Wackelkontakt - Ulrich Klocke - E-Book

Wackelkontakt E-Book

Ulrich Klocke

4,5

Beschreibung

Die Tragik einer Kindheit und Jugend Mitte des letzten Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 301

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Familie 1955

auf dem Hof

Geburtstag 1956

King of the hay

am Tagebau

Einschulung und Mumps

Ostern auf Opas Land

Inhalt

Kartoffelrosen

Zirkusluft

Ostern in Hamburg

Eppendorf

Umzug

Frösche

Nachtijallen

Der Blumentopf

Vera Cruz

Leerjahre

Die Chance

1. Kartoffelrosen

Reinhard Mey steht am offenen Fenster und pustet Seifenblasen vor sich hin. Und ich stehe in der Küche und wasche ab. Mein Mittagessen hat mir nicht sonderlich geschmeckt. Abgehakt unter experimentelle Küche! Kohlrouladen mit Kochweizen und Kräuterfeta gefüllt. War nur so `ne Idee von mir. Aber ich habe den Weizen zu lange kochen lassen. Jetzt ist er weich und pappig.

Reinhard Mey hat ausgeknackst. Ich bin aus jenem Holze geschnitzt. Gutes altes Vinyl! Habe ich bei meinem letzten Sentimental Journey im Internet gekauft. Erinnerungen werden wach. Ich setze mich auf meinen Küchenstuhl. Das Fenster ist weit geöffnet und die warme Flensburger Sommerluft holt sich meine Kohldünste ab. Soll sie sie haben, ich vermisse sie nicht.

Reinhard war damals der erste Liedermacher, den ich mir gekauft hatte. Schon als kleiner Junge fand ich Chansons und Couplets ziemlich interessant. Verstanden habe ich sie damals noch nicht unbedingt. Aber die Art und Weise, wie sie vorgetragen wurden, hatte mir gefallen. Irgendwann habe ich dann mal in unserem Kirchenbüro bewusst Hilde Knef gehört. „Ich brauch Tapetenwechsel, sprach die Birke.“ Seitdem bin ich irgendwie den Chansons und auch der deutschen Liedermacherszene verfallen. Meine erste Schallplatte überhaupt, also, die sich ganz offiziell in meinem Besitz befand, habe ich neunzehnhundertdreiundsechzig zu Weihnachten bekommen. Junge, komm bald wieder. Obwohl ich die Rückseite fast noch besser fand. Die Gitarre und das Meer. Wenn Freddy Quinn dann inbrünstig seine Juanita besang, konnte mein Vater es sich nie verkneifen zu fragen, wer denn diese ominöse Kuh Anita sei.

Eine leichte Brise trägt mir für den Bruchteil einer Sekunde einen Geruch zu, der irgendwo in meinem Gedankenfach längst vergessene Synapsen dazu veranlasst, sich den Staub von den betagten Schultern zu klopfen. Ein längst vergessenes Gefühl steigt in mir auf. Ich kenne es irgendwie. Von früher her, aus längst vergessenen Zeiten. Nach längerem Überlegen fällt es mir ein! Es ist das Gefühl der Unbeschwertheit, der Ungezwungenheit der Kindheit. Der Wind kommt über Land und trägt mir diesen Geruch zu. Direkt hier in meine Küche. Ich stürze ans Fenster. Gierig nach diesem Duft lasse ich mit geblähten Nüstern die heiße Sommerbrise durch meinen Bulbus Olfaktorius strömen. Mein Alter Ego schreit laut auf! Mehr! ich will mehr! Es will die Unbeschwertheit seiner Kindheit zurück.

Langsam identifizieren meine anderen Gehirnzellen diesen geheimnisvollen Duft. Heckenrosen! Und zwar eine ganz besondere Art davon. Die Kartoffelrose! Sie blühte vor meinem Geburtshaus. Und dieses Blühen kündigte immer den Frühsommer an.

Wenn Anfang April vor Schmidts Laden wieder die Tonne mit den Kinderschaufeln, die Schippen mit dem gelben Stiel und der blauen Schaufel unten dran, rausgestellt wurde und im Schaufenster die ersten Glasmurmeln lagen, dann zog der Frühling ins Land. Ein sicheres Zeichen für seine Ankunft waren auch die Kinder, die jetzt wieder vermehrt auf der Straße zu sehen waren. Meistens jetzt mit kleinen Leinenbeuteln bewaffnet. Sie enthielten die kostbaren Glasmarmeln, denn Frühlingszeit hieß für uns Murmelzeit. Und Glasmarmeln mussten es schon sein. Denn Tonmarmeln galten als Armeleuteklicker und wer damit ankam, wurde gnadenlos ausgelacht und ebenso gnadenlos wieder fortgeschickt. Eine typische Betätigung der Dorfkinder zu dieser Zeit war es dann auch, auf einem Bein, die Hacke des anderen Fußes fest in den Boden gepresst, sich hüpfend im Kreis zu bewegen. So wurden die unbedingt benötigten Löcher für das Murmelspiel in den Boden gebohrt.

Wenn im Mai die Kartoffelrose in vollster Blüte stand, waren wieder wir Kinder der Indikator für ein anderes, immer wiederkehrendes Frühjahrsereignis.

Fast jedes Kind lief dann mit einem Schuhkarton unter dem Arm herum. Ein Schuhkarton mit Löchern drin! Kaum zu glauben, dass diese schnöden Kästen Müller, Schornsteinfeger oder gar Kaiser beherbergten. Und doch verhielt es sich in der Tat so.

Das sind nämlich die Fachausdrücke für die unterschiedlichen Maikäferarten. Der Müller, mit einem leichten weißen Pelz bedeckt, der Schornsteinfeger mit seiner dunklen Färbung und der Kaiser, der begehrteste, weil seltenste, mit seinen rötlichen Flecken an Kopf und Brust. Die Hecke aus meinen so geliebten Kartoffelrosen vor unserer Haustür war quasi ein Viersternerestaurant für diese begehrten Krabbeltiere. Wir brauchten sie nur abzusammeln.

Das war aber nicht so ganz einfach. Die Stiele meiner Rosen haben ringsherum kleine, aber feine, und vor allen Dingen, viele Stacheln. Die Maikratscher, wie sie in unserer Gegend genannt wurden, waren begehrte Tauschobjekte. Eine richtige Maikratscher Börse.

Ich merke schon, ich komme ins Plaudern. Ich habe mich deshalb gerade dazu entschlossen, sie ein wenig an meinem Lebensweg teilhaben zu lassen. Jedenfalls für einige Jahre. Also, back to the roots.

Das Licht der Welt erblickte ich Neunzehnhundertdreiundfünfzig als zweites Kind meiner Eltern, einer Hausfrau und einem Werkzeugmacher, in einem kleinen Dorf bei Helmstedt.

Ich war eine Hausgeburt. Es ist mir auch gar nichts anders übrig geblieben, so schnell, wie ich auf die Welt gekommen bin. Dummerweise fast zwei Monate zu früh. Die Ursache für meinen Katapultstart ins Leben war der schwelende Neid meiner Tante auf meine Mutter. Meine Mutter, das Nesthäkchen und letztes von sieben Kindern, von denen nur zwei, nämlich sie und meine Tante, das heiratsfähige Alter erreicht hatten, wurde von meiner Großmutter immer etwas bevorzugt. Soviel ich weiß nicht sonderlich viel, aber es hat gereicht, um sich den kindlichen Hass ihrer großen Schwester zuzuziehen. Das änderte sich auch nicht, als die beiden älter wurden.

Meine Tante, mittlerweile auch verheiratet und Mutter eines Sohnes und einer neugeborenen Tochter, lebte mit ihrem Mann in der Mietwohnung neben meinen Großeltern. Mein Onkel war Lokomotivführer auf der Grubenbahn der BKB, den Braunschweigischen Kohlenbergwerken, einem Tagebau.

Ich mochte meinen Onkel. Ein ruhiger Vertreter seines Geschlechts, nicht ohne eine gehörige Portion Schalk im Nacken. Während ich das schreibe, habe ich direkt noch seinen Lieblingsspruch im Ohr (Wolln ma sagen) und sehe sein verschmitztes Lächeln vor mir. Er ist vor wenigen Jahren im hohen Alter von fünfundneunzig Jahren im Beisein seiner Familie sanft entschlafen.

Da mein Onkel in den Augen meiner Tante nur ein Lokomotivführer war und mein Vater immerhin Werkzeugmacher, nahm meine Tante es meiner Mutter besonders übel, dass sie die vermeintlich bessere Partie gemacht hatte. Das ließ sie dann auch gründlich an ihrer kleinen Schwester aus.

Ständig schikanierte sie meine Mutter oder ließ abfällige Bemerkungen über sie fallen. Da meine Mutter umständehalber, Wohnungen waren knapp nach dem Krieg, mit meiner drei Jahre älteren Schwester und mit mir unter dem Herzen, gleich nebenan bei ihren Eltern wohnte, gab es bei den ständigen Reibereien zwischen den beiden kein ausweichen.

Mein Vater wohnte unter der Woche im Junggesellenheim von VW und kam immer nur am Wochenende nach Hause. Wenn er dann da war, verhielt sich meine Tante natürlich vorbildlich und erst montags gingen die Sticheleien wieder los. Meine Tante entband drei Monate früher, als meine Mutter. Vielleicht waren es die hormonellen Veränderungen, die meine Tante dazu veranlassten, meine Mutter jetzt noch mehr zu triezen als bisher, oder ob meine Mutter durch ihre Schwangerschaft wesentlich empfindlicher geworden ist, niemand kann es heute mehr sagen. Fakt ist nur, dass meine Tante meine Mutter Ende April neunzehnhundertdreiundfünfzig zynisch gefragt hatte, ob sie denn überhaupt genau wüsste, wer der Vater sei. Notabene! Es waren die moralinsauren fünfziger Jahre! Ob dieser ungeheuerlichen Unterstellung regte sich meine Mutter so auf, dass bei ihr gleich die Wehen einsetzten. Zum Glück sind die Wege in einem so kleinen Dorf nicht wirklich richtig weit, sodass die Hebamme Tante Meta und unser Dorfarzt Doktor Runge schnell herbei geholt werden konnten. Die Geburt an sich verlief unkompliziert und schnell. Kein Wunder, so winzig, wie ich war, zwei Monate zu früh.

Meine Tante versuchte zeitlebens bei mir ihre Schuld durch teure Geschenke und Großzügigkeit wett zu machen. Was sie nicht davon abhielt, meinen Vater in ihrer Familie als arrogant und besserwisserisch hinzustellen. Sie machte ihn systematisch schlecht. Wohl auch, um ihn als unglaubwürdig hinstellen zu können, falls meine Mutter meinen Vater mal eines Tages über die Umstände meiner frühen Geburt aufklären sollte und er sie vor ihrer Familie zur Rechenschaft ziehen würde. Meiner Tante habe ich es im Grunde genommen zu verdanken, dass ich heute im Rollstuhl sitze.

Im zarten Alter von einer Woche kam ich ins Krankenhaus. Meine Leber war verhärtet und auch noch fünfzig Prozent zu groß. Nachdem ich wieder zu Hause war, gab Doktor Runge meiner Mutter den

entscheidenden Rat: „Wenn sie das Würmchen durchkriegen wollen, gibt es nur eins! Mohrrüben, Mohrrüben, Mohrrüben!“ Von da an bestand mein Hauptnahrungsmittel fast ausschließlich aus diesem Wurzelgemüse. Anfänglich natürlich nur als Beigabe zur Muttermilch in Form von Saft, später dann in festerer Ausführung. Außerdem strenge Diät. Süßigkeiten habe ich bis zu meinem vierten Lebensjahr nicht gekannt. Meine Schwester hatte manchmal darunter zu leiden. Sie wurde von Fremden, die die Umstände nicht kannten, doch schon manchmal angeblafft, warum sie mir von ihren Süßigkeiten nichts abgibt.

Eine kleine Anekdote noch am Rande. Als meine Familie mich im Krankenhaus besuchte, war meine Schwester sehr besorgt um mich. Sie fürchtete, dass ich dort gemästet würde, weil sie die Urinflaschen für Herren für überdimensionierte Nuckelflaschen hielt.

Trotz meines schwierigen Starts ins Leben erlernte ich doch irgendwann mal auch den aufrechten Gang. Was uns Kinder dann dazu berechtigte, sich ab einem gewissen Alter frei um Haus und Hof bewegen zu können. In unserem beschaulichen Dorf war in den Fünfzigern noch sehr wenig Autoverkehr.

So hielt sich die Gefahr, unter die Räder zu kommen, in überschaubaren Grenzen. Außerdem passten die Größeren auf die Kleineren auf. Ansonsten galt das Kartoffelprinzip! Die wachsen schon von allein!

Vor unserem Haus wuchs nicht nur diese schöne Dufthecke. Es gab auch einen kleinen Rasen davor und der wurde von zwei großen Kirschbäumen beschattet. Ein idealer Spielplatz für uns Kinder. Deshalb wurde auch Pummel, der Hund von Schmidts Laden nebenan, immer verscheucht, wenn er vor unserem Haus rumschnüffelte. Wenn mein Großvater das mit bekam, lief immer raus und drohte mit dem Stock. „Geist du no Hus!“ Wer will schon seine Enkelkinder zwischen Hundekacke spielen sehen. Selbst bei uns Kindern reagierte Pummel auf „Geist du no Hus“! Es verlieh einem das gute Gefühl der Macht, wenn man so einen riesigen Hund verscheucht hatte. Er ging zwar einem Erwachsenen nur knapp bis zur Wade, aber einem Dreijährigen stand er doch fast Aug in Aug gegenüber.

Im Sommer Sechsundfünfzig wurden die Straßen unseres Dorfes asphaltiert. Ein riesiges Ungetüm, in dem der Teer gekocht wurde, stand hinten am Marktplatz. Stolz kam ich abends nach Hause und verkündete, „Ich habe einen Kulmix mit Loch gesehen!“ Keiner von den Erwachsenen hatte je ein solches Wort gehört oder wusste sich einen Reim darauf zu machen. Erst am nächsten Tag, als ich mit meiner Mutter zum Einkaufen ging, klärte ich sie auf, in dem ich auf den Teerkocher zeigte: „Das ist der Kulmix mit Loch!“ Wie ich auf dieses Wort gekommen bin, oder wo ich es gehört hatte, ist allerdings nie geklärt worden.

Während unsere Straßen geteert wurden verbrauchte meine Mutter, nach eigener Aussage, mehrere Pfund Butter an mir. Damals die einzige Möglichkeit, schonend Teer von zarter Kinderhaut zu entfernen.

Einmal im Jahr war auch Rummel in unserem Dorf. Auf dem großen Marktplatz bauten die Schausteller ihre Buden auf und die Hauptattraktion war der Autoscooter. Wir Kinder verdienten uns Freikarten, in dem wir beim Aufbauen kleine Holzplatten für den Niveauausgleich der Fahrfläche an die Arbeiter verteilten. Nicht ganz ungefährlich, wie sich herausstellte, als mich ein Eisenrohr am Kopf traf. Schreiend bin ich nach Hause gelaufen, das waren ja nur knapp fünfzig Meter, und flüchtete in die tröstenden Arme meiner Mutter. Jedenfalls hat mein Geschrei dafür gesorgt, dass der Schausteller meinem Vater gleich ein ganzes Bündel Freikarten für den Scooter in die Hand drückte. Meine Eltern sind dann abends auf den Rummel gegangen. Am nächsten Morgen hatte dann meine Schwester einen schwarzen Stoffpudel am Bett stehen und ich einen riesigen Tiger. Während mein Schwesterherz ihrem Tier ziemlich schnell die Holzwolle herausoperiert hatte, pflegte ich meinen Tiger noch über etliche Jahre.

Das Leben in unserem Dorf war gemütlich und wir Kinder hatten nichts auszustehen. Außer unseren kleinen Pflichten, wie Schnittlauch oder Radieschen aus dem Hausgarten holen oder Löwenzahn rupfen für die Karnickel, hatten wir ein sorgenfreies Leben. Meine Schwester freilich war schon eingeschult und galt ab jetzt als „die Große“. Ich erinnere mich daran, wie sie mit ihrer Klasse auf einem Schulfest ein Singspiel aufführte. „Ein Mann, der sich Columbus nannt`!" Tagelang sang sie es vor sich hin. Nerv tötend! Zur Aufführung wurden die Kinder dann in ein Schiff gesteckt. Das waren Pappdampfer und die wurden mit Hosenträgern wie ein Rock getragen. Die Kinder guckten quasi als Kapitäne oben heraus. Ich mit meinen vier Jahren fand es unglaubwürdig: Ein Schiff mit Beinen! Gibt's doch gar nicht!

Einmal kam ich spät nachmittags an Schmidts Laden vorbei und bemerkte, wie mein Cousin und sein bester Freund Dieter, auch Trecker genannt, auf dem Hof hinter dem Haus mit einem Luftgewehr schossen. Sie hatten in einer Wellblechgarage ein Pin- up- Girl aus Pappe an die Rückwand geheftet und beschossen die freizügig gekleidete Dame mit bunten Federbolzen. Ich sah eine Weile zu und fragte dann, wie man die bunten Dinger nennt, die sie da hinten in das Gewehr stopften. Lakonisch bekam ich die Antwort: „Flittchen“! Die erstaunten Blicke meiner Eltern und Großeltern kann man sich vorstellen, als ich am Abendbrottisch erzählte, dass Uwe und Dieter mit Flittchen geschossen haben und ich zusehen durfte.

Auch der Winter hatte seine Reize in unserem Dorf. Bedingt durch die vielen Ofenheizungen und dem großen Kohlekraftwerk Offleben, waren reichlich Schwebstoffe in der Luft, an denen sich dankbar das Kondenswasser klammerte und kristallisierte. Dadurch hatten wir immer viel Schnee und lange kalte Winter in dieser Gegend. Das bedeutete für uns natürlich, ab auf die dorfeigene Rodelbahn. Was im Sommer als gepflasterter Verbindungsweg zwischen zwei Straßen unterschiedlichen Niveaus dient, wird im Winter von der Gemeinde nun höchst offiziell zur Rodelbahn erklärt. Das untere Ende der Rodelbahn endet auf der Schulstraße. Da das gefährlich ist, wird, wenn Schnee gefallen ist, kurzer Hand das Tor zum Schulhof geöffnet, die Pfeiler mit halbierten Autoreifen gepuffert und dadurch der Auslauf erheblich verlängert. Die Autofahrer werden mit einem Verkehrsschild, das tatsächlich der StvO unterliegt (BY 18-03), auf die Rodelbahn hingewiesen. Das steht heute noch dort und ist zu besichtigen.

Wir Kinder wurden auch gepuffert. Allerdings mehr gegen die grimmige Kälte, als gegen mechanische Einwirkungen. Als erstes kam der warme Schlüpfer. Und dann das Leibchen! Leibchen. Nie gehört? Das ist ein unbequemes Folterinstrument, ähnlich eines Unterhemdes, nur mit Strapsen unten dran. An den Strapsen wurden lange, kratzige braune Strümpfe befestigt. Die vom Hersteller mitgelieferten Gummiknöpfe allerdings waren entweder schnell abgerissen oder sind sonst irgendwie abhandengekommen. Oder das Kochen in dem großen Kessel mit der scharfen Seifenlauge in der Waschküche ließen sie schnell porös und brüchig werden. Weiblicher Pragmatismus der fünfziger Jahre, die verlorengegangenen Knöpfe wurden kurzerhand durch Pfennige oder Zweipfennigstücke ersetzt.

Als weitere Bekleidung erwiesen sich die Trainingshosen als besonders praktisch. Innen angeraut, robust und am Ofen schnell zu trocknen. Sie hatten mit den heutigen Trainingshosen nicht viel gemein. Sie ähnelten eher zwei dunkelblauen Säcken, die oben zusammenliefen. Die Beinlinge waren unten hermetisch mit strammen Gummis verschlossen. Was sich sehr gut beim Äppelklauen bewährt hatte, wie mein Cousin einmal eingestand. Oder eingestehen musste, weil er und seine Clique dabei erwischt wurden. Ein warmer, wenn auch kratziger, Pullover war der Abschluss unserer zünftigen Wintersportkluft. Dann ging es ab zum Rodeln. „Bahn frei, Kartoffelbrei!“ Bis die Dämmerung einsetzte.

Doch am schönsten war immer noch der Sommer. Der direkte Weg zu unserem Spielplatz führte quer über den gepflasterten Rathausplatz. Es war ein schöner Spielplatz. Eine Rutsche, Karussell, Schaukel, Sandkiste, alles was ein Kinderherz im Sommer so begehrt. Heiß umkämpft waren die Schaukeln. Himmelhoch schienen wir zu fliegen. Himmelhoch, immer ins Blau hinein. Einige ganz mutige sprangen auch ab, wenn die Schaukel im Zenit war. Wenn dieses Spielgerät zu stark frequentiert wurde, stellten sich die Größeren auf das Sitzbrett und die Kleineren nahmen zwischen den Füssen Platz. Ein Überschlag nach Schiffsschaukelmanier ist aber niemanden von uns gelungen.

Manchmal saßen wir auch nur gelangweilt am Straßenrand vor unserem Haus. Autos waren nicht zu befürchten. Sie waren eher selten in unserem Dorf. Wie spielten Zuckerfabrik. Der trockene lose Zuckersand im Rinnstein wurde zusammengeschoben und dann in die Hand genommen. Dann ließen wir den Sand durch die geschlossene Faust auf die Fuge zwischen zwei Bordsteinen rieseln. Der lief, weil er so fein wie Zucker war, durch diese Fuge und unten im Rinnstein bildete sich ein kleiner Berg. Der wurde dann wieder in die Faust genommen und alles begann von vorn. Ein simples Spiel. Einfach das Produkt kleiner gelangweilter Jungs.

Die Straße war sowieso mehr für die Jugend geschaffen, als für den öffentlichen Straßenverkehr. Himmel und Hölle und Schnecke waren schnell mit einem kleinen Brocken Backstein auf den Asphalt gemalt und wo ließ es sich besser Rollschuh fahren, als auf der Straße? Die Rollschuhe wurden mittels eines Schlüssels, der um den Hals getragen wurde, unter die Schuhe geschraubt. Beste Freundinnen teilten sich schon mal ein Paar dieser Bladerunnervorläufer.

Im Hochsommer mieden wir aber oft die Straße. Obwohl sich das Barfußlaufen auf dem weichen nachgiebigen Asphalt sehr interessant anfühlte. Aber der durch die Sommerhitze aufgeweichte Straßenbelag war selbst für unsere hornhautbewehrten Kinderfüße etwas zu heiß. Stattdessen spielten wir in den schattigen Arkaden des Rathauses. Dort roch es immer irgendwie nach Bier und Urin. Lag höchstwahrscheinlich an der Ratsstube, die sich genau in der Mitte dieses Gebäudes befindet und an so manchem Zecher, der sich des genossenen Bieres in der Anonymität der nächtlichen Schatten in einer stillen Ecke entledigte.

Nachmittags kam der Eismann auf seinem dreirädrigen Fahrrad. Mit einem Groschen in der Tasche, ganz King, musste ich wählen. Entweder eine große Portion Waldmeistereis und keine Lakritzpfeife oder eine nicht ganz so große Portion und zwei Lakritzpfeifen. Meistens siegte das Eis. Das Eis wurde noch mit einem Spachtel in die Eistüte gefüllt. Ach nein, Eistüten gab es erst ab zwanzig Pfennig. Für `nen Groschen gab es nur Eishüte. Die sahen aus wie ein umgedrehter Hut mit Krempe. Mir persönlich haben sie besser geschmeckt.

In den Fünfzigern waren chemische Aromastoffe noch unüblich. Deshalb war der Waldmeistergeschmack noch natürlichen Ursprungs und schmeckte auch richtig nach Waldmeister. Mag es an der Verklärung meiner Erinnerungen liegen, oder es ist wirklich so, nie wieder habe ich ein Waldmeistereis gegessen, dass mir so gut geschmeckt hat.

Im Spätsommer Neunzehnhundertsiebenundfünfzig bekamen unsere Eltern endlich eine Wohnung in Vorsfelde. Ein kleines verschlafenes Städtchen bei Wolfsburg. Heute ist es eingemeindet und voll integriert in die Autostadt. Wir zogen in den zweiten Stock eines Hauses in einem Neubaugebiet. Unser Block bildete das untere Teil eines U`s. Rechts und links baugleiche Blocks, gedeckelt von einem Bahndamm. Ich liebte den schwefligen Rauch der Schnellzuglokomotiven in der Nase, das Beben der Erde in den Beinen, wenn die Ungetüme vorbeidonnerten. Am schönsten war es im Winter. Man konnte dann abends die rotglühenden Feuerpfannen der vorbeifahrenden Dampfloks in der Dunkelheit leuchten sehen und wie beim Nachfeuern die Funken stieben.

Winter. Das bedeutete auch Eisblumen an den Fensterscheiben. Im Zeitalter der Thermopenverglasung und Zentralheizungen wird kaum ein Kind mehr in den Genuss kommen, Löcher in Eisblumen lecken zu können. Und kaum kein Kind mehr wird heutzutage hier in ein eiskaltes Bett steigen müssen, das nur an den kältesten Abenden mit einer Wärmflasche vorgeheizt wurde. Sich langsam warm zitternd, ängstlich darauf bedacht, dass kein Zipfelchen Haut unter dem dicken Federbett heraus lugte, wartete man darauf, dass sich die eigene Körperwärme langsam auf das Federbett übertrug.

Nach einigen Minuten entspannte sich der Körper dann langsam aus der Embryohaltung und eroberte sich Zentimeter um Zentimeter das Federbett zurück.

Morgens ist der Eisblumenteppich am Fenster um einige Zentimeter, je nach Menge der nächtlichen Ausdünstungen, nach oben gewachsen. Diese Pracht schrumpfte im Laufe des Tages wieder, wenn es in der Wohnung wärmer wurde.

Als erstes feuerte unsere Mutter morgens den Herd in der Küche an. Mit etwas Glück war noch etwas Glut vom Vortag in der Asche. Dann machte sie das Frühstück und die Klappschnitten für unseren Vater.

Die Thermoskanne in der Aktentasche, Brote in der Aludose, mit Hut und Schal vor der grimmigen Kälte geschützt, trat unser Ernährer den Weg zur Arbeit an. Jetzt musste meine Schwester aufstehen. Das Waschen fand in der Wohnküche statt, das Ankleiden ebenfalls. Dick eingemummelt in kratzende Wollsachen, die selbstgestrickten Fausthandschuhe, gegen Verlust mit einer Kordel verbunden und durch die Ärmel des Mantels gezogen, schützten vor der kneifenden Kälte. Zum Schluss noch die Mütze auf und den Ranzen und ab ging es in die dunkle Kälte.

Ich ließ mir immer Zeit mit dem Aufstehen. Meine Mutter hatte dann meistens schon den morgendlichen Abwasch erledigt. Das heiße Wasser kam keinesfalls aus dem Hahn, wie heute. Nein, es musste erst mit dem Flötenkessel auf dem Herd heiß gemacht werden. Die Hausarbeit forderte seinerzeit schon ganzen Einsatz. Die große Wäsche alle vier Wochen wurde meistens von zwei Frauen erledigt.

Besonders, wenn die Kochwäsche dran war. Es war eine kräftezehrende Angelegenheit, die nassen Laken aus dem Waschbottich durch die Mangel zu drehen. An solchen Tagen bekam selbst der Vater abends nur Aufgewärmtes.

Ein sicheres Zeichen dafür war, dass unser Vater bald nach Hause kommen würde, wenn unsere Mutter einen Teil der Glut aus dem Küchenherd mit der Kohlenschaufel in den Wohnzimmerofen transportierte. Das ersparte das mühselige Anheizen und man verbrauchte kein Anfeuerholz. Und wieder der Geruch von verbrannten Kohlen. Wenn dieser schweflige Duft durch die Räume zog wussten wir, bald wird es kuschelig warm und gemütlich werden im Wohnzimmer.

Das Familienleben fand tagsüber fast ausschließlich in unserer Küche statt. Erst wenn am Nachmittag der Kachelofen im Wohnzimmer angeheizt wurde strömte etwas warme Luft durch eine rückwärtige Klappe des Wohnzimmerofens in unser Kinderzimmer. Dann tauten auch die Eisblumen etwas ab und wir konnten etwas später dort spielen. Die Leibchen hatten wir inzwischen abgelegt und die kratzigen Strümpfe auch. Unsere Beine schützten wir vor dem kalten Fußboden mit den unförmigen Trainingshosen. Warm und bequem waren sie schon, aber potthässlich. Und meistens war auch der Gummibund oben ausgeleiert. Wir kämpften nicht nur gegen Ritter und Drachen, sondern auch gegen ständig rutschende Trainingshosen.

Hausschuhe waren auch wichtig zu dieser Zeit. Teppichboden war gerade erst erfunden und fast unerschwinglich für gewöhnliche Arbeiterfamilien. Und selbst einfache Teppiche für Kinderzimmer zu teuer. Deshalb wurden die zarten Kinderfüße gegen die Fußbodenkälte mit eben diesen Hausschuhen geschützt. Meistens waren sie Hellbraun- Dunkelbraun kariert. Mit einem Reißverschluss an der Seite.

In unserer Küche stand auch eine Chaiselongue. Ich musste dort immer meinen Mittagsschlaf halten. Auf meine regelmäßige Weigerung, ich wäre schließlich schon groß, lautete die ebenso regelmäßige Antwort meiner Mutter: „Du sollst nicht schlafen, du sollst nur ruhen!“ Was natürlich ebenso regelmäßig zur Folge hatte, dass ich alsbald in Morpheus Arme landete, sobald ich nur ein paar Minuten ruhte. Seinen Anteil daran hatte sicher auch mein Lieblingskissen. Eine junge Frau, am Gestade eines weißen Leinenmeeres stehend, winkte ihrem Matrosen hinterher, den es auf einem Schiff in die Ferne zog. Und darüber zogen ein paar kreischende Möwen ihre ewigen Runden, persönlich von meiner Mutter gestickt. Ihr einziges Hobby.

Weniger erbaut waren wir Kinder von ihren Tischdecken mit wulstigen Stickereien für den Wohnzimmertisch. Reinste Zierde und überhaupt nicht alltagstauglich. Zum Hausaufgaben machen musste man die Decke zurückschlagen und die Hefte und Bücher auf dem rutschigen Tisch platzieren. Zum Spielen ebenso ungeeignet. Mit den „Eisenautos“ hakte man in den Stickereien fest, Legohäuser wackelten auf dem unebenen Untergrund. Und tuschen oder zeichnen war auf den edlen Zierdecken sowieso verboten. Ebenso reiner Zierkram waren auch die bestickten Kissen. Drei Stück an der Zahl.

Rechts und links und in der Mitte auf dem Sofa platziert, mit einem gekonnten Handkantenschlag exakt in der Mitte geknickt. Was mich immer an Katzen erinnerte, die man mit eben diesem Schlag bis zu den Ohren in das Sofa geprügelt hatte.

Wenn dann unser Haushaltsvorstand nach Hause kam, wurde zuerst seine Aktentasche auf „Hasenbrot“ untersucht. Obwohl das nichtgegessene Brot unseres Vaters abgestanden und nach Butterbrotpapier schmeckte war es doch etwas Besonderes. Eben Hasenbrot. Nach dem Abendbrot las unser Vater noch einmal ausführlich seine Tageszeitung, während unsere Mutter noch schnell den letzten Abwasch erledigte. Meistens spielten meine Schwester und ich noch mit unseren Holzbauklötzen, während unsere Eltern mit Zeitung und Stopfzeug ihren Feierabend langsam anklingen ließen. Um sieben kam das Sandmännchen im Radio. Das Zeichen für uns, sich danach schon mal langsam bettfertig zu machen. Um acht Uhr ging es ab in die Falle.

Das Radio spielte und eine Familienidylle macht sich anheimelnd im Wohnzimmer breit. Die unerreichte „German Gemutlichkeit“. Bevor wir nach Vorsfelde zogen ergänzte sich der abendliche Kreis noch mit unseren Großeltern mütterlicherseits. Um den Säulentisch herum war die ganze Familie versammelt. Großvaters mümmelte an seinem, von der Rinde befreiten und in Häppchen geschnitten, Brot. Seine Zähne standen schon zwecks Reinigung auf dem Nachtschrank. Er priemte. Wir Kinder bekamen Leberwurstbrothäppchen, mit der Rinde noch dran. Und es waren auch keine Häppchen, sondern Reiterlein. Die Deckenlampe, mit einem Aufrollmechanismus versehen, war bis dicht über den Tisch herabgezogen. Und wieder German Gemutlichkeit.

In unserem Neubaugebiet waren Kraftfahrzeuge noch rar gesät. Wir Kinder konnten deshalb auch unbeaufsichtigt vor der Tür oder auf dem Hof spielen. Na ja, unbeaufsichtigt. Eine gute Mutter hat ihre Augen und Ohren immer überall. Wir spielten Soldat und exerzierten auf dem Wäscheplatz hinter dem Haus. Ein Nachbarssohn hatte uns beigebracht: „Parademarsch, Parademarsch, der Hauptmann hat ein Loch im Arsch.“ Kaum verhallte dieser Reim, taten sich schon einige Fenster auf und unser Bataillon erhielt von erbosten Müttern den sofortigen Marschbefehl nach Hause. Abkommandiert zum Stubenarrest. „So etwas sagt man nicht! Oder willst du vielleicht ein Straßenkind werden?“ Niemand von uns wollte ein Straßenkind werden, obwohl uns allen die wirkliche Vorstellung davon fehlte, was das überhaupt sei.

Einmal in der Woche kam morgens der Bäcker mit seinem Tempo Goliath, ein motorisierter Kastenwagen auf drei Rädern, in unsere Siedlung. Für mich jedes Mal ein Festtag. Dann bekam ich meinen geliebten Liebesknochen. Ein braunes Mürbeteiggebäck, aus zwei Hälften bestehend, in der Mitte mit Konfitüre gefüllt und eine Seite in Schokolade getaucht. Unser neuer Hausarzt hatte nämlich endlich die Süßigkeiten für mich freigegeben. Was bisher verboten, war ab jetzt sogar erwünscht. „Sehen Sie zu, das dieser Spiddel mal was auf die Rippen kriegt.“

Von nun an gab es deshalb öfters mal Apfelmilchreis mit Zucker und Zimt für mich. Eigentlich eine leckere Mahlzeit, wenn meine Mutter es nicht immer zu gut mit mir gemeint hätte. Als Krönung goss sie mir nämlich braune Butter über den Reis. Ich hasste braune Butter. Allein der Geruch erzeugte bei mir Übelkeit. „Ach was! Das ist gute Butter! Andere Kinder wären froh, wenn sie so etwas kriegen würden!“ Dann nahm sie meinen Löffel und rührte solange die zerlassene Butter unter den Milchreis, bis sie nicht mehr zu sehen war. Aber der Geruch war nicht verschwunden und allein das Bewusstsein, das sich das ekelhaft riechende Fett in jetzt meinem Essen befand, machten mir lange Zähne. Ich war immer froh, wenn endlich das Hänschen klein auf dem Grund meines Emailletellers zu sehen war. Ansonsten kochte meine Mutter hervorragend und variantenreich. Nur zwei Mal haben wir gemeutert. Mein Vater eingeschlossen. Beim ersten Mal war es die Grützwurst und das zweite war Brotsuppe.

Wir wurden an und für sich ziemlich gewaltlos erzogen, jedenfalls physisch. Hier und da mal eine Ohrfeige, aber ansonsten. Nur an einen Fall kann ich mich nur zu gut erinnern. Da gab es Keile satt. Hinter der Küchentür hing ein Brett, an dem die Geschirrtücher aufgehängt wurden. Davor hing ein hübscher Vorhang, den meine Mutter selbst bestickt hatte. Eines Tages entdeckte sie einen langen Schnitt darin. Sie war sehr erbost, weil sie der Vorhang viel Arbeit gekostet hatte. Ich habe nichts damit zu tun gehabt und auch meine Schwester beteuerte, nichts von diesem Schnitt zu wissen. Allerdings waren am Tag zuvor zwei Nachbarskinder zu Besuch gewesen, die als ziemliche Rangen bekannt waren. Jetzt wurde unsere Mutter erst richtig sauer. „Die Schuld auch noch auf andere schieben, das ist doch die Höhe! Wartet man, bis euer Vater nach Hause kommt!“ Und der kam. Kaum war er in der Wohnung, erzählte sie ihm auch schon brühwarm von unserer vermeintlichen Schandtat. Wir hatten mächtigen Bammel vor unserem Alten, wussten wir doch, wie sehr er sich in eine Sache hineinsteigern konnte. Wir beteuerten abermals, nichts von diesem Schnitt zu wissen. Vergebens! Er holte einen Kleiderbügel, griff sich meine Schwester und prügelte mit ihm immer auf ihre Beine ein. Das wäre dafür, dass sie so unverschämt lügen würde und dann noch die Schuld auf andere schiebt. Meine Schwester schrie wie am Spieß und auch ich fing an zu heulen. Schläge auf die Beine tun hundsgemein weh und brennen wie Feuer. Mein Vater rief im Takt der Schläge: „Wirst Du Die Wahrheit Sagen! Wirst Du Die Wahrheit Sagen!“ Irgendwann hielt er erschöpft inne und ließ sie los. Jetzt war ich dran. Immer auf die Beine! Ich zappelte und schrie vor Schmerzen. Auch hier glaubte er, die vermeintliche Wahrheit aus mir heraus prügeln zu können. Vergebene Liebesmüh. Irgendwann lagen meine Schwester und ich wimmernd in der Ecke, immer wieder versichernd, dass wir es nicht gewesen sind. Nächsten Tag sprach er nicht mit uns und tat so, als wenn er noch sauer auf uns wäre. Ich glaube aber, er hat sich geschämt, dass er so ausgerastet ist und er war beeindruckt von uns, dass wir trotz der fürchterlichen Prügel eine Tat nicht eingestanden haben, die wir nie begangen hatten.

Ein Jahr später lag meine Mutter im Krankenhaus. Blinddarmdurchbruch. Sie hatte sich die Schmerzen nicht anmerken lassen und erst, als sie in unserem Konsum zusammenklappte, kam sie mit Blaulicht ins Spital. Auf dem Weg in den OP erfolge der Durchbruch. Ein paar Minuten früher und sie wäre nicht mehr zu retten gewesen. Mein Vater musste nun für zwei Wochen den Haushalt schmeißen. Wir vermissten unsere Mutter sehr. Vater war viel strenger. Deshalb hatte ich ja auch Angst, als ich einmal in die Hose gemacht hatte. Ich wollte eigentlich immer nach oben auf die Toilette, aber mein bester Freund Kalli, der im Nebenhaus wohnte, verwickelte mich immer wieder in seine Spiele. Irgendwann war es dann zu spät. Denn irgendwann gibt nämlich auch der beste Schließmuskel nach. Auf dem Weg nach oben machte sich der Kötel dann auch noch selbständig und im ersten Stock rutschte mir das Teil dann aus dem Hosenbein meiner wollenen Spielhose. Ich nahm das Würstchen in die Hand, weil mir das alles unendlich peinlich war und ich keine Spuren hinterlassen wollte. Ich schämte mich entsetzlich, mein aber Vater fand das nur noch komisch. Außer, dass ich unter einem Ackergaul lag, weil ich meinte, dass ein Junge in meinem Alter doch wissen sollte, wie ein Pferd von unten aussieht, stellte ich nichts nennenswertes mehr an bis unsere Mutter aus dem Krankenhaus kam.

Es war damals üblich, nach der eigentlichen Kartoffelernte im Herbst eine Nachlese zu starten. Männlein wie Weiblein, Alt und Jung krochen auf allen Vieren über den Acker und klaubten die letzten Knollen aus dem sandigen Boden, die die Maschine nicht aufgenommen hatte. Das dürre Kartoffelkraut war bereits auf mehrere Haufen verteilt und wurde später angezündet. In der Glut dieser Feuer wurden dann die Kartoffeln geröstet. Da ich Kartoffelfeuer bisher nicht kannte, zweifelte ich in dem Jahr an dem Geisteszustand meiner Eltern. Ich sollte verbrannte Kartoffeln essen? Immer haben wir von unseren Eltern zu hören bekommen: „Das ist dreckig, das darfst du nicht essen!“ oder „Steck das nicht in den Mund, das ist runtergefallen!“ und plötzlich sollte es schick sein, mit Asche bedeckte, schwarz verbrannte Kartoffeln aus dem Feuer zu holen und auch noch zu essen? Ich verstand die Welt nicht mehr. Aber etwas Besseres habe ich selten zuvor gegessen! Kartoffelfeuerrauch gehört zu den schönsten Gerüchen in meinem Leben.

Und Dieses Leben war damals sehr beschaulich. Unsere Straße in Vorsfelde war noch nicht asphaltiert und nach jedem Sommerregen entstanden große Pfützen. Pfützen waren etwas Herrliches. Mein Freund Kalli und ich genossen es, barfuß darin herum zu waten und Stockschiffchen über Stromschnellen zu schicken, die wir durch geschicktes stauen des abfließenden Wassers selbst erzeugt hatten. Ein, zwei Tage später hatte die starke Sommersonne von unseren Meeren nur noch aufgeplatzte, sich noch oben wölbende, Schlammschindeln übrig gelassen.

Ich war jetzt groß genug zum Milch holen. Besonders im Winter, wenn das Schaufenster unseres kleinen Konsums festlich geschmückt war und der Sarotti- Mohr im Fenster fleißig elektrobetrieben vor sich hin nickte, machte ich gern diese kleine Besorgung für meine Mutter. Sarotti und Stockmann, die führenden Schokoladenhersteller in den Fünfzigern. Der Stockmannslogan im Fernsehen: „Stockmannschokolade! Bring eine mit!“

Wir hatten nämlich unseren ersten Fernseher bekommen! Meines Vaters Standartspruch war: „Nimm den Nüschel rum“, wenn wir uns beim Abendbrot zu oft zum Fernseher umdrehten. Wer nämlich tagsüber nicht artig war, musste beim Abendessen mit dem Rücken zum Fernseher sitzen. Und wer sich zu oft umdrehte, konnte ohne lange Vorwarnung auch schon mal etwas mit der verkehrten Hand, also mit dem Handrücken, an den Kopf bekommen. Mein Vater nahm auch keine Rücksicht darauf, dass er einen Siegelring trug.

Er mochte die Kiste eigentlich nicht. Nur auf Drängen meiner Mutter und aus Prestigegründen wurde dieses Gerät angeschafft. Damals ein schwerwirkendes Statussymbol. Der Freundeskreis meiner Eltern verdreifachte sich schlagartig. Jeden Samstagabend war Fullhouse, wie mein Vater sich ausdrückte. Für uns Kinder war das ideal. Meistens brachten die Besucher uns etwas mit. Wir lauerten schon im Kinderzimmer hinter der Tür. Meine Schwester liebte den „schönen Willi“, unseres Vaters bester Freund. Ihr kam es nicht so drauf an, dass er etwas mitbrachte. Hauptsache, er war da.

Ein Fernsehabend im Wirtschaftswunderland mit Freunden, Chiantiwein, Salzstangen und Käse-Igel. Millowitsch und Ohnsorg, Schölermanns und Hesselbachs. Hätten Sie`s gewusst? Mit dem Quizmaster Karl- Heinz Mägerlein. Auch als Sportreporter tätig, lieferte er damals unbewusst einige legendäre Bonmots ab. Wie 1959 beim Kommentar eines Skirennens: „Tausende standen an Hängen und Pisten!“ Für Nichtalpinisten kam das phonetisch mehr als Wasserlassen rüber. Oder ein Jahr später bei der Olympiade: „Und jetzt wickeln die Damen ihre hundert Meter Brust ab“!

Für uns Kinder war Fury bereit für einen Ausritt. Mike Nelson hatte Abenteuer unter Wasser und Wyatt Earp sorgte für Ordnung in Dogdecity. Zwei Jahre später war Earp out und am Fuß der blauen Berge mit Robert Fuller war In. Das Werbefernsehen im ersten Programm mit dem Seepferdchen von Fischerkoesen fand 1963 Konkurrenz durch das ZDF und den Mainzelmännchen. Aber in beiden Programmen ging das HB- Männchen in die Luft und Peter Stuyvesant ließ durch die deutschen Wohnzimmer den Duft der großen, weiten Welt wehen. Beliebter Spruch damals: „Ich sitze auf dem Lokusrand und rauche Peter Stuyvesant. Und was da hinten runterfällt, ist der Duft der großen, weiten Welt“.

Mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen gab es dann auch gleich die erste Fernbedienung. Vaters Befehl an uns Kinder: „Schalt mal um“! Und eine Standardfrage war: „Was gibt es auf dem anderen?“ Logisch. Wenn es nur zwei Kanäle gibt ist eins davon zwangsläufig immer das andere. Neunzehnhundertachtundfünfzig hieß es wir siedeln um nach Hannover- Buchholz.

Ein Jahr später meine Einschulung. Ein unvergessener Tag! Ich hatte Geburtstag, wurde eingeschult und hatte Mumps. Anstatt das ABC zu schützen lag ich daheim auf der Couch und pulte gelangweilt die Heiltonerde unter meinem Verband hervor. Die Schultüte lag wohlgefüllt aber unerreichbar für mich auf dem Kleiderschrank. Als Trost brachte meine Mutter mir einen Silberpfeil mit vom Einkaufen. Die Bettdecke wurde zur Rennpiste umfunktioniert und mein Mercedes gewann natürlich jedes Rennen. Blumenampeln aus Kokosnüssen waren jetzt modern und Bambus. Mein Vater hatte für die neue Wohnung gekonnt eine Blumenbank aus diesem tropischen Gras gebaut, damit sich der grüne Daumen meiner Mutter voll entfalten konnte. Als Krönung schleppte er eines Abends einen Zimmerspringbrunnen aus gelben durchsichtigen Kunststoff an. Dieser an sich schmucklose Luftbefeuchter wurde mit Plastikseerosen und gelben Quietsche-Entchen verschönert. Das Flair der sechziger Jahre.

2. Zirkusluft

Mein Vater hat seinen Werkzeugmachermeister gemacht. Ich war unheimlich stolz auf ihn. Mein Vater war ein Meister!!! Worin genau wusste ich damals allerdings nicht. Aber Meister! Gab es noch etwas Höheres?