Walter Kempowski - Dirk Hempel - E-Book

Walter Kempowski E-Book

Dirk Hempel

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Beschreibung

Die einzige Biographie des großen deutschen Chronisten Walter Kempowski - der Longseller jetzt aktualisiert

Der Lebensweg Walter Kempowskis ist exemplarisch für die wechselvolle Geschichte des deutschen Bürgertums im 20. Jahrhundert. Dirk Hempel, langjähriger Mitarbeiter Kempowskis, stellt in diesem Buch Leben und Werk des großen Erzählers und deutschen Chronisten dar: Kindheit und Jugend in Rostock, die Inhaftierung in Bautzen, die gleichzeitige Existenz als Dorfschullehrer und Erfolgsautor. Seine schnörkellose Biographie bietet einen einzigartigen Einblick in das Leben dieses herausragenden Schriftstellers und Zeitzeugen.

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Seitenzahl: 387

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Dirk Hempel

WalterKempowski

Eine bürgerliche Biographie

Pantheon

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Copyright © dieser aktualisierten undergänzten Ausgabe 2022 by Pantheon Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München© der Originalausgabe 2004 by btb Verlag, MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,nach einem Entwurf von Design TeamUmschlagfoto: Frauke Reinke-WöhlSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-29361-1V001www.pantheon-verlag.de

Inhalt

1. Einzelhaft

2. Herkunft

3. Einflüsse

4. Verweigerung

5. Bautzen

6. Neubeginn

7. Aufstieg

8. Schriftsteller

9. Erweiterungen

10. Erfüllung

11. Schluß

Literaturauswahl

Danksagung

Archive

Quellennachweis

Bildnachweis

Register

1. Einzelhaft

Die Einzelhaft, das war der Tiefpunkt.1

Schwerin, Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes MWD, Zelle 54. Am 20. März 1948 versucht der achtzehnjährige Untersuchungshäftling Walter Kempowski, sich das Leben zu nehmen. Tiefpunkt einer verpfuschten Existenz: langhaariger Swingboy, der Schule verwiesen, Lehre abgebrochen, Schwarzhändler, Hilfsarbeiter beim Amerikaner in Wiesbaden. Wenige Tage zuvor ist er in Rostock festgenommen worden, als er seine Mutter besuchte. Er hatte Frachtpapiere bei sich, aus denen hervorgeht, daß die Sowjets ihre Zone systematisch ausplündern.

In Schwerin wird er verhört, stunden-, tagelang. Der Bruder ist bereits als »Mittäter« verhaftet. Jetzt geht es um seine Mutter. Man schlägt ihn, man stellt ihn in den Wasserkarzer, drei Tage muß er aushalten, unbekleidet, wird vom russischen Wärter immer wieder mit kaltem Wasser übergossen. Dann sagt er irgendwann »ja« – ja, seine Mutter habe von seinem Vorhaben gewußt.

Diese Schuld ist es, die er nicht aushält. Er hat die Familie zerstört und jetzt auch noch seine Mutter den Russen preisgegeben, die Folgen kann er sich ausmalen.

An diesem Vormittag – draußen fällt Schnee – bindet er sich ein Taschentuch um den Hals. Noch für einen Moment überlegt er, wie er es am besten anstellt, dann steckt er seinen Löffel in das Tuch und dreht ihn um, immer fester. Im letzten Augenblick den Löffel ins Hemd stecken und so ansetzen, daß die Strangulierung nicht nachläßt, das funktioniert nicht auf Anhieb. Er verliert zwar das Bewußtsein, wacht aber nach kurzer Zeit auf dem Terrazzofußboden wieder auf. Er wiederholt den Versuch sofort, er mißlingt erneut.

Nun gibt er auf und gleitet in den folgenden Tagen ab in Traumwelten. Goethe-Gedichte kommen ihm in den Sinn und Morgenstern, Zarah-Leander-Schlager summt er vor sich hin. Er löst Rechenaufgaben und memoriert sein Schulwissen: »Drei-drei-drei, bei Issos Keilerei.« Er denkt an den Freiherrn von der Trenck, den Friedrich der Große in den Kerker werfen ließ. Als Kind hatte er das Bild des Gefesselten ins Zigarettenalbum geklebt, im warmen Wohnzimmer beim Schein einer Lampe. Und er erfindet Geschichten, sieht sich in einem Kloster – die selbstbestimmte heilige Version des Gefängnisses: »Klosterquinten. Der Brunnen im Hof des Kreuzganges. Mit dem Klosterbruder auf und ab, Gebete murmeln. Jahrelange Exerzitien. Ein Opferleben führen, stellvertretend leiden. Im kostbar geschnitzten Gestühl: knien!«2

Ablenkung ist das, Betäubung, auch Vergewisserung des Gepäcks, das er mitgenommen hat. Für wie lange wird es reichen? Er plant ein »Handbuch der Witzkunde«, mit einer speziellen Interpunktion, die das pointierte Vorlesen auch für Humorlose erleichtern soll, beginnt, eine plattdeutsche Grammatik zu entwerfen, und denkt an die zukünftige Promotionsfeier im Barocksaal der Rostocker Universität. Flucht in die Zukunft könnte man das nennen, Perspektiven ersinnen, Hoffnungen projizieren. Mecklenburg, Rostock, die Heimat – und die Familie…

Wie von selbst taucht er ab in die Erinnerung. »Ich habe auf meiner Pritsche gelegen, mir Augen und Ohren zugeklemmt und mir zum Beispiel vorgestellt: Was hast du am 1. April 1938 gemacht? Es ist natürlich ausgeschlossen, das völlig zu rekonstruieren, aber man kann einkreisen, sich Gebiete erschließen, an die man zuvor nicht dachte, wie lebten damals die Eltern, welche Freunde hatte man usw. Oder die Wohnungseinrichtung bis auf den Tapeziernagel genau.«3

Schwerin, Gefängnis am Demmlerplatz, Zelle 54

Rekonstruktion der Vergangenheit als Überlebensstrategie. Szenen seiner Autobiographie sieht er sich an wie einen Farbfilm. Er erzählt sie sich in drei Sprachen, Deutsch, Plattdeutsch und Englisch: »My father was a shipsowner and my mother was always friendly…« Er lässt die Familie wieder auferstehen. Da ist es, das große Thema, das ihn sein Leben lang beschäftigen wird. Hier, in der Schweriner Einzelzelle des MWD, am tiefsten Punkt seines Lebens, das einmal in behüteter Bürgerlichkeit begann, nimmt das große Erinnerungswerk, die Geschichte der Kempowskis, die auch eine Geschichte des deutschen Bürgertums ist, seinen Anfang.

2. Herkunft

Zu bedenken, daß sich »das Polnische«mit »dem Französischen« in mir kreuzte.4

Die Wurzeln der Kempowskis verlieren sich in der Weite des Ostens. Wahrscheinlich kamen sie aus Polen. »Kępa« bedeutet Büschel, Baumgruppe oder bewaldete Insel, ein häufiger Siedlungsname. Die Nachsilbe »-owski« bezeichnet die Zugehörigkeit zu einem Platz. »Kępowski« wäre dann vielleicht der Bewohner einer bewaldeten Flußinsel. Das polnische »ę«, nasal ausgesprochen, wurde unter deutschem Einfluß zu »am«, Kampowski, oder zu »em«, Kempowski.5 Oder aber ein Vorfahr wurde, wie in der Familie überliefert, für besondere Tapferkeit mit der Adelsendung -ski ausgezeichnet.6 Damit gehörte er zum polnischen Landadel, der Szlachta. Die polnische Herkunft war jedenfalls in der Familie sprichwörtlich, vor allem, wenn es darum ging, Verfehlungen, Ungenauigkeiten zu erklären.

Die Geschichte der Rostocker Kempowskis ist ein ständiger Wechsel von Aufstieg und Niedergang, sie ist auch eine Geschichte von der Entstehung des Bürgertums aus eigener Kraft. Der erste nachgewiesene Vorfahr ist der Schneider Kempowski, der um 1768 in Rehberg auf der Elbinger Höhe geboren wurde.7 Rehberg war Rittergut und gehörte zur Herrschaft Cadinen. Das dortige Schloß kaufte Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1898, ließ es zu einer Sommerresidenz ausbauen und eine Majolikamanufaktur gründen.

Am 1. Juni 1801 wurde der Schneider Kempowski zum Lehrer ernannt, ein in der damaligen Zeit nicht ungewöhnlicher Vorgang. Denn bis weit ins 19. Jahrhundert waren es auf dem Land oft Handwerker, selbst kaum des Lesens und Schreibens kundig, die den Kindern elementare Kenntnisse vermittelten. Kempowski erhielt von seiner Herrschaft ein jährliches Gehalt von 42 Talern, außerdem für jedes Schulkind wöchentlich einen Groschen – ein äußerst niedriges Einkommen. Ein Schulmeister in der Stadt verdiente damals etwa 200, ein hoher Beamter etwa 700 Taler. Die dem Lehrer zugebilligten Naturalien – fünf Scheffel Roggen, ein Scheffel Gerste, ein Scheffel Erbsen sowie freie Wohnung und Feuerholz – mögen die Kontinuität seiner materiellen Existenz gewährleistet haben.

Warum er nicht in Rehberg blieb und 1812 Lehrer im nahen Succase wurde, das auf dem Sumpfland zwischen Haff und Höhe lag und zur Elbinger Ratsherrschaft gehörte, ist ungewiß. Vielleicht war der Alkohol schuld, dem er immer wieder übermäßig zugesprochen haben soll, ein Laster, das auf der Elbinger Höhe weit verbreitet gewesen zu sein scheint. Der Krug in Succase jedenfalls schenkte im Jahr 1772 an die 6000 Liter Bier aus, bei 28 erwachsenen Einwohnern mehr als 200 Liter pro Kopf und Jahr, dazu rund 170 Liter Branntwein.8 Die Zahlen erhöhen, ja verdoppeln sich pro Kopf, wenn man annimmt, daß die Frauen eher nicht den Krug aufsuchten. Aber schon den Kindern verabreichte man Schnaps, wenn sie zu Weihnachten von Tür zu Tür zogen und Weihnachtslieder sangen.9 Und bei Festen, so heißt es, wurde auf den Dörfern »gefressen und gesoffen und aus einem Hause in das andre geschwärmt«.10

Der Lehrer Kempowski lebte unter einem ungesitteten und ungebildeten Menschenschlag, klein und gedrungen, oft schwarzhaarig – ein Erbteil der heidnischen Pruzzen? »Feine Sitten wird man nicht gewahr, wohl aber Ausbrüche von Roheit«, urteilte ein zeitgenössischer Beobachter.11 Aberglaube herrschte in dem entlegenen Landstrich. Faulheit, Liederlichkeit, Schlägereien, Unzucht, wilde Ehen waren an der Tagesordnung. Mit Halseisen und Stockstrafe ging der Elbinger Rat dagegen vor.

Vorlaubenhaus auf der Elbinger Höhe

Die Schule war erst 1804 gegründet worden. Der Lehrer Kempowski, der unter der Aufsicht des Pastors stand, unterrichtete die Kinder in seinem Vorlaubenhaus, im Sommer 15 Stunden pro Woche, im Winter 30. Er bekam nur noch 18 Taler Gehalt, kaum mehr als ein Knecht verdiente. Die Verschlechterung spricht für einen unrühmlichen Abgang von seiner ersten Stelle.

Succase wurde in diesen Jahren von den großen Welthändeln berührt. Im Januar 1807 lagerten die Truppen des französischen Marschalls Bernadotte hier, sicher auch im Haus des Lehrers. Von der Höhe aus konnte man die preußischen und französischen Kähne beobachten, die sich auf dem Haff Gefechte lieferten, und im Mai 1807 drang die Kunde auf die Dörfer, daß der Usurpator selbst in der Festung Elbing eingetroffen war. Kempowski muß auch die Soldaten der Grande Armée gesehen haben, die dann im Sommer 1812 nach Rußland zogen, und ihre jämmerlichen Reste, die im Winter als Flüchtlinge zurückkehrten. Murat, der König von Neapel, war unter ihnen. Dutzende von Verwundeten, die mit Schlitten über das gefrorene Haff gebracht werden sollten, versanken hier im Eis.12 Die Franzosen brachten Seuchen mit, Typhus und Ruhr. Ihnen folgten die russischen Truppen auf dem Fuß.

Mit dem Lehrer Kempowski nahm es kein rühmliches Ende. Der tapfere Schneider, der den westpreußischen Kindern jahrelang das Lesen und Schreiben beigebracht hatte, wurde ein Opfer der Humboldtschen Bildungsreformen, die in Preußen nach 1812 die Lehrerausbildung professionalisierten und gesetzlich regelten. Kempowski mußte sich nun einer Prüfung unterziehen, die er nicht bestand. Succase blieb bis 1829 ohne Lehrer.

Sein Sohn Friedrich (Wilhelm) Kempowski (?–1881) lebte als »Eigengärtner« in Succase. Er besaß ein Haus und ein kleines Stück Gartenland, bevor er sich 1824 einen Haffkahn anschaffte und »Schiffer« wurde. Er transportierte Obst, vor allem Kirschen und Pflaumen, auf die Frische Nehrung, nach Elbing und Königsberg. Die Elbinger Höhe galt als eines der vorzüglichsten Obstanbaugebiete Preußens. In späteren Jahren lebte er als »Schiffseigner« mehrerer Lastkähne in Elbing, in einem der typischen Kaufmannshäuser der ehemaligen Hansestadt. Er war dreimal verheiratet. Einer seiner Söhne lernte das Handwerk des Zigarrenmachers bei der Firma Loeser & Wolff, die in Elbing die größte Zigarrenfabrik des Kontinents errichtet hatte, bevor er nach Amerika auswanderte. Der zu Succase Erstgeborene aber, Friedrich Wilhelm (1824–1904), ging nach Königsberg, in die Provinzialhauptstadt. Er war nun schon »Rheeder« und besaß bald sechs Segelschiffe.

Ein kleines Familienimperium entstand hier am Pregel. Die Schiffe befuhren das Haff und die Ostsee mit Obst und Gemüse, und Nachkommen aus der dritten Ehe von Friedrich Kempowski betrieben vor Ort einen Obst- und Kartoffelgroßhandel, der nach 1945 in Lübeck fortgesetzt wurde.

Es ging aufwärts. Friedrich Wilhelm und seine Frau Auguste Wilhelmine geborene Benson (1825–1912) führten nun schon ein bürgerliches Leben. In ihrer geräumigen Wohnung mit Blick auf den alten Hafen sollen Porzellan und Kristall die Schränke gefüllt haben. In einer Truhe wurden angeblich Säcke mit Talern aufbewahrt. Auguste Wilhelmine, eine stattliche Blondine, trug reichen Goldschmuck und ließ sich von Kindern und Enkeln die Hand küssen.13 Sie brachte mit dem »Güldnen Schatzkästlein« den ersten Zettelkasten in die Familie Kempowski ein, ein frommes Orakel biblischer Sprüche aus dem Jahr 1726.14

Auguste Wilhelmine und Friedrich Wilhelm Kempowski am Tag ihrer Goldenen Hochzeit 1899

Doch dann gingen alle sechs Segelschiffe unter, in einem Jahr, und Friedrich Wilhelm Kempowski verlor sein Vermögen. Sein viertes Kind, Robert William Oskar Alfred (1865–1939), lebte da schon in Rostock. Er hatte als Befrachter in der Schiffsmaklerei Otto Wiggers15 begonnen, eine derbe Natur mit westpreußischem Vierkantschädel, der fluchte und Plattdeutsch sprach, allerdings auch Dänisch und Englisch beherrschte. Er vermittelte Kohle aus England und Schottland, norwegisches Süßwasserblockeis, Kalksteine aus Dänemark, exportierte Kartoffeln und Mauersteine nach Schweden und Finnland. Er erwies sich bald als rührig und tüchtig.16 So konnte er nicht nur die Einnahmen der Firma erheblich steigern, sondern auch seine eigenen Einkünfte, wovon er ein recht flottes Leben führte. Aber er unterstützte auch seine Eltern in Königsberg durch regelmäßige Zahlungen.

Rostock war Ein- und Ausfuhrhafen Mecklenburgs, die Stadt eine Mischung aus Wissenschaft und Wirtschaft. Die Universität existierte seit 1419, eine der ältesten Deutschlands. Der Humanist Ulrich von Hutten hatte hier bettelarm und syphiliskrank Vorträge gehalten und der Astronom Tycho Brahe im Duell einen Teil seiner Nase eingebüßt. Fritz Reuter gab sich Anfang der dreißiger Jahren dem studentischen Treiben hin, und Heinrich Schliemann wurde 1869 promoviert.

Der Schiffsmaklerei Wiggers gegenüber wohnte der Chemiker Dr. Carl Grosschopf,17 ein ehrbarer Bürger, der lockere Steine im Trottoir notierte und sich als Ratsherr besonders um das Stadttheater kümmerte. Er war durch Erfindungen zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen. Seine Nichte, Anna Caroline Lisette Wilhelmine Siebert (1871–1927), begann mit dem jungen Schiffsmakler zu poussieren und forderte ihn bald auf, ihr einen Antrag zu machen.

Die Hochzeit fand am 5. April 1892 statt. Die Mitgift betrug 50 000 Goldmark, eine ungeheure Summe, durch die Dr. Grosschopf das Wohlleben im Hause Kempowski ermöglichte. Er unterstützte auch den Kauf der Firma Otto Wiggers durch Robert William und einen Teilhaber.

Die Kempowskis zählten nun zu den ersten Familien der Stadt, bewohnten eine Villa in der Stephanstraße 8 in der Steintorvorstadt. Das Geschäft, nun auch Reederei, florierte. Im Weltkrieg nahm es durch den Import von schwedischem Erz einen bedeutenden Aufschwung. Robert William, seit 1915 alleiniger Besitzer, galt zeitweise als einer der reichsten Männer Rostocks. Er verlegte das Kontor in die Strandstraße, in eine ehemalige Gastwirtschaft neben dem Mönchentor, und kaufte drei weitere Häuser.

»Güldnes Schatzkästlein« (1726) der Auguste Wilhelmine Kempowski

Anna führte – mit bis zu elf Bediensteten – ein großes Haus, das bald zu einem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Stadt wurde. Zum Jour fixe erschienen Professoren, Studenten, Schauspieler, Künstler, Kaufleute. Man spielte auf zwei Flügeln. Gegessen und getrunken wurde, was Küche und Keller hergaben, und das war nicht wenig. Robert William, unter den Folgen einer Syphilis leidend, saß unterdessen mit einer Flasche Rotwein im Lehnstuhl am Ofen und sah dem Treiben zu. Nur einmal schritt er ein, als nämlich ein Medizinstudent bei Tisch ausgiebig von eitrigen Geschwüren erzählte.

Anna Kempowski war eine exaltierte, moderne Frau, Mitglied in der »Deutschen Gesellschaft von Freunden der Photographie«. Sie schrieb Aufsätze für Fotografie- und Frauenzeitschriften. Das Geld, das ihr Mann verdiente, warf sie zum Fenster hinaus. Als »Theatermutter« unterhielt sie eine Proszeniumsloge im Stadttheater, dem sie immer wieder größere Geldbeträge spendete, den Schauspielern schickte sie Blumen und gebratene Gänse auf die Bühne. Robert William war ebenso freigebig wie seine Frau, unterstützte Bedürftige, ohne je das Geld zurückzufordern.

Die Inflation von 1923 brachte die Firma in einige Bedrängnis. Immerhin konnten während des folgenden Aufschwungs zwei Schiffe angeschafft werden, die Frachtdampfer »Clara Hintz«, 1930 in der Weltwirtschaftskrise zum Schrottpreis verkauft, und »Consul Hintz«, bei Beginn des Zweiten Weltkriegs vor Wilhelmshaven gesunken und durch den Dampfer »Friedrich« ersetzt.

Anna starb 1927 während eine Kuraufenthalts in Bad Oeynhausen. Robert William verbrachte seine letzten Jahre einsam in seiner Villa, von einem faulen Dienstmädchen mehr schlecht als recht gepflegt. Nach seinem Tod 1939 fand man Berge von ungeöffneten Rechnungen. Hypotheken mußten aufgenommen werden, und die Villa wurde vermietet. Von dem Erbe des Carl Grosschopf war nicht viel geblieben.

Robert William und Anna Kempowski hatten zwei Kinder, Elisabeth (1893–1973), genannt Lising, und Karl Georg (1898–1945). Daß er »nur ein Versehen« war, wie seine Mutter ihm immer wieder gern erklärte, bestimmte seine Entwicklung nachhaltig. Er hatte Schwierigkeiten in der Schule und meldete sich im Weltkrieg freiwillig zu den Waffen. Er brachte es bis zum Leutnant im Infanterie-Regiment Königin Viktoria von Schweden und erhielt das Eiserne Kreuz erster Klasse.18

Anna, Karl Georg, Robert William und Elisabeth Kempowski, 5. April 1917

Im Sommer 1913 lernte er in der Sommerfrische in Graal-Müritz an der Ostsee Anna Margarethe Collasius (1896–1969) kennen, auf der Landungsbrücke bei Sonnenuntergang. Margarethe war 17 Jahre alt, Karl Georg 15. Sie besuchten eine Lesung des Dichters Cäsar Flaischlen, und im Strandkorb brachte er ihr das Rauchen bei. Ende Dezember 1913 wurde sie auf die Hochzeit von Elisabeth Kempowski nach Rostock eingeladen, wo sie sich jedoch in den Reederssohn August Cords verliebte. Während des Krieges schickte sie Karl Georg Strümpfe und Bonbons in Feld, August Cords aber Liebesbriefe. Erst als der ihren Antrag ablehnte, weil er sich eine Existenz aufbauen müsse, wendete sich Karl Georg das Glück wieder zu. Im April 1917 verlobten sie sich unter einer Laterne an der Alster. Zu der Zeit leitete die höhere Tochter, am Fröbel-Seminar ausgebildet, einen Kindergarten in einem Arbeiterviertel. August Cords hat sich und seine Angehörigen 1945 beim Einmarsch der Russen auf seinem Gut in Mecklenburg erschossen.

Als sie die Verlobung bekanntgaben, fiel ihre Mutter vor Schreck beinahe in die Waschtonne, und Robert William Kempowski soll gesagt haben: »Dat watt ja doch nix.« Die Hochzeit fand drei Jahre später in Rostock statt, im Hotel Fürst Blücher. Anna Kempowski wünschte ihrer Schwiegertochter, daß sie recht unglücklich würde in ihrer Ehe, daß ihr Mann jeden Tag betrunken nach Hause käme… Dann reiste das junge Ehepaar nach Lübeck, wo Karl Georg als Volontär in einer Schiffsmaklerei angestellt war.

Margarethe kam aus einer gänzlich anderen Welt als Karl Georg. Sie stammte aus einer wohlhabenden, vornehmen Hamburger Kaufmannsfamilie, anständig, christlich, altdeutsch-bieder. Ihre Vorfahren waren angesehene Bürger der Stadtrepublik gewesen, Ratsherren wie Caspar Moller (gest. 1610), dessen Epitaph sich noch heute in der Katharinenkirche findet, Gelehrte wie der Professor am Akademischen Gymnasium Johann Heinrich Vincent Nölting (1736–1806), dazu Pastoren an der Michaeliskirche, Ärzte, Kaufleute. Eine gern erzählte Legende führt die Ursprünge der Familie Collasius zwar ins 16. Jahrhundert zurück, nach Frankreich zur Zeit Heinrichs IV., dem ein Knappe namens Nicolas das Leben rettete und deshalb geadelt wurde als de Collas. Nach der Bartholomäusnacht sollen diese hugenottischen Vorfahren nach Deutschland geflohen sein. Tatsächlich stammen sie aber wohl aus Brandenburg, wo Emanuel Kohlhase/Collasius (1607–1666) in der Grafschaft Ruppin Pastor war. Aus zwei Ehen hatte er neun Kinder, die er ins Kirchenbuch zuerst als Kohlhase und zuletzt – einer Mode der Zeit folgend latinisiert – als Collasius eintrug. Er hinterließ Auf-Zeichnungen über die Not des Dreißigjährigen Krieges, die Theodor Fontane in den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« wiedergibt: »Dies 1638ste Jahr ist wohl ein recht elend und trübselig Jahr gewesen, wie dergleichen wohl kein trübseligeres in unserem geliebten Vaterlande erlebt worden ist… Zumal auch wegen der Pest, darannen die Dörfer bald ausgestorben sind… So hat mein Antesessor zu Gottberg, Herr Joachimus Becker, in eben diesem Jahr an der Pest erliegen müssen. Meine Pfarrkinder zu Protzen sind meist weggestorben und nur acht Personen übriggeblieben…«19

Familie Collasius am Strand von Graal-Müritz, Sommer 1913: links Martha, im Strandkorb rechts Margarethe, im Liegestuhl August Wilhelm Collasius

Seine Nachkommen waren über Generationen ebenfalls Pastoren, in der Mark, in Mecklenburg und in Vorpommern. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die Kaufleute zu überwiegen. Friedrich Wilhelm Adolph Collasius (1833–1910),20 der Großvater von Margarethe, gründete 1875 in Hamburg eine Tuchhandlung. Er war bald als solider und ehrbarer Kaufmann weit geachtet, spekulierte nie, verbot in seinem Geschäft die Annahme von Wechseln und billigte sich selbst nicht mehr als zehn Prozent Gewinn zu. Der aber reichte aus, um eine Villa in Hamburg-Eilbek zu kaufen, wo er einmal in der Woche seine drei Söhne mit ihren Frauen um sich versammelte, Börsenfragen besprach und aus den Romanen Fritz Reuters vorlas. Er war ein ernster, tiefreligiöser Mann von alttestamentarischer Frömmigkeit, Mitglied im Kirchenvorstand der Stiftskirche zu St. Georg21 und kümmerte sich um Bedürftige, ein typischer Patriarch der wilhelminischen Ära.

August Wilhelm Collasius (1863–1947),22 sein ältester Sohn und Vater von Margarethe, führte die Firma an die Spitze der Hamburger Textilexport-Agenturen. Er wird geschildert als ebenso frommer Christ wie sein Vater, als vornehmer, großmütiger Charakter, der die bildende Kunst liebte und die Romane Gustav Freytags. Seine Frau Martha Adelheid Hälssen (1869–1939),23 die Tochter eines Amtsphysikus im hamburgischen Amt Ritzebüttel an der Elbmündung, hatte als Mädchen einmal Johannes Brahms auf dem Klavier vorgespielt. Ihre Tochter Margarethe wuchs mit drei Geschwistern in einer Villa im damals noch preußischen Wandsbek auf, vor den Toren der Stadt. August Wilhelm Collasius verdiente gut, aber er war ein äußerst strenger Vater, der auf Sparsamkeit hielt, die Kinder durften ihr Brötchen nur mit Butter oder Honig essen. Margarethe beschrieb ihre Kindheit als behütet, aber entsagungsvoll. 1918 erlitt ihre Mutter einen Schlaganfall, verlor die Sprache und war halbseitig gelähmt. August Wilhelm betreute sie bis zu ihrem Tod, 21 Jahre lang. Nach der Zerstörung des Hauses bei einem Bombenangriff im Juli 1943 verbrachte er seine letzten Lebensjahre bei seiner Tochter in Rostock.

Die exaltierten und verschwenderischen Kempowskis, die aus den westpreußischen Sümpfen am Frischen Haff emporgestiegen waren zu den Höhen Rostocker Bürgerlichkeit, und die sich über Jahrhunderte vornehm, anständig und christlich haltende Familie Collasius: ein größerer Gegensatz ist schwer vorstellbar. In diese Verbindung wurde Walter Kempowski am 29. April 1929 hineingeboren, an einem Montagabend gegen 20 Uhr.

3. Einflüsse

Meine Kindheit war getragen von einer heiteren Grundstimmung.24

Die junge Familie Kempowski wohnte in der Steintorvorstadt, Alexandrinenstraße 81, eine bürgerliche Gegend.25 Schwester Ursula (1922–2002) war sieben, Bruder Robert (1923–2011) sechs Jahre älter.

»Ein Etagenhaus von zwei Stockwerken und einem ausgebauten Boden, mit großem Torweg und hinter dem Haus ein Hof, auf dem Hühner scharrten, Katzen herumliefen. Ein Pferdestall war da, eine Remise mit Wagen, Trockenböden, Holzschuppen. Die Rückwand eines Schlachterhauses. In den Schlachthallen hörte man das hell-hohle Schlagen der Fleischäxte. Ab und zu wurde heißes Wasser auf den Hof gekippt. Leitern, Bretter, auf denen konnte man wippen, ein großes Tor, Winkel… Die Rückseite des sogenannten St. Jürgen, das war früher mal ein Kloster gewesen, die Klosterkirche hatte man abgerissen, aber die Klosterhäuschen waren noch da.«26

Die Familie gehörte in den dreißiger Jahren zum gehobenen Wirtschaftsbürgertum, mit eigener Firma, Angestellten, Schiffsund Immobilienbesitz. Bildung und Kultur spielten eine große Rolle in ihrem Leben, boten Orientierung und vermittelten Maßstäbe der Weltdeutung.27 Das Bürgerliche bestimmte Walter Kempowskis Kindheit und Jugend, prägte sein Denken und Handeln über alle biographischen Brüche und Krisen der späteren Jahre hinweg. Daneben formten die besonderen Erfahrungen seiner Generation seinen Weg zu einem bedeutenden Schriftsteller. Er gehört wie Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Günter Grass, Siegfried Lenz, Uwe Johnson und Heiner Müller zur sogenannten Flakhelfer-Generation der zwischen 1926 und 1930 Geborenen.28

Ursula, Walter und Robert Kempowski, 1930

Aufgewachsen im »Dritten Reich«, waren sie Angehörige der Hitler-Jugend, erlebten den Krieg schon bewußt, wurden noch in letzter Minute von der Schulbank weg als Soldaten an die Front geschickt oder kamen als Luftwaffenhelfer zum Einsatz. Der Zusammenbruch Deutschlands fiel in ihre Jugend, der Wiederaufbau in ihre frühen Erwachsenenjahre. In den achtziger Jahren besetzten Vertreter dieser Generation Führungspositionen in beiden deutschen Staaten, wurden zu Repräsentanten der Gesellschaft. Da hatte Kempowski schon mit »Tadellöser & Wolff« und den folgenden Romanen der »Deutschen Chronik« ihre literarische Biographie geschrieben.29

Rostock um 1935

Kempowski war geleitet durch das Vorbild der Eltern und die Auseinandersetzung mit ihnen. Auch die schulische Sozialisation, die Anregungen der Lehrer beeinflußten ihn. Früh bildeten sich Bezugspunkte heraus, die in kulturellen und politischen Fragen sein späteres Leben bestimmten, vor allem sein Verhältnis zur Literatur und Pädagogik sowie seinen Umgang mit Geschichte.

Anfang der dreißiger Jahre lieferten sich SA und Kommunisten auch in Rostock Saalschlachten. Kempowskis Vater, anfangs durchaus offen und interessiert für die neue Zeit, war die Republik fremd geblieben.30 Der Weltkrieg war für ihn das Stahlbad gewesen, das einschneidende Ereignis seines Lebens. Politisch dachte er konservativ, war monarchistisch gesinnt, deutsch-national, ein typischer Vertreter des Bürgertums, der die Beschäftigung mit Kultur, mit Literatur, Musik, Geschichte einer aktiven, staatsbürgerlich begründeten Teilnahme am politischen Leben der Demokratie vorzog.

Karl Georg Kempowski, das »Versehen«, war durch eine Hautverletzung gezeichnet, die er im Krieg bei einem Gasan-griff erlitten hatte. Er trat zurückhaltend auf, gehemmt. Das galt für seinen Umgang in der Firma Otto Wiggers, der er seit 1922 angehörte und wo er über Jahre Schwierigkeiten hatte, sich als Juniorchef bei den Angestellten durchzusetzen, das galt für den Kontakt mit Bekannten und auch zu Hause. Er verschanzte sich hinter verballhornten Zitaten und humorigen Sprüchen (»immerhinque«, »Tadellöser & Wolff«, »Das ist natürlich wieder alles falsch«), die in eine eigene Familiensprache einflossen.

Karl Georg Kempowski, 1939

Margarethe Kempowski, 1939

Als ehemaliger Leutnant nahm er an Übungen der »schwarzen Reichswehr« teil. Er bezog »seine Lebens-Façon von der Uniform«, sie war für ihn »die letztmögliche Flucht aus der Realität«,31 wie Kempowski später urteilte. 1933 trat er dem Stahlhelm bei, wurde 1934 nach der Gleichschaltung auch in die SA übernommen, von der er sich jedoch nach kurzer Zeit abwandte, Begründung: Arbeitsüberlastung. Seine konservative Haltung gewährte immerhin Distanz zu den Nationalsozialisten.

Er war ein ernster Mann, vielseitig gebildet, historisch inter-essiert, spielte gern Klavier, meistens abends, wenn die Kinder schon im Bett lagen. Seiner Heimatstadt war er als Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer verbunden, dessen Vorträge er regelmäßig besuchte. Er las viel und sprach gern über Literatur. Sein bevorzugter Schriftsteller war Christian Morgenstern, den er häufig zitierte. Er hatte einen Sinn für skurrilen Humor und schätzte Robert Neumanns Literaturparodien »Fremde Federn«. Kein Tag verging ohne eine Anspielung auf die »Buddenbrooks« – steter Umgang mit Literatur, der tief in die Lebenspraxis eindrang.

Die Mitarbeiter der Firma Otto Wiggers, links Karl Georg Kempowski, 1938

Nach dem Tod seines Vaters im Oktober 1939 übernahm er die Leitung der Firma Otto Wiggers, wurde aber schon im März 1940 zur Wehrmacht einberufen. Er beaufsichtigte Truppentransporte nach Frankreich, diente als Oberleutnant beim Stab in Stettin und war Ortskommandant in Gartz an der Oder. Im Oktober 1944 kam er zum letzten Mal auf Urlaub nach Hause. Im Dezember 1944 wurde er, inzwischen Hauptmann, an die Ostfront versetzt. Er machte den Rückzug durch das brennende Ostpreußen mit und die Kämpfe im Kessel von Heiligenbeil im März 1945. Am 26.4.1945 fiel er durch eine russische Fliegerbombe am Strand der Frischen Nehrung. Irgendwo zwischen Steegen und Stutthof liegt er begraben, nicht weit von der Elbinger Höhe entfernt.32

Dampfer »Consul Hintz«

Walter Kempowski erlebte seinen Vater nur bis zum zehnten Lebensjahr. Ein ernsthaftes Gespräch haben sie nie miteinander geführt. Er gehörte zur »vaterlosen Generation«, die früh schon ohne positive Autorität und Identifikationsmöglichkeit auskommen mußte, aber auch ohne Objekt des Protestes und des Auf-begehrens.33 Über ein Telefonat aus dem Jahr 1941 berichtete er: »Dieses Gespräch setzte mich in die tödlichste Verlegenheit. Ich wußte absolut nicht, was ich sagen sollte, und meinem Vater ging es ganz ähnlich. Etwa 5 Minuten lang brachten wir mit allgemeinen Fragen nach dem Befinden usw. durch, erst dann ging es an, daß beide den Hörer wieder auflegten. Ich habe mit meinem Vater nie gesprochen. Es war eine Beziehungslosigkeit zwischen uns, er ›konnte‹ nicht mit Kindern.«34

Er suchte diese Auseinandersetzung erst in seinem Werk, ließ den Vater in den Romanen der »Deutschen Chronik« wiedererstehen, gestaltete in dem Hörspiel »Moin Vaddr läbt« seine Wünsche nach einer möglichen Begegnung, machte sich in »Mark und Bein« literarisch auf die Suche nach dem Grab auf der Frischen Nehrung. Kempowski vermutet, daß sein Vater den Tod gesucht hat – er soll nachts vor dem Bunker eine Zigarette geraucht haben, was Tiefflieger aufmerksam machte –, weil er die Rückkehr ins bürgerliche Leben fürchtete, ohne den Halt der Uniform, den Status des Hauptmanns. »Ich führe bis heute milde Gespräche mit meinem Vater. Manchmal bin ich ganz dankbar, daß mir der Kampf mit ihm erspart geblieben ist.«35

Margarethe und Karl Georg Kempowski waren sich in der Ablehnung der Nationalsozialisten einig. Während der Vater die konservative Seite vertrat, beeinflußte die Mutter ihre Kinder eher im christlich-liberalen Sinne. Sie würde auch Kommunistin werden, wenn man nichts besitze, sei das doch verständlich, dieser Ausspruch aus den dreißiger Jahren ist von ihr überliefert. Sie war religiös erzogen. Beten, Bibellektüre, Kirchgang, der Pastor als Ansprechpartner in Krisenzeiten, das alles war selbstverständlich, und sie versuchte, auch ihren Mann in dieser Richtung zu beeinflussen. Kempowski hat später seine eigene nichtkirchliche, privatreligiöse Neigung auf die Übertreibungen seiner Mutter zurückgeführt.

Karl Georg spielte zwar am Sonntagmorgen Choräle auf dem Klavier, aber er sang auch gelegentlich »Jesus, meine Kuh frißt nicht«. In seinem Elternhaus hatte die Religion keine Rolle gespielt, höchstens als Zielscheibe des Spotts. Erst im Krieg fand er eine ernstere Haltung zur Religion und stand wie seine Frau der Bekennenden Kirche nahe. Gesangbuch und Neues Testament waren seine Begleiter, und der Gottesdienst bedeutete für ihn eine Art Gegenwelt zu den kriegerischen Verhältnissen und dem proletarischen Wesen der Nazis.

Alexandrinenstraße 81, 1934

Margarethe Kempowski wird als gefühlsbetont geschildert, als hilfsbereit und sozial orientiert. Sie galt als hübsch, hatte Charme und spielte gut Klavier. Das große Glück war die Ehe wohl für beide nicht, Margarethe wollte etwas erleben, wie es heißt, und Karl Georg seine Ruhe haben. Differenzen wurden durch die allgemeine sanguinische Stimmung, durch Floskeln, Witze, rituelle Verhaltensweisen geglättet. Nach dem Tod ihres Schwiegervaters sorgte sie konsequent dafür, daß die Hypotheken mit dem Offiziersgehalt ihres Mannes abgezahlt wurden. Dessen Tod verwand sie ebenso tapfer, wie sie mehr als fünfeinhalb Jahre Gefängnis durchstand und am Ende ihres Lebens eine Krebserkrankung ohne ein Wort der Klage ertrug.

Man war einigermaßen wohlsituiert. Die Kinder wuchsen mit Segelclub, Reitstunden und Klavierunterricht heran. Der Umgang der Eltern war standesgemäß, Kaufleute, höhere Beamte, Gymnasiallehrer. Allerdings wohnte man »nur« in einer Etagenwohnung und noch nicht einmal Beletage. 1939 bezogen die Kempowskis in der Augustenstraße 90 eine größere Wohnung in einem Haus, das in den zwanziger Jahren im Bauhausstil errichtet worden war. Die Sommerferien verbrachten die Kinder gewöhnlich am Strand im nahen Warnemünde. Im Sommer 1936 fuhr man immerhin mit dem eigenen Dampfer »Consul Hintz«, der an der Versorgung der Exklave Ostpreußen beteiligt war, für eine Woche nach Königsberg und besuchte die Obsthändler-Verwandtschaft. Die Kinder erlebten keine soziale Not, beobachteten sie aber: Tante »Du bist es«, die sich die Waschlauge der Mutter stahl, ein weinender Mann, der kurz vor Weihnachten das Schaukelpferd abholte für seine Kinder, die Bettler an der Haustür, für die man eine Untertasse mit Pfennigen bereitstellte. Der Alltag war bestimmt durch Arbeit und Ordnung, durch Tischgespräch und Sonntagsspaziergang, durch Kulturrezeption und -ausübung. Lektüre, Konzertabonnement und Hausmusik sowie Teilnahme an einem privaten, geselligen Kreis, in dem philosophische und literarische Fragen erörtert wurden, beeinflußten auch die Kinder.

Mit den Eltern in Biestow bei Rostock

Robert Kempowski berichtet: »Sonntags gab es ein weichgekochtes Ei, dazu Brötchen – für jeden zwei –, Marmelade und Butter, Honig. Eine gemütliche Atmosphäre war das: die ganze Familie um den Tisch herum, der Vater gutgelaunt, mit steifem Kragen und funkelnder Brille, die Mutter freundlich und heiter gestimmt und die Geschwister. Man frühstückte lange, man ließ sich Zeit: Jeder erzählte, und es ging manches Mal sehr lebhaft zu, ein Wetteifern im Erzählen, wir von der Schule, der Vater von verbumfeiten Leuten (wie er sich ausdrückte). Gern auch Witze, und die Mutter hatte auch das eine oder andere beizusteuern. Und der kleine Bruder saß im Kinderstuhl und fuhr mit dem Löffel als Autos um die Teller herum.«36 Die Erzähler am Eßtisch begleiteten Walter Kempowski von Anfang an, der Sarkasmus des Vaters, der ihm nacheifernde Bruder, die Mutter, die anschaulich aus ihrer Kindheit berichtete. Andere lite-rarische Einflüsse traten früh hinzu. Die Mädchenkammer im Dachgeschoß der Alexandrinenstraße bewohnte in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise eine Souffleuse (»Einhelferin«) des Rostocker Stadttheaters, Franziska Koschate. Bei ihr lag Walter Kempowski gern auf dem Bett und lauschte, wenn sie Texte memorierte und Schauspielunterricht gab. Sie nahm ihn mit auf die Proben, ließ ihn aus dem Soufflierkasten schauen und sorgte dafür, daß er als Fünfjähriger in dem Kindermärchen »Der kleine Däumling« mitspielte.37

Von 1931 bis Ende 1937 lebte ein Untermieter in der Wohnung, Walter Görlitz, Sohn eines Stabsarztes aus Stettin. Zunächst Medizinstudent, verlegte er sich bald auf die Literatur und machte sich als Verfasser historischer Bücher einen Namen.38 Nach dem Krieg schrieb er schon früh eine Hitler-Biographie (1952), und sein Buch »Der deutsche Generalstab« wurde ein Standardwerk. Er war jahrzehntelang Redakteur der »Welt«. Mit dem Reitsattel unter dem Arm zog er ein und legte sofort die Miete auf den Tisch, ein eleganter junger Herr mit »vornehmen Allüren«,39 »der Möweneier aß und das Weiche aus den Brötchen herausklaubte und wegwarf.40« Als »Student med. Wirlitz« ist er in dem Roman »Schöne Aussicht« dargestellt

Walter Kempowski schildert seine Begegnung mit der zurückgezogenen, privaten Schriftstellerexistenz, die ihn als Kind sehr beeindruckte: »Wenn meine Mutter morgens früh sein Zimmer aufräumte, dann gab ich meiner Neugierde nach und filzte es. An der Lampe hingen Karnevalsorden, der Sattel lag in der Ecke, und im Papierkorb fand sich ein Füllfederhalter, der kleckste, sowie eine Konfektschachtel mit Pralinen, die ein wenig beschlagen waren. Der Geruch nach Terpentin und Ölfarben – er bemalte aus Studiengründen Zinnfiguren – der Tee und der Toast, den meine Mutter ihm hinstellte, und die aufgebrochene Zigarettenschachtel, er rauchte Orientzigaretten, Kyriazi oder Attikah? Eines Tage fand sich sogar eine Aktentasche, deren Verschluß defekt war, alles requirierte ich, nur die Aktentasche nahm mein Vater an sich.«41

Walter Görlitz

Abends suchte Görlitz zuweilen das Gespräch mit Karl Georg Kempowski, im Wohnzimmer oder auf einem Abendspaziergang, der dann in dem Kapitänslokal »Fröhliche Teekanne« endete. »Mein Vater hat auch von der Bekanntschaft profitiert«, berichtete Robert Kempowski später: »Sie liehen sich aus der Universitätsbibliothek alte Zeitungen, die ›Kreuzzeitung‹ und die ›Vossische‹. Die wurden dann auf dem Flügel ausgebreitet und gemeinsam gelesen. So studierten sie die politisehen Verhältnisse der Weimarer Republik.«42 Görlitz dachte noch konservativer als der Reeder. In der Ablehnung der Nationalsozialisten trafen sie sich – Robert Kempowski: »Sie haben immer furchtbar auf die Nazis geschimpft, nur von ›Herrn Hitler‹ gesprochen.«43 Görlitz schrieb viele Jahre später an Walter Kempowski: »Die Nationalsozialisten fanden wir etwas wunderlich, ich erinnere mich noch, daß Ihre Eltern und ich – ich glaube, Sommer 1932 – zu einer deutschnationalen Versammlung gingen, auf der Herr Everling sprach, ein großer Monarchist. Als wir aus dem Hause in die Alexandrinenstraße kamen, marschierten SA-Leute in ihren gelbbraunen Hemden vorbei, und Ihre Frau Mutter sagte ziemlich laut: Oh Gott, Karl, sieh doch, wie die Ascheimerleute!«44 Am Vorabend des 1. Mai 1933 wettete Görlitz mit Karl Georg Kempowski um zwei Flaschen Champagner, daß die sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiter nicht auf Befehl Hitlers zu Ehren der »Bewegung« marschieren würden, eine Wette, die Görlitz verlor, wie er in seiner Kolumne »Griff in die Geschichte« 1963 schrieb.45 Er bekam dann Schwierigkeiten mit dem NS-Studentenausschuss und der Gestapo. Zwei seiner Bücher wurden verboten. Von 1941 bis 1943 leitete er die Pressestelle der Stadt und war Herausgeber der »Rostocker Monatshefte«.

Walter Kempowski setzte sich auf kindliche Weise mit dem Schriftsteller auseinander: »Nach der Karnevalszeit fand sich bei ihm ein Turban mit Agraffe vorne dran, den ich mir aufstülpte. Er war zu groß! Und auch seine Reitstiefel wollten nicht passen, denn ich stieg mit meinen eigenen Schuhen hinein, und es war schwierig, mich wieder herauszuziehen.«46 Die märchenhaften Insignien seines Berufs, obwohl heiß begehrt, paßten nicht für das Kind. Görlitz schenkte ihm aber einen Kriegselefanten aus Zinn, der einen Krieger mit Pfeil und Bogen trug. In späteren Jahren, längst als Schriftsteller erfolgreich, wählte Kempowski einen Elefanten als Wappentier seiner Exlibris. Görlitz beurteilte auch als erster die frühen dichterischen Arbeiten Kempowskis. Dieser wurde unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs zwischen seiner Mutter und Görlitz, der wohl im Sommer 1946 noch einmal kurz nach Rostock zurückkehrte: »Meine Mutter zeigte ihm in einem Anfall von Wahnsinn meine Versuche, die in der Zeit meiner intensiven Morgenstern-Lektüre entstanden waren. Ich entsinne mich eines Gedichts, das mit dem Vers begann: ›Dergestalt ist Vaters einziger Sohn, daß er…‹, eine Hexametersache über einen faulen Jungen, der lieber im Bett liegt, als sich nützlich zu machen. Görlitz und meine Mutter saßen auf dem Balkon in der Sonne. Ich stand in der Küche und hörte mit halbem Ohr, wie er rief: ›Völlig ausgeschlossen, Frau Kempowski, das ist nichts, das ist gar nichts!!!‹ Görlitz bemerkte mich dann und sprach sofort von etwas anderem. Das war der erste Schock meiner literarischen Laufbahn, eigentlich im nachhinein ein positiver, produktiver!« Einige dieser Verse hat Kempowski in dieser Zeit dennoch unter dem Titel »Gedichte. I.« mit der Schreibmaschine auf braunem Nachkriegspapier in Form gebracht, geheftet und seinem Bruder gewidmet.47 Ein Gedicht heißt »Zeitgemäss!«.

Sessel,

ich hab dich gern!

Lässt sich

Dein Futter

Doch so

Prächtig rauchen!

(März 1946)

Kempowski hat Görlitz bei seinen Recherchen für die Romane der »Deutschen Chronik« um Auskunft gebeten über seine Zeit in der Alexandrinenstraße, ihn in der Redaktion der »Welt« besucht. Robert Kempowski berichtet hingegen, daß Görlitz ihn nach Erscheinen von »Tadellöser & Wolff« gefragt habe, warum er nicht verhindern konnte, daß seine Familie so in den Schmutz gezogen wird. Indes ist überliefert, daß er dennoch alle Romane der Chronik gelesen habe. Rückblickend schätzte Kempowski die Nähe zu Görlitz in seiner Kindheit als grundlegend ein: »Ohne ihn wäre ich nie Schriftsteller geworden.«48

Seine Zeit als Leser begann in der dritten Volksschulklasse, mit dem Buch »Paul vom Zirkus Serpentini« von Otto Bernhard Wendler.49 In der Folge frequentierte er die Volksbücherei häufig, las Sonnleitners »Die Höhlenkinder im heimlichen Grund« und die »Försterhaus«-Bücher von Erich Kloss: »Ich fand sie langweilig. Aber die Atmosphäre der Einbände war so intensiv, daß sie mich später bestimmten, Dorfschulmeister zu werden. Noch heute senden sie Impulse aus.«50

Abends las die Mutter am Bettrand sitzend vor, »Karl und Marie« von Elise Averdieck, die als Diakonissin in der Hamburger Stiftskirchengemeinde ihrer Eltern eine herausragende Rolle gespielt hatte. Die Beschäftigung mit Literatur war für das Kind eine ernsthafte:

»Als ich zehn Jahre alt war, ging ich mit dem Buch ›Kai aus der Kiste‹ unterm Arm zu unserem Buchhändler Schaab an der Ecke, bei dem meine Mutter jeden Sonnabend einen Roman kaufte, und sagte zu ihm: Ich möchte Ihnen meine Anerkennung für dieses Buch aussprechen.«51 Er erfaßte seine Bücher numerisch in Listen. Karteikarten, wie man sie in der Volksbücherei benutzen mußte, um an Bücher zu kommen, waren seine ganze Sehnsucht. In dieser Zeit äußerte er mit beinahe prophetischer Sicherheit einen ersten Berufswunsch: »Ich stand mit meinem Vater vor dem Universitätsgebäude. Er unterhielt sich mit Reeder Cords, der ihm die Vorzüge einer Gasheizung anpries. Dann fragte er mich, was ich denn mal werden wolle, und ich antwortete: Archiv! Da war ich zehn Jahre alt.«52 Seine Vorstellungen waren indes noch vage, denn seine Mutter mußte ihn wiederholt berichtigen, daß es Archivar heiße. Bald darauf verzeichnete er bereits alle Filme, die er im Kino gesehen hatte, auf Karteikarten. Von entscheidender Bedeutung für diese frühe Ausrichtung war die nachdrückliche und oft wiederholte Erklärung des Vaters, daß die Firma allein Robert vorbehalten sein würde. So mußte er sich ein anderes Ziel suchen.

In dieser Zeit schrieb er an seinem ersten Buch, eine Art Autobiographie mit dem Titel »Hans«, die mit den Worten begann: »Hans, rief die Mutter, Hans, komm zum Essen. – Doch Hans konnte nicht hören, er war nämlich auf dem Güterbahnhof. Hier saß er in einem Waggon, in den Soldaten verladen waren, und fuhr mit ihnen ins Manöver.«53 Der Versuch wurde nach 20 Seiten abgebrochen. »Zur gleichen Zeit schrieb ich ein Buch von etwa sechs Seiten. Es hieß: ›Was mancher nicht weiß‹ und war eine Sammlung von Kulturkuriosa, die ich in Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbüchern aufgeschnappt hatte.«54 Die Anregung verdankte er wahrscheinlich den »Kulturkuriosa aus Altgriechenland« von Hans Licht, die im Bücherschrank neben einer zweibändigen Darstellung »Der Weltkrieg in Bildern und Dokumenten« standen.

Die Jugendlektüre wurde bald erweitert, angeregt von den Eltern: Heinrich Manns »Professor Unrat« und Hermann Hesse in den blauen Bänden der Insel-Ausgabe. Kempowski las sie im Schneidersitz, mit glühenden Wangen. Die von den Nazis geschätzten Schriftsteller ließen ihn kalt. Werner Beumelburgs »Gruppe Bosemüller« empfand er wegen der Kriegsschilderungen als abschreckend, an Hans Grimms »Volk ohne Raum« oder Edwin Erichs Dwingers »Letzte Reiter« machte er sich gar nicht erst heran.

In den Sommerferien 1943, die er in Hamburg bei seinem Großvater verbrachte, las er stattdessen die »Buddenbrooks« in einem Zug durch, kurz bevor er den Feuersturm der Bombenangriffe erlebte. Jetzt stellte er erstmals fest, daß Literatur auch ihn selbst anging und nicht nur der Unterhaltung der Erwachsenen diente. Noch in Hamburg begann er einen Roman mit dem Titel »Arram der Letzte«, die Geschichte eines Elefanten, der als letzter seiner Herde, von weißen Jägern gehetzt, sein Leben im Urwald beschließt. Möglicherweise handelte es sich um eine Nachwirkung des Görlitz-Geschenks. Seine Kusinen jedenfalls verspotteten ihn, und weil die Erlebnisgrundlage fehlte, stellte er seine Bemühungen nach drei Seiten ein.

Die Werke der lateinischen Antike lernte er jenseits der Schule in einer Art privatem Literaturunterricht schätzen, den er 1941 für einige Monate bei Dr. Erich Fabian erhielt, einem Lehrer aus der Nachbarschaft, der aufgrund der NS-Rassegesetze pensioniert worden war, weil seine Frau Jüdin war, und Nachhilfestunden gab. Fabian, der »Studienrat Matthes« in »Tadellöser & Wolff«, vermittelte ihm die Bedeutung der römischen Antike für die Herausbildung der abendländischen Kultur. Nach einigen Monaten fanden die Literaturstunden mit den Sommerferien ein jähes Ende und wurden nicht wieder aufgenommen. Fabian wurde nach dem Krieg Direktor der Rostocker Volkshochschule und veröffentlichte Bearbeitungen von Ovid und Catull sowie Romane.55

Bildende Kunst spielte im Gegensatz zur Musik nur eine untergeordnete Rolle. Aber Anregungen gingen auch von Minimalimpulsen aus. In kunstgeschichtlichen Bildbänden beeindruckte Kempowski besonders die Formensprache der Moderne. Der Bauhausstil des Wohnhauses und die »Blauen Pferde« von Franz Marc, dann ein Bild, das Glühbirne, Kaktus und Briefmarke zeigte, eine frühe Beschäftigung mit Alltagsgegenständen und Collage, blieben Kempowski im Gedächtnis, weil Kunst dieser Art in der Nazizeit selten zu sehen war.

Nicht nur für die schriftstellerische Tätigkeit wurde in Kempowskis Kindheit der Grundstein gelegt, auch für die spätere Arbeit als Pädagoge. Seine Mutter ließ sich bei der Erziehung ihrer Kinder von den christlichen Grundsätzen ihrer Fröbel-Ausbildung leiten. Es ging ihr darum, sie einer schon angelegten eigenen Bestimmung zuzuführen, sie »nachgehend« zu behüten und nicht autoritär Wege vorzuschreiben. Kerngedanke war die ständige Anregung der schöpferischen Möglichkeiten – eine liberale Auffassung, die der totalitären Zeit entgegenstand. Zu Ostern 1935 kam Kempowski in die St.-Georg-Schule für Knaben, die als »Institutsschule« des Pädagogischen Instituts der Universität geführt wurde.56 Kempowski saß hier neben Jo(achim) Jastram in der Bank, der später Bildhauer wurde. Klassenlehrer war Hans Märtin, der zusammen mit dem Reformpädagogen Professor Johannes Erich Heyde Schulexperimente mit ganzheitlichem Unterricht durchführte und die Ergebnisse publizierte.57 Märtin war ein menschenfreundlicher Pädagoge. Über seine Methode schrieb er: »Der Schulanfänger wird im Schulraum stets zu pakken sein, wenn man die bunte Welt der Erscheinungen und der einfachen Geschehensweisen seiner Umwelt vor sein Auge oder sein Ohr bringt. (…) Deshalb ist die Geschichte der große Wundertäter in der Klasse der Schulanfänger.«58

St.-Georg-Schule für Knaben, 1937: Walter Kempowski, 1. Reihe, 5. von links; ganz rechts Hans Märtin

So las er den Kindern wochenlang spannende und lustige Erzählungen vor, ehe sie erste Schreib- und Leseversuche anstellten, um ihnen zu vermitteln, warum es erstrebenswert sei, lesen zu lernen. Das führte zu einem ungeheuren Arbeitseifer.59 Märtin unterrichtete ohne Fibel. Er ließ die Schüler erzählen, schrieb ihre Beobachtungen an die Tafel und entwickelte daraus seinen Unterricht. Er trug einen weißen Arztkittel, benutzte farbige Kreide, schrieb Wörter auch auf die blaßgrüne Wand des Klassenraums – ein unerhörter Tabubruch in der ehrwürdigen Anstalt, wie die Abbildung des Menetekel, die Kempowski aus der Doréschen Bilderbibel kannte. Märtin war eine magische Erscheinung, die stark auf die Kinder wirkte. Als »Lehrer Jonas« ist er in den Roman »Schöne Aussicht« eingegangen. In den siebziger Jahren besuchte Kempowski den betagten Pädagogen, der ihm rührende Anmerkungen zu »Tadellöser & Wolff« geschickt hatte, und Märtin erinnerte sich an das »intensive Kind«, das ihn nach der Schule oft nach Hause begleitet und ohne Pause auf ihn eingeredet hatte.60

Dezember 1938

Ein weiteres Vorbild seiner pädagogischen Arbeit und Anregung für historisches Interesse fand Kempowski ab 1939 auf dem Realgymnasium in Johannes Gosselck,61 in »Tadellöser & Wolff« »Hannes« genannt. Gosselck stammte aus einer Zeit, als es für Gymnasiallehrer noch selbstverständlich war, sich vor allem in regionalgeschichtlicher und volkskundlicher Forschung zu betätigen. Er war wie Karl Georg Kempowski Mitglied im Verein für Rostocker Altertümer, Vorsitzender des Plattdeutschen Landesverbands und Leiter der Volkslied- und Flurnamenkommission im Heimatbund Mecklenburg. Er war äußerst produktiv, trug unter anderem zum Mecklenburgischen Wörterbuch bei, veröffentlichte niederdeutsche Geschichten und verfaßte eine Schulfibel.62 Außerdem war er ein enger Mitarbeiter von Richard Wossidlo.63 Dieser bedeutende volkskundliche Feldforscher erfaßte in der Art der Brüder Grimm das kulturelle Wissen und das Alltagsleben der einfachen Bevölkerung, führte Befragungen durch und notierte Geschichten, Ausdrücke, Bräuche auf kleinen Karteikarten, die der »Zettelmann«64 stets bei sich trug.

Johannes Gosselck

In diese Atmosphäre von Heimat- und Volkskunde, gesammelten Volksüberlieferungen und Archiven geriet Walter Kempowski immer mehr. Gosselck bevorzugte ihn vor allen anderen Schülern, nahm ihn und ausgewählte ältere Jungen mit auf Wanderungen durch das Rostocker Umland. »Ich war von seinem Naturfimmel so angesteckt, daß ich mit meinem Freund nachmittags durch die Barnstorfer Anlagen ging, die Hände auf dem Rücken, tief atmete und an den Kiefernstämmen hinaufguckte, wie schön die gewachsen sind. Ich schaffte mir auch ein Kontobuch an und trug jeden Tag das Wetter ein.«65 Die Ausflüge in die Natur und Besuche der umliegenden Güter brachten ihm eine Art reformpädagogische Landschulerfahrung.

Noch Jahrzehnte später empfand Kempowski im Rückblick Dankbarkeit gegenüber seinen Lehrern. Märtin, der »Halbgott«,66 und Gosselck, »der ewige Vater«,67 begegneten Kempowski zuweilen im Traum, und im Tagebuch notierte er: »Schulzeit, das war schlimm. Märtin und Gosselck haben mich gerettet: Immerhin wohl acht Jahre? Nein, sechs. Vier Jahre Märtin und zwei Jahre Gosselck. Deren Bilder gehören auf meinen Schreibtisch. Es waren eigentlich ›schlechte Lehrer‹, aber es waren Pädagogen, oder einfach gute Menschen.«68

Von den Eltern geliebt und gefördert, in der Schule nicht gebrochen, verlebte Kempowski eine behütete und anregende, von einer heiteren Grundstimmung getragene Kindheit. Als Rostock Ende April 1942 von englischen Bomben zerstört wurde, fiel auch sie in Trümmer.

4. Verweigerung

1942–1948, das war die dunkelste Zeit, nicht etwa Bautzen.69

Der Krieg zerstörte das Familienleben, die kleine Urzelle inniger Gemeinschaft um den Eßtisch herum. Karl Georg Kempowski kam nur noch gelegentlich auf Urlaub, Ursula verbrachte nach dem Abitur 1941 ein Jahr beim Arbeitsdienst. Robert, im Juni 1942 eingezogen und bald als nur »arbeitsverwendungsfähig« entlassen – in seiner Kindheit war er wegen einer Knocheninfektion mehrfach operiert worden –, trat eine Lehrstelle als Schiffsmakler an, im fernen Stettin, wo er ein Zimmer bei der Mutter von Walter Görlitz bewohnte. Im Dezember 1944 mußte er dann in Pommern sowjetische Kriegsgefangene bewachen. Walter Kempowski blieb allein mit seiner Mutter, bis im Sommer 1943 der ausgebombte Großvater August Wilhelm Collasius aufgenommen wurde. Der Heranwachsende erfuhr Verlust und Zerstörung. In den Nächten vom 23. bis zum 27. April 1942 wurde der größte Teil der Rostocker Altstadt durch das englische Bomber Command vernichtet, im zweiten Brandbombenangriff auf eine deutsche Großstadt nach Lübeck. Mehr als 200 Menschen starben, mindestens 30 000 verloren ihre Wohnungen, viele flüchteten aufs Land.70