Wäre schön blöd, nicht an Wunder zu glauben - Simone Heintze - E-Book

Wäre schön blöd, nicht an Wunder zu glauben E-Book

Simone Heintze

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Beschreibung

"Ich starre zum Himmel, balle meine Faust in der Hosentasche und würde vor Frust am liebsten laut schreien. So hatte ich das nicht geplant! Nein, so hatte ich das überhaupt gar nicht geplant! Was hier gerade mit meinem Leben passiert, das will ich nicht!" Diese Gedanken gingen Simone Heintze durch den Kopf, als sie zum vierten Mal in ihrem Leben die Nachricht zu hören bekam: "Sie haben Krebs." Viermal hat sie sich ins Leben zurückgekämpft. Dabei wurde in all diesen Jahren ihr Glaube, der sie seit ihrer Kindheit begleitet, ein immer stärkerer Halt. Mit ihrer Autobiografie möchte sie allen helfen, die angesichts der Diagnose Krebs oder einer anderen schweren Erkrankung den Boden unter den Füßen verloren haben. Ein wertvolles Buch nicht nur für Betroffene, sondern auch besonders für Menschen, die beruflich oder privat mit Krebspatienten zu tun haben. Mit Hoffnung bis zum Schluss zu leben ist tausendmal besser, als deprimiert bis zum Lebensende vor sich hin zu vegetieren. Simone Heintze

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Über die Autorinnen

Simone Heintze erkrankte als Jugendliche zweimal an Morbus Hodgkin und als erwachsene Frau zweimal an Brustkrebs. Sie ist von Beruf Bankkauffrau und mittlerweile aufgrund der Erkrankung Rentnerin. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Versichertenälteste für die Deutsche Rentenversicherung Westfalen, als Grüne Dame und in ihrer Kirchengemeinde. Sie lebt im Ruhrgebiet.

Julia Fiedler, Jahrgang 1975, lebt mit ihrem Mann und ihren vier Söhnen am Ruhrgebietsrand. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaften, Germanistik und Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr Uni Bochum arbeitet sie als Redakteurin und freie Autorin. Menschen und ihre Geschichten mit Gott sind für sie das spannendste Thema überhaupt.

Dieses Buch ist meinen Kindern Marvin, Sarah und Theresa gewidmet und all den Menschen, die mich auf meinem Weg begleiten.

Das vorliegende Buch ist mein Erfahrungsbericht.

Fast alle Namen, Kliniken und Orte gibt es wirklich.

Ärzte, Personal, Psychologen, Freunde und Familie haben ihre Namen zur Verfügung gestellt, weil sie verstehen können, dass dies meine Geschichte und mein Leben ist und ich mich mit Fantasienamen sehr schwer tue.

Bitte, liebe Leserin, lieber Leser, behandeln Sie diese Namen daher mit Respekt und Achtung. Ich möchte nicht, dass die Privatsphäre dieser Menschen, die mich so treu während meiner Therapie begleitet haben, verletzt wird.

Vielen Dank.

Simone Heintze

Inhalt

Vorwort

Prolog

Mai 2017 – Nachrichten auf dem Erdbeerfeld

Ich bete für dich

„Spuren im Sand“

Juni 2017 – Narben

Deutsche Bürokratie

August 2017 – Sylt, meine Insel

Gartenarbeit in Berlin

Wüste, endlose Wüste

Rehaerlebnisse im Schwarzwald und anderswo

Stecknadelkopf

Lebensfreude

September 2017 – Abschied von Sylt und Konfrontation mit dem Ungewissen

Chemo 2013 – Ein Trupp kleiner Männchen

25. April 2013 – völliger Absturz

Konfi-Camp

Ich hab’ die Haare schön

Erinnerungen aus meiner Dorfjugend

Oktober 2017 – Ein Freund, ein guter Freund

Oktober 2017 – Luftnot

Gott gibt aber nicht auf!

Professor Strumberg und mein angeschlagenes Herz

Bitte, betet für mich!

Eine Kerze

Teneriffa

Dezember 2018 – Kardiologie und Herzschmerz

Adventszeit

Vertrauen

Wie soll das bloß gehen?

Weihnachten

Januar 2018 – Neues Jahr – neues Glück

Naturheilklinik

Februar 2018 – Lesung in Magdeburg

Ende Februar 2018 – EKG mit Befund

Stehaufmännchen

Der eine Augenblick mehr

Juli 2018 – Epilog

Anhang

Das hat mir geholfen: Meine Achtsamkeitsliste!

Zugabe

Der Hühnergott – eine Syltgeschichte

Stimmen zur WhatsApp Gruppe

Erklärung einiger im Buch verwendeter Fachbegriffe

Dank

Bildteil

Vorwort

Es war im Frühjahr 2014, als ich nichtsahnend Simones Einladung zum Frühstück annahm und sie mir zwischen Tee und Brötchen die Idee, gemeinsam ein Buch zu schreiben, servierte. Es brauchte nicht viel Überredungskünste, denn mein Bauchgefühl war sofort überzeugt davon, dass hier eine Geschichte steckte, die erzählt werden wollte – auch wenn das Arbeit bedeutete und meine freie Zeit zwischen Arbeit und vier Kindern recht übersichtlich war.

Wir machten uns ans Werk. Simone fing an zu schreiben und ich redigierte. Die Geschichte machte es mir leicht einzutauchen. Die Arbeit war intensiv und so manches Kapitel habe ich mit in die Nacht genommen. Aber ich habe mich dabei immer beschenkt gefühlt. Beschenkt von Simones großem Vertrauen, diese Geschichte mit mir zu teilen und von den vielen fast unglaublichen Dingen, die ihr widerfahren sind. Wer in Worte kleiden will, was ein anderer gern zum Ausdruck bringen möchte, muss verstehen. Ich musste mich reinfühlen können. Es war Simones große Offenheit, die das möglich gemacht hat. Ich durfte Simone immer alles fragen und hatte dabei nie das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten.

Bis zu unserem ersten gemeinsamen Buchprojekt wusste ich gar nicht so viel von Simone. Unsere Kinder saßen vier Jahre lang in der gleichen Grundschulklasse. Ich wusste, Simone hatte zum dritten Mal Krebs und musste eine scheinbar endlos lange Chemo durchmachen. In dieser Zeit sahen wir uns sonntags hin und wieder in der Kirche. Manchmal sah sie blass und müde aus und es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, dass sie eine Perücke trug. Ich war beeindruckt davon, wie sie mit ihrer Krankheit umging: „Ich schaff das schon, ich weiß ja, was bei der Chemo auf mich zukommt.“ Rückblickend schäme ich mich zutiefst, darauf reingefallen zu sein. Nicht besser wahrgenommen zu haben, welche Anstrengung hinter diesen Worten steckte.

Vielleicht habe ich aber doch etwas gespürt, nämlich den großen Optimismus, den Simone in sich trägt und der durch alles Leid immer wieder durchblitzt und mich hat ahnen lassen, dass hier jemand aus einer tiefen Glaubensquelle schöpft. 2014 haben wir den ersten Teil ihrer Geschichte aufgeschrieben, 2015 den zweiten. Danach dachten wir, wir wären fertig – mit dem Krebs und dem Buchschreiben. Das Jahr 2017 hat uns eines Besseren belehrt. Der Krebs war wieder da und plötzlich stand wirklich alles auf der Kippe. Und mitten auf der Kippe war klar, wenn das Ganze hier irgendeinen Sinn haben soll, dann den, dass diese Geschichte noch einmal unter einem ganz neuen Licht erzählt werden wollte. In einem Buch, dass nicht nur vom Kampf gegen Krebszellen berichtet, sondern davon, wie eine Krankheit das ganze Leben durchrüttelt und neu justiert. Was aus dieser Erfahrung auch Wunderbares und Neues erwächst und auf welche Weise Gott dabei mitmischt, wenn wir ihm zuhören und vertrauen, können Sie in dieser bewegender Biografie lesen.

Julia Fiedler

Prolog

Ich starre zum Himmel, balle meine Faust in der Hosentasche und würde vor Frust am liebsten laut schreien. So hatte ich das nicht geplant! Nein, so hatte ich das überhaupt gar nicht geplant!

Was hier gerade mit meinem Leben passiert, das will ich nicht! Hallo! Hört mir hier vielleicht mal jemand zu? Ich will das nicht. Bring das bitte einer sofort zurück. Das kann nicht für mich sein. Das hier entspricht in keiner Weise meinem Plan!

Ich liebe es zu planen. Das fängt schon bei ganz kleinen Dingen an, Einkaufszettel, Putzplan und Checklisten für den Urlaub. Vorfreude ist für mich etwas, auf das ich hinarbeite und ich freue mich ehrlich, wenn ich wieder einen To-do-Punkt auf meiner Liste abhaken kann. Zufall mag ich nicht! Alles, was ich planen kann, hat irgendwie einen sicheren Rahmen und ich hab’s im Griff, dank meiner Listen und meines Organisationstalents.

Und damit ist das Dilemma schon vorprogrammiert.

Mai 2017

Nachrichten auf dem Erdbeerfeld

„Kannst du den Schlauch nehmen und am oberen Feld gießen?“, ruft meine Mutter mir zu, während sie gleichzeitig im Regenbottich eine Gießkanne füllt.

Ihre Erdbeerpflanzen, die in ein paar Wochen leckere süße Früchte tragen sollen, lassen schlapp ihr grünes Gefieder hängen. Es ist viel zu trocken in diesem Frühjahr und die Erdbeeren werden noch vor der Reife verschrumpeln, wenn sie jetzt kein Wasser bekommen. Also stehen wir in der Abendsonne auf unserem Erdbeerfeld und gießen. Um uns herum Wiesen und Wälder und in Sichtweite der Pferdestall meines Bruders Markus.

Es tut mir gut, hier zu stehen und die Pflänzchen zu neuem Leben zu erwecken. Wenn das mit dem Zum-Leben-erwecken doch immer so einfach wäre.

Meine Mutter spaziert an mir vorbei, um die nächsten Gießkannen zu füllen. Ich fühle mich ein bisschen schuldig, weil ich nur den Schlauch halte und sie die schweren Kannen schleppen lasse. Aber meine Mama ist da eisern. Vor vier Jahren hatte ich Brustkrebs und musste mir infolge dieser Erkrankung die Brüste abnehmen und gegen Implantate austauschen lassen. Ich komme sehr gut damit zurecht, darf aber nicht zu schwer heben. Und unter zuschwer fallen für meine Mutter auf jeden Fall auch volle Gießkannen.

Ich akzeptiere schweigend, dass ich keine Kanne tragen darf, spiele weiterhin den Erdbeersprenger und genieße die Abendruhe hier im Stuttgarter Hinterland, wo ich aufgewachsen bin. So viel Ruhe habe ich sonst nicht um mich herum. Seit fast 20 Jahren lebe ich in Nordrhein-Westfalen. Dort habe ich geheiratet, drei wunderbare Kinder bekommen und mich leider vor drei Jahren von meinem Mann getrennt. Die Scheidung läuft.

Die Trennung hat mich viele Tränen und viel Kraft gekostet, doch so langsam zeichnet sich ein Ende ab. Die Notarverträge sind aufgesetzt und werden momentan von unseren Anwälten geprüft. Ich wünsche mir, dieses Kapitel so schnell wie möglich abschließen zu können. Scheiden tut einfach verdammt weh. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Meine Rettung sind die Ruhetage, die ich hier in meiner alten Heimat erleben darf. Hier mache ich lange Spaziergänge und verbringe gemütliche Abende mit meinen Brüdern und mit meiner Mutter. Noch vor ein paar Jahren hätte ich nie gedacht, dass mir diese Ruhe mal so fehlen würde. Deshalb liebäugele ich auch tatsächlich damit, wieder in meine Heimat zurückzuziehen. Ich habe tolle Freunde und eine wunderbare Gemeinde in Nordrhein-Westfalen, aber jetzt gerade, wo ich hier so auf dem Erdbeeracker stehe, möchte ich für immer hierbleiben. Ich möchte den Pflanzen beim Wachsen zusehen, rote Erdbeeren pflücken und vor mich hinträumen.

In diesem Moment merke ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllen und der Schleier auf meinen Augen mit dem Regenschleier des Rasensprengers verschwimmt. Ich weiß, dass diese Tränen sich nicht mehr zurückdrängen lassen. Meine Idylle ist hin.

Denn eigentlich wäre ich jetzt gar nicht hier, sondern in Berlin auf dem Evangelischen Kirchentag. Wir haben 2017 und in ganz Deutschland wird der 500. Geburtstag der Reformation gefeiert. Einer der Höhepunkte dieses Jubiläumsjahres ist der Kirchentag in Berlin und Wittenberg. So lange habe ich mich darauf gefreut, mir genau ausgesucht, in welche Vorträge und zu welchen Veranstaltungen ich gehen wollte. Der Plan war super gewesen. Zwischendurch, so hatte ich mir ausgemalt, würde ich irgendwo in der Sonne sitzen, Eis lutschen und die vielen Vorträge nachwirken lassen. Ich würde tiefe Glaubensgespräche führen, neue Menschen kennenlernen und mich aufnehmen lassen in die Freude meines Glaubens. Später wollte ich dann zu meinem kleinen „Gartenhäuschen“ in Hohen Neuendorf rausfahren, mit einem Glas Wein auf der Terrasse sitzen und der Sonne beim Untergehen zugucken.

Doch stattdessen stehe ich nun hier in meiner schwäbischen Heimat auf dem Erdbeerfeld und kann nicht fassen, was in den letzten Tagen passiert ist. Mein Vater, mein heißgeliebter Papa, ist gestorben. Vor ein paar Tagen ist er einfach umgekippt und wegen einer Hirnschwellung ins Koma gefallen. Jetzt ist er tot. Einfach so. Ich kann es nicht begreifen.

So sehr hatte ich gebetet, dass mein Vater überlebt und viele meiner Freunde haben mit mir gebetet. Ich war mir so sicher, dass Gott ein großartiges Wunder geschehen lässt. Aber von Wunder keine Spur. Statt eines Wunders kam die Trauer und diese erdrückt mich nun. Da war so viel, was mein Vater und ich noch zusammen machen wollten, zum Beispiel in Berlin meine Senioren-WG bauen. Mein Papa hatte mir versprochen, mich dabei zu unterstützen und er hat sich darauf genauso gefreut wie ich.

Zwei Tage nach dem Tod meines Vaters trennt sich auch noch mein Freund von mir. Ich gebe zu, wir hatten schon länger Probleme und eine richtige Lösung war nicht in Sicht. Unsere Ansichten waren in vielen Dingen zu unterschiedlich, und trotzdem habe ich ihn noch immer geliebt und mir gewünscht, dass wir mit etwas mehr Zeit Kompromisse finden würden. Leider sah er es anders.

Jetzt stehe ich hier auf unserem Erdbeerfeld, die Tränen laufen mit dem Wasser aus dem Schlauch um die Wette und ich weiß gar nicht mehr, worüber ich in diesem Moment mehr weine – über den Tod meines Papas oder das Schlussmachen meines Freundes. Ich brauche eine Schulter zum Anlehnen.

Das Ganze ist für mich wie ein Déjà-vu, denn auch meine Ehe ist genau zu dem Zeitpunkt kaputtgegangen, als die Umstände wegen meiner Krankheit schwierig wurden. Und nun stirbt mein Vater und mein Freund macht Schluss.

Ich will diese Frage ein für alle Mal aus meinem Kopf bekommen. Nie mehr will ich mir die Frage stellen müssen, was in meinem Leben denn überhaupt jemals Bestand hat. Ich will mich verkriechen, mich vor der Welt und meinem eigenen Leben verstecken und nie wieder hervorkommen. Aber das geht nicht, denn die Beerdigung muss organisiert werden. Höhle spielen funktioniert jetzt nicht, stattdessen muss der Autopilot übernehmen und ich muss mir bewusst machen, dass ich nicht allein bin, sondern eine Familie habe. Ich habe meine drei Kinder, meine Mutter, meine Brüder … Das sind Menschen, die mir zuhören, die mich trösten und die mit mir organisieren. Ich habe viel mehr als so viele andere.

In dieser Erkenntnis versickern meine Tränen allmählich und ich finde die Abendsonne gerade wieder ein winziges Bisschen schön, als plötzlich mein Handy klingelt. Wer ruft mich denn jetzt mitten auf dem Erdbeerfeld an? Anonyme Nummer. Ich überlege für einen kurzen Moment, den Anruf gar nicht anzunehmen, doch meine Neugier siegt und ich drücke den grünen Knopf.

„Hier ist Dr. Abdallah von der Senologischen Ambulanz Gelsenkirchen …“

Der Anruf! Den hatte ich vollkommen vergessen. Dr. Abdallah wollte mir das Ergebnis der Biopsie von letzter Woche mitteilen. Eigentlich gibt er solche Informationen nicht am Telefon weiter, doch wir hatten das vorab so vereinbart, dass er persönlich bei mir anrufen würde. Das war mir sehr recht. Ich gieße also einhändig weiter, während ich mir noch einmal sage, was ich mir in den letzten Tagen in Zeiten der Angst immer wieder gesagt hatte: Das Ergebnis würde ohne Befund ausfallen. Ich hörte nicht mehr richtig zu.

„… ein Rezidiv.“

Was hat er da gesagt? Ich schaue ungläubig auf das Telefon in meiner Hand. Ein Rezidiv? Das kann nicht sein. Alle haben doch gesagt, wie unwahrscheinlich das ist. Es würde mit Sicherheit nur eine Fibrose sein, lästiges Fettgewebe. Niemals ein Rezidiv. Es ist ein Rezidiv?

Die Nachricht lässt mich taumeln, hier auf dem blöden Erdbeerfeld ist nichts, woran ich mich festhalten könnte. Nicht mal Gott. Hast du das gehört, Gott? Rezidiv! Was sagst du dazu? Gott schweigt und ich falle um. Mitten ins Erdbeerfeld. Ich falle schmerzhaft auf die trockene rissige Erde. Egal. Es ist eh alles aus! Besser jetzt gleich. Ich werde sterben, mit 43 Jahren werde ich sterben! Mein Senologe hat mir gerade so schonend wie möglich beigebracht, dass ich zum vierten Mal Krebs habe. Und viermal Krebs, darüber bin ich mir in diesem Moment totsicher, überlebt man nicht.

Dabei ist mein bisheriges Leben ein einziger Überlebenskampf. Mit 13 Jahren wurde bei mir zum ersten Mal Lymphknotenkrebs diagnostiziert und mit 16 Jahren hatte ich ein Rezidiv.

Als damals mein mir sehr liebgewonnener Hausarzt Dr. Heinzmann die Diagnose Morbus Hodgkin stellte, habe ich nicht verstanden, was los ist. Mir wurde eine Chemotherapie verordnet und dafür musste ich in die von zu Hause 30 Kilometer entfernte Stuttgarter Kinderklinik, das Olgahospital oder das „Olgäle“, wie es die Schwaben nennen. Die Chemo vertrug ich recht gut, aber das schlimmste war für mich der Haarausfall und dass ich vom Cortison ein dickes Gesicht bekam. Ich fühlte mich so hässlich. Und dann kam obendrauf noch die Bestrahlung! Allein schon dieses riesige Gerät, unter das ich mich vier Wochen lang jeden Tag legen musste, jagte mir regelrechte Angstschauer über den Rücken.

In der Schule hatte ich wegen meiner Krankheit eine absolute Sonderstellung. Ich durfte mir so ziemlich alles erlauben, durfte kommen und gehen, wie mir danach war. Während der Chemotherapie untersagten meine Klinikärzte mir den Schulbesuch, da mein Immunsystem zu sehr angegriffen war. Ich gehorchte brav und blieb daheim. Fast jeden Tag kam eine Freundin vorbei und zeigte mir alles, was sie im Unterricht gemacht hatten. Doch Tag für Tag allein zu Hause zu hocken, war nicht wirklich schön.

ZumGlückdurfteichdannwährendderBestrahlungenwiederzurSchulegehen.EinTaxifahrerholtemichtäglichanderSchuleab,ummichdirektvondortzudenBestrahlungenindieStuttgarterKlinikzufahren.WasfüreinAufsehen!MeinehalbeKlassebegleitetemichtäglichzumTaxi.NachvierMonatenwarallesüberstanden.Ichwargeheilt,versichertendieÄrztemirundmeinenEltern.

Doch anderthalb Jahre später, mittlerweile war ich sechzehn Jahre alt, hatte ich plötzlich starke Schluckbeschwerden. Mein Hausarzt stellte beim Ultraschall ein Rezidiv fest. Der Lymphknotentumor war zurückgekehrt. Ein Rückfall. Schock!

Wieder wurde ich ins Olgahospital eingewiesen, wieder wurde eine Gewebeprobe entnommen, doch leider aus dem falschen Lymphknoten, weshalb ich nach fünf Tagen mit der Information entlassen wurde, mein Hausarzt habe Blödsinn erzählt, ich wäre vollkommen gesund. Die Biopsie würde keinen Anhalt für einen Rückfall bieten. Na, Gott sei Dank. Ich glaubte den Klinikärzten und ging erleichtert heim.

Aber die Schluckbeschwerden wurden immer schlimmer und mein Hausarzt immer nervöser, weshalb er mich nochmal in die Kinderklinik einwies. Diesmal beschimpften die Klinikärzte meinen Hausarzt auf das Schlimmste. Sie warfen ihm vor, unnötig Angst und Schrecken zu verbreiten.

Mittlerweile waren jedoch fast vier Monate vergangen, und ich konnte inzwischen nur noch Brei essen, so stark waren die Schluckbeschwerden. Daraufhin zog mein Hausarzt die Reißleine und wies mich in eine andere Klinik ein. Der Chefarzt dort nahm sich meiner an, ließ eine Computertomografie (CT) machen und die Vermutung meines Hausarztes wurde damit bestätigt: Ich hatte ein Rezidiv. Mir wurde empfohlen, mich erneut in der Kinderklinik behandeln zu lassen, da ich in der Onkologie für Erwachsene noch nichts verloren hätte.

Also kamen meine Eltern und ich wieder in der Kinderklinik an. Als die Ärzte die Bilder der Tomografie sahen, verstummten sie. Ich hatte das Gefühl, keiner wollte wahrhaben, was da schwarz auf weiß zu sehen war. Ich war das blühende Leben, hatte Blutwerte, die genial gut waren, und dann so eine Diagnose. Das wollte niemand wahrhaben – auch meine Ärzte nicht und ich spürte, wie sehr auch sie von dieser Diagnose geschockt waren.

Sie stellten einen Therapieplan auf, der sechs Monate Chemotherapie plus Bestrahlung enthielt. Von der Chemo weiß ich nicht mehr viel, nur dass ich mich oft stundenlang übergeben musste und dass wir Chemopatienten sogar zu den Schwestern in die Küche kommen durften, wo wir alles, was wir wollten, zu essen bekamen. Hauptsache war, dass wir überhaupt etwas aßen. Die Gespräche in der Küche taten gut, denn die Küche strahlte eine gewisse Normalität aus und hob sich damit wohltuend von der übrigen Krankenhauswelt ab.

Während dieser Zeit im Olgahospital lernte ich meine Stuttgarter Freundin Tanja kennen. Als sie eines Tages als ahnungsloser „Frischling“ in die Küche kam, nahm ich mich ihrer an und klärte sie auf über den Alltag auf der Station und die Therapien, die sie erwarteten. Zwischen uns entstand mehr als eine Schicksalsgemeinschaft, es wurde eine Freundschaft fürs Leben.

Meine Haare fielen mir nach einigen Wochen wieder büschelweise aus, bis meine Freundin Manuela, die zu der Zeit eine Ausbildung zur Friseurin machte, sie mir beherzt abrasierte. Ich bin ihr heute noch dankbar dafür, dass sie den Mut dazu hatte. Sie war auch diejenige, die mir das Gefühl gab, eine halbwegs normale Sechzehnjährige zu sein. Sie schminkte mich und peppte meine Perücke, die mir überhaupt nicht stand, mit Haarbändern oder Strähnchen auf. Damit schleppte sie mich dann auf Partys, zu denen ich alleine nie gegangen wäre.

In einem ohnehin schwierigen Alter tat die Krankheit ihr Übriges, um mich klein und eben nicht normal zu fühlen. Das gipfelte darin, dass ich mich regelrecht für mein Kranksein schämte. Doch ganz besonders schwer fiel es mir zu sehen, wie sehr meine Eltern litten, weil sie sich unentwegt um mich sorgten. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht schuld daran sein, dass sie schlaflose Nächte hatten.

Auf der Kinderonkologie war aber zum Glück nicht alles schlimm. Ich lernte dort viele andere Jugendliche kennen und unsere Devise lautete: geteiltes Leid ist halbes Leid. Zusammen standen wir die Chemos durch, bedauerten unsere aufgequollenen Cortisongesichter, machten Scherze mit den Krankenschwestern und liefen mit unseren piepsenden Infusomaten durch die Gänge. Hier fühlte sich das fast normal an.

Neben den Patienten waren dort auch viele andere Menschen, die mir beistanden. So haben mich zum Beispiel die Psychologin und der Sozialarbeiter oftmals motiviert und meine Tränen aufgefangen. Und die vielen liebevollen Krankenschwestern standen nicht selten stundenlang neben mir und hielten mir eine Spuckschale nach der anderen hin.

Meine Eltern kamen vor Angst um mich fast um. „Wenn dieses Rezidiv nicht besiegt wird, dann können wir nichts mehr für ihre Tochter tun!“, dieser Satz aus dem Mund eines behandelnden Arztes hatte sich in ihr Herz und Hirn gebrannt. Aber, ich schaffte es, ich wurde wieder gesund.

Nach einigen Jahren erlebte ich meine glücklichste Zeit: Ich heiratete, zog von Baden-Württemberg nach Nordrhein-Westfalen und bekam meine drei Kinder, Marvin (1997), Sarah (1999) und Theresa (2001)! Ich war oft erschöpft, denn die Krankheiten haben in meinem Körper ihre Spuren hinterlassen, aber die Freude am Leben zu sein, Kinder haben zu können und zu sehen, wie sie aufwachsen, ist größer. Nur leider blieb das nicht so, denn 2013 ereilte mich mit 39 Jahren zum ersten Mal die Diagnose Brustkrebs.

Ich kämpfte mich durch die dritte Chemotherapie meines Lebens, ließ mir beide Brüste abnehmen und Implantate einsetzen (ja, die Jolie-OP) und begann eine schwierige Hormontherapie. Nachdem ich das alles durchgestanden hatte, bin ich zwar am Leben, aber meine Ehe ist am Ende. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Jahre bis zu diesem Sommer 2017 überstanden habe. Es kann nur an Gott, meiner Familie, meinen vielen wunderbaren Freunden und an meinen Ärzten gelegen haben, die alle ausnahmslos zu mir standen, mich ermutigten, mich unterstützten und trugen. In diesem Sommer nun sollte endlich alles abgehakt sein. Gesundheitlich ging es mir hervorragend, die Notarverträge zur Scheidung waren verfasst und danach würde mein Leben endlich ruhiger werden. Keine Trennungsdiskussionen mehr, keine Krankheiten. Das war mein Plan! Bis zu diesem Anruf auf dem Erdbeerfeld.

Ich bete für dich

Die letzten Tage waren katastrophal. Im Kopf plane ich meine Beerdigung und wie ich die Nachricht von dem Rezidiv meinen Kindern beibringen kann. Schluchzend sitze ich bei meiner Stuttgarter Freundin Tanja. Sie nimmt mich in den Arm, reicht mir ein Taschentuch nach dem anderen und versucht mir Mut zu machen. Was würde ich nur ohne meine Tanja machen? Seit unserer gemeinsamen Behandlung im Olgahospital kennen wir uns. Uns verbindet eine Freundschaft, die auch ohne Worte weiß, was bei dem anderen los ist. Aber Tanja ist auch Optimistin in Person. Sie kann jeder Situation irgendetwas Gutes abringen. Und genau das versucht sie jetzt.

„Meine Freundin Susi kommt gleich vorbei“, sagt sie. „Sie möchte so gerne mit uns zusammen beten. Für dich, liebe Simone. Glaub mir, das wird dir guttun.“

Ich nicke, glaube es innerlich aber nicht. Dabei begleitet mich mein Glaube an Gott seit 35 Jahren durch mein Leben. Gott ist für mich Liebe, Hoffnung und Zuversicht. Wenn ich nicht mehr weiterkomme, frage ich ihn. Wenn ich vor Freude zerspringe, dann teile ich dankbar diese Freude mit ihm. Dankbarkeit ist ein Optimist! Wenn ich sehe, wofür ich dankbar sein kann, bekommt mein Leben Sinn. Wenn ich mich daran erinnere, wofür ich schon dankbar sein durfte, gibt mir das Kraft für die Zukunft.

Ich weiß, dass Gott aus purer Liebe zu mir handelt, obwohl ich sein Handeln oft nicht verstehen kann. Vor allem dann nicht, wenn in meinem Leben Dinge passieren, die ich höchst katastrophal finde, aber Gott anscheinend nicht. Das zu begreifen, ist das Schwerste überhaupt. Und genau da hänge ich jetzt. Vor vier Jahren hatte mich Gott durch die Krebstherapie getragen. Danach fühlte ich mich durch Gottes Kraft geheilt! Und nun wieder Krebs?

„Hallo Tanja“, zwitschert es fröhlich durch den Garten.

Tanjas Freundin Susi kommt auf uns zu. Sie hat lange braune Haare, trägt ein luftiges blaues Kleid und sieht aus wie eine Blumenelfe. Um zu uns zum Beten zu kommen, hat sie sich kurzfristig vom Kindergeburtstag ihres Sohnes losgeeist. Das rechne ich hier hoch an, gehe aber trotzdem davon aus, dass es nichts bringen wird. Sie umarmt Tanja und mich zur Begrüßung und kommt auch gleich zur Sache.

„Simone, ich möchte jetzt gern mit dir und Tanja beten, denn ich glaube, dass Gott dich heilen kann.“

Ja, ja, das habe ich auch mal geglaubt – damals vor vier Jahren, denke ich und sage aufbrausend: „Klar, darum lässt er mich ja auch gerade richtig in die Scheiße rennen.“

Doch Susi nimmt einfach meine Hand und führt mich zur Terrasse. Dort setzen wir uns. Tanja und ihre Tochter Anna kommen dazu und die drei nehmen mich in ihre Mitte.

Sie legen ihre Hände auf meinen Kopf und Susi legt zusätzlich ihre Hand auf die Stelle, wo der Tumor sitzt und fängt mit fester und klarer Stimme an zu beten: „In Jesu Namen nimm diesen Krebs weg. Herr, heile Simone ganz und vollständig. Jesus, sie ist doch dein Kind, sie ist dein Kind des Lichts, nimm dich ihrer an. Herr, dieser Tumor hat nichts, aber auch gar nichts in ihrem Körper verloren. Bitte, Herr, heile sie von jeder einzelnen Krebszelle.“

Ich lasse alles stumm über mich ergehen, bin innerlich jedoch völlig ergriffen von diesem kraftvollen Gebet. Plötzlich rollen Tränen über meine Wangen und ich spüre eine Kraft in mir, die vorher nicht da war. So etwas habe ich noch nie erlebt. Heilung, Heilung, Heilung, Heilung. Das Wort gräbt sich in meinen Kopf. Gott kann heilen. Er kann Wunder vollbringen. Immer noch. Auch bei mir?

Ich öffne die Augen. Da hocke ich zwischen Tanja, Anna und Susi auf der Couch. Die Autos fahren vorbei. Jonas, Tanjas Sohn, lacht auf der Schaukel im Garten und Sigi, Tanjas Mann, jätet im hinteren Teil des Gartens das Unkraut. Ein ganz normaler Frühsommertag. Nur in mir drin ist nichts mehr normal. Ich habe gerade Gott gespürt, seine Kraft aufgenommen, seine Liebe gefühlt. Was ist da gerade passiert?

Ich schaue Susi an, sage aber nichts. Doch ich kann in ihrem Blick sehen, dass auch sie die große Kraft gespürt hat, die von ihrem Gebet ausgegangen ist. Sie ist sich ganz sicher, dass Gott mich heilen wird. Ich möchte das auch so gerne glauben, kann es aber nicht. Vielleicht kann ich es aber auch nur noch nicht? Vertrauen kann man neu lernen – in vielen kleinen Schritten. Vielleicht. Vielleicht geht es doch.

Auf meiner Rückfahrt mit dem Zug von Stuttgart nach Gevelsberg beschäftigt mich dieses Gebet um Heilung sehr. Per WhatsApp schreibe ich meine Glaubensschwester Sabine an. Wenn, dann ist sie diejenige, die weiß, was da passiert ist. Und genau so ist es.

Sabine schickt mir einen kleinen Liedtext, der ihr zu meiner Geschichte einfällt: „Gott sende einen Engel, nur für dich, der gehe mit! Behütet und bewahrt, getragen und geführt, so geh auf deinem Weg, bis du heil angekommen bist.“

Da ist wieder dieses Wort: Heil. Heil für Heilung? Ich denke und horche in mich hinein, aber ich höre keine Antwort. Nichts.

Also nehme ich mir erst mal vor, zu Hause in Gevelsberg heil anzukommen. Doch das Heilungsgebet bekomme ich nicht so schnell aus meinem Kopf. Es war so unglaublich tröstlich und ermutigend, sodass ich das wieder erleben möchte. Also rufe ich meine Freundin Ina an, die in Schwelm zu einer freikirchenlichen Gemeinde, der CityChurch, gehört.

Ihr erzähle ich von dem Heilungsgebet in Stuttgart und frage sie, ob sie dasselbe für mich tun könne, denn ich bin voller Angst vor dem nächsten Tag in der Klinik, an dem die große Suche nach möglichen Metastasen losgehen wird.

Ina enttäuscht mich nicht. Innerhalb von zwei Stunden organisiert sie mit zwei weiteren Frauen ein Heilungsgebet für mich. Wieder werde ich in ihre Mitte genommen, wieder sind Hände auf meinem Kopf, auf meiner Schulter und Inas Hand auch direkt auf dem Tumor. Starke Gebete für meine Heilung werden gesprochen. Elke bittet um Schutz für mich und dass ich meine Sorgen abgeben darf. Iris betet für meine Familie und um Heilung meiner Seele. Ina betet für meine Kinder und um meine Heilung. Sie bittet Gott, meinen Körper zu heilen und jede Krebszelle zu vernichten. Zum Abschluss salbt sie mich mit Rosenöl auf der Stirn und am Tumor. Und zuletzt legt sie mir ein Armband um, das die Abkürzung P. U. S. H trägt. Das ist Englisch und heißt: Pray until something happens – bete bis etwas passiert! Das passt!

Es ist ein wunderbares Gefühl von Geborgenheit und Fürsorge, das mich voller Frieden nach Hause fahren lässt, und ich bin für den nächsten Tag gewappnet, für die Untersuchungen im Evangelischen Krankenhaus in Gelsenkirchen. Außerdem habe ich etwas sehr Wichtiges begriffen: Das Gebet ist heilig. Das Gebet gibt Mut, Zuversicht und Hoffnung. Im Gebet kann ich aber auch meinen Frust, meine Wut und mein Unverständnis abgeben, immer und immer wieder.

Das möchte ich auch tun, aber mir selbst fehlen die Worte. Zu sehr stehe ich noch unter Schock. Ich brauche jetzt Menschen, die für mich beten, weil ich es selbst nicht kann. Zu groß sind mein Unmut und mein Unverständnis darüber, warum Gott mir das alles zumutet. An diesem Abend gründe ich eine WhatsApp-Gebets- und Informationsgruppe. In dieser Gruppe sammle ich meine engsten Freunde und bitte sie, mich im Gebet zu begleiten. Das gibt mir schon in dem Moment, in dem ich die vielen Namen in die Gruppe einfüge viel, viel Mut und Kraft.

„Spuren im Sand“

Die WhatsApp-Gruppe erhält den Namen: „Spuren im Sand.“ Spuren im Sand ist ein Gedicht von Margret Fishback-Powers, in dem sie sich beklagt, dass sie sich in den schlimmsten Zeiten ihres Lebens von Gott verlassen fühlte, denn bei einem Spaziergang mit Jesus am Strand, waren im Sand statt der Spuren zweier Personen nur noch die von einem Menschen zu sehen. Doch dann sagt Jesus zu ihr: „Da, wo du nur eine Spur im Sand siehst, da habe ich dich getragen.“

Dieses Gedicht hat mich schon oft getröstet und gestärkt, weshalb es der richtige Name für diese Gruppe ist. Und so nehme ich mithilfe dieser Gruppe alle meine lieben Freunde mit ins Krankenhaus. Mit verschiedenen Fotos halte ich sie über den Untersuchungsmarathon auf dem Laufenden. Fotos von meiner Akte, Fotos vom Röntgen, vom Ultraschall und vom Knochenszintigramm. Aber auch Fotos von meinen Ärzten, die mich in den Arm nehmen und mit mir leiden. Bei den Untersuchungen wird geschaut, ob das Rezidiv, das sich auf der rechten Brust in der Haut befindet, schon in die Organe oder Knochen gestreut hat. Die Angst ist heute mein Dauerbegleiter und ich bin froh, alle meine Freunde bei mir zu haben.

Es tut mir gut, zwischen den Untersuchungen die vielen lieben Nachrichten zu lesen. Trotzdem ist der Druck in mir hoch und ich bin am Mittag vollkommen k. o. und sehr dankbar dafür, dass ich ein Bett zum Ausruhen bekomme. Aber schon kurze Zeit später kommt eine Ärztin und holt mich ins Besprechungszimmer. Ich bestehe zu 100 Prozent aus Angst. Dr. Abdallah, der Chefarzt, möchte persönlich mit mir sprechen. Ich habe keine Ahnung, ob ich das als gutes oder schlechtes Zeichen werten soll.

Doch bevor ich mich für eins entscheiden kann, kommt er auch schon auf mich zu. Dr. Abdallah trägt noch die blaue OP-Kluft, weil er an diesem Tag, wie an vielen anderen Tagen auch, mehr im OP steht als in seinem Arztzimmer. Er kommt aus dem Libanon und trotz seiner Größe strahlt er etwas sehr Beruhigendes aus. Seine Augen geben ihm etwas Gütiges, obwohl er sie hinter einer Brille versteckt. Seine Haare sind kurz und hier und da schimmert grau zwischen den dunklen Haarspitzen hindurch. Wenn er lächelt, dann lächelt irgendwie alles an ihm, und man muss unweigerlich mitlächeln.

So ein Lächeln wäre jetzt gut, denke ich, während ich nervös versuche, seinen Gesichtsausdruck zu lesen. Und dann sehe ich, wie seine Mundwinkel breiter werden und sich kleine Fältchen um seine wachen Augen bilden.

„Frau Heintze, Sie haben großes Glück! Keine Metastasen, es ist nur dieser eine Tumor in der rechten Brust und dort nur auf der Haut.“

Erleichtert atme ich auf, nicht nur Steine, ganze Berge plumpsen von mir. Die Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten, weinend falle ich meinem Arzt in die Arme. Dr. Abdallah hält mich schweigend, bis ich mich wieder beruhigt habe. Als ich mich schließlich von ihm löse, sehe ich, dass ich seinen blauen Kasak komplett nassgeheult habe. Ihn scheint das nicht weiter zu stören, denn er nimmt mich kurz drauf noch einmal in den Arm und drückt mich voller Zuversicht. Wir sind beide so erleichtert.

Seit über vier Jahren kenne ich Dr. Abdallah. Ich mag seine ruhige Art. Er ist für mich der Inbegriff von Fürsorglichkeit. Ein Arzt, der sich nicht hinter seinen Akten und Diagnosegeräten versteckt, sondern in schlimmen Momenten wirklich da ist als ein Mensch, der andere in den Arm nimmt und tröstet.

Wir setzen uns. Noch immer hält er mich dabei an der Hand. Für mich ist diese Geste wichtig. Da ist jemand an meiner Seite, der sich auskennt und mit mir zusammen diesen Krebs bekämpfen wird. Er hat mich schon durch meine erste Brustkrebstherapie begleitet und die OP mit dem Einsetzen der Implantate durchgeführt. Diesem Arzt vertraue ich blind.

Dr. Abdallah unterbreitet mir, was nun seiner Meinung nach zu tun ist. Zuerst OP und rechtes Implantat entfernen. Nach ein paar Wochen, Eierstöcke entfernen und mit der Hormontablette Letrozol beginnen.

Okay, machbar, ist mein erster Gedanke. In einem zweiten Gedanken aber realisiere ich, was das heißt. Nach der OP werde ich auf der rechten Seite keine Brust mehr haben. Links das Implantat, rechts nichts. Etwas in mir sagt, dass ich das nicht will.

„Nein“, antworte ich darum auf seinen Vorschlag. „Ich möchte das Implantat auf der linken Seite auch entfernt haben. Keiner kann mir sagen, ob der Tumor nicht auch links weitermacht. Das Risiko ist mir zu hoch. Ich weiß, dass ich mich erst sicher fühlen werde, wenn beide Implantate weg sind.“

Dr. Abdallah schaut mich an. „Es besteht überhaupt kein Grund, die linke Seite zu entfernen“, meint er.

„Ich weiß, medizinisch gesehen vielleicht nicht. Aber meine Angst ist ein Grund. Ich habe mich mit den Implantaten die ganze Zeit gut gefühlt, aber jetzt weiß ich, dass die Angst davor, da könnte wieder etwas wachsen, mich verrückt machen wird.“

„Das muss jetzt noch nicht entschieden werden“, meint er daraufhin leise. „Bedenken Sie bitte, Ihre Brust wäre dann komplett entfernt.“

Vorsichtig drückt er meine Hand, aber ich weiß genau, dass ich nicht länger darüber nachdenken muss und will. Das habe ich bereits in den letzten beiden Wochen getan.

„Nein“, sage ich, „ich muss nicht länger überlegen. Ich möchte das bisschen Leben, das mir noch bleibt, ohne Angst verbringen. Am linken Implantat sind so viele Fibrosen. Wissen Sie, wie lange das gut geht? Ich möchte mich heute darüber freuen können, dass es keine Metastasen gibt und ich will die komplette OP!“

Dr. Abdallah tut sich schwer damit, das sehe ich, trotzdem antwortet er: „Gut, Frau Heintze, wenn das Ihr Wunsch und Bauchgefühl ist, dann machen wir das.“

Ich bin beruhigt und erleichtert. Danke. Jemand, der meinen Wunsch respektiert und meine Entscheidung mit mir trägt. So jemanden brauche ich.

„Wissen Sie“, erzähle ich ihm, „ich habe eine WhatsApp-Gruppe, in der ganz viele Menschen für mich beten, auch für meine Ärzte und alle Menschen, die mich behandeln. Ich glaube ganz fest daran, dass Gebete Wunder bewirken.“

Dr. Abdallah lächelt: „Ich weiß, Frau Heintze, ich habe solch ein Wunder vor kurzer Zeit selbst erlebt, und ich bin froh und dankbar, dass für Sie gebetet wird.“

Langsam schlendere ich von der Klinik durch den Park zu meinem Auto. Das Gespräch mit Dr. Abdallah hat mich etwas beruhigt, aber ich brauche auch meinen Onkologen mit im Boot. Ohne noch länger zu überlegen, setze ich mich auf eine Parkbank und rufe Professor Strumberg an.

Professor Strumberg arbeitet im Marienhospital in Herne. Wenn ich nicht mehr weiterweiß, laufe ich bei ihm auf. Er ist der typische zerstreute Professor und hat tausend Dinge im Kopf – muss er auch, bei so vielen Patienten. Er ist groß, schlank und immer in Bewegung, seine Haare sind braun und wirken immer ein bisschen zerzaust. Seine Augen versteckt er hinter einer runden Brille mit dickem Gestell.

Besonders gerne mag ich seine Stimme, sie hat etwas Beruhigendes und sehr Tröstliches. Sie kann mich aber auch schelmisch aufziehen, mich zum Lachen bringen, mir Mut machen, mich Vorwärts schubsen. Und für wahr, beides hat er schon Millionen Mal bei mir einsetzen müssen. Kurz: Er ist der rote Faden in meiner Behandlungsgeschichte. Ich wähle seine Nummer und hoffe, dass ich ihn erreiche.

„Strumberg.“

Gott sei Dank!

„Ja, Heintze hier. Ich habe keine guten Nachrichten“, beginne ich ohne Umschweife. „Ich komme gerade von Dr. Abdallah. Ich habe ein Rezidiv in der Haut. Nächste Woche ist die OP und danach soll die Umstellung meiner Hormontherapie auf Letrozol beginnen. Ich wünsche mir, dass Sie und Ihr Team diese Umstellung begleiten.“

Ich weiß, dass ich ihn mit dieser Nachricht schockiere, aber es muss jetzt aus mir raus, bevor ich mich vielleicht nicht mehr traue. Ich höre, wie er am anderen Ende tief durchatmet.

„Sie haben ein Rezidiv?“

„Ja.“

„Ach, nein!“ Wieder Stille. „Was wissen Sie noch?“

Ich erkläre alles, was ich weiß und bekomme die Antwort, die ich so gerne hören möchte: „Natürlich begleiten wir hier die Umstellung der Hormontherapie. Kommen Sie einfach vorbei, wenn die OP durch ist. Ich werde mit dem Kollegen Abdallah alles Weitere besprechen.“

Erleichtert lege ich auf. Das ist gut. Professor Strumberg ist der beste Motivator überhaupt. Er hat mich durch die letzte Chemo geboxt, dann werden wir diese Hormontherapie auch schaffen. Ich fühle mich gut, zwei tolle Ärzte und ihr Team werden mich begleiten. Das ist in dem ganzen Mist das Beste, was mir passieren kann.

„Heute ist nicht der Tag zum Aufgeben, denn ich habe Gott und viele Menschen an meiner Seite“, geht es mir durch den Kopf. Aufgeben? Niemals! Mein Motto nimmt wieder Fahrt auf!

Juni 2017

Narben

Da liege ich also mal wieder in den Evangelischen Kliniken in Gelsenkirchen in meinem Krankenbett: In ein paar Stunden werde ich operiert und meine ganze „Gott-ist-bei-mir-Zuversicht“ bricht gerade in sich zusammen. Theresa, meine Jüngste, liegt krank zu Hause. Eine fette Erkältung. Und ich kann nichts für sie tun. Es ist zum Heulen! Ich weiß, meine Freundinnen und ihre Geschwister werden sich gut um sie kümmern – trotzdem, ich bin die Mama. Das wäre mein Job gewesen, und ich würde ihn von Herzen gerne übernehmen. Zu meiner Trauer kommt außerdem die panische Angst vor der OP, vor dem, was noch alles kommt. Keine Ahnung, was der Krebs noch vorhat. In diesem Moment packt mich die Wut.

Warumeigentlichimmerich?WarummussichjetztdurchdieseOPundwerdemeinesFrauseinsberaubt?Habeichnichtschongenugdurchgemacht?HalloGott,wobistdu?WasistdashiereigentlichfüreinmiesesSpiel?IstdasdeinPlan,ja?WarumhastdunichtauchfürmichmaleinWunderparat?WarumkonnteichnichtheuteMorgenaufwachenunddieHautaufdemrechtenImplantatistnichtmehrkrisseligeingezogen,sonderneinfachwunderschönglattundebenmäßig?Gott,ichverstehediesenganzenMistnicht!Bestrafstdumich?MitjederweiterenMinutesteigenmeineWut –undmeineAngst.