Wahrheit wird völlig überbewertet - Heike Abidi - E-Book

Wahrheit wird völlig überbewertet E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Friederike Engelbrecht, beinahe 40, ist Single ohne Katze, dafür mit mehr als nur ein paar Pfunden zuviel. Letztere sind schuld an allem! Denn bei einem wichtigen Meeting fragt ein Geschäftspartner mit Blick auf ihre üppige Körpermitte: »Wann ist es denn so weit?«, und Friederike antwortet geistesabwesend: »Im Sommer.« Sofort wird sie umarmt, beglückwünscht – und alle starren auf ihre nicht vorhandene Taille, die jetzt keine Problemzone mehr ist, sondern heilige Brutstätte. Zunächst ist es ihr peinlich, dann ergibt sich nicht der geeignete Moment für die Wahrheit – und schon hat sich Friederike in ein Lügengeflecht verstrickt, aus dem sie einfach nicht mehr rauskommt …

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Seitenzahl: 392

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Heike Abidi

Wahrheit wird völlig überbewertet

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35
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Kapitel 1

Kuh oder Zicklein

Tag 326 vor meinem vierzigsten Geburtstag fängt schon gut an. »Du blöde Kuh!«, beschimpfe ich mein Gegenüber. Verstört schaut es mich aus dem schonungslosen Ganzkörperspiegel meines Schlafzimmers an. Sie müssen zugeben: ein Bild des Elends. Da stehe ich in Unterwäsche, die so verwaschen und unerotisch ist, dass ich nur hoffen kann, heute keinen Unfall zu erleiden und eventuell von Ersthelfern entkleidet zu werden. Oder wenn, dann wenigstens von unattraktiven Ersthelfern, um deren Desinteresse es nicht schade wäre.

Verzweifelt begutachte ich das Brandloch, das meinen bis eben noch hocheleganten Hosenanzug jetzt verunstaltet. Die Leute, die sich die Warnsprüche auf Zigarettenpackungen ausdenken, sollten lieber auf solche Gefahren hinweisen: »Rauchen kann Ihr Business-Outfit schon vor dem Meeting zerstören!« Das wäre mit Sicherheit viel abschreckender als dieser lästige Gesundheitskram.

»Verdammter Mist!«, fluche ich weiter. Was soll ich jetzt bitte schön anziehen? Vielleicht Jeans und Tunika, meine übliche Bürokluft? Unmöglich, heute ist »Welttag des feinen Zwirns«, wie Rolf gestern noch betont hat. Rolf Segmüller ist nicht nur Visionär, Choleriker, Spaßvogel und Nervensäge in einer Person, sondern vor allem mein Chef. In der Marketingabteilung der Feronia-Versicherung gilt, was Rolf anordnet. In Sachen Dresscode ist sein Standpunkt sehr pragmatisch.

»Tragt meinetwegen, worauf ihr Bock habt. Mir egal, ob ihr hier im Strandkleid auftaucht oder im Pyjama. Aber wenn Besuch kommt, wird was Anständiges angezogen. Damit das klar ist!«

Nun, heute ist so ein Tag. Denn auf der Agenda steht um 10.30 Uhr ein Meeting mit den Leuten unserer Werbeagentur. Zwar tanzen die garantiert in Turnschuhen und zerrissenen Jeans an, aber Kreative haben eben Narrenfreiheit.

Ich dagegen habe ein Problem: Der einzige Hosenanzug, der mir wirklich steht, ist hinüber. Dahingerafft von einer harmlosen Morgenzigarette. Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in ein Modell zu zwängen, das vielleicht vor sieben Jahren modern war. Inzwischen haben wir uns weiterentwickelt, die Mode und ich. Sie zu ihrem Vorteil, ich weniger …

Wenigstens der Hosenknopf geht problemlos zu. Die Jacke sitzt dagegen recht stramm, aber wenn ich sie offen trage, fällt das vielleicht nicht allzu sehr auf. Ich frage mich, warum sich mein jüngeres Ich jemals für einen flaschengrünen Hosenanzug entschieden hat. Das einzige Shirt, das farblich dazu passt, ist das schwarze mit der – Achtung, Katalogdeutsch! – raffinierten und schmeichelnden Unterbrustraffung. Die leider die Aufmerksamkeit auf meinen Bauch lenkt. Seit wann gehört der eigentlich zu meinen Problemzonen? Bis vor kurzem kämpfte ich nur gegen die unerwünschten Energiespeicher an Gesäß und Oberschenkeln – doch neuerdings tun sich im Kampf gegen das Gewicht täglich weitere Nebenschauplätze auf.

Ich soll nicht so unzufrieden und überkritisch sein? Sie haben gut reden! Wahrscheinlich tragen Sie Größe S oder wenigstens M, nicht XL mit Tendenz zu XXL. Und mein aktuelles Gewicht könnte man nur dann als ideal bezeichnen, wenn ich etwa zwei Meter neunundachtzig groß wäre. Grob geschätzt. Natürlich wiege ich mich nicht. Ich lasse mir doch den Tag nicht von einem ordinären Haushaltsgerät verderben!

Beim kritischen Blick in den Spiegel denke ich an Urömchens Lebensweisheit: »Bis zum Alter von vierzig Jahren muss eine Frau sich entschieden haben, ob sie Kuh oder Zicklein sein will.«

Das sagte sie, als sie mit über neunzig Lenzen für das Seniorensportabzeichen trainierte – rank und schlank wie eh und je. Diese Gene hat sie leider nur an meine Schwester Johanna weitergegeben. Dafür bekam ich ihr idyllisches Häuschen am Stadtrand, ihr dunkelgrünes und herrlich nostalgisches Wählscheibentelefon und ihren Mitbewohner Barnabas – einen verrückten, aber liebenswerten Graupapagei.

 

Tja, wenn das Leben so verliefe, wie ich es mir erträume, dann wäre ich Friederike Engelbrecht, die glücklich verliebte, erfolgreiche Karrierefrau und Mutter zweier wohlgeratener Wunschkinder. Und ich hätte eine Hammerfigur! Tatsächlich aber bin ich Friederike Engelbrecht, die einsame, kinderlose Singlefrau mit dem dringenden Verdacht, dass ihr Mindesthaltbarkeitsdatum in Kürze abläuft. Und eindeutig »Kuh«. Nicht »Zicklein«.

 

Wenn ich ehrlich bin, macht mir das Älterwerden momentan mehr Sorgen als das Dicksein. Das ist mir letztes Wochenende klargeworden, als Johanna zum Teetrinken hier war. Zwischen Kirschstreusel und Biskuitrolle – deren Kalorien sie offenbar schon beim Kauen vollständig verbrennt – fragte sie mich unvermittelt: »Wie feierst du eigentlich deinen Vierzigsten?«

Das hat mich, offen gestanden, für einen Moment aus der Fassung gebracht. Nicht dass ich mir meines Alters nicht bewusst wäre. Aber wenn ich demnächst anfange, runde Geburtstage auf besondere Weise zu feiern, dann kann ich mich ebenso gut mit Tante Margarethe und ihrer Tigeraugenkette-Perlenohrring-Riege verbünden. Du lieber Himmel! Wenn mir je ein Geburtstagsgast ein umgedichtetes Ständchen singt, ein humoristisches Gedicht zu meinen Ehren vorträgt oder einen eigens einstudierten Sketch aufführt, springe ich aus dem Fenster. Oder leere auf einen Zug die Erdbeerbowle, die bei solchen Anlässen, wie jeder weiß, unvermeidlich ist.

»Ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt feiere«, habe ich meiner Schwester geantwortet, »ist ja noch ein Weilchen hin bis Februar.« Aber im tiefsten Herzen ist die Entscheidung längst gefallen. Ich denke gar nicht daran, etwas in dieser Richtung zu planen! Als ob es ein freudiger Anlass wäre, die Jugend endgültig hinter sich gelassen zu haben.

Das hat Johanna zwar ebenfalls, aber immerhin ist sie seit vierzehn Jahren glücklich mit ihrem Rechtsanwaltsgemahl verheiratet, hat zwei liebreizende Töchter, zwei bezaubernde Söhne und ein kugelrundes Babybäuchlein. Es fällt mir schwer, das zu sagen und dabei neidlos zu wirken, aber: Ihre einundvierzig Jahre sieht man der heiligen Johanna kein bisschen an. Sie hat ein Figürchen wie ein Teenie. Und eine Gesichtshaut, die so glatt ist wie ein Babypopo. Na ja, schließlich verwendet sie für beides dieselbe Creme …

Johanna ernährt sich erschreckend vernünftig, hat kein einziges Laster, ist eine vorbildliche Mutter und nebenbei auch noch als Übersetzerin erfolgreich. Mir gegenüber erwähnt sie regelmäßig die »biologische Uhr« und fragt in dem Kontext auch jedes Mal scheinbar beiläufig nach meinem »Liebesleben«. Wen wundert es, dass meine Laune sinkt, sobald wir uns länger als zwanzig Minuten unterhalten? Meine Laune sinkt sogar jetzt – bei der bloßen Erinnerung an unser Gespräch über meinen bevorstehenden runden Geburtstag.

Bald bin ich vierzig, einsam, fett und allein, stelle ich fest und greife nach meiner Zigarettenschachtel. Wenigstens haben Glimmstengel keine Kalorien. Zum Rauchen gehe ich in den winzigen Garten hinterm Haus, der von einer mit Wildrosen bewachsenen Mauer eingesäumt ist.

Barnabas folgt mir nach draußen. Hocherhobenen Hauptes stolziert er hin und her, steuert schließlich den alten Kirschbaum an, stellt sich daneben und hebt ein Bein. Ganz zweifellos ist er davon überzeugt, ein Hund zu sein. Dieser Papagei ist eindeutig übergeschnappt! Oder senil. Wahrscheinlich Letzteres. Immerhin ist er so alt wie Methusalem. Und das war er auch schon, als er noch Urömchen gehörte. Urömchen ihrerseits hat ihn vor Jahren von einer Freundin übernommen, die nach dem Tod ihres Mannes in ein Heim zog und das Vogelvieh dorthin nicht mitnehmen durfte. Seitdem spricht Barnie kein Wort mehr. Früher soll er ziemlich redselig gewesen sein.

Momentan bellt er höchstens oder knurrt Gorbatschow an, wie jetzt gerade.

»Bist du still!«, schimpfe ich ihn aus. »Gorbatschow ist immerhin unser Gast.«

Barnie interessiert sich nicht die Bohne für Etikette. Drohend watschelt er auf den getigerten Kater meiner Freundin Carla zu, der seit ein paar Wochen bei uns wohnt. Eigentlich ein forscher Geselle, aber vor Barnabas hat er erstaunlicherweise einen Heidenrespekt.

Ich drücke meine Kippe aus, jage Barnie zurück ins Haus und wünsche Gorbatschow eine frohe Mäusejagd. Dann mache ich mich auf den Weg ins Büro. Seit mein Autoradio den Geist aufgegeben hat, ist die Fahrt quer durch die Stadt zum Feronia-Gebäude noch langweiliger als zuvor. Ich sollte es dringend reparieren lassen!

 

Früher brauchte ich auf dem Weg zur Arbeit kein Radio – da saß Carla Berthold neben mir. Sie wohnte gerade mal zwei Straßen weiter. Obwohl wir in derselben Firma arbeiteten und fast immer zusammen fuhren, telefonierten wir fast täglich miteinander. Nicht zu vergessen die regelmäßigen Weiberabende mit DVDs, etwas zu viel Prosecco, tütenweise Erdnüssen und einer zünftigen Ration Zigaretten. Und alle vier Wochen unser Beauty-Samstag, bei dem wir uns Feuchtigkeitsmasken ins Gesicht schmierten, gegenseitig die Wimpern färbten und Carla mir die Haarspitzen schnitt. Ich hasse Friseurbesuche! Leider ist all das momentan nicht drin, denn Carla macht ihren Lebenstraum wahr: ein Sabbatical.

»Einfach mal für ein Jahr aussteigen aus dem Alltagstrott«, hat sie mir vorgeschwärmt. Und dann gefragt: »Warum kommst du nicht einfach mit nach Sydney?«

Ja, warum bin ich nicht einfach mitgekommen?

Weil ich ein verdammter Feigling bin, lautet meine zerknirschte Antwort. Ich bin einfach nicht so mutig wie Carla. Die große, sportliche, vom vielen Walken braungebrannte Carla mit der frechen schwarzen Kurzhaarfrisur – meine beste Freundin. Statt die Kundenzeitung der Feronia-Versicherung zu texten, versucht sie also seit gut zwei Monaten, australischen Schülern Deutsch beizubringen. Nebenbei macht sie großartige Fotos, lernt surfen, ist regelmäßiger Gast der Oper von Sydney und allem Anschein nach rundum glücklich.

Leider beschränkt sich unser Kontakt zurzeit auf regelmäßige E-Mails und, wegen der Zeitverschiebung, ganz seltene Telefonate. Sie fehlt mir. Verdammt! Warum in aller Welt muss Carla sich gerade jetzt selbst verwirklichen – ohne mich?

 

Auf dem Feronia-Parkplatz treffe ich EDV-Rüdiger. Er kettet gerade sein prähistorisches Mofa an den Fahrradständer. Als ob irgendwer an diesem Zeitlupenzweirad interessiert wäre!

»Hallo Friederike!«, ruft er mir fröhlich zu und winkt mit beiden Händen. Niemand kann mit beiden Händen winken, ohne dass es albern aussieht. Auf EDV-Rüdiger trifft dieses Naturgesetz in besonderem Maße zu. Denn Rüdiger Klein ist ungefähr so männlich wie der Junge auf der Zwiebackpackung, nur mit etwas fettigeren Haaren und unreinerer Haut. Dass er noch bei Muttern lebt und sich mittags von mitgebrachten Stullen ernährt, ist für sein Image auch nicht gerade förderlich.

Dabei ist er im Grunde ein ganz Netter. Eigentlich. Aber im Büro nimmt ihn niemand richtig ernst – es sei denn, es geht um Computerprobleme. Denn die löst er im Handumdrehen. Dafür sind ihm alle dankbar. Jedoch nicht so dankbar, dass sich daraus ein Date mit einer Kollegin ergäbe …

Ich habe, ehrlich gesagt, etwas Mitleid mit Rüdiger. Vor allem seit damals, als er sich bei der Weihnachtsfeier dermaßen die Kanne gab, dass er nicht mehr heimfahren konnte. Der Gute verträgt einfach nichts. Insbesondere keinen Ouzo. Ich nahm den Unglücksraben in jener Dezembernacht kurzerhand mit zu mir nach Hause und hielt ihm die Speischüssel bis zum Morgengrauen.

Gemeinsam mit dem letzten Mann, der je eine Nacht in meinen vier Wänden verbracht hat, betrete ich also den Fahrstuhl. EDV-Rüdiger drückt die Drei und die Fünf. In der dritten Etage sind Controlling, IT und allgemeine Verwaltung untergebracht, in der fünften Marketing und Pressestelle. Verstohlen betrachte ich unser Spiegelbild. Was für ein erbärmliches Paar: Rüdiger in unvorteilhaft quergestreiftem Shirt und viel zu weiten Cordhosen, die Haare wie immer ungewaschen, auf der Stirn ein fetter Pickel. Und ich? Sehen Sie selbst … Schick ist anders. Und dünn sind an mir nur meine rotblonden, halblangen Fusselhaare.

Der Fahrstuhl hält im dritten Stock.

»Dann mach’s mal gut«, murmelt EDV-Rüdiger und huscht davon.

In der nächsten halben Minute habe ich Zeit, über mein trostloses Privatleben nachzudenken, das in letzter Zeit – um nicht zu sagen: in den letzten Jahren – in Sachen Romantik herzlich wenig zu bieten hatte. Was bleibt mir also anderes übrig, als all meine Energie in die Arbeit zu stecken?

 

Doreen ist bereits da und hat schon Kaffee gekocht. Als Rolfs Assistentin stehe ich zwar in der Hierarchie eine Stufe über der Chefsekretärin, doch es wäre äußerst unklug, sie das spüren zu lassen. Seit über fünfzehn Jahren gilt Doreen als die Einzige, die Rolf Segmüller bändigen kann. Ihr gegenüber gibt sich unser von der Midlife-Crisis geplagter und zuweilen cholerischer Marketingleiter handzahm und liebenswürdig. Doreens Vorschläge werden gehört, ihre Kritik zaubert ihm nachdenkliche Falten auf die Stirn. Und deshalb führt in dieser Abteilung der Feronia-Versicherung kein Weg an Doreen Caspary vorbei!

Als sie mich bittet, ihr beim Vorbereiten der Häppchen für das Meeting zu helfen, sage ich daher weder »Sorry, hab noch dringende E-Mails zu schreiben«, noch frage ich, warum sie nicht einfach ein paar Snacks aus der Kantine ordert. Sondern greife zum Messer und betätige mich widerstandslos als Küchenhilfe. Und das, obwohl ich dabei mit so widerlichen Dingen wie Schinken und Salami in Berührung komme …

Ja, auch wenn Sie bisher dachten, alle Vegetarier seien hager und drahtig: Ich bin das lebende, rundliche Gegenbeispiel! Wahrscheinlich bin ich die am wenigsten ausgemergelte Vegetarierin dieses Planeten. Schließlich sind auch Schokolade, Käsenudeln und Torte rein vegetarisch.

»Was wollen die Agenturfritzen denn schon wieder bei uns?«, fragt Doreen in ihrer unnachahmlich direkten Art. Respekt vor blumigen Berufsbezeichnungen wie »Creative Director«, »Account Executive« oder »Global Planning Manager« ist ihr fremd.

»Motivauswahl für die neue Kampagne«, antworte ich knapp, denn ich muss mit meiner Atemluft haushalten. Wie immer, wenn mir Wurstaroma direkt in die Nase steigt, hilft nur konsequentes Luftanhalten gegen den Brechreiz.

»Die neue Kampagne, ha!«, schnaubt Doreen abschätzig und bläst eine weinrote Haarsträhne, die sich aus ihrer kunstvoll aufgetürmten Hochsteckfrisur gelöst hat, aus der Stirn.

Etwas an ihrem Ton lässt mich aufhorchen. Denn obwohl sie kreativen Ideen generell kritisch gegenübersteht, schwingt in ihrem »Ha!« noch eine versteckte Botschaft mit, die mir gar nicht gefallen will. Und ich habe mich nicht getäuscht.

»Rolf glaubt nicht dran«, verkündet sie mein Todesurteil, ohne mit der Wimper zu zucken.

Sie müssen wissen: Die neue Kampagne ist auf meinem Mist gewachsen! Erstmals hat die Agentur eine Idee umgesetzt, die ich gemeinsam mit dem Kreativteam entwickelt habe. Ich trage dafür die Verantwortung – und war mir eigentlich bis vor zehn Sekunden absolut sicher, dass Rolf voll dahintersteht.

»Woher willst du das wissen?«, bohre ich nach.

Doch Doreen gibt ihre Quellen niemals preis. Ihre ganze Macht innerhalb der Abteilung basiert auf der Tatsache, dass sie alles – wirklich alles! – weiß, aber niemandem verrät, woher. Wenn sie sich überhaupt dazu äußert, dann mit dunklen Andeutungen, die den Anschein erwecken, niemand als sie selbst spinne im Hintergrund die Fäden. Tatsache ist, dass ihre Kontakte bestens sind und sie über ein hervorragendes Gehör verfügt. Das Gerücht, sie habe früher für den Geheimdienst gearbeitet, halte ich jedoch für übertrieben.

In diesem konkreten Fall tippe ich auf eine eher simple Erklärung: Offenbar hat sie ein Telefonat zwischen Rolf Segmüller und einer unbekannten, aber garantiert wichtigen Person belauscht, im Verlaufe dessen er sich kritisch über die »Aber wenigstens«-Kampagne geäußert hat.

Typisch! Wenn das Ganze einschlägt wie eine Bombe, was ich hoffe, schreibt er sich den Erfolg natürlich selbst auf die Fahnen, so viel ist klar. Und falls nicht, hat er einen Sündenbock: Friederike Engelbrecht, seine zukünftige Ex-Marketingassistentin – mich. Na wunderbar!

Natürlich ist die Kampagnen-Idee etwas gewagt. Aber dass ihretwegen mein Job in Gefahr geraten könnte, hätte ich nie gedacht. So kann man sich irren. Ich sitze also sozusagen auf dem Schleudersitz. Halt, ich muss mich korrigieren: Ich sitze in einem unmodernen, etwas zu engen flaschengrünen Hosenanzug und einem problemzonenbetonenden Shirt auf dem Schleudersitz. Im Grunde kann es also nur noch aufwärtsgehen …

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Kapitel 2

Aber wenigstens

Die Agenturfritzen, wie Doreen das Kreativteam nennt, obwohl es zu zwei Dritteln aus Frauen besteht, kommen wie immer zu spät. Ohne es auszusprechen, vermitteln sie damit die subtile Botschaft: »Pünktlichkeit ist was für Spießer, ihr armseligen Sachbearbeiter. Wir kommen gerade aus einem ultrawichtigen Brainstorming, das wir eigens für dieses popelige Meeting unterbrochen haben. Seid wenigstens dankbar. Aber wenn ihr unsere wertvolle Zeit lieber mit nutzlosen Diskussionen über Tugenden verplempern wollt, nur zu. Ihr wisst ja, was eine Kreativstunde kostet!«

Für gewöhnlich signalisieren Rolfs finsterer Blick und seine zusammengekniffenen Lippen eine passende Antwort, die mit »Agenturen gibt es wie Sand am Meer« beginnt, die er aber aus gutem Grund nie ausspricht. Denn die Leute von »Urschrey-Werbung« sind schlicht und ergreifend verdammt gut. Die letzten Kampagnen waren wahnsinnig erfolgreich und haben Rolf am Jahresende jeweils einen fetten Bonus eingebracht.

Eigentlich hatte ich gehofft, dass sich das in diesem Jahr wiederholt – und für mich ebenfalls ein Stück vom Kuchen abfällt. Vielleicht sogar eine Beförderung zur Projektleiterin? Das wäre ein kleiner Traum.

 

Thilo, Kreativdirektor und Mitgeschäftsführer von Urschrey-Werbung, packt fast provozierend langsam die mitgebrachte Technik aus. Umso flinker schließt Kontakterin Nina das Notebook an unseren Beamer an, während Texterin Mirjam gedankenverloren in ihrem Notizbuch blättert.

Doreen stellt wortlos Kaffeekannen sowie die Platten mit den Kanapees auf den Tisch und verschwindet grußlos. Unsere Praktikantin Sarah versorgt die Anwesenden mit Getränken – kein leichter Job im Umgang mit verwöhntem Agenturvolk (»Habt ihr keinen braunen Zucker? Und Sojamilch? Dann lieber ein Mineralwasser, aber medium – und mit Zitrone, aber ungespritzt muss sie sein. Wenn keine Biozitronen da sind, dann doch lieber einen Tee. Gibt’s Earl Grey?«).

Rolf – heute natürlich im Armani-Anzug – taucht erst nach weiteren fünf Minuten auf. Ich würde Urömchens Haus drauf verwetten, dass er uns aus Prinzip hat warten lassen, nicht wegen eines »Telefonates mit Übersee«, wie er behauptet. Wer soll denn das bitte glauben? »Übersee« sagt man ja wohl nur noch in alten Filmen. Außerdem ist in Amerika jetzt noch tiefste Nacht.

Statt einer wortreichen Begrüßung beschränkt sich Rolf auf eine monarchische Bitte-loslegen-Geste, die zum Ausdruck bringen soll, dass auch seine Zeit kostbar ist.

Mirjam startet die Präsentation mit einer Zusammenfassung der konzeptionellen Grundidee. Zwar kennt die mit Ausnahme unserer Praktikantin schon jeder, aber um nachher die bestmögliche Motivauswahl treffen zu können, ist es »von zentraler Bedeutung«, wie sie betont, den Kerngedanken noch einmal bewusst zu machen.

»Kein Mensch entscheidet sich aus rein sachlichen Erwägungen für eine Versicherung. Nicht Vernunft, Weitsicht oder Besonnenheit sind die Motivation, sondern pure Angst«, deklamiert Mirjam und stiefelt dabei mit ihrem entzückenden Strickminikleid auf und ab.

Ich nicke. Das sind exakt meine Worte. So habe ich vor gut einem Monat das Brainstorming mit den Agenturleuten eröffnet.

»Angst aber ist negativ«, fährt Mirjam fort. Die Praktikantin schreibt eifrig mit. »Deshalb haben wir die Angst gewissermaßen umgedreht in Optimismus. Die Devise lautet: Wenn schon etwas passiert, dann will man doch möglichst ungeschoren aus der Sache rauskommen. Oder, um die Kampagne auf den Punkt zu bringen: Aber wenigstens gibt es einen Lichtblick.«

Rolf zieht die Stirn in Falten. Doreen hatte recht – er ist nicht mit Überzeugung bei der Sache.

»Bringen wir damit die Verbraucher nicht erst auf negative Gedanken?«, wendet er ein.

»Gut, dass du das fragst«, greift Thilo seine Vorbehalte geschickt auf und kontert: »Da stellt sich die Frage, wie man ›negative Gedanken‹ überhaupt definiert.«

Rolf gibt sich nicht die Blöße, das auszusprechen, was ihm spontan in den Sinn kommt, nämlich: »Na negative eben, du Schnösel.« Nach sieben Jahren im Unternehmen kann ich in Rolfs Gesicht lesen wie in einem Buch. Wozu bei seiner ausgeprägten Mimik allerdings auch nicht viel gehört.

Als Zeichen seiner Entschlossenheit krempelt Thilo die Ärmel seines Designerhemdes hoch, das lediglich durch ein aufgedrucktes Markenlabel von einem Altkleidersammlungsmodell zu unterscheiden ist.

»Nichts ist so negativ wie Angst. Da kommt unsere Botschaft doch viel besser rüber – nämlich, einem Schadensfall noch eine positive Seite abzugewinnen. Und diese positive Seite heißt: Feronia.«

Rolf ist noch immer nicht überzeugt: »Rufen wir damit nicht indirekt zum Versicherungsbetrug auf?« Im Geiste raufe ich mir die Haare. Rolf! Unglaublich, wie kompliziert er manchmal denkt.

»Aber nein«, widerspricht Mirjam, »ganz im Gegenteil: Wir zeigen Fälle, die in ihrer Authentizität im ersten Moment erschrecken – und damit natürlich auch Aufmerksamkeit erregen. In Kombination mit der Headline provozieren wir sozusagen ein kollektives Aufatmen: Zum Glück gibt es Feronia!«

»Am besten schauen wir uns jetzt gemeinsam die Layoutentwürfe an und diskutieren dann weiter«, schlägt Nina vor.

Das ist das Startsignal für Thilo. Er rückt seine schwarze Nickelbrille zurecht, die – wie ich von Doreen weiß – Fensterglasstärke hat und ihm lediglich einen intellektuellen Touch verleihen soll, und startet die Präsentation. Das erste Motiv zeigt die Rückansicht einer vierköpfigen Familie, die auf die Überreste eines bis auf die Grundmauern niedergebrannten Einfamilienhauses blickt. Darüber steht in großen, grünen Lettern: »Aber wenigstens hat das neue Haus einen größeren Garten«. Darunter prangt das filigrane Logo des Versicherungskonzerns und unser Slogan: »Feronia – Glück im Unglück«.

Ich bin begeistert. Ganz großes Kino! Auch Sarah, die Praktikantin, ist ganz angetan. Nur Rolf findet das Ganze »irgendwie so na ja«.

Aha. Es lebe die Meinungsfreiheit.

Thilo lässt sich kein bisschen beirren und fährt ungerührt mit seiner Präsentation fort. Das nächste Motiv zeigt ein Kind, das parkende Autos verschönert, indem es mit einem spitzen Stein hübsche Muster in den Lack ritzt. Dazu heißt es passenderweise: »Aber wenigstens haftet auch jemand für unaufmerksame Eltern«.

Alle lachen – außer Rolf. »Das ist inhaltlich nicht ganz korrekt«, wendet er ein. »Unaufmerksame Eltern – ein gefährliches Stichwort. In solchen Fällen prüft unsere Schadensregulierung ganz genau nach. Wenn Eltern die Aufsichtspflicht verletzt haben, haften wir nämlich nicht.«

Ich versuche, die Situation zu retten: »Im Detail wird an den Aussagen natürlich weitergefeilt, und am Ende prüft sowieso die Rechtsabteilung. Auch wenn einzelne Formulierungen jetzt noch nicht endgültig sind: Ich finde die Entwürfe großartig! Gibt es noch weitere Motive?«

Ja, gibt es. Eine Großmutter, die einem Polizisten den Stinkefinger zeigt (»Aber wenigstens kann sie sich die besten Anwälte leisten«), eine Ballerina mit Gipsbein (»Aber wenigstens reicht das Krankentagegeld für einen Urlaub am Schwanensee«) und ein nicht mehr ganz taufrischer Schönling, der im Spiegel entsetzt ein graues Haar entdeckt (»Aber wenigstens sieht seine Altersvorsorge prima aus«).

Ist das genial, oder was? Offen gestanden platze ich fast vor Stolz auf meine Idee. Und wie die Agentur das umgesetzt hat – einfach »emotional, außergewöhnlich, überzeugend«, schwärme ich. Was als Statement definitiv seriöser rüberkäme, wenn nicht im gleichen Augenblick mein Magen laut knurren würde … So ist es nur Signal für einen kollektiven Lacher und eine kleine Pause.

 

Rolf verschwindet kurz, angeblich wegen eines weiteren wichtigen Telefonates. Wahrscheinlich ruft er sein »Spatzl« an, die dritte Frau Segmüller, die maximal halb so alt ist wie er und ihm gehörig den Kopf verdreht hat. Carla nennt das den »Berlusconi-Effekt«.

Ich sichere mir unauffällig ein mit Käse und Ei belegtes Kanapee, bevor mir die Nichtvegetarier das Futter streitig machen können, reiche die Platte weiter und beiße dann herzhaft in das vorhin mit viel Liebe von mir selbst zubereitete Häppchen. Verdammt, schmeckt das gut! Und was ich heute für einen gesunden Appetit habe. Wahrscheinlich, weil mir diese unsägliche Klamottenkatastrophe heute Morgen keine Zeit zum Frühstücken gelassen hat. Sonst esse ich vor der Arbeit zwei bis drei Nutellabrötchen. Tagsüber reichen mir meist ein Apfel und ein Joghurt. Dann bilde ich mir ein, mich gesund zu ernähren und auf dem besten Weg in ein schlankeres Leben zu sein … Was auch stimmen würde, wenn ich gleich nach Feierabend schlafen ginge – anstatt dann noch Schokolade, Kekse, Chips, Backofenpommes, Pizza und Pudding in mich hineinzustopfen. Wenn ich wenigstens weniger Prosecco trinken würde. Und mehr Sport treiben. Mehr jedenfalls als null. Im Grunde verbringe ich neunzig Prozent meiner Lebenszeit im Sitzen: am Schreibtisch, im Auto, auf dem Sofa. Nur beim Rauchen stehe ich draußen. Wäre mein Leben als Nichtraucherin also ungesünder?

Zum Glück scheinen die anderen keinen großen Hunger auf Fleischloses zu haben. Generell interessieren sie sich mehr für die Kampagnenmotive, genauer gesagt: die Bildsprache, die Anmutung der Szenen und die Auswahl der Locations. Beim Zuhören erfahre ich, dass das Casting für die Models schon läuft – die Layoutfotos sind selbstverständlich nur Platzhalter.

Ich nicke eifrig und verrate niemandem, dass ich die vorläufigen Schnappschüsse eigentlich schon richtig professionell fand. Man lernt eben nie aus. Um noch mehr Insiderinformationen zu erfahren, frage ich, ob ich beim Shooting – ja, auch Heidifernsehen bildet! – dabei sein darf.

Erfreulicherweise begrüßt Thilo das sogar ausdrücklich: »Klar, du gehörst ja zum Kreativteam. Ich lass dir gleich einen Flug nach Berlin mitbuchen.«

Wow. Wie sich das anhört: »Ich fliege zum Fotoshooting nach Berlin.« Klingt das nicht irre beeindruckend?

Als ich das dritte Kanapee verputze, passiert es: Eine Scheibe Ei rutscht mir vom Gouda und landet auf meinem schwarzen Shirt.

»Oooops«, quiekt Nina und reicht mir eilig eine Serviette.

Ich bedanke mich und bin bemüht, das Ganze mit Humor zu nehmen. Mit spitzen Fingern picke ich das Ei von dem Kegel, der mein Bauch ist, und versuche dann, den Fleck mit der Serviette wegzutupfen. Vergebens.

Dass mir alle bei dieser zum Scheitern verurteilten Aktion zusehen, ist alles andere als angenehm. Selbst Rolf, der inzwischen wieder in den Besprechungsraum zurückgekehrt ist, beäugt mein Tun kommentarlos. Kurzerhand verdecke ich den Fleck, indem ich die Hände über dem Leib falte und verkünde, dass ich mich unheimlich auf unser Baby freue.

»Wie schön! Wann ist es denn so weit?«, fragt Thilo freundlich.

Ich starre ihn an. Hat er mir nicht eben den Produktionsplan erläutert? Shooting im Mai, Produktion im Juni, Pressekonferenz zum Kampagnenstart im Juli.

»Na, im Sommer, natürlich«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.

Leider wird mir eine Zehntelsekunde zu spät klar, dass wir gerade nicht die Kampagne diskutieren. Sondern meine Figur. Und dass es in diesem Zusammenhang ziemlich ungeschickt von mir war, das Projekt »unser Baby« zu nennen. Ungefähr eine Milliarde Mal ungeschickter war es natürlich, »im Sommer« zu sagen.

Grundgütiger!

Ich und schwanger … Ich habe ja noch nicht mal einen Partner. Oder wenigstens eine Affäre. Oder eine Besenkammer.

Doch gesagt ist gesagt. Was nun geschieht, erscheint mir wie in einem schlechten Film. Schlechter als Angriff der Killertomaten und Catwoman zusammen! Ich werde beglückwünscht, umarmt und betrachtet wie ein Weltwunder. Vor allem starren alle ungeniert auf meine nicht vorhandene Taille, die jetzt natürlich keine Problemzone mehr ist, sondern heilige Brutstätte.

Ninas Frage, ob ich denn sehr unter Übelkeit zu leiden hätte, beantworte ich wahrheitsgemäß mit »Ja, sehr« – denn tatsächlich ist mir gerade furchtbar schlecht. Ich möchte im Boden versinken! Oder wenigstens rufen: »Halt, Leute, war alles nur ein Missverständnis!«

Doch dann sagt Thilo: »Steht dir gut, das Babybäuchlein!« – und macht damit einen Rückzug für den Moment unmöglich. Sonst würde das jetzt richtig peinlich …

Endlich gelingt es mir, das Gespräch zurück auf die Kampagnenmotive zu bringen. Wie durch ein Wunder wird meinen Vorschlägen jetzt viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als sonst. Verleiht mir der neue Status als Arterhalterin etwa eine ungeahnte Macht? Selbst Rolf scheint sich für »Aber wenigstens« zu erwärmen. Jedenfalls hat er aufgehört, seine völlig an den Haaren herbeigezogenen Gegenargumente vorzubringen. Stattdessen hält er sich vornehm zurück, beobachtet und hört interessiert zu.

Wer Rolf Segmüller kennt, weiß, dass das nicht unbedingt etwas Positives zu heißen hat. Möglicherweise reift in ihm ein schlagkräftiges Argument, mit dem er gleich alles zunichtemachen wird. Nicht auszuschließen wäre auch, dass er bald eine eigene Idee aus dem Hut zaubert, die zwar einfach unfassbar platt ist, am Ende aber realisiert wird – der Kunde ist eben König.

Als nichts von alldem geschieht, werde ich unruhig. Wahrscheinlich malt Rolf sich schon aus, wie die Kampagne zum Mega-Reinfall wird und er dann seine Ich-wusste-es-von-Anfang-an-Nummer abziehen kann …

Für einen Moment kreuzen sich unsere Blicke. Seiner ist ausgesprochen nachdenklich. Ob er wohl gerade überlegt, welche Folgen meine »Schwangerschaft« für die Arbeit in der Abteilung hat? Wann ich in Mutterschutz gehe, ob und wie lange ich Erziehungsurlaub nehme, wie die Aufgaben umverteilt werden müssen, wer mich vertreten könnte?

Da kommt mir ein Gedanke, der mir ein breites Grinsen ins Gesicht zaubert: »Aber wenigstens könnte er mir dann nicht kündigen …«

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Kapitel 3

Gebenedeit

Auch das längste Meeting hat ein Ende. Endlich! Die Kreativen verstauen ohne große Eile ihre Technik, Sarah räumt umständlich Tassen und Gläser ab, Rolf verabschiedet sich mit den Worten: »Wir sehen uns!« – eine Drohung? –, und ich verschwinde unauffällig auf die Toilette. Erschöpft lasse ich mich auf den geschlossenen Klodeckel sinken und raufe mir die Haare. Was habe ich da nur angerichtet?

Gewiss bin ich nicht das erste Big Girl, das die Wann-ist-es-denn-so-weit-Frage zu hören bekommt. Wäre ich cool, hätte ich nur gegrinst und geschwiegen. Oder so getan, als hätte ich nichts gehört. Offenbar bin ich ziemlich uncool. Fett, alt und uncool. Es ist ein Elend!

Ich lasse mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Was gegen körperliche Überhitzung hilft, kann sicher auch bei fieberhaftem Grübeln nicht schaden. Was soll ich jetzt nur tun? Was? WAS?

Auf ewig kann ich mich schlecht in der Toilette versteckt halten. Nach einer Viertelstunde klopft es draußen an der Tür.

»Geht es dir gut?«, fragt Sarah. Wie süß, dass sie sich um mich sorgt.

»Alles in Ordnung«, antworte ich, »bin gleich da.«

Ich lausche, ob Sarahs Schritte sich entfernen – was nicht der Fall ist. Als ich aufschließe, steht sie vor mir.

»Herr Segmüller möchte dich sprechen«, teilt sie mir mit. »Sofort.«

Au Backe!

Das kann nichts Gutes heißen. Dass Rolf mit Kindern wenig am Hut hat, ist allgemein bekannt, und als Abteilungsleiter sind ihm schwangere Mitarbeiterinnen ein Greuel. Was er aber mehr hasst als alles andere, ist, angelogen und hintergangen zu werden …

Sarah arbeitet zwar erst seit letztem Montag in unserer Abteilung, aber sie ist nicht auf den Kopf gefallen und hat den Ernst der Botschaft erfasst, die sie mir zu überbringen hat. Ich empfange Mitleidssignale – von einer Praktikantin!

Tiefer kann man kaum sinken. Oder doch?

 

Auf dem Weg zu Rolfs Büro begegnet mir Doreen.

»Er wartet schon ungeduldig«, warnt sie mich. Ist ja gut. Wenn hier heute ein Wettbewerb stattfindet, wer Friederike Engelbrecht am meisten verängstigt, wird das ein Kopf-an-Kopf-Rennen!

Rolf steht am Fenster und schaut hinaus in den verregneten Aprilnachmittag. Sein Rücken wirkt vorwurfsvoll. Ich liebäugele kurz mit dem Gedanken, einfach abzuhauen, doch da dreht Rolf sich um, und die Chance ist vertan.

Ich muss ihm sofort reinen Wein einschenken!

»Rolf, hör zu, ich hätte das …«

Doch Rolf unterbricht mich: »Klar, du hättest es mir zuerst unter vier Augen sagen sollen. Aber wenn Thilo schon so direkt fragt …«

Ich fasse es nicht. Rolf lächelt milde!

Ich wusste ja nicht, worauf er mit seiner Frage hinauswill – im ersten Moment dachte ich, er spricht von der Kampagne, will ich sagen.

Doch weiter als »Ich wusste ja …« komme ich nicht, denn Rolf fällt mir schon wieder ins Wort. Und nicht nur das: Er legt mir dabei sanft – sanft! – die Pranke auf meine Schulter.

»Verstehe. Du weißt es noch nicht so lange. Das passiert häufiger, als du vielleicht denkst. Lange Zeit ahnt man nichts, und plötzlich erfährt man, dass man die Hälfte schon hinter sich hat.«

Ich kapiere kein Wort. Wovon in aller Welt redet Rolf da? Ist er spontan zum Kummerkastenonkel mutiert – oder hat er einfach nur völlig den Verstand verloren?

»Lass mich raten«, plaudert er weiter, »sechzehnte Woche. Stimmt’s?«

»Ähm«, ist alles, was mir dazu einfällt. Doch mehr ist auch nicht nötig, denn Rolf deutet mein Gestammel als Zustimmung. Ich habe das Gefühl, mein Chef befindet sich gerade auf einem anderen Planeten. Vermutlich in einer Galaxie, in der gerade Weihnachten und Pfingsten auf ein Datum fallen, nach seiner feierlichen Miene zu urteilen.

»Du bist die Erste, die es erfährt«, verkündet er fast flüsternd. »Wir sitzen in einem Boot!«

Alles klar. Er ist übergeschnappt. Endgültig!

Jetzt greift Rolf in seine Anzugtasche und zieht seine Geldbörse hervor. Er öffnet sie und zeigt mir ein Foto. »Das ist Valentin«, seufzt Rolf verzückt. »Er kommt auch im Sommer.«

Da endlich fällt bei mir der Groschen. Das ist ein Ultraschallbild. Rolf wird Vater!

»Oh. Oooh!«, fällt mir dazu nur ein. »Glückwunsch! Das ist ja, ähm, großartig!«

Ich lüge wie gedruckt. Es ist nicht großartig, sondern ein Desaster. Jeder weiß, wie sich Rolf um seine Nachkommen aus erster und zweiter Ehe gekümmert hat. Nämlich kein bisschen! Jetzt, mit knapp fünfzig und einer jungen Drittgattin namens Charlene, entdeckt er plötzlich seine väterlichen Instinkte? Ausgerechnet jetzt, wo ich das Missverständnis aufklären will?

»So ein irrer Zufall«, jubelt Rolf, »nun kennen wir uns schon so lange, arbeiten seit Jahren zusammen, und plötzlich werden wir Eltern. Vielleicht liegen Charlene und du sogar gleichzeitig im Kreißsaal? Wahnsinn!«

Oh, ja. Wahnsinn trifft es ziemlich gut.

Allein der Gedanke daran, gemeinsam mit Rolfs brasilianischem Sambaweibchen, das er letztes Jahr nach einem Karnevalsevent quasi vom Fleck weg geheiratet hat, zu hecheln und zu pressen, verursacht bei mir einen akuten Schwächeanfall. Bevor ich umfalle, schiebt mir Rolf mit bewundernswertem Reflex seinen Schreibtischstuhl unter den Allerwertesten. Grinsend, mit einem Gesichtsausdruck, der sagt: »Eine meiner leichtesten Übungen – solche Rettungsaktionen bin ich gewohnt.«

Was er tatsächlich sagt, ist: »Warte, ich bringe dir ein Glas Wasser. Das tut gut.«

Ich nicke matt und trinke folgsam.

Dann fängt Rolf Segmüller an zu träumen: Er predigt das Hohelied der Liebe, beschwört die Vereinbarung von Beruf und Familie, spricht von Work-Life-Balance und Wertewandel. Ja, er umreißt sogar ein erstaunlich ausgefeiltes Konzept, wie ein Feronia-Betriebskindergarten aussehen könnte. Wie lange er darüber wohl schon nachdenkt? Ich schweige und ahne, dass das der Beginn einer wunderbaren Katastrophe ist …

»Ich fühle mich nicht gut«, stöhne ich. »Aber gleich geht’s wieder, garantiert.«

»Unsinn – du hast heute genug geleistet. Wie du die Urschrey-Leute unter Druck gesetzt hast! Die fressen dir echt aus der Hand!«

Meint er wirklich mich? Ich bin sprachlos.

»Du gehst jetzt mal schön nach Hause und legst dich hin. Die ersten Monate sind körperlich unglaublich anstrengend. Glaub mir, ich habe vollstes Verständnis für dich. Wir kriegen das hin!«

Wie in Trance verlasse ich das Chefbüro, schwebe zurück zu meinem Platz, fahre den PC herunter und schnappe meine Tasche.

»Hat er dich gefeuert?«, fragt Doreen, unverblümt wie immer.

»Nein, er hat mir nur den Rest des Nachmittags freigegeben.«

Doreen ist sichtlich pikiert, einmal nicht den Durchblick zu haben.

»Und du bist wirklich schwanger?«, bohrt sie nach und schielt dabei auffällig nach meinem Bauch.

»Sieh doch selbst«, antworte ich, bevor ich mich aus dem Staub mache, bevor ich noch größeres Unheil anrichte …

 

Auf dem Parkplatz will ich spontan nach einer Zigarette greifen. Doch dann geht mein Blick nach oben zu den Fenstern der fünften Etage und ich glaube, Rolfs Silhouette zu erkennen. Nachdem es ein gigantischer Kampf war, gegen seinen Willen einen Raucherraum in unserer Abteilung durchzusetzen, würde ihm der Anblick einer schwangeren Raucherin unweigerlich das Herz zerreißen. Mit anderen Worten: Ich wäre geliefert!

Also überstehe ich noch weitere drei Minuten, bis sich die Schranke des Feronia-Parkplatzes hinter meinem Wagen schließt und ich mich in den nachmittäglichen Stadtverkehr einfädele. Selten hatte ich eine Dosis Nikotin so nötig wie jetzt!

Als ich zwanzig Minuten und fünf Glimmstengel später in meine Einfahrt einbiege, ist die Sicht in meinem Wagen deutlich eingeschränkt. Verdammte Sucht. Vielleicht sollte ich wirklich aufhören? Kleiner Scherz …

 

Ein wildes Bellen dringt an mein Ohr, als ich die Haustür aufschließe. Barnabas, mein Papagei, nimmt seine Rolle als Wachhund sehr ernst. Sein Gekläffe klingt erstaunlicherweise täuschend echt.

»Na, du verrückter Vogel«, begrüße ich ihn wie üblich und kraule ihn sanft am Köpfchen. Dann werfe ich meine Tasche in die Ecke und verfluche mein Schicksal.

»Was bin ich doch für eine begriffsstutzige Gans!«

Barnabas bellt eine Antwort, die sicher nicht sehr schmeichelhaft wäre, hätte ich sie verstanden. Denn dass die Namen von Vogelkollegen als Schimpfwörter herhalten müssen, dürfte ihm wenig gefallen.

Dennoch folgt er mir dicht auf den Fersen ins Schlafzimmer und setzt sich oben auf den Rahmen des Standspiegels. Ich muss raus aus diesen unbequemen Klamotten! Doch zuerst betrachte ich mich von allen Seiten – noch kritischer als heute früh. Und entscheide zähneknirschend, dass Thilo absolut keine Schuld trifft. Ich sehe wirklich aus wie im vierten Monat! Aber ich hätte die Sache unbedingt richtigstellen sollen. Zumindest Rolf gegenüber.

»Wie konntest du nur so saublöd sein, eine Schwangerschaft zu erfinden?«, frage ich mein Spiegelbild vorwurfsvoll.

»Du bist gebenedeit«, antwortet eine heisere Stimme aus dem Nichts.

Was war das? Ein Einbrecher? Oder spukt es etwa in Urömchens Haus?

Ich wage kaum, mich zu bewegen. Was recht unbequem ist, weil ich gerade dabei bin, mit einem Fuß aus dem Hosenbein zu schlüpfen. Sind da irgendwo im Haus Schritte zu vernehmen?

Nichts. Nur Stille. Jetzt höre ich sogar schon Gespenster! Kein Wunder, nach diesem Tag …

»Ich glaube, ich werde noch verrückt«, murmele ich und schlüpfe endgültig aus der flaschengrünen Anzughose.

»Selig sind die Barmherzigen«, ertönt es postwendend. Diesmal klang es noch näher! Und so unheimlich: heiser, metallisch, unmenschlich.

»Verdammt, wer spricht da?«, rufe ich todesmutig in den leeren Raum hinein.

»Du sollst nicht fluchen, verflixt«, antwortet eine Stimme in meinem Spiegel. Nein, falsch: eine Stimme auf meinem Spiegel.

Erleichtert lache ich auf: Barnabas! Er hat seine Sprache wiedergefunden. »Mensch, hast du mir einen Schrecken eingejagt«, tadele ich ihn sanft. »War aber auch höchste Zeit, dass du zu reden anfängst. Immerhin bist du ein Papagei, kein Hund!« Woraufhin Barnie entrüstet kläfft …

 

Den Rest des Nachmittages verbringe ich in der Badewanne und auf dem Sofa, wobei eine Großpackung weiße Schokolade dran glauben muss. Gegen Abend entscheide ich, dass es sowieso nicht mehr drauf ankommt, und bestelle mir eine vegetarische Pizza mit allem plus Artischocken. Warum bei »allem« die Artischocken nicht schon dabei sind, wird wohl für immer Giovannis Geheimnis bleiben. Aber ganz gleich, wie sie heißt: Seine Pizza ist die beste weit und breit! Und Sie können mir glauben, dass ich viele probiert habe.

Er liefert mir eine große Flasche Lambrusco dazu, den ich nicht mag, weil er eigentlich zu süß ist, aber ich habe vergessen, Prosecco einzukaufen, und Enthaltsamkeit ist an einem Tag wie diesem keine Option. Nachdem ich die Pizza verputzt und zwei Gläser Wein intus habe, beschließe ich, mein Herz auszuschütten. Normalerweise hätte ich längst mit Carla geredet! Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als ihr eine E-Mail zu schreiben.

 

Wie soll ich nur anfangen? Mit Rolfs plötzlich erwachten Vatergefühlen? Mit der Eischeibe, die mir vom Brötchen mitten auf den Bauch gefallen ist? Oder mit Thilos Frage? Ich kann mich nicht entscheiden und beschließe daher kurzerhand, ganz einfach chronologisch vorzugehen – beginnend mit dem Brandloch in meinem figurschmeichelnden Hosenanzug heute früh.

Oder sollte ich sagen: gestern früh? Es ist schon nach Mitternacht, als die E-Mail an Carla endlich fertig ist und ich auf »Abschicken« klicke. Ich fühle mich erleichtert, zugleich auch unsäglich müde – und eindeutig nicht mehr ganz nüchtern. Zum Glück sind es nur ein paar Schritte ins Badezimmer und dann ins Bett.

 

Sofort beginne ich zu schweben. Ich fliege durchs Zimmer und dann zum Fenster hinaus in die dunkle, aber angenehm warme Frühlingsnacht. Wie kann das sein?

»Dein Bauch ist ein eingebauter Heißluftballon«, erklärt Barnabas, der neben mir herfliegt. Merkwürdigerweise spricht er mit Rolfs Stimme, die ziemlich tief, aber zugleich näselnd klingt. Doreen kommt mir auf einem fliegenden Teppich entgegen, die roten Haare wehen wild durch die Luft.

»Aber wenigstens bist du gebenedeit«, ruft sie mir fröhlich zu.

»Nein, nein, das kommt doch alles nur von der Pizza«, wehre ich verlegen ab, während ich immer höher in den Nachthimmel aufsteige.

»Giovanni ist also der Vater?«, fragt Barnabas mit Rolfs Stimme. Auf einer Wolke sitzt die heilige Johanna auf einem Thron aus Watte und verkündet: »Herzlichen Glückwunsch, Sie werden Mutter einer Tochter mit allem und Artischocken. Sie sollten Sie Calzone nennen!« Dann lösen sich die Wolke, der Thron, der Flug durch die Nacht und überhaupt der ganze Traum mit einem lauten Scheppern in nichts auf.

 

Ich schrecke in meinem Bett hoch. Was ist das für ein Radau? Erst nach der siebten Wiederholung wird mir klar, dass es mein Telefon ist. Wie konnte ich diesen nervigen Drrrrrinnnng-Ton jemals für angenehm nostalgisch halten? Andererseits – mitten in der Nacht ist wohl jeder Klingelton unangenehm. Wer wird schon gern aus den Träumen gejagt? Selbst wenn es Alpträume sind, in denen aufgeblähte Leiber zum Flugobjekt werden …

Müde strecke ich den Arm aus und ertaste das Telefon, das auf dem Nachttisch liegt.

»Hmm«, ist alles, was ich sagen kann.

»Ricky! Du verrückte Nudel! Sag, dass du dir das alles ausgedacht hast!«, sprudelt es an mein Ohr.

»Carla? Weißt du, wie spät es ist?«

»Sure, Darling: Es ist Viertel nach zehn am Vormittag. Genau der richtige Zeitpunkt, um eine Freundin anzurufen und ihr den Kopf zu waschen«, antwortet Carla.

Ich unterdrücke ein Gähnen. »Also Viertel nach eins in der Nacht bei uns. Ist etwas passiert, oder macht es dir einfach Spaß, mich aufzuwecken?«

»Das müsstest du wohl selbst am besten wissen, mein lieber Scheinschwangerschatz!«

Oh. Ja, stimmt. Jetzt fällt mir alles wieder ein: der Brandfleck. Der unvorteilhafte Hosenanzug. Das Meeting. Thilos Frage. Meine unüberlegte Antwort. Rolfs Begeisterung. Mein feiger Abgang …

»Was hätte ich denn tun sollen?«, verteidige ich mich.

»Na was wohl: die Wahrheit sagen. Was sonst?«

»Ja, hätte ich vielleicht. Aber nun ist es zu spät. Wie komme ich aus dieser Nummer wieder raus?«

»Oh, armes Hascherl«, lacht Carla mich aus, »dann erfindest du eben eine Fehlgeburt. Kommt ja in den ersten Schwangerschaftswochen sehr häufig vor.«

»Ich fürchte, meine Scheinschwangerschaft ist schon weiter fortgeschritten.«

»Wie weit?«

»Sechzehnte Woche – glaubt Rolf. Mein Wissensstand stammt noch aus der Zeit, in der man mit neun Monaten gerechnet hat.«

»Aber Rolf hat doch auch keine Ahnung in diesen Dingen.«

»Hast du ’ne Ahnung! Er ist voll zum Fachmann mutiert. Bei dem, was er übers Kinderkriegen weiß, könnte er glatt eine Mütterberatung aufmachen. Du würdest ihn nicht wiedererkennen!«

»Dann bleibt dir nichts anderes übrig, als zu behaupten, du hättest das Ganze erfunden, weil dein Kinderwunsch so übermächtig geworden ist, dass er den Verstand ausgeschaltet hat.«

»Und du meinst, das nimmt er mir ab? Ich und Kinderwunsch …«

»Lasset die Kindlein zu mir kommen«, krächzt Barnabas von der Gardinenstange aus dazwischen und erschreckt mich damit fast zu Tode.

»Hast du Herrenbesuch?«, fragt Carla neugierig.

»Ja, zwei Herren sind da: Barnie und dein Gorbatschow …«

»Oh, mein Gorbie! Du musst ihn knuddeln und ihm ausrichten, dass ich ihn ganz doll vermisse.«

»Wenn’s sein muss …« Gorbatschow pflegt mich zu kratzen, wenn ich ihm zu nahe komme. Es sei denn, ich öffne eine Futterdose. Dann werde ich als Dienerin voll akzeptiert.

»Hat er Barnabas noch nicht aufgefressen?«, will Carla wissen.

Eher ist es ja der ängstliche Gorbatschow, der vor dem grantigen Papagei flüchtet, nicht umgekehrt. Soll ich also jetzt ihr Weltbild zerstören? Ich tue es nicht.

»Bisher konnte sich Barnie immer noch rechtzeitig vor ihm retten. Und zum Glück kann Gorbatschow nicht fliegen …«, behaupte ich.

Das war die erste Lüge des heutigen, noch jungen Tages. Der damit genauso anfängt, wie der alte aufgehört hat: jenseits der Wahrheit.

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Kapitel 4

Jetzt oder nie

Ich erwache davon, dass The Mamas and the Papas behaupten, alle Blätter seien braun und der Himmel grau. Wie in aller Welt wollen sie das erkennen, mitten in der Nacht? »Das müssen Halluzinationen im Drogenrausch sein«, murmele ich und hebe ächzend den Kopf, um einen Blick auf die digitale Uhr des Radioweckers zu werfen. Es ist halb sieben. Fühlt sich aber an wie halb vier. Maximal.

»Viel zu früh«, stöhne ich und lasse mich zurück in die Kissen plumpsen.

»Wir wissen nicht Tag noch Stunde«, kreischt es direkt neben meinem linken Ohr. Vor Schreck fahre ich hoch und sitze aufrecht im Bett, mit klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Augen.

»Guten Morgen, liebe Sorgen«, schnarrt die metallische Stimme weiter, und erst jetzt entdecke ich den Redner: Barnabas thront auf meinem Bücherregal und ist offensichtlich hellwach.

Ich jetzt natürlich auch – denn so ein mittelschwerer Adrenalinausstoß lässt der morgendlichen Schläfrigkeit keine Chance.

»Du bringst mich noch ins Grab«, werfe ich dem verdutzten Papagei vor, der daraufhin beleidigt schweigt. Als er nur bellte, war er weniger anstrengend. Habe ich tatsächlich ernsthaft gehofft, dass er seine Sprache wiederfindet? Man sollte sich seine Wünsche wirklich gut überlegen. Sie könnten in Erfüllung gehen …

The Mamas and the Papas verkünden, der Priester liebe die Kälte und noch so einiges mehr, wovon man so an einem trüben Wintermorgen in Kalifornien träumt, wenn man weder von einem verrückten Papagei noch von einem scheppernden Radiowecker aufgeweckt wird. Wetten, dass ich den Song für den Rest des Tages nicht mehr aus dem Kopf kriege?

Und dann ist da ja noch diese andere Sache. Oder war etwa alles nur ein verrückter Traum? Ich fahre den Computer hoch und lese während des Frühstücks noch einmal meine E-Mail an Carla. Und die ist über jeden Zweifel erhaben. Da ich selbst nach übermäßigem Alkoholgenuss nicht zu derartig absurden Phantasieanfällen neige und mir darüber hinaus Carlas nächtlicher Anruf noch sehr deutlich in Erinnerung ist, muss es wohl leider wahr sein:

Ich bin scheinschwanger!

 

»Weiß gar nicht, was schlimmer wäre – wirklich in anderen Umständen zu sein oder wegen dieser Lüge gefeuert zu werden und ab morgen umständehalber arbeitslos zu sein«, frage ich mich laut und ziehe nachdenklich an meiner Morgenzigarette.

»Du bist gebenedeit«, kommentiert Barnabas meine Frage. Er ist mir in den Garten gefolgt und hebt gerade wieder sein Bein, um gegen den Kirschbaum zu pieseln. Wahrscheinlich hält er sich jetzt für einen sprechenden Hund.

»Du wiederholst dich, mein Freund«, sage ich, »und unrecht hast du außerdem. Ich bin nur fett.«

Tja, das hätte ich mal lieber gestern zu Thilo sagen sollen! Dann hätte ich jetzt eine große Sorge weniger …

»Sieben fette Jahre, sieben magere Jahre, jawoll«, ist alles, was Barnabas dazu einfällt. Was mich an die Fütterung meiner beiden Raubtiere erinnert. Gorbatschows Schale fülle ich mit seinem Lieblingsfutter, das ich ihm jedoch, anders als in der Fernsehwerbung, ohne Petersiliengarnierung und Eskimoküsschen serviere, Barnabas bekommt seine Körner und frisches Wasser. Während ich die Tiere füttere, wird mir klar: Carla hat absolut recht. Ich muss das Missverständnis aufklären, je eher, desto besser. Aber Carla hat auch gut reden: Sie sitzt am anderen Ende der Welt, genießt ihr Sabbatical und hat wahrscheinlich keine schwierigere Entscheidung zu treffen als die zwischen Surfen und Golfen. Die Glückliche!

 

Um Viertel nach acht stecke ich im täglichen Innenstadtstau und nähere mich dem Feronia-Hochhaus und damit dem Unausweichlichen: dem Moment, in dem ich Rolf reinen Wein einschenken muss. Wie in aller Welt soll ich das bloß anstellen?

»Rolf, es tut mir leid«, probiere ich laut, wie ich meine Beichte eröffnen werde, aber dann gerate ich sofort ins Stocken – genau wie der Verkehr. Schon wieder stehe ich an einer roten Ampel. Ausnahmsweise bin ich heute nicht sauer darüber, sondern genieße den gnädigen Aufschub, den mir die rote Welle verschafft.

Zurück zu meiner Rede: Der Anfang war gar nicht mal so schlecht, oder?

»Rolf, es tut mir leid«, wiederhole ich in Ermangelung einer besseren Idee. Das spricht sich jedenfalls gut. Sehr rhythmisch. Auf die Ohrwurm-des-Tages-Melodie von California Dreaming beginne ich zu summen: »Rolf, es tut mir leid, was ist nur geschehn, hast dich zu früh gefreut, doch ich steh nicht auf Weh’n …«

Du liebe Zeit. Rolf würde mich nicht nur feuern, sondern auch in eine Nervenheilanstalt einliefern lassen, wenn ich ihm das vorsänge!

Grün. Ich fahre weiter, obwohl ich am liebsten wenden würde. Vielleicht könnte ich im Büro anrufen und behaupten, meine Morgenübelkeit sei schlimmer denn je? Oder Urlaub nehmen und Carla in Sydney besuchen. Oder einfach auswandern … Irgendwohin. Am besten nach Kalifornien, wo nur in diesem einen Lied der Himmel grau ist – in allen anderen scheint permanent die Sonne, und es regnet nie. Klingt das nicht verlockend?

Aber fürs Auswandern fehlt mir der Mut. Und Carla wäre imstande, mir die australische Tür vor der Nase zuzuschlagen, wenn sie erführe, dass ich gekniffen habe. Denn was sie von mir erwartet, hat sie mir heute Nacht unmissverständlich mitgeteilt: »Die Wahrheit sagen. Was sonst?«