Führung auf dem Schlachtfeld, während er sich auf die Dimension des Krieges konzentrierte, bei der er die größte Wirkung erzielen konnte: die Ukraine in den Schlagzeilen zu halten und die Welt zu überzeugen, ihm zu helfen.

Diese Ziele trieben ihn in den ersten Monaten der Invasion an und prägten seine Reaktion auf meinen Plan, dieses Buch zu schreiben. Er stand dem Vorhaben ambivalent gegenüber. Mitten im Krieg musste Selenskyj seine Botschaft in Sekundenschnelle in die Welt tragen, und dank der sozialen Medien hatte er diese Möglichkeit. Gleiches galt für das Fernsehen. Bücher brauchen viel zu lange, und er wies mehr als einmal darauf hin, dass ihm meines ein wenig verfrüht erschien. Drei Jahre nach Beginn seiner Präsidentschaft und kaum Mitte vierzig fand er, dass er noch nicht genug erlebt oder erreicht hatte, um im Mittelpunkt einer Biografie zu stehen. »So alt bin ich noch nicht«, sagte er einmal lächelnd zu mir. Solange der Krieg in der Ukraine andauerte, war es für ihn zudem schwer vorstellbar, wie ein Buch über diesen Krieg enden sollte. Als wir im Frühjahr 2022, am fünfundfünfzigsten Tag der russischen Invasion, in seinem Büro in Kyjiw zum ersten Mal darüber sprachen, fragte er mich, wann ich das Buch fertigstellen wolle, und ich sagte ihm, mein Ziel sei es, ungefähr das erste Kriegsjahr zu verarbeiten und dann zu veröffentlichen. Als er das hörte, machte er ein langes Gesicht. »Sie glauben nicht, dass der Krieg in einem Jahr vorbei sein wird?«

Schließlich dauerte es weit über ein Jahr, bis das Buch fertiggestellt war, und der Krieg wütete immer noch weiter. Im ersten Jahr hatte er Hunderttausende von Menschenleben gefordert, Millionen von Menschen in der Ukraine entwurzelt und die Illusionen der Welt über die Dauerhaftigkeit eines europäischen Friedens drei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges erschüttert. Obwohl Selenskyj und ich beide hofften, dass dieser Krieg mit einem entscheidenden Sieg für die Ukrainer enden würde und dass die Kriegsverbrecher in Moskau für den Versuch, Russlands Nachbarland zu unterjochen oder zu vernichten, zur Verantwortung gezogen würden, wusste Selenskyj so gut wie jeder andere, dass das Kräfteverhältnis nicht zu seinen Gunsten stand. Jedenfalls ließ er mich mit meiner Berichterstattung fortfahren.

Hätte das Epizentrum dieses Krieges einen physischen Ort mit geografischen Koordinaten, dann wäre es wahrscheinlich Selenskyjs Büros im Kyjiwer Regierungsviertel, das Präsidialamt in der Bankova-Straße 11 mit seinen verbarrikadierten Toren und den schummrigen, nicht gerade zeitgemäß eingerichteten Räumen. Der Präsident und sein Team gestatteten mir im ersten Jahr der Invasion, einen Großteil meiner Zeit dort zu verbringen, ihre Arbeitsweise zu beobachten und sie über den Stand der Dinge an der Front, über die Spannungen innerhalb ihrer Administration, ihre Hoffnungen, Pläne, Ängste und Erinnerungen zu befragen. Nach einer Weile erschien mir der Ort vertraut, manchmal fast normal, trotz der Fliegeralarmsirenen, und die Mitarbeiter gewöhnten sich daran, mich dort zu sehen. Wir machten Witze, tranken Kaffee, warteten auf den Beginn oder das Ende von Sitzungen und verließen uns auf die Soldaten, unsere ständigen Begleiter, die uns vor Gefahren warnten und uns mit Taschenlampen durch die dunklen Gänge und an den Zimmern vorbeiführten, in denen sie auf dem Boden schliefen.

Manche von Selenskyjs Beratern, insbesondere diejenigen, die für seine Sicherheit zuständig waren, waren nicht immer erfreut darüber, dass mich der Präsident derart gewähren ließ, insbesondere nicht an den Tagen, an denen er mich einlud, ihn an die Front zu begleiten. Er erklärte nie, warum er das tat. Seine Mitarbeiter sagten nur, dass er mir vertraue, einen ehrlichen Bericht zu schreiben. Inzwischen kannte er meine Arbeit, und ihm war klar, dass ich dieses Projekt nicht aus der Ferne betreiben konnte. Mit Unterbrechungen berichte ich seit 2009 aus Kyjiw, praktisch während meiner gesamten journalistischen Laufbahn, und die Stadt ist mir zur zweiten Heimat geworden. Die Hälfte meiner Familie stammt aus der Ukraine. Die andere Hälfte ist russischer Herkunft. Mein Vater wuchs in der Zentralukraine auf, nicht weit von Selenskyjs Heimatstadt entfernt. Er lernte meine Mutter in einem Vorort von Moskau kennen, wo wir die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachten, bevor wir 1989, zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in die Vereinigten Staaten flohen. Zu Hause in San Francisco wuchs ich mit Russisch auf, sodass ich eine gemeinsame Sprache mit Selenskyj hatte.

In der Bankova-Straße ging es mir vor allem darum, die Geschichte des Krieges aufzuzeichnen, die Ereignisse zu verstehen, die zum Einmarsch der Russen geführt hatten, und diese aus der Sicht von Selenskyj und seinem Team zu schildern. Zu meiner Enttäuschung führten sie weder Tagebücher noch Protokolle über die Geschehnisse, zumindest keine, die sie mit mir teilen wollten, und die Textnachrichten und Fotos, die sie mir auf ihren Mobiltelefonen zeigten, gaben von ihren Gefühlen, ihrer Erschöpfung und ihrer Angst nur wenig wieder. Der Präsident hatte die Angewohnheit, auf die Textnachrichten seiner Mitarbeiter mit einem Daumen-hoch-Emoji zu antworten, was schwer zu interpretieren war. Wenn das Thema auf seine Gedankenwelt kam, war er oft ausweichend und wortkarg, neigte zu beruhigendem Geschwafel oder lenkte ab, um zu verschleiern, wie sehr der Krieg ihn verändert hatte.

Im Laufe der Zeit gab er zwar viel von sich preis, doch hätten unsere Interviews nicht ausgereicht, um dieses Buch zu schreiben. Daher griff ich zurück auf die Schilderungen seiner Freunde und Feinde, seiner Berater, Minister, Mitarbeiter und vor allem auf die seiner Frau, der First Lady Olena Selenska. Mehr als alle anderen trug sie dazu bei, die Fakten zu klären und korrigierte in vielen Fällen die Erinnerung ihres Mannes an die Geschehnisse. Zusammengenommen verrieten die Schilderungen all dieser Quellen und Zeugen weit mehr über Selenskyjs Führungsstil während des Krieges, als ich von ihm selbst je erfahren hätte. Manchmal rief er mitten im Gespräch seinen Leibwächter oder einen seiner Berater an, um die Details zu überprüfen. Häufig sahen sie die Dinge etwas anders.

Mit Erinnerungen ist das so eine Sache. Sie sind oft trügerisch, und wahrscheinlich sind auch einige solcher Täuschungen in dieses Buch gelangt, obwohl ich mich nach Kräften bemüht habe, sie herauszufiltern. Manche Fehler gehen auf mein Konto, weil ich jemanden missverstanden oder Einzelheiten falsch notiert habe. Manchmal erweisen sich die Erinnerungen von Beteiligten vielleicht als ungenau, auch die des Präsidenten. Man kann ihnen dies jedoch nicht zum Vorwurf machen. Einer von Selenskyjs engsten Beratern sagte mir über die ersten Wochen der Invasion: »Jeder neue Tag löschte den vorangegangenen komplett aus – wo man gewesen war, was passiert war.« Offenbar ist dies ein typischer Reflex in einer Zeit tödlicher Gefahr. Der Verstand widmet seine Kraft dem Überleben, nicht dem Erinnern.

Obwohl ich Zeuge vieler der in diesem Buch geschilderten Ereignisse war, wurden mir zahlreiche weitere von den Beteiligten berichtet. Manche von ihnen sprachen mit mir bereits während dieser Ereignisse oder sehr bald danach, als die Erinnerungen noch frisch waren und bevor sich ihre Geschichten in eine akzeptierte Darstellung der Geschehnisse einfügten. Ich habe mein Bestes getan, um ihre Schilderungen anhand mehrerer Quellen zu überprüfen und diejenigen Berichte einzubeziehen, die für das öffentliche Verständnis des Krieges besonders aufschlussreich und wichtig sind. Nach meinem besten Wissen entsprechen alle der Wahrheit.

Was sie über Selenskyj verraten, ist nicht immer schmeichelhaft. Manchmal brachten ihn seine lobenswerten Eigenschaften, wie etwa seine Tapferkeit, in größere Gefahr, als es für seine Sache notwendig erschien. Manchmal, wenn ich ihn begleitete, wünschte ich mir, er würde mehr von der Angst verspüren, die ich an jenem Abend im PalastUkrajina in seinem Gesicht gesehen hatte. Furcht kann uns schützen. Sie kann uns auch zur Flucht bewegen. Die Fähigkeit des Präsidenten, mit der Angst umzugehen, sie zu überwinden, hat viel damit zu tun, dass die Ukraine diese Bedrohung ihrer Existenz bislang überstanden hat. Ein anderer Lebensweg hätte ihn vielleicht besser darauf vorbereitet, sein Land durch einen Krieg zu führen. Aber im Nachhinein bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Teil eins

KAPITEL 1 TAGESANBRUCH

Wolodymyr Selenskyj fühlte sich dem Anwesen, das er zu Beginn der Invasion verließ, nicht besonders verbunden. Fast anderthalb Jahre lang war es für ihn und seine Familie ein angenehmer Ort zum Leben gewesen, mit einem separaten Wohngebäude für ihre Leibwächter und einem großen Stück Land, um den Hunden Auslauf zu geben, bis sie müde waren. An einem normalen Tag brauchte er vom Stadtzentrum Kyjiws aus keine dreißig Minuten nach Hause. Das war gerade weit genug entfernt, um dem Lärm der Stadt zu entkommen und vor dem Schlafengehen noch einmal frische Luft zu schnappen. Doch das Haus selbst – mit einer neoklassizistischen Fassade aus gelbem Stein, gelegen auf dem Grundstück Nr. 29 in der geschlossenen Wohnanlage Kontscha-Saspa – erschien dem ehemaligen Comedian übermäßig prunkvoll, fast schon protzig. Mit einem Wort, es war zu präsidial für Selenskyj.[1]

Außerdem erschien er dadurch wie ein Heuchler. Als er im Frühjahr 2019 im Alter von einundvierzig Jahren sein Amt als Präsident antrat, versprach er, nicht in einem den Staatsbeamten vorbehaltenen Objekte zu wohnen, insbesondere nicht in dem Haus in Kontscha-Saspa, einem der palastartigsten von allen.[2] Der Grundriss umfasste einen Billardraum und ein Heimkino sowie einen separaten Gebäudeflügel mit einem Schwimmbecken unter einer eleganten Glaskuppel. Frühere Staatsoberhäupter hatten die Villa genutzt und sie mit prächtigen Möbeln ausgestattet. Als Comedian hatte sich Selenskyj über sie lustig gemacht: »Leute, wie wäre es, wenn wir ein paar Kinder in diesen Residenzen wohnen ließen«, sagte er während seiner Präsidentschaftskanditur.[3] »Das ist so, wie wenn man durch Europa reist und die alten Residenzen der großen Könige sieht. Was ist das heutzutage? Das ist doch nur was für Touristen.« Doch nun war er selbst dort, besichtigte diese Räumlichkeiten nicht, sondern lebte darin, kam jeden Tag durch einen Eingang nach Hause, an dem zwei lebensgroße, in Stein gehauene Löwen saßen, deren Farbe zu den Säulen auf der Einfahrt passte. Er begrüßte seine Kinder unter dem hoch aufragenden Eingangsportal und stieg eine Marmortreppe hinauf zu seinem Schlafzimmer.

Als Mann, der sein ganzes Leben mit der Schauspielerei verbracht hatte und in der Lage war, die Rollen so schnell zu wechseln, wie seine Bühnenarbeiter die Kulissen für den nächsten Sketch umbauen konnten, war Selenskyj die große und königliche Rolle des Präsidenten zuwider. Sie passte nicht zu der Figur, die er jahrzehntelang auf der Leinwand und auf der Bühne kultiviert hatte: dem grinsenden Spaßvogel, dem unermüdlichen Charmeur, dem Schulterklopfer, der glaubte, dass am Ende alles gut würde auf der Welt. Mit einer Größe von nur knapp 1,70 Metern und funkelnden Augen, die unter seinen dunklen, ausdrucksstarken Augenbrauen ein wenig hervortraten, beruhte Selenskyjs Erfolg sowohl als Comedian als auch in der Politik auf seiner Fähigkeit, eine Rolle zu spielen, glaubwürdig und normal zu erscheinen wie einer von nebenan. Millionen von Menschen in der Ukraine hatten miterlebt, wie diese Figur über die Jahre zum größten Satiriker seiner Generation herangereift war, der mit seinem Witz jedes Publikum gewinnen konnte, indem er Politiker an die Wand nagelte. Wenn es darum ging, dieses Image zu bewahren, tat er sich mit der Residenz in Kontscha-Saspa keinen Gefallen. Sie war für Politiker erbaut worden, nicht für Politcomedians, und der Präsident hatte Mühe, sie sein Zuhause zu nennen. »Für mich ist sie wie ein Hotel, sonst würde ich sie nicht nutzen«, sagte er entschuldigend, nachdem seine Familie im Sommer 2020 dort eingezogen war.[4]

Die Presse verzieh ihm das nie. Bis zu dem Tag, an dem er als Kriegspräsident praktisch immun gegen Kritik wurde, erinnerten die Journalisten Selenskyj gern an die berühmtesten Sätze, die er in seiner Fernsehkarriere je von sich gegeben hatte. In der Schlüsselszene seiner erfolgreichsten Sitcom, die ihm auch den Weg zur Präsidentschaft ebnete, schimpft Selenskyjs Figur, ein Geschichtslehrer, über die Gier der politischen Eliten und insbesondere über deren prunkvolle Häuser:

Diese Wichser kommen an die Macht, und alles, was sie tun, ist stehlen und Scheiße reden, Scheiße reden und stehlen. Es ist jedes Mal derselbe Scheiß, und niemanden kümmert es! Dir ist es scheißegal. Mir ist es scheißegal. Keinem von uns ist das scheißegal, nicht mal ein ganz kleines bisschen. Aber wenn ich nur eine Woche im Amt wäre, nur eine Woche, würde ich es ihnen allen zeigen. Scheiß auf die Autokolonnen! Scheiß auf die Vergünstigungen! Scheiß auf die verdammten Chalets! Scheiß auf euch alle, ihr Wichser! Lasst doch mal einen einfachen Lehrer wie einen Präsidenten leben, und lasst den beschissenen Präsidenten wie einen Lehrer leben.[5]

Diese Rede, die 2015 erstmals in der Ukraine ausgestrahlt wurde, war der Geburtsschrei von Selenskyjs politischer Karriere. Sie brachte ihn ins Amt und verfolgte ihn anschließend. Sie liefert auch eine Erklärung dafür, warum er im dritten Winter seiner Präsidentschaft, als russische Truppen die Ukraine im Norden, Osten und Süden einkesselten, kein beliebter Machthaber war. Er war ein frustriertes Staatsoberhaupt, das Frieden versprochen und dieses Versprechen nicht gehalten hatte. Er war der Witzbold, der glaubte, ein Land mit vierundvierzig Millionen Einwohnern so regieren zu können, wie er sein Filmstudio geführt hatte. Er war der Reformer, der versprochen hatte, die Politiker aus ihren Villen zu vertreiben und sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren zu lassen. In jener schrecklichen Nacht, als die Bewohner von Kontscha-Saspa vom Lärm russischer Bomben geweckt wurden, saß Selenskyj jedoch selbst in einer Villa, getaucht in das sanfte Licht eines Kronleuchters.

Im Obergeschoss des Hauses war es ruhig, als die Bombardierung begann. Die Ersten, die darüber in Aufregung gerieten, waren die Tiere. Der Deutsche Schäferhund wurde unruhig und begann umherzulaufen. Dasselbe galt für den Papagei der Familie, einen nervösen Vogel namens Kesha, der an einem Fenster in der Nähe der Küche im Erdgeschoss lebte. Gegen 4:30 Uhr am Morgen des 24. Februar 2022 drang die Unruhe der Haustiere bis ins Schlafzimmer des Präsidenten, wo die First Lady Olena Selenska noch schlief. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie die tiefen Detonationen wahrnahm, die durch die Fenster drangen. Zuerst klangen sie wie ein Feuerwerk. Dann schlug sie die Augen auf und stellte in der Dunkelheit fest, dass die Bettseite ihres Mannes leer war. Der Präsident stand im Nebenzimmer, machte sich bereit, zur Arbeit zu gehen, und trug bereits einen dunkelgrauen Anzug. Als sie ihn dort antraf, brachte ihr verwirrter Gesichtsausdruck Selenskyj dazu, ihr ein Wort auf Russisch zu sagen, der Sprache, die sie zu Hause am häufigsten sprachen. Natschalos, sagte er. »Es hat begonnen.«[6]

Sie verstand, was er meinte. Schon seit Monaten warnten die Nachrichten in der Ukraine vor einem drohenden Krieg. In Talkshows wurde darüber diskutiert, welche Amtsträger und Gesetzgeber am wahrscheinlichsten fliehen würden. In einer Sendung wurden Ratschläge gegeben, was man in einen Notfallkoffer packen sollte, bevor man sich als Flüchtling auf den Weg machte. Einige der schlimmsten Vorhersagen stammten von den westlichen Verbündeten der Ukraine, insbesondere von den US-Geheimdiensten, die zu dem Schluss gekommen waren, dass Russland eine Invasion aus drei Richtungen plane und die Hauptstadt wahrscheinlich innerhalb weniger Tage überrennen werde. Das Ziel der Russen sei es, den größten Teil des Landes einzunehmen und die Regierung Selenskyj abzusetzen, hieß es.

Für viele Ukrainer hatten diese Vorhersagen absurd geklungen. Es wurde nicht erwartet, dass der Angriff, wenn er denn kommen sollte, über die Grenzregionen im Osten hinausgehen würde. Seit etwa acht Jahren liefern sich die Ukraine und Russland einen langwierigen Krieg um zwei Separatistengebiete in der Ostukraine. Nur wenige in Kyjiw glaubten, dass die jüngste Eskalation allzu weit über diese Regionen hinausgehen würde. Noch weniger glaubten, dass sie jemals ihre Heimat erreichen würde. Bis in die letzten Stunden glaubte auch Selenskyj nicht daran. Er wies seine Frau nicht an, sich vorzubereiten. Erst am Vorabend der Invasion machte sich die First Lady eine Notiz, dass sie einen Koffer packen oder zumindest die Pässe und andere Dokumente der Familie zusammensuchen sollte. Aber sie kam nicht dazu. Der Tag verging, wie so oft, viel zu schnell mit Routineaufgaben und Besorgungen. Sie erledigte ein paar Dinge und machte mit den Kindern Hausaufgaben. Dann aßen sie zu Abend und sahen fern.

Der Präsident kam erst lange nach Mitternacht heim und sagte nichts, woraus seine Frau hätte schließen können, dass sie in Gefahr waren. Er war sich ziemlich sicher, dass ihr Haus geschützt wäre, und es war nie seine Art gewesen, sie zu beunruhigen. Meist verbarg er seine Sorgen hinter Scherzen und Lächeln und entschuldigte sich dann, wenn sie erfuhr, was er verheimlichte. In jener Nacht gingen sie zu Bett, ohne Pläne für den Kriegsfall zu schmieden, und schliefen nur ein paar Stunden, ehe die Bombardierung begann. Nun konnte die First Lady aus seinen Augen ablesen, dass die Lage viel schlimmer war, als sie es sich vorgestellt hatte.

»Emotional war er wie eine Gitarrensaite«, sagte sie später. »Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.« Dennoch erinnerte sie sich an keinerlei Verwirrung oder Angst in seinem Gesichtsausdruck. »Er war vollkommen gefasst und konzentriert.« Offenbar so konzentriert, dass er nicht einmal seine Kinder weckte und sich von ihnen verabschiedete. Er bat nur seine Frau, ihnen zu erzählen, was passiert sei. Er versprach, sie später anzurufen und ihr Anweisungen für das weitere Vorgehen zu geben. »Wir waren noch dabei, die Geschehnisse zu verarbeiten«, sagte sie. »Wir hätten nie gedacht, dass so etwas passieren könnte, denn das ganze Gerede über den Krieg war nur Geschwätz gewesen.« Der Lärm der Explosionen draußen hatte sie in eine neue Realität katapultiert, und sie brauchten beide mehr als nur einen kurzen Moment am Treppenabsatz, um sich darauf einzustellen. »Er hatte nichts weiter zu sagen«, erzählte sie mir später von diesem Gespräch, einer der letzten privaten Unterhaltungen, die sie über Monate hinweg führen sollten. »Und ich wusste nicht, was ich fragen konnte.«

Draußen sprang der Präsident die wenigen Stufen zur Einfahrt hinab und stieg in ein Fahrzeug seiner bereits wartenden Wagenkolonne. Das Metalltor öffnete sich, und sein Fahrer bog auf die von Bäumen gesäumte Straße durch Kontscha-Saspa in Richtung Norden ein. Zu dieser frühen Stunde fuhren nur wenige Autos in die Stadt, aber in der anderen Richtung hatte sich der Verkehr bereits verdichtet. Diejenigen, die das Glück und die Weitsicht besessen hatten, gepackte Koffer und einen vollen Benzintank parat zu halten, versuchten, Kyjiw unmittelbar nach Beginn der Detonationen zu verlassen. Bis Mittag kam es dann auf sämtlichen stadtauswärts führenden Straßen zu Verkehrsstaus.

Einstweilen passierte Selenskyj die gewohnte Szenerie seiner Fahrt zur Arbeit auf der E40, den Fußballplatz zu seiner Rechten, eine Kapelle mit goldenen Kuppeln zu seiner Linken, die Werbetafeln, die an jeder Ausfahrt Eigentumswohnungen anpriesen. Es war das letzte Mal für viele Monate, dass er das alles in einem friedlichen Zustand sah, mit intakten Brücken, ohne militärische Kontrollpunkte, ohne Panzersperren und verbogenes Metall auf den Straßen.[7] In ein oder zwei Tagen würde Kyjiw erneut einer Festung ähneln und in jenen Belagerungszustand zurückkehren, der einen Großteil seiner Geschichte bestimmt hatte. Anderthalb Jahrtausende lang hatten die europäischen Reiche um diese alte Stadt am Ufer des Dnepr gekämpft. Die Wikinger, die Osmanen, die Mongolen, die Litauer und die Polen hatten Anspruch auf Kyjiw erhoben, seine Handels- und Wissenszentren, seine Klöster und Kathedralen. Die Russen hatten die Stadt im 12. Jahrhundert zum ersten Mal geplündert. Nun versuchten sie es wieder.

Auf dem Rücksitz des Wagens saß Selenskyj schweigend da, den Blick auf sein Telefon gerichtet. Während die Wagenkolonne durch die Dunkelheit raste, strömte eine Flut von Anrufen und Nachrichten herein. Einer der ersten Anrufer war sein Freund Denys Monastyrskyj, der für Landespolizei und Grenzschutz zuständige Innenminister. Er war ein paar Jahre jünger als Selenskyj, sah aber älter und härter aus und wirkte ein wenig wie ein Preisboxer. In den letzten drei Tagen hatte Monastyrskyj in seinem Büro im Innenministerium geschlafen und auf Anzeichen des russischen Angriffs gewartet, und nun war es seine Aufgabe, den Präsidenten zu informieren, dass der Angriff begonnen hatte. Selenskyj fragte ihn, wo genau. Er wollte wissen, welche Angriffsrichtung der Kreml gewählt hatte.

»Alle«, sagte Monastyrskyj.

Entlang der gesamten Ost- und Nordgrenze beschossen die feindlichen Streitkräfte die ukrainischen Stellungen mit Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Fliegerbomben. Russische Kampfjets flogen über die großen Städte, um die ukrainische Luftabwehr auszuschalten und den Luftraum zu erobern. In der Leitung herrschte Stille. Der Präsident brauchte einen Augenblick, um die Informationen zu verarbeiten. Dann sagte er einen Satz, an den sich Monastyrskyj noch lange erinnern würde: »Schlagt sie zurück.«

Solche Zuversicht, selbst im Angesicht größter Gefahren, war schon immer eine von Selenskyjs Stärken gewesen. In diesem Moment schien sie jedoch fehl am Platze und grenzte an Größenwahn. Er wusste, dass der Ukraine die Mittel fehlten, um die Russen zurückzuschlagen. Bestenfalls könnte man sie einige Tage lang aufhalten, hoffentlich lange genug, damit die militärische und politische Führung sich orientieren, Ressourcen mobilisieren und die Teile des Landes retten könnte, die nicht in der ersten Angriffswelle überrannt würden. Durch sein Verhalten vor der Invasion trug Selenskyj zumindest eine Teilschuld am dürftigen Zustand der Landesverteidigung. Wochenlang hatte er das Risiko einer groß angelegten Invasion heruntergespielt und seinem Volk versichert, dass alles gut gehen würde. Er hatte den Rat seiner militärischen Befehlshaber ausgeschlagen, sämtliche verfügbaren Reserven aufzubieten und sie zur Verstärkung der Grenze einzusetzen. Neben der Katastrophe der Invasion selbst musste sich der Präsident somit auch mit seinem eigenen Versagen auseinandersetzen, diese nicht vorhergesehen zu haben. Doch dafür war später Zeit. Im Augenblick musste er sich damit befassen, was unmittelbar anstand, mit den russischen Panzern und Kampfflugzeugen, den Raketen, die über ukrainische Städte flogen, die Häuser seiner Bürger trafen und sie unter den Trümmern begruben.

Viel später erinnerte er sich an diese ersten Minuten des Krieges als Reihe unzusammenhängender Geräusche und Bilder, von denen viele schwach oder unbestimmt waren. Fragmente, wie Selenskyj sie nannte: »Manche Dinge kommen mir nur bruchstückhaft in den Sinn.« Er saß an jenem Morgen nicht am Steuer des Wagens, doch kam es ihm vor, als führe er mit so hoher Geschwindigkeit, dass die Welt am Rande seines Blickfeldes verschwamm. Er zwang sich, das zu ignorieren. »Das ist eine Frage der Konzentration«, sagte er mir später. »Wenn man sich dadurch ablenken lässt, dass jemand vor der Windschutzscheibe vorbeirennt, durch grelle Scheinwerfer, Menschen, die schreien und mit den Händen fuchteln, oder durch laute Musik oder einen Jingle im Radio, wenn man sich durch all das ablenken lässt, dann sind die Chancen, ans Ziel zu kommen – an ein Zwischenziel, nennen wir es mal so –, gering. Nicht ganz bei null, aber doch sehr gering.«

Das Ziel in jenem Augenblick war sein Büro in der Bankova-Straße, obwohl dies nicht der sicherste Ort für ihn war. Das Präsidialamt befindet sich mitten in einem dicht bebauten Viertel, umgeben von Wohnhäusern, belebten Cafés und mit Boutiquen gesäumten Kopfsteinpflastergassen. Die nächsten Wohnungen lagen nahe genug an Selenskyjs Büro, dass jemand eine Granate durchs Fenster werfen konnte. Als er gegen 5:00 Uhr morgens eintraf, herrschte auf den Straßen ein für diese Uhrzeit ungewöhnliches Treiben. Die Menschen bereiteten sich auf ihre Flucht vor, brachten ihre Koffer und Haustiere nach draußen und schnallten ihre Kinder in den Autositzen fest. Selenskyjs Leibwächter wussten nicht, ob russische Saboteure eines der am Straßenrand geparkten Autos mit Sprengstoff beladen hatten. Seine Residenz in Kontscha-Saspa verfügte wenigstens über einen Sicherheitszaun und ein Metalltor. Auf dem Gelände des Präsidialamts im Zentrum Kyjiws gab es solche Sicherheitsvorkehrungen nicht, aber Selenskyj bestand darauf, zuerst dorthin zu gehen. Es war der Sitz der präsidialen Macht, und seine Botschaft an die ranghohen Berater und Minister, die ihn an diesem Morgen anriefen oder ihm eine Textnachricht schickten, war dieselbe: Gehen Sie ins Büro. Ich erwarte Sie dort.

Oleksij Danilow, der Sekretär des Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrates, benötigte vom Präsidenten keine Anweisung, wohin er gehen sollte.[8] Er war einer der wenigen Amtsträger in Selenskyjs Umfeld, die den Warnungen vor einer drohenden Invasion Glauben geschenkt hatten. Die Aussicht darauf schien Danilow bisweilen mindestens ebenso sehr zu erregen wie zu ängstigen. Er glaubte fest daran, dass die Ukrainer sich heftig zur Wehr setzen würden, und er wollte an vorderster Front dabei sein. Danilow, ein mürrischer Typ mit dickem Bauch und einer Brille auf der Nasenspitze, war mit seinen neunundfünfzig Jahren weit über ein Jahrzehnt älter und in Staatsangelegenheiten wesentlich erfahrener als die meisten von Selenskyjs hochrangigen Beratern, die über seine Ratschläge oft mit den Augen rollten, wie man es hinter dem Rücken eines schwafelnden Onkels tun würde. Man konnte es ihnen kaum verdenken. Obwohl er keinen militärischen Rang bekleidete, gab sich Danilow gern wie ein alternder Guerillakommandant und trug sogar eine selbst entworfene Uniform, ganz in Schwarz, mit einem Namensaufnäher auf der Brust.

Am Morgen des Überfalls war er bereits angekleidet, als die erste russische Rakete auf einem Luftwaffenstützpunkt in der Nähe seines Hauses am Stadtrand von Kyjiw einschlug, so nah, dass seine Fensterscheiben zitterten. Der Einschlag habe ihm ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung verschafft, wie er sich später erinnerte. Seine Frau und sein Sohn hatten die Stadt bereits im Vorfeld des Angriffs verlassen, und Danilow fand es quälend, allein mit der Erwartung zu leben, dass eine Offensive jederzeit beginnen könnte. Jetzt hatte das Warten ein Ende, und er wusste, was zu tun war, welche Verteidigungsmechanismen er in Gang setzen musste. Das Wetter in Kyjiw war in jener Woche schön gewesen, ungewöhnlich für ein Winterende in der Ukraine. Doch als Danilow in seinem gepanzerten Land Cruiser zum Präsidialamt fuhr, ging der Nebel in Regen über, und er schaltete lächelnd die Scheibenwischer ein. In der Ukraine sagt man oft, Regenwetter bringe Glück.

Als Danilow in die Bankova-Straße einbog, notierte er sich die Uhrzeit – 5:11 Uhr – und stapfte die Treppe zu Selenskyjs Büro hinauf. Es überraschte ihn, dass der Präsident ein frisches weißes Hemd trug. Die Wahl schien unpassend und irgendwie untypisch. Selenskyj war dafür bekannt, dass er in seinem grün-schwarzen Glückspullover zur Arbeit kam, der eher an eine Star Trek-Convention erinnerte. Doch ausgerechnet an jenem Tag hatte er beschlossen, es nicht leger zu halten. Er war gekleidet, als würde er gleich auf die Bühne gehen. Die andere Überraschung war Selenskyjs Auftreten. Er war ruhig, seine Stimme fest, die Augenlider waren entspannt. Die erste Äußerung zum Krieg, die er gegenüber Danilow machte, war dieselbe, die er eine Stunde zuvor gegenüber seiner Frau getätigt hatte: »Es hat begonnen.« Dann stellte er eine profane Frage, die aus dem Russischen schwer zu übersetzen ist. Grob gesagt bedeutet sie: »Wollen wir ihnen in den Arsch treten?«*

Vorerst waren es jedoch hauptsächlich die Russen, die anderen in den Arsch traten. In der Anfangsphase der Invasion rückten rund siebzigtausend Soldaten und siebentausend gepanzerte Fahrzeuge von Norden her auf Kyjiw zu, und zwar auf beiden Seiten des Flusses Dnepr, der durch die Stadt fließt. Es handelte sich offenbar um einen Blitzkrieg, der den Angriffen ähnelte, die der Kreml im Laufe der Jahre mit verheerender Wirkung durchgeführt hatte. Bei der Operation »Wirbelwind« brauchten die sowjetischen Streitkräfte 1956 keine vier Tage, um die ungarische Hauptstadt zu besetzen und die Regierung zu stürzen, deren Ministerpräsident anschließend verhaftet, gefoltert, in einem Geheimprozess des Hochverrats für schuldig befunden und zwei Jahre später am Galgen hingerichtet wurde. Im Jahr 1968 überrannten sowjetische Truppen innerhalb von zwei Tagen die Tschechoslowakei und nahmen Prag ein, und am Abend des 27. Dezember 1979 benötigten sowjetische Spezialeinheiten nur wenige Stunden, um einen stark befestigten Palast in Kabul zu stürmen und den afghanischen Staatschef zu liquidieren.

Der militärhistorisch interessierte Danilow hatte derartige Präzedenzfälle im Sinn, als er versuchte, sich den Plan des Kreml zur Eroberung der Ukraine vorzustellen. Er glaubte nicht, dass die Russen das gesamte Land einnehmen und halten könnten. Es war zu groß, sein Gebiet fast doppelt so groß wie Deutschland, und der Widerstandswille der Bevölkerung würde eine rasche Besetzung nicht ermöglichen. Was Danilow beunruhigte, war das Szenario von Kabul, ein Blitzangriff auf das Präsidialamt, um das Staatsoberhaupt gefangen zu nehmen oder zu töten. Schon Tage vor Beginn der Invasion hatte der ukrainische Geheimdienst drei Gruppen von Attentätern aufgespürt, die den Auftrag hatten, Selenskyj zu töten. Alle stammten aus der südrussischen Region Tschetschenien, der Heimat einiger der skrupellosesten und loyalsten Kommandotruppen Putins. »Wir hatten sie schon eine Weile beobachtet«, erzählte mir Danilow später. »Es gab konkrete Informationen, dass sie unseren Präsidenten liquidieren sollten.« Der tägliche Geheimdienstbericht, den Danilow am 22. Februar erhielt, also zwei Tage vor der Invasion, umfasste detaillierte Warnungen vor dem Komplott. Am Abend brachte Danilow das streng geheime Dokument in Selenskyjs Büro, um ihn über die Gefahr zu informieren. Doch der Präsident tat das Ganze ab. Er weigerte sich zu glauben, dass im 21. Jahrhundert, drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges, Auftragskiller versuchten, einen amtierenden europäischen Staatschef zu ermorden. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Putin einen großen Krieg beginnen würde, eine Landinvasion von einem Ausmaß, das Europa seit Generationen nicht mehr erlebt hatte.

»Damals dachten wir, das wären nur Drohungen«, sagte Selenskyj später gegenüber der BBC.[9] »Wir haben mit den Geheimdiensten gesprochen, mit unseren eigenen und denen unserer Partner. Jeder sah die Risiken anders.« Einige seiner europäischen Verbündeten, darunter die Staats- und Regierungschefs von Frankreich und Deutschland, versicherten ihm, dass die amerikanischen Vorhersagen über eine Invasion übertrieben seien. »Sie riefen mich zurück und sagten mir: ›Wir haben mit Putin gesprochen. Putin wird nicht einmarschieren.‹«

Sie täuschten sich. Um genau 5:00 Uhr Kyjiwer Zeit veröffentlichte der Kreml auf seiner Website ein Video, um den Beginn der Invasion zu verkünden. Die Aufnahmen zeigten Wladimir Putin in einem holzgetäfelten Büro, mit roten Augen und trockenem Mund; er hielt sich mit beiden Händen an der Kante seines Schreibtisches fest, als müsse er sich stützen. Die Liste der Feinde und Missstände, die er zur Rechtfertigung des Krieges aufzählte, reichte Jahrzehnte zurück, und den Namen Selenskyj erwähnte er in dieser Rede nie. Auch nannte Putin die Ukraine nicht als letztgültiges Angriffsziel. In den ersten zwanzig Minuten seiner Kriegserklärung konzentrierte er sich stattdessen auf die Vereinigten Staaten, die Kriege, die sie in Jugoslawien, Libyen und im Irak geführt hatten, und auf die »unmittelbare Bedrohung«, die sie, wie er sagte, für Russland darstellten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätten die USA immer mehr europäische Staaten in die NATO aufgenommen, erklärte Putin, und diese »Kriegsmaschinerie« immer näher an die Grenzen Russlands heran ausgedehnt. NATO-Militärstützpunkte befänden sich nun in den Teilen Europas, die Russland als rechtmäßigen Einflussbereich betrachte, und er werde nicht zulassen, dass die Ukraine diesem Weg folge und ihr Ziel, dem Bündnis beizutreten, erreiche. In dem »historisch gesehen russischen Land«, sagte er und meinte damit die Ukraine, hätten die USA und ihre Verbündeten ein feindliches »Anti-Russland« geschaffen. Früher oder später würden sie die Ukraine nutzen, um einen Krieg gegen Russland selbst zu beginnen, und es wäre »unverantwortlich«, wenn das russische Militär nicht zuerst zuschlagen und die Bedrohung neutralisieren würde.

Wie viele von Putins Tiraden gegen den Westen in den vergangenen Jahren triefte auch diese Ansprache vor Unwahrheiten und Paranoia. In Wirklichkeit hatten sich die USA und ihre europäischen Verbündeten lange Zeit geweigert, der Ukraine einen klaren Weg zum Bündnisbeitritt aufzuzeigen. Die Staats- und Regierungschefs der NATO hatten die Beitrittsgesuche der Ukraine anderthalb Jahrzehnte lang hinausgezögert, und ihre Sorge, Putin zu verärgern, hielt sie davon ab, die Ukraine mit den Waffen auszustatten, die sie zur Selbstverteidigung benötigte. Manche dieser Sorgen waren zweifellos berechtigt. Wenn Selenskyjs Weg zur Macht im Jahr 2019 auf seinem Ruhm als Comedian gründete, so gründete Putins Aufstieg zwei Jahrzehnte zuvor auf seinem Sieg in einem Krieg gegen Tschetschenien, einem abtrünnigen Kleinstaat im Süden Russlands, dessen Städte er 1999 und 2000 niederbombte und dabei Zehntausende Zivilisten tötete. Die brutale Unterwerfung der tschetschenischen Bevölkerung und die Ermordung ihrer Anführer setzten weitgehend den Ton für Putins Regentschaft und waren der Vorbote seines Versuchs, das Gleiche in der Ukraine zu tun. Während westliche Regierungschefs die Hände rangen und über die Risiken einer Eskalation nachgrübelten, entschloss sich Putin zum Angriff auf Kyjiw, und seine Rede ließ der Welt keinen Zweifel an seinen Absichten. Die Führung in der Ukraine, sagte er, sei ein Haufen völkermordender Neonazis, und er wolle ihre Regierung stürzen, ihr Land »entmilitarisieren und entnazifizieren« und an Selenskyjs Stelle einen loyalen Führer einsetzen. Jedem fremden Land, das sich ihm in den Weg stellen wolle, drohte Putin verschleiert mit dem Einsatz von Atomwaffen: »Wer auch immer versucht, sich bei uns einzumischen, geschweige denn unser Land und unser Volk zu gefährden, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben. Wir sind auf jede Entwicklung der Ereignisse vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen wurden in dieser Hinsicht getroffen. Ich hoffe, dass ich gehört werde.«[10]

In jenen ersten Stunden der Invasion konnte niemand sagen, ob Selenskyj und sein Team durchhalten würden. Das Militär und die Nachrichtendienste hatten Monate damit verbracht, Szenarien für die Invasion zu entwerfen, aber ihre Prognosen konnten diese Frage nie klären. Würde der Präsident in Panik geraten? Würde die Angst vor dem eigenen Tod seine Führungsqualitäten beeinträchtigen? »Das ist der einzige Faktor, den man nie berechnen kann«, sagte Danilow später zu mir. »Solange man sich nicht in dieser Situation befindet, kann man nicht sagen, wie man reagieren wird.«

Die Geschichte gab eher den Pessimisten recht. Nur sechs Monate vor dem Einmarsch in die Ukraine verließ der afghanische Präsident Aschraf Ghani – ein wesentlich erfahrenerer Staatsführer als Selenskyj – seine Hauptstadt, als sich Taliban-Kämpfer näherten. Einer von Selenskyjs Vorgängern, Viktor Janukowitsch, floh aus Kyjiw, als während der Revolution von 2014 Demonstranten sein Büro belagerten. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges flohen unter anderem die Führer von Albanien, Belgien, der Tschechoslowakei, Griechenland, Polen, den Niederlanden, Norwegen und Jugoslawien vor dem Vormarsch der deutschen Wehrmacht und verbrachten den Rest des Krieges im Exil. Selbst Iwan der Schreckliche, der erste russische Herrscher, der sich Zar nannte, floh aus Moskau, als die Osmanen und ihre regionalen Verbündeten 1571 die Stadt angriffen.

Wenig oder gar nichts in Selenskyjs Biografie deutete darauf hin, dass er sich anders verhalten würde. Er hatte nie in der Armee gedient oder besonderes Interesse an deren Aufgaben gezeigt. Sein beruflicher Instinkt gründete sich auf ein Leben als Bühnenschauspieler, als Meister der Improvisationskomik und als Produzent für Film und Fernsehen. Seine Erfahrung als Staatsmann betrug etwa zwei Jahre und neun Monate, weniger als die Zeit, die man braucht, um einen Bachelor-Abschluss in internationalen Angelegenheiten zu erwerben. Für fast jeden in seiner Position wäre ein Fluchtimpuls so natürlich wie der Überlebenswille gewesen. Ein paar russische Bomben, wie sie an jenem Morgen auf die ukrainischen Militärstützpunkte niedergingen, hätten ausgereicht, um einen Großteil des Regierungsviertels zu verwüsten und dabei auch das Parlament und das Ministerkabinett zu zerstören, die beide in unmittelbarer Nähe des Präsidialamts stehen. Dieser Teil der Stadt, auch »das Dreieck« genannt, war noch nie leicht zu verteidigen gewesen. Den Demonstranten, die Janukowitsch 2014 aus dem Amt jagten, gelang es, Teile davon mit kaum mehr als Schilden und Stöcken einzunehmen. Nun mussten die Behörden damit rechnen, dass russische Panzer durch die Stadt rollten. Als Danilow begann, bei Regierungsvertretern anzurufen, war er nicht überrascht zu erfahren, dass manche sofort nach Beginn der Bombardierung ihre Telefone ausgeschaltet, ihre Autos gepackt und sich auf den Weg zur westlichen Grenze gemacht hatten. »Viele von ihnen gerieten in Panik«, sagte er.

Es kam zu Überläufen, von denen der wichtigste ukrainische Geheimdienst, der SBU, besonders betroffen war. »Vor allem in den oberen und mittleren Rängen gab es eine Menge Probleme«, sagte mir ein anderer von Selenskyjs Top-Sicherheitsberatern. »Viele Leute aus den Sicherheitsstrukturen sagten: ›Lasst uns hier verschwinden. Widerstand ist zwecklos. Die Russen werden uns besiegen.‹« Ihr Exodus dezimierte die oberen und mittleren Ränge der Organisation. Dutzende von Offizieren wechselten auf die Seite der Invasoren und übergaben damit die Schlüssel zu Teilen der Südukraine. Die Führung in Kyjiw blieb jedoch weitgehend standhaft, und Danilow gelang es ohne Probleme, innerhalb einer Stunde nach seiner Ankunft in der Bankova-Straße eine beschlussfähige Versammlung des Sicherheitsrates einzuberufen.

Einer der ersten Amtsträger, die er erreichen konnte, war der Parlamentsvorsitzende Ruslan Stefantschuk, der in diesen frühen Stunden eine entscheidende Rolle einnahm. Sollte Selenskyj getötet werden, war Stefantschuk an der Reihe, das Kommando zu übernehmen. Ferner war er für die Einberufung der nationalen Legislative, der Werchowna Rada, zuständig, dem Sitz der Demokratie, die Russland vernichten wollte. Der große und schwergewichtige Mann, der weit über 150 Kilo wog, war außer Atem, als er in der Bankova-Straße eintraf. Er kannte den Präsidenten länger als fast jeder andere in dessen Administration. In den 1990er-Jahren war Stefantschuk in Russland und der Ukraine als Mitglied einer Gruppe namens »Die drei dicken Kerle« aufgetreten, die Selenskyj schon als Teenager bewundert hatte. Als sie sich im Präsidialamt begrüßten, war Stefantschuk erstaunt über den Gesichtsausdruck seines alten Freundes, der ihm wie ein Spiegelbild seines eigenen erschien. »Es war keine Angst«, erzählte er mir später. »Es war eine Frage: ›Wie kann das sein?‹« Der Vorsitzende und der Präsident erkannten beide, dass ein ausgewachsener Krieg begonnen hatte, aber keiner vermochte die gesamte Tragweite dieser Situation zu erfassen. »Es klingt vielleicht vage oder schwülstig«, sagte Stefantschuk. »Aber wir spürten, dass die Weltordnung zusammenbrach.«

Gegen 6:00 Uhr morgens trat der Sicherheitsrat in Selenskyjs Büro im vierten Stock des Präsidialamts zusammen. Der Präsident saß am Kopfende des Konferenztisches mit Blick zur Tür. Ein kurzer Bericht der militärischen Befehlshaber vermittelte ein Gefühl für das Ausmaß der Invasion. Hauptziel war offenbar Kyjiw, wo Raketen einen militärischen Kommandoposten, ein Munitionsdepot, eine Garnison der Nationalgarde und andere Ziele getroffen hatten. Von allen möglichen Szenarien für die Invasion hatte Russland das aggressivste gewählt, und Selenskyj sah sich gezwungen, landesweit das Kriegsrecht zu verhängen. Der Sicherheitsrat stimmte rasch zu. Niemand erhob irgendwelche Einwände. Unter den gegebenen Umständen schien dies eine Formalität zu sein, doch die Konsequenzen waren enorm, wie sich in den folgenden Monaten zeigte. Das in der ukrainischen Verfassung verankerte Kriegsrecht räumt dem Präsidenten weitreichende Befugnisse ein, per Dekret zu regieren, etwa Wahlen und andere demokratische Rechte und Freiheiten der Ukrainer für die Dauer des Krieges auszusetzen. Beispielsweise können Ausgangssperren verhängt werden. Jeder Mann im kampffähigen Alter zwischen achtzehn und sechzig Jahren unterliegt der Wehrpflicht und darf das Land nicht verlassen. Die normalen Funktionen des Parlaments sind außer Kraft gesetzt, und die Vermögenswerte staatlicher Unternehmen sowie sämtliches Privateigentum können im Interesse der Landesverteidigung beschlagnahmt werden.

Sobald Selenskyj die Erklärung unterzeichnet hatte, eilte Stefantschuk hinaus, um sie in einer Dringlichkeitssitzung des Parlaments zu verabschieden. Er hatte mehrere Orte in Betracht gezogen, an denen sich die Abgeordneten an jenem Vormittag versammeln könnten. Das Parlamentsgebäude mit seiner berühmten Glaskuppel schien besonders anfällig für einen russischen Angriff aus der Luft. Als Alternative kam unter anderem ein Sitzungssaal unter dem Mutter-Heimat-Statue infrage, wo man vor einem Raketeneinschlag auf jeden Fall geschützt gewesen wäre. Stefantschuk beschloss jedoch, diese Idee zu verwerfen. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass die Abgeordneten ihre Posten verlassen hätten, und wies sie an, sich im Plenarsaal zu versammeln, dem Ort, an dem sie normalerweise über Haushaltsgesetze und Bildungspolitik debattierten.

Einige waren bereits aus der Stadt geflohen. Andere hatten Schwierigkeiten, das Parlamentsgebäude mit dem Auto zu erreichen. Rund um das Regierungsviertel hatten Soldaten und Freiwillige begonnen, Barrikaden zu errichten, und manche Straßen mit Kipplastern und Linienbussen blockiert. In der ganzen Stadt bildeten sich lange Schlangen vor Banken und Tankstellen, und am Hauptbahnhof wimmelte es von Menschen, die zu fliehen versuchten. Alle Flüge in die und aus der Ukraine waren annulliert. Passagiere und Mitarbeiter der Fluggesellschaften wurden aufgefordert, den Hauptflughafen von Kyjiw zu verlassen. Panik machte sich breit, und Selenskyj war klar, dass sie die Hauptstadt viel schneller überrollen könnte als die russischen Panzer. Er musste den Menschen versichern, dass es ungefährlich war, zu Hause zu bleiben. Gegen 6:30 Uhr unternahm er einen ersten Versuch.

Er saß an seinem Schreibtisch, legte sein Telefon vor sich hin und drückte auf Aufnahme. Die sechsundsechzig Sekunden lange Nachricht zeigte noch wenig von der Zuversicht, die Selenskyj in seinen späteren Kriegsvideos ausstrahlte. Er las zu schnell von einer Reihe vorbereiteter Notizen ab und informierte die Nation darüber, dass Putins Streitkräfte einmarschiert seien, dass im ganzen Land Explosionen zu hören gewesen seien und dass die ausländischen Verbündeten der Ukraine bereits eine internationale Reaktion vorbereiteten. Dann sprach er etwas langsamer, und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Was heute von Ihnen verlangt wird, ist Ruhe, von jedem Einzelnen von Ihnen«, sagte er in die Kamera. »Ich werde mich bald wieder melden. Geraten Sie nicht in Panik. Wir sind stark. Wir sind zu allem bereit.«

Der vorbereitete Teil seiner Rede entsprach der Wahrheit, der Rest nicht. Selenskyj suggerierte in seinem Video zwar, dass die Menschen sich zu Hause sicher fühlen könnten, aber er wusste es besser. Einige seiner Mitarbeiter hatten ihre Familien bereits aus der Stadt geschickt und sich von ihnen verabschiedet, als wäre es das letzte Mal. Andrij Sibiga, der wichtigste außenpolitische Berater des Präsidenten, hielt an diesem Morgen die Hand seiner Frau und erklärte ihr, dass sie den Kontakt verlieren könnten, sobald sie und ihre drei Kinder die Stadt verlassen hätten. »Wir sahen uns an und sagten: ›Nun, das war’s. Wir haben unsere Kinder, wir hatten eine schöne Zeit.‹ Das war unsere Bilanz.«

Selenskyjs Eltern, beide Anfang siebzig, mussten bald ebenfalls evakuiert werden. Ihre Heimatstadt im Südosten der Ukraine lag in der Schusslinie der russischen Streitkräfte, die von der Krim aus in Richtung Norden vorrückten. In ihrem ersten Telefongespräch an jenem Morgen versuchte Selenskyj, seine Mutter – oder vielleicht auch sich selbst – zu beruhigen, dass alles in Ordnung kommen würde. »Du bist die Mutter des Präsidenten«, sagte er nach Angaben eines Beraters, der Zeuge des Gesprächs war. »Dir kann nichts passieren.«

Nach der Verhängung des Kriegsrechts verließen die meisten Mitglieder des Sicherheitsrates, einschließlich der Leiter des Militärs und der Nachrichtendienste, das Präsidialamt und begaben sich in ihre jeweiligen Hauptquartiere, um dort das Kommando zu übernehmen. Sie hatten den klaren Auftrag, das Schlachtfeld zu beobachten, Informationen zu sammeln und die Truppen zu lenken. Die Rolle des Präsidenten war weniger klar definiert. Obwohl er Oberbefehlshaber der Streitkräfte war, hatte er weder die Erfahrung noch die Absicht, sie zu führen. Er vertraute hier vielmehr auf seine Generäle und konzentrierte sich stattdessen auf die Diplomatie, auf die Notwendigkeit, die Führer der Welt zu mobilisieren. Die erste Nummer, die er an diesem Morgen in seinem Büro wählte, war die des britischen Premierministers Boris Johnson. Zu diesem Zeitpunkt – etwa gegen 4:40 Uhr – war es in London noch dunkel, aber Johnson nahm ab und begrüßte Selenskyj freundschaftlich. Die beiden hatten sich in den Monaten vor dem Krieg näher kennengelernt; Johnson bemühte sich mehr als die meisten seiner Kollegen, die Ukrainer zu beruhigen und ihnen Unterstützung zuzusichern. In den Wochen vor der Invasion hatte seine Regierung außerdem eine der größten Waffenlieferungen geschickt, darunter Panzerabwehrraketen. »Wir werden kämpfen, Boris! Wir werden nicht aufgeben«, rief Selenskyj in den Telefonhörer. Ein paar Schritte entfernt stand Danilow, der die Szene so bewegend fand, dass er sie mit seinem Handy aufzeichnete.[11]

Als die Morgendämmerung über Westeuropa anbrach, meldeten sich weitere ausländische Staats- und Regierungschefs aus Washington, Paris, Berlin, Ankara, Wien, Stockholm, Warschau, Brüssel und anderswo bei Selenskyj. Ihre Anrufe ließen alle zehn oder zwanzig Minuten das gesicherte Telefon auf seinem Schreibtisch aufleuchten. Keiner von ihnen klang so ermutigend wie Johnson, und manche formulierten verschleierte Ultimaten, um Selenskyj die Gefahr vor Augen zu führen, der er ausgesetzt war. »An jenem ersten Tag gab es Drohungen gegenüber dem Präsidenten«, sagte der außenpolitische Berater Sibiga, der die Gesprächsthemen für diese Anrufe vorbereitete und sich über den Schreibtisch des Präsidenten beugte, um mitzuhören. »Die Kernaussage war: Akzeptieren Sie Russlands Forderungen, oder Sie und Ihre Familie sind tot.« Mehrere der ausländischen Staatsoberhäupter boten der Ukraine an, als Vermittler zu fungieren, um die Bedingungen für die Kapitulation auszuhandeln. »Es gab Angebote in diesem Sinne: Nehmt die Bedingungen an. Bedenkt, mit wem ihr es da zu tun habt!«

Mit schätzungsweise neunhunderttausend Soldaten im aktiven Dienst war das russische Militär mindestens viermal so stark wie das der Ukraine. Die Russen verfügten über fünfmal so viele gepanzerte Kampffahrzeuge und zehnmal so viele Flugzeuge. Der ukrainische Verteidigungshaushalt betrug mit rund 4,5 Milliarden Dollar etwa ein Zehntel dessen, was Russland jährlich für sein Militär ausgab.[12]

Selenskyjs Verbündete wussten um das Kräfteverhältnis – und was es bedeutete. Deshalb fragten sie ihn zu Beginn fast jedes Telefonats, ob er Kyjiw zu seiner eigenen Sicherheit verlassen wolle und wie sie ihm helfen könnten. Die Präsidentengarde hatte eine Liste mit sicheren Orten, wohin er gehen konnte. In den Randgebieten der Hauptstadt standen Bunker bereit. Weiter westlich, nahe der Grenze zu Polen, boten verschiedene Regierungseinrichtungen dem Präsidenten die Möglichkeit, ohne die unmittelbare Gefahr eines Attentats oder einer Einkreisung durch russische Truppen zu regieren. Mehrere europäische Staatsoberhäupter sagten zu, ihm mit seiner Familie und seinen Mitarbeitern bei der Flucht zu helfen. Eine der sichersten Optionen war, die Verteidigung der Ukraine von einer Einrichtung in Ostpolen aus zu leiten, die unter dem nuklearen Schutzschirm des NATO-Bündnisses stand. US