Wahnsinn Wartezimmer - Heike Abidi - E-Book

Wahnsinn Wartezimmer E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Wer krank ist, muss sich auf dem Weg zur Genesung mit so einigem herumschlagen und kommt neben einem Pillenrezept oft mit lustigen und absurden Anekdoten aus der Arztpraxis oder dem Krankenhaus nach Hause. Da gibt es beispielsweise den listigen Hausarzt, der sich mit der Ehefrau des Patienten verbündet, um diesen zu strenger Diät und Sport zu zwingen, oder den absolut unfähigen Arzt, der einfach nicht den »todsicher« existierenden Gehirntumor seines Dauerpatienten diagnostiziert. Ob Krankenschwester, unverbesserlicher Hypochonder oder unfehlbarer Halbgott in Weiß – hier kommen sie alle mit ihren Geschichten zu Krankheiten und anderen Kuriositäten zu Wort und beweisen mit einer gehörigen Portion Galgenhumor, dass Lachen am Ende doch die beste Medizin ist.

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Vorwort

von Kai Twilfer

Wussten Sie eigentlich, dass mein Arzt ein Pflegefall ist, ohne krank zu sein? Ein menschlicher Pflegefall, der in seiner Praxis emotional und fachlich nicht dazu in der Lage ist, mir mal drei Minuten am Stück zuzuhören. Ein Einzelfall? Mitnichten, sonst müsste es dieses Buch wohl nicht geben. Trilliarden Menschen bundesweit gehen auch ohne Choleriker-Diagnose gern mal an die Decke, wenn es um die Themen Ärzte, Krankenhäuser und Gesundung geht.

Als man mich bat, ein Vorwort zu diesem Komplex zu schreiben, war er sofort wieder da. Mitten in meinem Kopf. Mein Arzt! Vom ersten Besuch in seiner Praxis an war mir klar, dass ich nun keine weiteren Feinde mehr im Leben bräuchte. Es handelt sich bei seiner Praxis um die klassische Einrichtung, in der nur halskranke Sprechstundenhilfen arbeiten. Frauen also, die einem beim Betreten nicht ins Gesicht schauen können, sondern stattdessen einen langgestreckten Arm mit manikürten French Nails über den Counter reichen. Und wenn man ihnen dann zehn Euro Schmiergeld in die Hand drückt, um schneller aufgerufen zu werden, folgt meist: »Mann, Praxisgebühr is’ nich’ mehr. Krankenkassenkarte, sonst läuft hier gar nix!«

Nach gut acht Stunden Intensivstudiums der Frau im Spiegel von 1994 weiß man nun alles über den Wahlerfolg von Helmut Kohl, aber noch nichts über einen möglichen Befund des Arztes.

Anschließend wechselt man von der Guantanamo-Begrüßungs-Lounge in den Hauptbahnhof. Dieser heißt in Arztpraxen Wartezimmer und beherbergt im Schnitt 146 Personen auf vier alten Stahlrohrstühlen aus dem Möbelprospekt von 1987. Die Reise nach Jerusalem macht hier also keinen Sinn mehr. Die Wartemarke suggeriert einem, dass es sogar vierstellige Nummern in diesem kleinen Plastikkasten gibt, und gerade wird die Dame mit der 32 aufgerufen. Zwei Minuten später folgt die 33 und weitere zwei Minuten später die 34. Nach gut acht Stunden Intensivstudiums der Frau im Spiegel von 1994 weiß man nun alles über den Wahlerfolg von Helmut Kohl, aber noch nichts über einen möglichen Befund des Arztes. Dieses Ziehen in meinem Rücken kann doch nicht normal sein. Schließlich bittet er mich endlich herein.

»Gudntachsetzensesichwozwickts?«

Ich hole etwas zu weit aus und beginne mit meinen Blähungen auf dem Wickeltisch 1976. Das passt allerdings nicht in das zeitliche Konzept des Arztes, sodass ich gezwungen bin, meinen Bericht zu straffen.

»Nun, ich hab mich gestern beim Tapezieren auf die Klappe gelegt. Seitdem tut’s weh, wenn ich mir auf den Rücken drücke.«

Die ärztliche Diagnose: Fingerbruch!

Und wenn man dann glaubt, dass es mit einem Verband, einer Schiene oder gar einem Gips getan wäre, dann liegt man schwer daneben. Kein Arzt der Welt kann so was Heikles selbst verantworten. Er gibt die Verantwortung lieber ab und überweist einen ins Krankenhaus. Einen Ort, den keiner so wirklich gut findet. Kettenrauchende Bademantel-Opas vor dem Eingang. Der latente Duft von halb gefüllten Bettpfannen auf jeder Etage und die Gewissheit, dass die dort noch viel Schlimmeres mit einem anstellen können als in einer schlecht organisierten Arztpraxis.

»Herr Twilfer, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir Sie heute wieder gehen lassen. Akute Prellung! Da machen wir mal das ganze Programm.«

Ich werde stutzig und frage, wie man das denn so zügig und vor allem ohne Röntgen oder Ultraschall herausfinden kann.

»So was sieht ein guter Arzt an Ihrem geprellten Finger. Klassisches Symptom.«

Keine zwei Minuten später schlägt dann auch schon die krankenhausinterne Shopping Queen zu und ich mutiere modebewusst zum Leibchenträger. Das froschdödelgrüne Langhemdchen, das komischerweise auch noch hinten offen ist, macht mich nun endgültig zum charakterlosen Pflegefall. Oder einem Fall für die Genfer Menschenrechtskonvention, da die Würde eines jeden Patienten nun auf dem Niveau der kaputten Betten liegt, die man früher sogar höher als zwanzig Zentimeter fahren konnte.

Ich begebe mich also erneut in die Hände von Halbgöttern in Weiß. In Krankenhäusern gibt es jedoch, anders als in Arztpraxen, zunächst eine Vorhut. Den General bekommt man erst einmal nicht zu Gesicht. Der macht derweil im OP die Lagebesprechung, wie man das Opfertier Patient am besten ausweiden und zerlegen kann, während die Krankenschwestern einen auf dieses Schlachtfest vorbereiten. Eine junge Frau nähert sich mit einem Einmalrasierer bedrohlich meinem Bett.

»So, Herr Twilfer, und nun wollen wir Sie mal für die Rücken-OP rasieren.«

Ich öffne mein Leibchen und frage mich, was denn bei einer Rücken-OP rasiert werden muss. Mein stahlharter, braun gebrannter, frisch geölter Muskelberg kann es doch wohl nicht sein.

»Herr Twilfer, Sie sind mir aber ein Teddybärchen! Sie haben ja mehr Haare auf dem Rücken als Charlie, der lustige Affe aus dem ZDF.«

Ich schalte auf mute und lasse die Prozedur des Rückenrasierens über mich ergehen. Eine Darmspiegelung auf einem kaukasischen Straßenfest wäre mir zu diesem Zeitpunkt fast lieber gewesen. Der Rasierer macht seine Arbeit und die Krankenschwester verwickelt mich während der Rasur in ein Gespräch. Voll von panischer Angst weiß man, dass man genau das vor einer OP nun wirklich gar nicht brauchen kann.

»Sie haben doch diese Schantall-Bücher geschrieben, oder?«

Die Klinge der jungen Dame kratzt ganz langsam über meinen Rücken. Hoffentlich weiß sie, was sie da tut.

»Äh, ja. Sagen Sie, jetzt müsste aber doch da hinten alles ab sein, oder?«

Die Krankenschwester ist mit dem Rasierer am Nacken angekommen.

»Ich heiße übrigens Tamaya-Scheraldien, nicht Schantall. Ich finde Ihre Schantall-Bücher toll. Es gibt aber auch dämliche Vornamen.«

Ich entscheide mich, mit der Rasierklinge am Hals dem nicht zu widersprechen.

Ich entscheide mich, mit der Rasierklinge am Hals dem nicht zu widersprechen, und freue mich stattdessen über das Lob sowie auf die Narkose, um dem realen Albtraum mit deutschen Ärzten und Krankenhäusern endlich zu entfliehen. Ich empfehle der Krankenschwester, dieses Buch hier zu lesen, und schreibe mir seitdem meine Diagnosen einfach selbst. Das Internet weiß da schon ’ne ganze Menge.

KAPITEL 1

Symptome

»Ich google, also bin ich krank«

Ein Symptom ist in der Medizin beziehungsweise der Psychologie ein Zeichen, das auf eine Erkrankung oder Verletzung hinweist.

Die Top 5 der skurrilsten Syndrome

Dieses kleine Kompendium richtet sich an Patienten und Ärzte gleichermaßen. Frisch niedergelassenen Kollegen rate ich, die Seiten aus dem Buch zu reißen und sich auf den Schreibtisch zu pappen. Denn dieses Wissen wird in keiner Ausbildung vermittelt, ist aber fürs berufliche Überleben essenziell. Darüber hinaus hilft der Erkenntnisgewinn auch dabei, die Zahnspange der Kinder oder eine gute Flasche Schampus zu bezahlen.

1. Kreislauf, auch Blümeranz

Klar rattern da die Differenzialdiagnosen durchs Hirn des gut geschulten Mediziners, wenn ein Patient die Beschwerde »Kreislauf« äußert. Erfahrungsgemäß ist das Leiden »Kreislauf« aber selten tatsächlich auf den Kreislauf zurückzuführen, es sei denn, der Patient muss vom Boden des Wartezimmers gekratzt werden oder schafft es gar nicht erst in die Praxis. Meist handelt es sich um Schwindel, der wiederum häufig in einer verspannten Halsmuskulatur seine Ursache hat.

Dummerweise kann Schwindel wiederum Kreislaufprobleme auslösen. Also Blutdruckmessen nicht vergessen!

Das Medizinerleben ist hart, man bewegt sich auf dünnem Eis. Den Schwindel auf die Halswirbelsäule zu schieben, erfordert nämlich Mut zur Lücke. Kann auch schon mal schiefgehen! Zudem gibt es Ausnahmen: junge Mädchen am Rande der Magersucht, die bei vierzig Grad im Schatten ihre Wasserflasche vergessen haben, Marathonläufer, die bei Kilometer 37,8 ausgetrocknet die Hufe von sich strecken, die demente Omi im unterbesetzten Altenheim …

Wer Schuld hat an den meisten Fällen von »Kreislauf«, die bis zum Koma führen können? Natürlich die beschränkten Ärzte! Wirklich! Verschreibt ein Arzt zu viele Mittel gegen Bluthochdruck, schmiert der Druck schon mal in den nicht messbaren Bereich ab. Andererseits, verschreibt er zu wenig, setzt es möglicherweise einen Schlaganfall.

Dringender Expertentipp an alle Kollegen: Kunstfehlerversicherung regelmäßig bezahlen!

2. Frau-schickt-mich-Syndrom

Besorgte Frauen wundern sich gelegentlich, dass das Blut ihres Gatten noch fließt, und schicken ihn deshalb zum Doktor. Typisch ist die Ahnungslosigkeit der Betroffenen in Hinblick auf ihre Beschwerden, was unweigerlich zu Schwierigkeiten in der Kommunikation mit dem Arzt führt, der die Krankengeschichte aus dem Mund des Mannes erfahren möchte.

Hinter dem Syndrom kann ein komplexes Beschwerdebild stecken, das durch gründliche Untersuchungen abzuklären ist. Rückbildungsvorgänge im Körper des alternden Mannes mit Abnehmen der Drüsentätigkeit, Erschlaffung der Muskulatur, Abstumpfung der Sinnesorgane, Haar- und Zahnausfall oder alles im Verbund können die Frau des vorstellig gewordenen Patienten in jeder Hinsicht schwer belasten.

Lassen sich keine ernsten organischen Krankheiten, sondern nur eine natürliche Erschöpfung der Zellen feststellen, sollten die Konflikte im seelischen Bereich, die das Frau-schickt-mich-Syndrom hervorrufen kann, nicht vernachlässigt werden. Ich rate dann zur Vermeidung von übermäßigem Stress, zu Bewegung und dazu, den Sexus sich mit Würde zum Eros wandeln zu lassen, zur selbstlosen, spirituellen und vor allem schenkenden Liebe. Der letzte Punkt wird besonders relevant, wenn der Urologe eine operationspflichtige Prostatavergrößerung feststellt. Das zarte Flämmchen Sexus wird dann unter Umständen mit der Operation ohnehin gänzlich ausgeblasen.

3. Lieber-krank-feiern-als-gesund-schuften-Syndrom, auch Gelbscheinaspiranten-Syndrom

Dieses Syndrom tritt häufig bei schönem Wetter und bei kerngesunden Menschen auf. Verdächtig sind mehr als fünf Krankschriften pro Jahr für simulierte Krankheiten, wobei selbst monatliche Arbeitsausfälle keine Seltenheit sind. Beliebte Beschwerden sind Migräne, Schlafstörungen (wer hat die nicht?), Bauchschmerzen wegen Verwachsungen, Darmgrippen, Schmerzen der Halswirbelsäule oder Tennisellenbogen – Diagnosen also, die sich nur schwer objektivieren lassen und bedarfsweise zu Beschwerden führen.

Die »Patienten« sind belesen und routiniert in der Schilderung von Symptomen, die differenzialdiagnostisch von echten Krankheiten abgegrenzt werden müssen. Tests in diesem Zusammenhang fallen immer unauffällig aus. Gelbscheinaspiranten machen aber auch Fehler und lassen sich folgendermaßen entlarven: Beschwerden werden übertrieben geschildert, ihr Bewegungsmuster passt nicht zu einer schmerzenden Erkrankung, verordnete Pillen werden nicht eingenommen und schmerzhafte oder unangenehme Untersuchungen (zum Beispiel Magen- oder Darmspiegelung) abgelehnt. Ja, das kostet Nerven und das Geld der Allgemeinheit. Deshalb handelt es sich nicht um eine Bagatelle.

Expertentipp: Das Problem offen thematisieren und gelegentlich Nein sagen! Manche Simulanten wechseln dann sofort den Arzt. Das schont die eigene Magenschleimhaut und man kommt nicht in den zweifelhaften, andere Gelbscheinaspiranten magisch anziehenden Ruf, arbeitsbefreiende Dokumente leichtfertig auszustellen.

4. Das Seidenmalsyndrom (alternativ Tassentöpfer-, Boshihäkel- oder Tomatenzuchtsyndrom)

Dabei handelt es sich um eine Übersprunghandlung, die man von Hühnern kennt (sinnloses, zwanghaftes Picken nach nicht vorhandenen Körnern), die eigentlich lieber etwas ganz anderes tun würden, aber sich nicht entscheiden können, was.

Es ist einigermaßen schwer heilbar, zumal die Patienten von einem sogenannten sekundären Krankheitsgewinn profitieren (selbst getöpferten Klorollenhaltern, selbst gehäkelten Tischsets, absolut unverrückbaren, aber äußerst selbst gegossenen Betontischen in und außerhalb der Wohnung). Nimmt es überhand, neigen Betroffene zur Behäkelung von Straßenlaternen. Das Syndrom kann abgemildert werden durch die Anschaffung eines oder mehrerer Haustiere. Außerdem kann man auch Pferdehalfter sehr ansprechend selbst gestalten.

5. Das Symptom der permanenten Beschwerdelosigkeit

Dieses Symptom beschreibt ein vom Patienten geäußertes allgemeines Wohlbefinden. Gelegentlich kommen sogar Glücksgefühle und die angeblich fehlende Notwendigkeit einer Medikamenteneinnahme hinzu. Für niedergelassene Ärzte stellt dieser Zustand einen akuten Notfall dar, eine furchterregende Erkrankung ähnlich galoppierender Schwindsucht oder Pest.

Zur Akutversorgung dieser Krankheit gehört in den Erste-Hilfe-Koffer ein möglichst breit gefächerter Check-up. Schrotschuss! Kreuzt alle Laborwerte auf dem Zettel an, die nicht niet- und nagelfest sind und die die Krankenkasse bezahlt. Unterzieht den Patienten einem Verhör zur eigenen und zur Familiengeschichte (Uroma in Ostwestfalen nicht vergessen!), schreitet zum Äußeren, greift zum Stethoskop und untersucht ihn gründlich.

Macht euch nichts vor, Leute, ihr steht mit Rücken und Arsch zur Wand. Entweder ihr findet was oder die Kinder werden nicht satt. Es wird doch irgendein lausiger Laborwert aus der Reihe tanzen (Schilddrüse, Blutfette, Harnsäure) oder zumindest der Blutdruck marginal erhöht sein. Dann muss dem Patienten nur noch klargemacht werden, wie kreuzgefährlich und dringend behandlungsbedürftig die erhobenen Befunde sind. Ihr verordnet ein preisgünstiges Medikament, das jedes Quartal neu rezeptiert werden muss, und bindet so auch die Beschwerdelosen lebenslang an die Praxis.

Expertentipp: Nie mehr als hundert Pillen auf einmal verordnen, sonst überspringt der Patient ein Quartal!

Die Top 5 der seltensten Symptome

1. Bierbrust-Symptom des Mannes (Gynäkomastie)

Dabei handelt es sich um ein gutartiges Wachstum der Brust beim Mann, ausgelöst durch langjährigen übermäßigen Alkoholkonsum. Schafft es die geschädigte Leber nicht mehr, den Alkohol zu verarbeiten, gerät das Hormonverhältnis von Testosteron und Östrogen aus dem Gleichgewicht. Darauf reagiert das Brustdrüsengewebe sehr sensibel und wächst wie bei einer Frau. Das führt nicht nur zu Beschwerden wie Spannungsgefühl und Berührungsempfindlichkeit, sondern ab Größe C auch zur BH-Pflicht.

Andere Ursachen von Gynäkomastie müssen von den alkoholbedingten abgegrenzt werden. Auch der Verlust eines oder beider Hoden, so manches Herzmedikament und der Konsum von Marihuana und/oder Heroin können den Gatten der Gattin ähnlich machen. Eine weitere Abgrenzung sollte zur Lipomastie erfolgen. Dabei vermehrt sich nicht das Drüsengewebe, sondern Fett wird in die Brust eingelagert.

Stehen aber Alkohol und eine kranke Leber als Ursache für eine Hormonstörung fest, hilft nur der Entsafter, das heißt Entzug und Entwöhnung. Gelingen sowohl Abstinenz als auch ein Therapieversuch mit Testosteron nicht, kann eine operative Entfernung der Brust in Erwägung gezogen werden.

2. Undine-Syndrom

Die schöne Nixe hat diesem seltenen Syndrom seinen Namen geliehen, denn nach einer germanischen Sage hat sie ihren untreuen Mann verflucht, sodass er im Schlaf aufhörte zu atmen und starb.

Das Undine-Syndrom hat genetische Ursachen und ist zum Glück tatsächlich sehr selten; die betroffenen Kinder müssen nachts beatmet werden, sonst sterben sie tatsächlich im Schlaf. Der Regler, der die Atmung an den Sauerstoff- beziehungsweise Kohlendioxidgehalt des Blutes koppelt, funktioniert bei ihnen nicht.

3. Alice-im-Wunderland-Syndrom

Ein bemitleidenswerter Symptomenkomplex, weil unterschätzt. Das Alice-im-Wunderland-Syndrom tritt häufiger auf als allgemein bekannt. Es heißt übrigens nicht nach Alice, weil man sich dabei in ein sprechendes Kaninchen verwandelt (das können manche Menschen auch unter genügend Alkoholeinfluss), und auch nicht, weil man schlagartig die englischen Krocketregeln verstehen würde. Nein, es heißt zum einen so, weil es meist Kinder betrifft, und zum anderen, weil für diese Kinder (gelegentlich im Zusammenhang mit Fieber) ihre Umwelt von einer Sekunde auf die nächste entweder schrumpft oder riesig wird. (Das Kind verändert sich dabei zum Glück nicht.) In der Medizin nennt man das »Mikropsie« und »Makropsie« und das hat nichts mit »Autopsie« zu tun. Es ist völlig harmlos. Soweit zum Positiven.

Negativ wäre anzumerken, dass das Syndrom auch als Begleiterscheinung eines Migräneanfalls oder als Vorbote eines epileptischen Anfalls auftreten kann.

4. PAP-Syndrom – lebensgefährliche Unentschlossenheit

Jeder hat schon einmal Situationen erlebt, in denen man sich nicht zu den einfachsten Handlungen aufraffen konnte. Der Fernseher ist längst aus, aber die Couch zu bequem, um sich zum Zähnebürschteln hochzuwinden …

Für Patienten mit PAP-Syndrom ist das ein Dauerzustand. Durch einen vollständigen Verlust ihrer Motivation wird es ihnen unmöglich, alltägliche und banale Entscheidungen zu treffen. Betroffene verhungern, wenn sie nicht jemand an den Tisch setzt. Ihre Haut verbrennt, weil sie Stunden in der prallen Sonne schmoren, oder sie ertrinken, weil sie sich nicht zum Schwimmen durchringen können. Wo aber der Wille zur eigenen Rettung fehlt, wird es lebensgefährlich.

Als Ursache diskutiert die Wissenschaft eine Schädigung der Basalganglien, einer Schaltstelle im Zwischenhirn, die Emotionen ans Großhirn weiterleitet, wo wir unsere bewussten Entscheidungen treffen. Der Ausfall dieser Relaisstation kann nach einem Schlaganfall oder einem Unfall vorkommen. Typisch für die Erkrankung ist, dass sich die Betroffenen trotz der Dauerlethargie nicht langweilen.

Ob eine Heilung erfolgen kann, ist bisher unklar. Glücklicherweise gibt es aber Hilfe zum Überleben. Klare Ansagen vertrauter Menschen geben dem Tag Struktur. Auf Klebezetteln und Brettspielen (jedes Feld eine Handlung) wird der Tagesablauf genau notiert, an dem sich die Patienten dann orientieren können.

5. Koro

Nein, Kollegen, dabei handelt es sich nicht um die Abkürzung für Koronarangiografie. Koro ist eine psychische Störung, bei welcher der Patient Angst davor hat, sein Penis könnte schrumpfen und sich auf Nimmerwiedersehen in den Körper zurückziehen. Die Angst davor kann sich bis zu Panikattacken mit Todesangst steigern.

Die Krankheit kommt vor allem in Indonesien, China und Malaysia vor und zählt deshalb zu den kulturgebundenen Syndromen, ist also ein Forschungsgebiet der Ethnomedizin. Aus dem Malaiischen stammt auch der Name, denn Koro bedeutet in dieser Sprache so viel wie Schildkrötenkopf oder schrumpfend. Aber Vorsicht: Auch Einzelfälle in westlichen Ländern sind beschrieben worden!

Kennzeichnend ist weiterhin, dass die Betroffenen über Stunden an ihren Geschlechtsteilen festhalten und sogar Gewichte und skurrile Geräte zum Strecken verwendet werden. Baden in kaltem Wasser ist selbstverständlich eine klare Gegenanzeige für Männer, die an Koro leiden.

Das drohende Szenarium des schrumpfenden Penis spielt sich natürlich nur in der Vorstellung der Patienten ab. Somit kommen als therapeutische Ansätze eine Psychotherapie und eine vorübergehende Gabe von Psychopharmaka in Betracht. Regelmäßige sexuelle Betätigung fördert die positive Rückkopplung.

Bei Chinesen ist von Selbstbefriedigung allerdings abzuraten. In deren Vorstellung wird das Syndrom von einer Yin-Yang-Störung mitverursacht. Masturbation schwächt das Yang, was wiederum Penisschrumpfen nach sich zieht.

Aus dem Leben eines möglicherweise Gesunden

Eins vorab: Hypochondrie schützt vor Krankheit nicht. Kein bisschen. Das aber nur am Rande.

Meinen ersten lebensbedrohlichen Herzanfall bekam ich mit 13. Es war während eines Weltcup-Skirennens, das ich zusammen mit meinem Vater aus gemütlichen Wohnzimmersesseln verfolgte. Aus heiterem Himmel: Stiche! Wie Nadeln pikste es mir um die linke Brust herum. Ich sprang auf, um dem Schmerz durch spontane Bewegung zu entgehen. Das sollte es schon gewesen sein? Mit 13? Während eines lausigen Riesenslaloms? Wie durch ein Wunder klangen die Stiche wieder ab und ich durfte mich erstmals zu den Überlebenden zählen.

Mochte sein, dass ich über meine Großmutter mütterlicherseits eine Denkart geerbt hatte, die sich im maßlosen Überschätzen des eigenen Einflusses auf objektiv kaum beeinflussbare Gegebenheiten und Ereignisse niederschlug. Träume etwa galten als Vorboten der späteren Realität und auch die Spielergebnisse meines Lieblingsfußballvereins hatten ungemein viel mit dem zu tun, was ich während der Radioreportagen gerade tat oder dachte. Was meine Herzstiche betraf, so drängte sich eine Erklärung geradezu auf, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: In den Tagen zuvor hatte ich mit großem Interesse in dem Buch eines amerikanischen Forschers zum Thema »Leben nach dem Tod« geblättert, das den Nahtoderlebnissen ins Leben zurückgeholter Menschen gewidmet war. Zweifellos sollten mir die Herzstiche eine Warnung sein, dieses Buch nicht mehr anzurühren. Es war einfach noch nicht an der Zeit für mich, zu viel über das zu wissen, was mich dereinst erwarten würde, und so stellte ich das Buch ins Regal zurück, wo ich es jahrelang nicht einmal mehr von außen auch nur ansah.

Also kurierte ich den Hirntumor in Eigenregie, indem ich mir ein paar Wochen lang japanisches Heilpflanzenöl auf die Stirn träufelte und ein Tuch darum band.

Mit 18 stellte das Kreiswehrersatzamt hohen Blutdruck fest, was mich zunächst noch kaltließ, erst recht, als ich mit zwanzig die Augen nicht mehr davor verschließen konnte, mir einen Hirntumor eingefangen zu haben. Der Hausarzt, den ich ein paar Wochen zuvor noch wegen äußerst dubioser Bauchschmerzen aufgesucht hatte und der diese auch nach mehreren Röntgenaufnahmen nicht näher definieren konnte, erschien mir in diesem Fall nicht als der richtige Ansprechpartner. Also kurierte ich den Hirntumor in Eigenregie, indem ich mir ein paar Wochen lang japanisches Heilpflanzenöl auf die Stirn träufelte und ein Tuch darum band. Irgendwann ging es dann wieder ohne Stirnbedeckung und ich hatte Zeit, mich endlich meinem Blutdruck zu widmen.

Es müssen wohl die ersten beiden Studiensemester gewesen sein, in denen ich aus Angst vor einem Schlaganfall jeden Tag mindestens eine Knoblauchzehe in Kombination mit ein paar Schlucken Milch zu mir nahm. Der Schlaganfall blieb aus und der Knoblauch irgendwann wieder unangetastet.

Natürlich kam es in all den Jahren auch vor, dass ich wirklich krank war. Kinderkrankheiten aller Art, Virusgrippe, Pfeiffersches Drüsenfieber suchten mich heim und ich musste mich Operationen von Blinddarm, Mandeln, Innenmeniskus unterziehen. All dies füllte meine offizielle Krankenakte und ich verhielt mich aus meiner Sicht wie ein Patient, für den es sich nicht gehörte, Ärzten und Pflegepersonal unnötige Umstände zu machen. Wohl kaum einer der professionellen Akteure dürfte bemerkt haben, mit welcher Art von Gesundheitsproblemen ich tatsächlich zu kämpfen hatte. Zum Beispiel mit dem Hirntumor, der sich Ende der Neunzigerjahre abermals in meinen Gedanken eingenistet hatte und mir hartnäckig weismachen wollte, dass in der Schaltzentrale meines Kopfes etwas wäre, was nicht dort hingehörte. Monatelang trug ich diesen schweren Gedanken mit mir umher, drängte ihn mal in den Hintergrund, mal ließ ich ihn in all seiner Düsternis zu, aber nie derart, dass ich daraus eine Handlung abgeleitet hätte. Erst als ich gar nicht mehr weiterwusste, trottete ich bangen Herzens zu der Praxis des einzigen niedergelassenen Arztes in meinem damaligen Wohnort und setzte mich ins überfüllte Wartezimmer. Der Arzt genoss einen hervorragenden Ruf, man sagte, er nähme sich für seine Patienten viel Zeit und betrachte sie ganzheitlich.

Als ich endlich aufgerufen wurde und ins Behandlungszimmer trat, empfand ich sofort eine wohlige Sympathie für den schlaksigen, blonden Mann, der sich nun meinem Allgemeinzustand widmete. Was mich zu ihm geführt habe? Nun, ich hätte Knieschmerzen, vor allem beim Bergabgehen.

Mit ernster Miene prüfte der Arzt meine Reflexe und bat mich, ohne Hose auf der Patientenliege Platz zu nehmen. Nach dem Vermessen meiner Beine meinte er: »Kein Wunder, dass Sie Schmerzen haben. Ihr linkes Bein ist anderthalb Zentimeter länger als das rechte. Ich werde Ihnen Einlagen verschreiben, die wirken manchmal Wunder.« Ehe ich mich versah, stand ich wieder vor der Arztpraxis und fragte mich, warum ich es nicht geschafft hatte, dem Mann den wahren Grund meines Erscheinens zu nennen. Knieschmerzen hatte ich zwar auch, aber wegen solchen Belanglosigkeiten brauchte ich doch keinen Arzt.

Am nächsten Tag überwand ich meine doch erhebliche Scham und saß nach einer erneuten Geduldsprobe im Wartezimmer wieder dem freundlichen Arzt gegenüber, der mich vom Vortag noch kennen musste. »Ich haben Ihnen gestern nicht alles gesagt«, stammelte ich und bemühte mich darum, meine gewiss an den Haaren herbeigezogenen Ängste wenigstens in akzeptable Worte zu verpacken. Der Arzt schaute mich noch besorgter als zuletzt an. Dann fasste er mit großen und kompetenten Medizinerhänden nach meinem Kopf und klopfte ihn sehr gründlich an allen möglichen Stellen ab. »Nichts Tumorverdächtiges«, sagte er, »aber ich denke, allein um Sie zu beruhigen, sollten wir einmal nachsehen lassen. Ich schreibe Ihnen eine Überweisung zum CT.«

Zu Hause legte ich die Überweisung in meine Schreibtischschublade. Ab und an sah ich nach ihr und stellte mir dabei vor, wie es wohl wäre, in einer Röhre zu liegen und hinterher von einem unwahrscheinlich empathischen Weißkittel mitgeteilt zu bekommen, wie lange man noch zu leben hätte. Nach einem knappen Jahr warf ich die Überweisung ins Altpapier.

Nicht, dass ich meine Hodenkrebsphobie gern bestätigt gesehen hätte, aber wenn man sich schon bis auf die Knochen blamiert, hätte man wenigstens gern eine Unterhose an.

Der Tiefpunkt folgte zwei Jahre später, als ich an einem anderen Wohnort vor einem alternden Urologen mein Geschlecht entblößte und von diesem nach einigen Sekunden schweigenden Abtastens den vernichtenden Satz »Da ist aber nichts« an den Kopf geschmettert bekam. Nicht, dass ich meine Hodenkrebsphobie gern bestätigt gesehen hätte, aber wenn man sich schon bis auf die Knochen blamiert, hätte man wenigstens gern eine Unterhose an.

Die genannten Ereignisse, deren Auflistung keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ließen mich zu einem Schluss kommen, der möglicherweise falsch, ganz sicher jedoch nachteilig für meine weitere Gesundheitsfürsorge gewesen sein dürfte: Ich war ein Hypochonder. Vielleicht tat ich meiner sensiblen Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit und der damit verbundenen Sorge mit dieser Selbsteinschätzung unrecht, aber es entlastete doch ungemein, der eigenen Angst den Gedanken entgegenzusetzen, dass man sich die Gefahr ohnehin bloß einbilde. Zwar blieb ich nicht frei von Ängsten, richtete sie nach Familiengründung auch auf Frau und Kinder, ganz der Selbstlosigkeit folgend, die für Eltern typisch ist, doch letztlich hatte ich auf jedwede Sorge die Antwort parat, dass sie nur meiner übertriebenen Empfindsamkeit entsprang.

Als ein alter Schulkamerad sich als Hausarzt niederließ und ich mit der Absicht, ihm das Wartezimmer zu füllen, zu seinem Patienten wurde, schenkte ich ihm bereits in den ersten Anamnesegesprächen die Diagnose gleich dazu: »Ich bin etwas hypochondrisch veranlagt.« Mit anderen Worten: kerngesund.

Da ich mich ein wenig fürchtete, vor meinem neuen Hausarzt als Weichei daherzukommen, suchte ich ihn nur in solchen Fällen auf, in denen an meiner Erkrankung kein Zweifel bestehen konnte. Bei einer eitrigen Angina etwa oder bei einer Sportverletzung. Die Dinge, die mich tatsächlich sorgten, erwähnte ich dabei bestenfalls im Nebensatz. Zum Beispiel dieses seltsame Knacken, das ich seit einigen Jahren unten rechts in meinem Hals verspürte, wenn ich schluckte. Dieses Knacken war früher nicht dagewesen. Es kam aus heiterem Himmel und es blieb. Das Knacken war definitiv keine Einbildung, ich fühlte und hörte es zugleich. Selbstverständlich brachte ich es direkt mit meiner Hypochondrie in Verbindung und musste mich daher durchaus überwinden, den Doktor zu fragen, ob er diesbezüglich eine Vermutung hätte. Freilich hatte er die. Dieses Knacken – mein Hausarzt bezeichnete es, damit es besser zur Fachliteratur passte, als trockenen Husten – war eine geradezu typische Nebenwirkung meines Blutdruckmedikaments. Also verschrieb er mir ein anderes, dann würde der trockene Husten schon verschwinden.

Doch das Knacken blieb. Als ich ein halbes Jahr später wegen einer anderen Sache den Arzt aufsuchen musste, erwähnte ich es beiläufig, aber doch so bestimmt, dass der Hausarzt mich zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt überwies. Der wiederum zeigte sich außerordentlich interessiert an meiner Stressbelastung und wollte wissen, in welchen Situationen denn das Knacken auftrete. Offensichtlich wollte er mich auf die Psycho-Schiene schieben, eine Strategie, die dadurch noch Nahrung bekam, dass er beim Blick in meinen Hals nichts Verdächtiges fand. Ja, wenn man unbedingt wolle, könne man noch einen Breischluck machen, aber eigentlich halte er es nicht für nötig. Ich bekam trotzdem meine Überweisung und saß ein paar Wochen später beim Radiologen.

Der Breischluck. Wenn es wenigstens Brei gewesen wäre. Es gab so leckere, liebliche Breie auf dieser Welt. Aber dieser hier war weder lecker noch lieblich, sondern eine sämige Kontrastflüssigkeit, die ich mir stets in genau dem Moment hinunterwürgen musste, in denen der kauzige Radiologe das Wort »Schluck« sagte. Ansonsten sprach der Radiologe nichts mit mir. Immer nur: »Schluck.« »Schluck.« »Schluck.« Irgendwann durfte ich wieder im Wartezimmer Platz nehmen, wo ich in einer der bereitliegenden Zeitschriften den Bericht über einen ehemaligen Profifußballer las, der während eines Prominentenkicks einen Herzstillstand erlitten hatte und wiederbelebt werden musste. Dann doch lieber Breischluck. »Herr Schmidt, bitte …«

Ich betrat wieder den Röntgenraum, wo man mir jetzt die Ergebnisse mitteilen würde. »Stellen Sie sich noch einmal hierher und wenn ich ›Schluck‹ sage, schlucken Sie bitte.« Ich gehorchte. »Schluck.« »Schluck.« »Schluck.« Die Kontrastflüssigkeit widerte mich an. Immer schwerer fiel es mir, große Schlucke davon zu nehmen. Also war ich großzügig mit mir und nahm kleinere. In der Auswertung bekam ich hinterher gesagt, es sei alles in Ordnung.

»Warum haben Sie mich dann noch einmal hineinbestellt?«

Harmloser konnte man den Tod nicht umschreiben.

»Ich dachte zunächst«, meinte der kauzige Radiologe, »ich sähe eine ganz kleine Tasche. Das hat sich aber bei genauerer Hinsicht nicht bestätigt.« So war das also. Eine kleine Tasche. Harmloser konnte man den Tod nicht umschreiben. Aber bei genauerer Hinsicht war die Tasche ja weg. Kein Wunder, wenn der Patient so kleine Schlucke nimmt. Ach was, ich war ja Hypochonder, es würde schon seine Ordnung haben.

Nicht, dass ich permanent über meinen Gesundheitszustand nachdenken würde. Dazu habe ich gottlob gar keine Zeit. Und überhaupt ist mir bei aller Hypochondrie ja doch bewusst, dass alles am Ende ohnehin tödlich enden wird. Aber ist es nicht der eigentliche Sinn eines jeden Lebens, dem Tod aus dem Weg zu gehen? Das Leben ist der Gegenspieler des Todes und solange ich lebe, möchte ich nicht tot sein. Ich weiß nicht, wie es anderen in dieser Angelegenheit geht, aber für meine Person kann ich das recht eindeutig behaupten. Und kleine Taschen, aus denen irgendwann größere Taschen werden, die mehr Platz benötigen, können diesbezüglich durchaus ein Problem darstellen.

Den Arzt habe ich in dieser Knacksache nicht mehr aufgesucht. Ich begegne ihm manchmal in anderen Zusammenhängen. Wenn es die Gelegenheit erlaubt, erwähne ich alle paar Jahre mal, dass es da unten im Hals noch knackt. Der Arzt ist sich sicher, dass das nichts Schlimmes sein kann. Wenn es etwas Schlimmes wäre, so meint der Arzt, dann wäre es schon längst schlimmer geworden. Und das ist es nicht. Es knackt halt nur. Knack. Knack. Knack. Mein Gott, dann soll es eben knacken. Die Uhr tickt ja auch. Manchmal laut, manchmal leise. Und manchmal ist es später, als man denkt.

Von Klebeband, Leichen und Antennen

Plötzlich war sie da: kreisrund, etwa drei Millimeter groß und ebenso hoch. Und sie fühlte sich ziemlich unangenehm an, da an der Außenseite meines rechten Daumens.

Ich entdeckte sie morgens im Bad, als ich mir gerade meine Haare kämmte und mich selbst inklusive meiner Hände im Spiegel sah. Igitt, dachte ich und bekam prompt eine Gänsehaut, wie eklig – das muss doch echt nicht sein!

Doch es war so – ich hatte eindeutig eine Warze.

Auf dem Weg ins Büro fummelte ich die ganze Zeit daran herum: Nervös, wie ich war, drückte und befühlte ich sie ununterbrochen. Eins war klar: Ich musste das Ding so schnell wie möglich loswerden!

Ein Arztbesuch also? Kam nicht infrage. Nicht wegen einer simplen Warze. Außerdem lag einfach zu viel Arbeit auf meinem Schreibtisch. Also beschloss ich, das Warzenproblem selbst zu lösen, indem ich nach Feierabend das Internet befragte.

Mit einem Glas Rotwein und ein paar Käse-Kräckern machte ich es mir am Schreibtisch gemütlich und fütterte die Suchmaschine mit dem unappetitlichen Stichwort.

Als Erstes las ich natürlich die Definition bei Wikipedia:

»Warzen (lateinisch Verrucae) sind häufige, unter Umständen ansteckende, kleine, scharf begrenzte und in der Regel gutartige Epithel-Geschwulste der oberen Hautschicht (Epidermis). Meistens sind sie leicht erhaben, manchmal flach. Sie sind zumeist auf eine Infektion mit einem der mehr als hundert verschiedenen ›Low-risk-Typen‹ von humanen Papillomviren aus der Familie der Papillomaviridae (unbehüllte, doppelsträngige DNA-Viren) zurückzuführen.«

Ansteckend, wie unschön!

Humane Papillomviren, soso. Ansteckend, wie unschön! Noch mehr von diesen hässlichen Dingern wollte ich auf gar keinen Fall!

Dank der großartigen Online-Enzyklopädie erfuhr ich außerdem, dass es vulgäre Warzen oder auch Stachelwarzen gibt, nicht zu vergessen Fußsohlenwarzen, Feigwarzen, Dellwarzen, Flachwarzen, Pinselwarzen und Alterswarzen – letztere konnte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, denn ich war noch deutlich unter fünfzig.

Doch allein die Fotos der verschiedenen Warzentypen brachten mich dazu, die Schüssel mit den Käse-Kräckern angewidert wegzuschieben! Zum Glück hatte ich nichts mehr davon im Mund, als ich weiterlas und erfuhr, dass man Feigwarzen gern auch am Anus bekommt. Wie bekam ich bloß diese Bilder wieder aus dem Kopf?

Ich betrachtete meine Warze und stellte erleichtert fest, dass ich mit diesem kleinen, regelmäßig ausgebildeten, fast schon niedlichen Exemplar in der Fotogalerie der Warzenschrecklichkeiten auf keinen Fall einen der vorderen Plätze erreichen würde. Denn ich hatte – was für ein Glück – wohl nur eine ganz ordinäre »vulgäre Warze«.

Im nächsten Textabschnitt wurde es dann richtig interessant, denn er behandelte die alles entscheidende Frage: Wie wird man die Dinger wieder los? Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Warzen werden vereist, verätzt, mit elektrischem Strom bekämpft oder chirurgisch entfernt – genauer gesagt rausgelöffelt. Örks – zum Glück hatte ich die Schüssel mit den Kräckern außer Sichtweite gestellt! Fast bekam ich Mitleid mit meiner Warze! Aber auch nur fast …

Weil ich das Ding ja selbst bekämpfen wollte, scrollte ich weiter zum Punkt Hausmittel: Klebeband soll zum Beispiel helfen, vielleicht auch Knoblauch – beides allerdings wissenschaftlich nicht belegt, vor allem der Knoblauch nicht.

Ich durchwühlte meinen Schreibtisch und fand Klebeband, einen gewöhnlichen Tesafilm sowie dickeres Paketklebeband. Damit stand die Wahl meines Hausmittels fest. Leider war auf Wikipedia kein Hinweis zu finden, wie man dieses Klebeband im Kampf gegen die Warze nun konkret einsetzt. Und so bemühte ich abermals die Suchmaschine, dieses Mal mit der Wortkombination »Klebeband Warze entfernen«. Auf einer medizinischen Sammelseite wurde ich schließlich fündig: Ziel der Klebeband-Maßnahme sei es, die Warze luftdicht abzukleben und gleichzeitig leichten Druck auf die betroffene Hautstelle auszuüben.

Aberglaube? Das wäre normalerweise mein erster Gedanke gewesen. Doch heute fand ich, dass das nicht mal übermäßig absurd klang: Das Klebeband könnte so den Heilungsprozess unterstützen und die infizierten Hautstellen würden abgetötet und abtransportiert – von ganz allein.

Wenigstens wusste ich jetzt auch, warum Paketklebeband in praktischem Hautbeige verkauft wird.

Coole Sache, da kann ich mir den Arztbesuch wirklich sparen, dachte ich, während ich mir aus beigefarbenem Paketklebeband ein Antiwarzen-Pflaster bastelte. Na ja, einen Schönheitspreis würde meine Konstruktion wohl kaum gewinnen, eher kritische Blicke meiner Kollegen, aber Hauptsache, es half. Wenigstens wusste ich jetzt auch, warum Paketklebeband in praktischem Hautbeige verkauft wird.

Da fiel mir ein, was mir eine Freundin einmal erzählt hatte: Nämlich, Warzen könnte man besprechen oder wegstreicheln. Ich hatte sie damals ausgelacht. Warzen vollzulabern oder zärtlich zu umhegen, das hatte ich seinerzeit eher im Reich der Mythen und Legenden verortet. Andererseits waren die Warzen jener Freundin nach einer Weile tatsächlich verschwunden. Hatte die Sache etwa wirklich funktioniert?

Ich wollte es genauer wissen und änderte die Suchwortkombination in »Warze besprechen«. Es öffnete sich ein Universum der Unglaublichkeiten! Ich klickte einen der unzähligen Links an und fand mich in einer Parallelwelt wieder. Genauer gesagt: in einem Warzenforum. Was es nicht alles gab …

Neugierig las ich den ersten Tipp:

»Mache in einen Baumwollfaden so viele Knoten, wie du Warzen hast. Diesen Faden wirfst du dann bei Vollmond hinter dich. Wenn der Faden verfault, sind die Warzen weg. Wichtig: Sprich mit niemandem darüber und schaue auch nicht mehr nach dem Bindfaden.«

Logik war wohl nicht die Sache der Warzenforumsbesucher. Dafür hatten sie auch poetische Verse im Angebot, um die Warzen zu besprechen:

»Lege deine Hand auf die Warze und sage dreimal: ›Was ich sehe, das vergehe. Was ich streiche, das erweiche – Warze weiche.‹ Nach dem dritten Mal sage dann noch: ›So wahr es Gottvaters Wille ist!‹«

Ganz zauberhaft auch diese Variante:

»Warze, Warze weiche,

reit auf einer Leiche,

auf dem Fluss der Zeit davon.

Im Namen des Vaters (pusten),

des Sohnes (pusten)

und des Heiligen Geistes (pusten).«

Ich hatte zwar schon einige Zombiefilme gesehen, aber einen, in dem Warzen nachts einen Friedhof stürmen, um eine Leiche zu stehlen, auf der sie dann auf dem Fluss der Zeit davonreiten – das war mir neu. Unklar blieb allerdings, was diese spezielle Form der Leichenschändung mit christlicher Dreifaltigkeit zu tun hatte. Wie auch immer – für mich war das wohl nichts. Auch zur Zielgruppe der Bücher, die »seelische Heilung« versprachen, oder der Warzenbesprecherin, die ihre Dienstleistungen nur einmal im Monat – kurz vor Vollmond – anbot, gehörte ich eher nicht. Dennoch las ich aufmerksam ihr Inserat. Aha, sie behandelt ohnehin am liebsten Kinder, weil Erwachsene immer so gestresst sind, hohe Ansprüche haben und wenig Geduld.

Doch die Gute kannte mich nicht! Bewies ich nicht gerade eine schier übermenschliche Geduld? Denn ich verbrachte noch weitere Stunden mit meiner Recherche.

Irgendwann stieß ich auf ein Forum, in dem sogar Sprüche zur Heilung von Aids und Krebs geteilt wurden – neben diversen Erfolgsgeschichten. Da wurde zum Beispiel von einer kleinen Anna berichtet, deren Leukämie von einer »weißen Hexe« geheilt worden sein soll – mit entsprechenden Heilsprüchen und Elixieren. Ob das jemand ernsthaft glaubte? Die Verfasserin des Postings schwor natürlich Stein und Bein, dass sich alles genau so zugetragen hatte.