Warum Diversity uns alle angeht - Balian Buschbaum - E-Book

Warum Diversity uns alle angeht E-Book

Balian Buschbaum

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Beschreibung

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe vom Bestseller »Blaue Augen bleiben blau« Wie gehe ich mit Diversität im Alltag um? 2007 spricht ein junger Mann vor einem Millionenpublikum die Worte: »Ich bin Balian!« und kündigt seine bevorstehende Transition an. Balian Buschbaum wird zum Vorbild für viele Menschen auf dem Weg zu ihrer wahren Identität. Inzwischen ist das Thema Diversität mitten in der Gesellschaft angekommen, wird leidenschaftlich diskutiert, führt aber auch zu Unsicherheiten und Unverständnis. Balian Buschbaum klärt auf und beantwortet offen und verständlich Fragen zu den unterschiedlichen Diversity-Dimensionen, zu geschlechtlicher Identität und Selbstverständnis. Wie unterstützen Eltern ihre Kinder am besten? Wie kann der Freundeskreis, die Nachbarschaft mit den Neuigkeiten und persönlichen Veränderungen umgehen? Wie können Firmen die Vielfalt in ihrem Unternehmen besser fördern und einsetzen? Und Balian Buschbaum erzählt über seinen eigenen Weg. Fast 15 Jahre lebt er nun ein selbstbestimmtes Leben. Einen Schritt, für den er hart gekämpft hat, immer noch kämpft und für Aufklärung sorgt. Denn eins ist für Balian Buschbaum sicher: Ohne Diversität kein Überleben!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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MOBI

Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Balian Buschbaum

Warum Diversity uns alle angeht

Wie ich der wurde, der ich immer war

 

 

Über dieses Buch

 

 

Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe vom Bestseller »Blaue Augen bleiben blau«

 

Wie gehe ich mit Diversität im Alltag um?

2007 spricht ein junger Mann vor einem Millionenpublikum die Worte: »Ich bin Balian!« und kündigt seine bevorstehende Transition an. Balian Buschbaum wird zum Vorbild für viele Menschen auf dem Weg zu ihrer wahren Identität. Inzwischen ist das Thema Diversität mitten in der Gesellschaft angekommen, wird leidenschaftlich diskutiert, führt aber auch zu Unsicherheiten und Unverständnis. Balian Buschbaum klärt auf und beantwortet offen und verständlich Fragen zu den unterschiedlichen Diversity-Dimensionen, zu geschlechtlicher Identität und Selbstverständnis. Wie unterstützen Eltern ihre Kinder am besten? Wie kann der Freundeskreis, die Nachbarschaft mit den Neuigkeiten und persönlichen Veränderungen umgehen? Wie können Firmen die Vielfalt in ihrem Unternehmen besser fördern und einsetzen?

 

Das Buch besteht aus drei Teilen:

Der erste Teil zeigt, wie Vielfalt unser Leben und unsere Arbeitswelt bereichern kann, mit besondrem Blick auf die geschlechtliche Diversität. Dann folgt die leicht überarbeitete vollständige Fassung seiner Lebensgeschichte, die er in seinem ersten Buch »Blaue Augen bleiben blau« niedergeschrieben hat. Wie es ihm heute geht und was er seither alles erlebt hat, erzählt Balian Buschbaum im abschließenden Teil des Buches.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Balian Buschbaum, geboren 1980 in Ulm, ehemaliger Olympionike, Bestsellerautor, Speaker und Coach, arbeitet seit Jahren selbständig in den Bereichen Diversity, Change und neuem Bewusst|Sein. Auf Grund seiner besonderen Lebensgeschichte und konsequenter Transition ist er zum Vorbild vieler Menschen auf ihrem Weg zur wahren Identität geworden. Heute lebt er mit seiner Familie in Aschaffenburg.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Warum Diversity uns alle angeht

[Prolog]

Die sieben Diversity-Dimensionen

1. Herkunft

2. Religion/Weltanschauung

3. Physische oder psychische Fähigkeiten

4. Geschlecht

5. Lebensalter

6. Sexuelle Orientierung/geschlechtliche Identität

7. Soziale Herkunft

Sex check – Frau/Mann/divers*

Free your mind – Über geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung

Kleines Gender-Glossar

Adam, Eva und die Schlange mit den zwei Penissen

Eins, zwei oder drei – Vielfältige Kulturen

Tierische Vielfalt – Mensch, bist du langweilig

Das dritte Geschlecht macht Sport! – Nur wie?

Wie Eltern unterstützen können

Let’s get loud & out – Outing im privaten Umfeld

Trans@work

Blaue Augen bleiben blau

Prolog

Die Unsterblichkeit der Maikäfer

Die falsche Pubertät

Die Leidenschaft beginnt

Der Impuls Frau

Das Leben reißt entzwei

Die Erleuchtung

Der Ausbruch

Der Tag X

Die verborgenen drei Türen

Das wahre Leben

Der Kreis schließt sich

Warum ich meine Geschichte niedergeschrieben habe

Mein Leben nach »Blaue Augen bleiben blau«

Watermelon Love

Let’s dance – Let’s live

Ab in die Wüste

Als ich sie das erste Mal traf

Komm, lass uns auf Weltreise gehen!

Nicht allein

Peng!

Bali auf Bali

Family Life

Das Jahr, das uns alle traf

Alles ist gut

Danke

Der Leitfaden zum Download

TRANS*normal – Der Weg zum wahren Geschlecht

Verwendete Quellen und weiterführende Links

[Tafelteil]

Warum Diversity uns alle angeht

Ich stehe im Supermarkt vor einem Regal und möchte Schokolade kaufen. Meine Schokolade. Die mit der pinkgrauen Verpackung aus Hafermilch, vegan und mit Mandelstückchen drin. Mein Onkel liebt Vollmilch-Haselnuss, meine Freundin jede Art von Schokolade, meine Mama am liebsten die mit Marzipan und Omili kaufte uns und sich immer die »Küsschen«.

Ist die gewünschte Sorte nicht im Angebot, dann ist irgendjemand zu Hause enttäuscht, und zum nächsten Schokoladenkauf würde man vielleicht in ein anderes Geschäft gehen. Oder stellen Sie sich vor, es gäbe nur zwei verschiedene Sorten Nudeln. Fussili oder Spaghetti. Beim Obst nur Äpfel oder Bananen, und die Auswahl beim Gemüse wäre auf Tomaten und Kohlrabi beschränkt. Ihr Gesicht möchte ich sehen!

Was ich mit meinem Ausflug in den Supermarkt zeigen möchte: Es ist für uns ganz selbstverständlich und ausdrücklich erwünscht, dass wir beim Einkaufen alles in Vielzahl und enormer Vielfalt vorfinden, wir erwarten eine große Diversität. Warum tun wir uns dann mit der Diversität in unserer Gesellschaft so schwer?

Ich habe in den letzten Jahren mit vielen Großunternehmen und mittelständischen Firmen zusammengearbeitet, habe zahlreiche Vorträge und Workshops zum Thema Vielfalt gehalten und immer wieder erlebt, dass Geschäftsführung und Management das Thema Diversity, wenn überhaupt, eher als schmückende Beigabe ansahen, mit der sie nun ihre Firma ausstatten müssten, um einem zeitgeistigen Trend zu entsprechen.

Wenn aber die Einstellung der Führungsebene und der Mitarbeitenden, die Unternehmenswerte und der tägliche Umgang veraltet bleiben und nicht diversitykonform gehen, brauchen sich Unternehmen nicht wundern, wenn es sie in ein paar Jahren nicht mehr geben wird. Diversität ist eben mehr als das Hissen einer Regenbogenflagge oder ein Auftritt beim Christopher Street Day (CSD).

Diversity bedeutet Vielfalt und spielt im erweiterten Kontext auf die Anerkennung der Individualität jedes einzelnen Menschen und den bewussten Umgang mit seinen Verhaltensweisen und Fähigkeiten an. Im beruflichen Zusammenhang geht es darum, die Mitarbeitenden mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen so einzubinden, dass eine offene, gesunde und produktive Arbeitsatmosphäre entsteht. Denn vielfältige Teams sind nachweislich produktiver, lösungsorientierter und kommen zu schnelleren Ergebnissen. Im Prinzip ist ein intelligentes Diversity-Management einfach, doch dazu gehört eine bewusste Rezeptur aus Wissen, Schulung und Umsetzungswillen. Jedes Unternehmen verfügt über einen diversen Kundenstamm, wenn sich dieser in den Mitarbeitenden widerspiegelt und die Kundenbedürfnisse verstanden und ernstgenommen werden, führt genau das zum Erfolg.

 

Das Thema Diversity beschäftigt mich sehr, weit über meine Arbeit als Unternehmenscoach hinaus. Natürlich auch aufgrund meiner eigenen Lebensgeschichte. Vor über zehn Jahren, als ich »Blaue Augen bleiben blau« schrieb, war das Thema Diversity noch mit vielen Fragezeichen versehen. Auch von gesetzlicher Seite gab es damals erst Ansätze, Minderheiten zu stärken und Gleichberechtigung herzustellen, die noch nicht per Gesetz in Vollendung und Zufriedenheit beschlossen wurden. Wenn ich zudem sehe, wie viel Energie und Zeit Menschen auch heute noch darauf verschwenden, andere auszugrenzen und zu diskriminieren, dann aktivieren diese Verhaltensweisen sofort meinen Gerechtigkeitssinn. Denn Diversity ist Respekt, gelebte Intelligenz und Horizonterweiterung. Wenn Menschen wiederholt Diskriminierung erleben, verhindert das, dass sie ihre Potenziale voll entfalten und sich aktiv in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen können. Wenn Sie sich also fragen, was geht mich persönlich Diversität an, dann möchte ich Ihnen sagen:

VIEL!

Wenn wir als Gesellschaft vorankommen möchten und die großen zukünftigen Herausforderungen kreativ und nachhaltig lösen wollen, können wir das nur gemeinsam. Dabei können wir von unseren Unterschieden und Besonderheiten gegenseitig lernen und daran wachsen. Es geht darum, unseren Geist und unser Herz zu öffnen und uns darüber bewusst zu werden, dass wir alle in einem Boot, auf einer Erde sitzen und jeder von uns die Berechtigung für sein einzigartiges Sein hat. Gelebte Diversität sichert auch unsere eigenen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie sehen bestimmt anders aus als Ihre Nachbarin, haben vielleicht ein ausgefallenes Hobby, tragen Kleidung, die nicht jede*r trägt, und wollen, dass Ihr ganz persönlicher Lebenstil akzeptiert wird.

Abgesehen davon sichert Vielfalt unser aller Überleben, wie Sie im Kapitel tierische Vielfalt genauer nachlesen können. Ohne Diversität gäbe es keine Menschen! Die Natur macht es uns seit Abermillionen Jahren vor und kreiert immer wieder neue Variationen von Lebewesen, die sich an ihre Umwelt und den Wandel anpassen. Wir als Menschen dürfen uns aus diesem Entwicklungsprozess nicht hinausnehmen und schon gar nicht dagegen und gegen uns kämpfen.

Aber leider müssen Menschen, die in den Augen der gesellschaftlichen Mehrheit anders sind, für vieles kämpfen, was für den Großteil der Menschheit selbstverständlich ist. Sie müssen dafür kämpfen, so angenommen zu werden, wie sie sind. Ein Kampf, der irgendwie überflüssig erscheint, weil Diversität doch selbstverständlich sein sollte.

Sex check – Frau/Mann/divers*

Wissen Sie, welches Geschlecht Sie haben? Und die weitaus wichtigere Frage: Woher wissen Sie, welches Geschlecht Sie haben? Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass Sie zur Beantwortung dieser Frage nicht lange nachdenken oder an sich herunter schauen müssen. Sie wissen es einfach!

Es ist Ihr Selbstverständnis über sich und den eigenen Körper. Angenommen, Sie sind ein Mann und durch einen Unfall verlieren Sie einen Hoden oder noch schlimmer Ihren Penis, sind Sie dann trotzdem noch ein Mann?

Wenn eine Frau vielleicht durch eine Brustkrebserkrankung ihre Brüste verliert, ist sie dann immer noch eine Frau? Aber klar doch!, denken Sie jetzt, denn das Geschlecht wird nicht aufgrund der äußerlichen Geschlechtsmerkmale entschieden, sondern weil wir selbst wissen, was wir sind. Doch was ist mit Menschen, die sich weder eindeutig als Frau noch als Mann identifizieren?

Niemandem steht es zu, die Geschlechtsidentität eines Menschen anzuzweifeln. »Geschlechtsidentität ist ein Menschenrecht«. So steht es im Grundgesetz. Papier ist jedoch geduldig, und in betonierte Köpfe dringt nicht immer der modernste Fortschritt. Ende 2018 wurde zwar ein neues Gesetz erlassen, das intergeschlechtlichen Menschen ermöglicht, zwischen »weiblich«, »männlich« auch »divers« als dritte Geschlechtsoption im Geburtsregister und Pass eintragen zu lassen. Allerdings muss dieser Rohdiamant noch geschliffen werden, denn die Änderung des Geschlechtseintrages steht bisher nur einem eng begrenzten Personenkreis offen und ist an medizinische Bescheinigungen gebunden. Die menschenrechtliche Forderung nach Selbstbestimmung über den Geschlechtseintrag ist durch diese Bedingungen meines Erachtens noch nicht erfüllt worden und muss weiter diskutiert werden.

Andere Bereiche sind da schon weiter, auch ohne Gesetz. So lesen wir immer häufiger in Stellenausschreibungen zum Beispiel »Abteilungsleiter*in (m-w-d) oder (m-w-x).« Mit d und x sind Inter*menschen oder Menschen, die sich selbst weder als männlich oder weiblich einstufen, gemeint. Eine solche Form der Stellenausschreibung kann auch ein Hinweis für potenzielle Bewerbende sein, wie offen ein Unternehmen im Bezug auf Diversity ist. Dabei geht es nicht nur um Geschlechter- und Identitätsfragen, sondern auch um eine generelle Offenheit gegenüber gelebter Vielfalt.

Adam, Eva und die Schlange mit den zwei Penissen

Welchem Geschlecht ein Mensch angehören wird, ist ganz zu Beginn nicht eindeutig festzulegen. Aus bisheriger medizinisch-biologischer Sicht wird nach drei Geschlechtsbestimmungen unterschieden, die einander nicht unbedingt entsprechen müssen. Das genetische Geschlecht, das gonadale Geschlecht, das somatische Geschlecht.

Das somatische Geschlecht bezeichnet die Summe der körperlichen Merkmale mit männlicher bzw. weiblicher Ausprägung und wird vom Fehlen oder Vorhandensein einer Hodenanlage bestimmt, die in der Lage ist, Testosteron zu produzieren. Erst unter dem Einfluss von Testosteron bilden sich männliche innere und äußere Geschlechtsorgane aus. Fehlt es, so führt die Entwicklung automatisch zur Ausbildung weiblicher innerer und äußerer Geschlechtsorgane.

Das genetische Geschlecht wird über die Geschlechtschromosomen bestimmt, die das 23.Chromosomen-Paar bilden. Jede Eizelle trägt ein X-Chromosom. Das genetische Geschlecht hängt davon ab, ob durch das befruchtete Spermium ein X- oder ein Y-Chromosom dazu kombiniert wird. Die meisten Menschen haben 23 Chromosomenpaare, also 46 Chromosomen. Frauen haben in der Regel zwei XX-Chromosomen und Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Bei ca. einem von fünfhundert Männern kommt es aber zum Beispiel vor, dass sie ein zusätzliches X-Chromosom besitzen. Das nennt sich Klinefelter Syndrom, das zu einem eher weiblichen Körperbau, wenig Bartwuchs, kleinen Hoden etc. führen kann. In den meisten Fällen fällt diese Normvariante erst dann auf, wenn Paare den Ursachen des nicht gelingenden Kinderwunsches auf den Grund gehen. Denn häufig sind diese Männer unfruchtbar. Im Gegenzug gibt es die sogenannten X-Frauen, die in der Fachsprache das Turner Syndrom haben. Äußerlich wirken manche X-Frauen eher männlich, bei anderen wirkt sich diese Variante nicht großartig äußerlich aus.

Das gonadale Geschlecht bezieht sich auf die Ausprägung der Keimdrüsen- und Genitalanlagen, die sich bis zur ca. sechsten Schwangerschaftswoche zwischen den Geschlechtern nicht unterscheiden. Erst danach beginnt beim Embryo die Differenzierung von weiblichen bis zu männlichen Keimdrüsen und Genitalorganen. Bei den meisten weiblichen Entwicklungen wächst ca. ab der sechsten Schwangerschaftswoche die Wölbung zwischen den Beinen von Woche zu Woche zu den äußeren Geschlechtsmerkmalen wie Klitoris, den kleinen und großen Schamlippen heran. Aus derselben Wölbung entstehen bei männlichen Embryos Hoden und Penis. Im Körper des weiblichen Embryos wächst weiter Gewebe heran, das sich zu Gebärmutter, Eileiter und Vagina verwandelt. Was der Körper von dem zwittrigen Gewebe nicht benötigt, baut er einfach wieder ab. Bei den meisten männlichen Embryos bilden sich Nebenhoden, Samenleiter und Samenblase, und überflüssiges Gewebe bildet sich auch hier zurück. Um die Geschlechtsentwicklung zu vollenden, müssen sich noch die Keimdrüsen bilden. Die Keimdrüse, auch Geschlechtsdrüse oder Gonade genannt, ist ein Organ, in dem sich die Keimzellen, also Hoden oder Eierstock, entwickeln.

Zeitgleich nimmt auf einem kurzen Arm der Y-Chromosomen ein bestimmter Bereich seine Arbeit auf. Es ist das SRY-Gen, das Kürzel steht für sex-determining region: Das Gen ist die Bauanleitung für ein Eiweiß, das im Embryo weitere Gene aktiviert und das Startsignal für die Bildung der Hoden gibt. Beeinflusst wird diese Entwicklung von vielen Faktoren, unter anderem auch durch die Sexualhormone (Östrogen und Testosteron), die das Geschlecht ausbilden. Gesteuert wird dieser Prozess hauptsächlich in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), die entsprechend die Signale im Körper weiterleitet.

Grundsätzlich ist die Ausbildung männlicher Keimdrüsen vom Vorhandensein eines Y-Chromosoms abhängig. Doch selbst wenn diese Voraussetzung gegeben ist, können genetische Variablen die Ausbildung männlicher Gonaden und damit jede weitere Entwicklung männlicher Geschlechtsorgane beeinflussen. Fehlt das Y-Chromosom, oder sind bestimmte Funktionen blockiert, so bleibt die Gonadenanlage zunächst im indifferenten Stadium und entwickelt sich dann selbständig zu einem Eierstock.

Jedes Embryo würde als Mädchen zur Welt kommen, wenn der SRY-Genschalter nicht betätigt wird. Nur wenn dieser Genschalter in der frühen Phase der Schwangerschaft aktiviert wird, kann der bis dahin weibliche Fötus männliche Geschlechtsmerkmale entwickeln: mittels einer Kette von biochemischen Reaktionen entstehen aus ursprünglich weiblichen Organanlagen spezifisch männliche. Aus den vorgesehenen Eierstöcken werden Hoden.

Gängige Thesen behaupten, dass, sofern der SRY-Gen-Schalter nicht betätigt wird und vereinfacht ausgedrückt Testosteronschübe, die für die Ausbildung von Penis und Hoden zuständig sind, nicht erfolgen, der ursprüngliche Bauplan durcheinander gerät. Der Embryo folgt dann der Geschlechtsgrundeinstellung der Natur und bleibt anatomisch weiblich, obwohl die Identität männlich ist. Es wird ein Mann mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Umgekehrt verhält es sich ähnlich. Damit aus einem Embryo ein »vollständiges« Mädchen wird, entfallen die zuständigen Testosteronschübe, die für die Geschlechtsidentität wichtig sind. Wird aber der SRY-Genschalter aktiv und die zuständigen Testosteronschübe werden fälschlicherweise ausgeschüttet, entwickeln sich Penis und Hoden. Der Embryo bildet sich geschlechtlich-anatomisch männlich aus, obwohl die Identität weiblich ist. Es wird eine Frau mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Es ist also biologisch möglich, dass eine Frau einen Penis und ein Mann eine Vagina hat.

Wir sehen: Geschlechter verfügen über ein enormes Zwitterpotenzial, dies beweist eine identische Vorstufe sowie das Zusammenspiel derselben Hormone und Gene, die für die Geschlechtsentwicklung eine Rolle spielen. Für jeden Embryo bedeutet es, aus einer zwitterhaften und uneindeutigen Ausgangslage in eine weibliche bis männliche Richtung zu lenken.

Wie ähnlich unsere Geschlechter sind, zeigt beim erwachsenen Mann die leicht gerötete Naht an der Unterseite des Penis. Dieses Gewebe bleibt bei einem Mädchen offen. Entsprechend werden aus der Haut des Hodensacks bei einer Frau die großen Schamlippen. Unsere embryonale Veranlagung ist mitunter auch ein Grund, warum Männer zum Beispiel. Brustwarzen haben, obwohl sie sie nicht benötigen. Unsere Geschlechter sind sich daher ähnlicher, als wir glauben.

Innerhalb des embryonalen Entwicklungsprozesses kommt es häufig zu Normvarianten, die geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen sind.

Die Chromosomen, die Geschlechtsorgane und das Mengenverhältnis der Hormone im Blut können darüber entscheiden, ob ein Mensch von weiblich bis männlich und alles dazwischen ist. Dennoch spielen das Gehirn und vielmehr die tiefen Strukturen unserer DNA eine größere Rolle als alle biologischen Faktoren zusammen. Denn unser Oberstübchen und vor allem das innere Wissen über unser Sein sind sozusagen die Schaltzentrale und lachen über den Chromosomen-Geschlechtsorgane-Hormonsalat.

Zahlreiche Wissenschaftler sind sich inzwischen einig über die bedeutende Rolle der mehrdimensionalen Aspekte zur Geschlechtsentwicklung, dazu gehören die Genetik, die Anatomie, hormonelle Aspekte, die Umwelt, psychologische Faktoren, die durch gemeinsame Existenz und/oder Interaktion Einfluss auf unsere sexuelle Orientierung, Identität und das Geschlecht selbst haben. Das bedeutet laut der amerikanischen Biologin Julia Serano, dass jedes Individuum mit einem eigenen Geschlecht geboren wird und im Laufe seines Lebens dieses Geschlecht erkennen und leben darf.

 

In unserer binären Kultur sprechen wir meist nur von Mann und Frau und haben zumindest in unserem Alltag nur diese beiden Geschlechter auf dem Schirm. Wenn wir von Penis und Hoden sprechen, dann denken wir automatisch an Männer und im Gegenzug, wenn es um Brüste und Vagina geht, sehen wir eine Frau.

Dabei: Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die besagen, dass weltweit immer mehr Menschen geboren werden, bei denen eine eindeutige Geschlechtszuweisung nicht möglich ist. Gründe dafür, so wird vermutet, können auch Umwelteinflüsse, Ablagerungen von Hormonen im Trinkwasser, Impfschäden und Auswirkungen der Überbevölkerung und viele weitere sein.

Für Deutschland geht man davon aus, dass sich von ca. 5000 Geburten eine Geburt durch das Merkmal Trans*oder Inter*auszeichnet. Laut Deutscher Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität sind 0,25 Prozent aller geborenen Kinder weltweit transident.

Wie wir sehen, gibt es eine Fülle komplexer theoretischer Gedankenkonstrukte, Studien, Thesen und Gegenthesen, die alle ihre Berechtigung haben. Trans*normalität geht aber in Häufigkeit mit einer Form körperlicher Transition einher, die ihre Ursache in der Biologie des Seins bzw. des Körpers hat. Trans*normalität und alle anderen Normvarianten sind damit kein »Fehler« der Natur, sondern sie sind von der Biologie vorgesehen.

 

Einen ganz anderen Aspekt bringen die Professor*innen Michaela Bauks und Stefan Schorch ins Spiel. Die Bibelwissenschaftler*innen stellen sogar in Frage, ob Adam und Eva zwingend Mann und Frau waren. War das erste von Gott geschaffene Lebewesen vielleicht sogar androgyn, hat also weibliche und männliche Merkmale in sich vereinigt? »Adam« soll androgyn gewesen sein und der Name bedeutet, nach Aussage von Michaela Bauks, Mann, Mensch, Menschheit oder Jemand. Stefan Schorch sagt dazu: »In der hebräischen Bibel finden sich sehr verschiedene kulturelle Entwürfe von Sexualität, Partnerschaft und Familie.« Da die Schlange durch ihre Verführung, den Apfel zu essen, angeblich der Grund war, warum Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, sollten wir die Verführende genauer unter die Lupe nehmen. Auch bei der Schlange ist nämlich eine Abweichung der uns bekannten Fortpflanzungs-Norm zu finden. Die männliche Schlange verfügt über zwei Kopulationsorgane, sogenannte Hemipenes, und weibliche Exemplare besitzen zwei Hemiclitoris.

 

Die Welt kennt keine Grenzen in ihrer Vielfalt, daher ist es wichtig, dass wir allen Menschen die entsprechende Unterstützung geben, die sie auf ihrem Weg benötigen und uns vielleicht nicht so sehr auf die Frage stürzen, wie Geschlechter zu sein oder auszusehen haben. Alle Lebewesen sind geschlechtlich einzigartig und Vielfalt ist die Norm. Ein Support beginnt in erster Linie mit Aufklärung und Verständnis. Ich als einzelner Mensch und Sie als Individuum – WIR haben jederzeit und jeder für sich die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, ob wir Menschen unterstützen oder durch Unverständnis im Weg stehen wollen. Lassen Sie uns gemeinsam den weiten Raum der Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten entdecken!

Eins, zwei oder drei – Vielfältige Kulturen

Wenn wir unseren Horizont öffnen, dann finden wir geschlechtliche Vielfalt in allen Religionen, Kulturen und auf allen Erdteilen. Es gibt Völker, die noch nie nach einem binären System gelebt haben. In einigen Kulturen werden zum Beispiel Trans*und/oder Inter-Menschen als Angehörige des »dritten Geschlechts« gesehen, wie zum Beispiel die Two-Spirits bei der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, die indischen Hijras, die Khanith des Omans oder die thailändischen Katoys. Das Volk der Bugi auf der indonesischen Insel Sulawesi unterscheidet nicht nur drei Geschlechter, sondern es ist für sie ganz natürlich, dass fünf Geschlechter existieren. Neben Frauen und Männern gibt es die Calalai, anatomische Frauen mit typisch männlichen Vorlieben, und die Calabai, anatomisch Männer mit typisch weiblichen Vorlieben. Das fünfte Geschlecht nennen sie Bissu – es sind heiliggesprochene Menschen, die ein hohes Ansehen haben. Diese Menschen sind weder eindeutig Mann noch Frau, sondern eine Kombination von beidem. Sie haben ihre eigene Kleidung, können anatomisch weiblich, männlich, inter oder trans sein und gelten als Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern. Auch im Buddhismus und Hinduismus finden sich inter*Götter, und bei den Inkas nahmen solche Menschen eine besondere Rolle ein. Ihnen wurde nachgesagt, über besondere Gaben zu verfügen, wie übernatürliche Wahrnehmungen, die Fähigkeit Menschen zu heilen und auf besonderen Wegen zu begleiten, die über das menschliche Denken hinausgehen, weil sie die Geschlechter in sich vereinigen und somit eine direktere Verbindung zum geschlechtslosen Göttlichen aufzeigen.

Tierische Vielfalt – Mensch, bist du langweilig

Wer kennt sie nicht, die Geschichte des orange-schwarz-weiß gestreiften Fisches Namens Nemo. Sofern Sie sich nicht mehr erinnern, was in diesem Kinderfilm passiert ist, schildere ich es Ihnen kurz. Nemo kam mit einer »Behinderung«, einer kleinen verkümmerten Flosse, auf die Welt. Seine Mutter starb, und sein Vater zog ihn alleine auf. Hätte Walt Disney aber die biologische Wahrheit verfilmt, wäre der Film anders verlaufen. Clownfische, zu denen auch Nemo gehört, haben besondere Wandlungsfähigkeiten, was ihr Geschlecht anbetrifft. Die Jungtiere besitzen zunächst kein Geschlecht und leben in Gruppen zusammen. Irgendwann bilden der größte und der kleinste Fisch aus einer Gruppe ein Paar, wobei der größere Fisch zum Weibchen wird und der kleinere den männlichen Part übernimmt. Doch so muss es nicht ein ganzes Fischleben lang bleiben. Sofern die Muttertiere, wie bei Nemo, sterben, wandeln die Clownfisch-Väter ihr Geschlecht um, werden zum Weibchen und suchen sich ein neues Männchen.

Der Papa von Nemo hätte sich im Film biologisch korrekt eigentlich in eine Mama umwandeln müssen. Na, wer wäre da wohl schreiend aus dem Kino gerannt? Die Eltern oder die Kinder? Ich vermute, Sie raten richtig. Es wären doch wohl eher die Eltern gewesen, die sich daran gestört hätten. Kinder würden sich nichts weiter dabei denken.

In der Tierwelt existiert so viel geschlechtliche Vielfalt, dass unser Menschsein dagegen fast langweilig wirkt. Bei den Seepferdchen beispielsweise produziert das Weibchen die Eier und legt diese beim Geschlechtsakt dem Männchen in seine Bauchtasche, wo sie befruchtet werden. Nach zehn bis zwölf Tagen gebärt dann das Männchen die Jungfische. Bei den Breitfußschnecken herrscht reinstes Geschlechterchaos. Sie sind Zwitter und besitzen männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale zugleich. Damit diese Tiere keinen Würfel werfen müssen, wer Männchen und wer Weibchen ist, bilden die in Kolonien lebenden Schnecken bei der Befruchtung eine lange Reihe, und alle dürfen alles sein und jeder darf mal ran, um das Ziel Spezieserhaltung zu gewährleisten. So sind zwar Schnecken in unserem Sinne eher langsam in ihrem Vorankommen, aber äußerst flexibel, was das Geschlecht betrifft.

Warum pflanzen sich eigentlich nahezu alle Organismen sexuell fort? Wer hat’s erfunden? Ginge es nur um Zahlen, Daten, Fakten, wäre Sex schon längst überholt oder im Verlauf der Evolution gar nicht erst aufgekommen, denn am Reproduktionserfolg kann es nicht liegen. Wie man auch ohne Sex überlebt, zeigen uns viele Beispiele aus der Natur. Sie kennen Sie auch, die nervigen Blattläuse, die sich so schnell vermehren, dass man kaum hinterherkommt, sie wieder aus der Wohnung auszuladen. Was viele nicht wissen: Ihre Vermehrung erfolgt gewöhnlich durch sogenannte Jungfernzeugung (Parthenogenese), also ohne Befruchtung der Eier. Ebenso leben Kleinkrebse, Quallen und Schnecken den wiederkehrenden Wechsel von geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung. Sogar vor manchen Haiarten, der Blumentopfschlange, dem Jungfern-Gecko und der Weißbauch-Felseneidechse macht die Jungfernzeugung nicht Halt.

Ein Highlight an tierischer Vielfalt präsentiert für mich der Plattwurm. Er ist ein proterandrischer Zwitter/Hermaphrodit. Das bedeutet, er besitzt beide Geschlechter, und seine männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane haben unterschiedliche Reifezeitpunkte. Wenn Plattwürmer sich paaren wollen, muss zunächst entschieden werden, welcher von beiden welche Geschlechtsrolle übernimmt. Diese Entscheidung wird mit dem sogenannten Peniskampf getroffen. Hierzu treten die Plattwürmer gegeneinander an. Der Gewinner, der den anderen mit seinem Penis »sticht«, bleibt männlich! Der »neue« weibliche Plattwurm wird sodann mit Sperma gefüllt und zum Träger der Nachkommen! Ist die Natur nicht herrlich vielfältig?

Das wohl eindrücklichste Beispiel, warum Vielfalt überlebenswichtig ist, zeigen uns die Wasserflöhe. Sie sind zunächst alle weiblich und teilweise asexuell und verfügen über die Möglichkeit, sich selbst zu klonen. Bei dieser Spezies spielt die Populationsrate und Geschlechterverteilung eine große Rolle. Bei einer Übersättigung in einem Teich an weiblichen Flöhen, beginnen männliche Flöhe zu schlüpfen. Diese Männchen paaren sich dann mit ihrem weiblichen Pendant. Die so produzierten Eier schlüpfen allerdings erst dann aus, wenn das Problem der Überbevölkerung behoben ist. Die asexuelle Fortpflanzung hat in der Evolution aber einen erheblichen Nachteil, und das ist auch der Grund, warum sich Wasserflöhe nicht nur asexuell fortpflanzen, sondern sich auch mal paaren: Die asexuelle Fortpflanzung erzeugt normalerweise zu wenig genetische Variabilität. Die Nachkommen sind im Prinzip genetische Klone des ausgetragenen Lebewesens/Einzeller. Für das langfristige Überleben ist es aber notwendig, dass Organismen sich ständig neu an die Umwelt anpassen. Es ist also evolutionsbedingt wichtig, dass vielfältiges Erbgut zusammenkommt und dieses bei den Nachkommen kombiniert wird. So werden positive Mutationen zusammengeführt und negative überdeckt, um das Überleben der Spezies zu sichern.

Das dritte Geschlecht macht Sport! – Nur wie?

Ein Bereich, der mir besonders am Herzen liegt, weil er viel mit meiner Biographie zu tun hat, ist der Sport.

Dass es im (Spitzen-)Sport wegen der Chancengleichheit eine klare Geschlechtertrennung geben muss, ist für viele Sporttreibende klar. Aufgrund der Tatsache, dass Männer durch ihr Hormonverhältnis mehr Testosteron produzieren und dadurch über mehr Kraft verfügen, sind sie im Vorteil gegenüber Frauen. Doch schon seit längerer Zeit wird nicht nur im Sport beobachtet, dass es aus hormoneller Sicht immer mehr zu einer Angleichung der Geschlechter kommt. Und das wirft die Frage nach der Grenze zwischen natürlicher Gabe und unfairem Vorteil auf.

Ein Beispiel aus der Spitzensportwelt ist Caster Semenya, die 800-Meter-Siegerin bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin. Aufgrund von Protesten über ihren deutlichen Sieg, bei dem sie die Konkurrenz weit hinter sich ließ, veranlasste die IAAF eine wissenschaftliche Untersuchung zur Bestimmung des Geschlechts der Athletin. Herauskam, dass Semenya mehr körpereigenes Testosteron produziert als die Durchschnittsfrau und entsprechend der Kategorisierung ein intergeschlechtlicher Mensch ist. Das Diktat des Sportverbandes, sich einer Operation oder einer Hormontherapie zur Limitierung des Testosterons zu unterwerfen, um startberechtigt zu sein, hob das oberste Sport-Schiedsgericht wieder auf. Eine richtige Entscheidung, wie ich finde. Denn Usain Bold, Michael Phelps und andere zahlreiche Ausnahmeathleten, haben auch jahrelang ihre Konkurrenz in den Schatten gestellt. Hätte man jemals von Bold verlangt, sich die Beine kürzen zu lassen, damit er seinen natürlichen Vorteil nicht mehr ausspielen kann? Hätte man Phelps gesagt, es ist unfair, dass du so lange Arme hast, und ab sofort musst du dagegen ein Mittel einnehmen? Sicher nicht, doch bei Semenya hatten einige keine Probleme solch entwürdigende Forderungen zu stellen.

Semenyas Konkurrentinnen aber sahen in ihr eine unschlagbare Gegnerin. Andere argumentierten, dass es diskriminierend sei, sie auszuschließen. Semenya selbst sagte: »Ich bin so geboren und möchte nichts an mir ändern. Es ist eine Gabe.«

Laut Untersuchungen nehmen mehr als ein Dutzend Sportlerinnen mit natürlich erhöhten Testosteronwerten an Leichtathletik-Wettbewerben teil und wahrscheinlich werden es in Zukunft immer mehr werden. Nachdem das Bundesverfassungsgericht das dritte Geschlecht anerkannt hat, stehen die Politik und der Sport im Zugzwang, die sich daraus ergebenden Konsequenzen umzusetzen. Funktionär*innen und die Sportorganisationen müssen sich Möglichkeiten überlegen, wie eine generelle Wettkampfteilnahme von betroffenen Athleten bzw. primär Athletinnen gestaltet werden kann. Soll man sie in die bestehenden Geschlechter integrieren, um sich nicht dem Vorwurf der Diskriminierung ausgesetzt zu fühlen. Wobei sich da gleich die nächste Frage anschließt: Wenn Integration, in welcher Kategorie dürfen Inter*Menschen dann starten? Bei den Frauen oder bei den Männern? Und wer legt das im Einzelfall fest? Vielleicht sollte es auch eine eigene Rubrik für das dritte Geschlecht geben? Aus meiner Sicht wird aber auch eine Anerkennung über das dritte Geschlecht nicht genügen. Es gibt über intergeschlechtliche Menschen hinaus noch viele weitere Geschlechtsoptionen. Das Geschlecht X sollte eingeführt werden, das alle Menschen miteinbeziehen würde.

Das oberste Sportgericht entscheidet, wie man mit den natürlichen Variationen des Menschen verfährt, und wie offen Sportangebote für Menschen sind, die weder Mann noch Frau sein können. Bei der Beantwortung sind meiner Meinung nach zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen muss der EU-Grundrechte-Charta, die den Anspruch Intergeschlechtlicher auf Gleichbehandlung festschreibt, entsprochen, und zum anderen der Anspruch des Sports auf fairen Leistungsvergleich umgesetzt werden.

Neue Regularien sind in Arbeit, und der Sport wird sich wohl darauf einigen, dass der Testosteronwert entscheidend darüber sein wird, ob ein Mensch bei den Frauen oder den Männern starten muss. Vielleicht wird es in ein paar Jahren auch drei Olympioniken im 100-Meter-Sprintfinale geben. Eine Frau, ein Mann und ein X-Mensch.

Wie Eltern unterstützen können

Neben den Briefen, E-Mails von Betroffenen erreichen mich auch immer wieder Briefe von Müttern und Vätern.

Lieber Herr Buschbaum,

mein Name ist Laura, und ich bin Mutter einer Tochter. Sie heißt Marlene, und nächste Woche wird sie drei Jahre alt. Da ich in einem ziemlich engstirnigen Umfeld lebe, und mein Mann mich, bzw. das, was ich Ihnen gleich schreiben werde, nicht ernst nimmt, wende ich mich an Sie. Seit Marlene zwei Jahre alt ist, kommen von ihr verschiedene Äußerungen bezüglich ihres Geschlechts. Sie konnte noch nicht ihren Namen richtig aussprechen, da sagte sie bereits: »Marle Junge«.

Mein Mann intervenierte und sagte ihr, dass sie ein Mädchen sei. Ich selbst ging dazu über, ihr zu sagen, dass sie sein dürfe, was immer sie wolle (was mein Mann aber – mit Verlaub – richtig scheiße fand). Mit etwa zweieinhalb hatte Marlene erste Wein- und Trotzanfälle, bei denen sie »Ich will auch einen Penis!« schrie. Gestern Abend sagte sie mir: »Ich will ein Junge sein.« Auf meine Frage hin, warum, sagte sie, dass der Fynn (ein jüngeres Kind in ihrer KiTa) ja auch schon ein Junge sei.

Sie vergleicht sich immer wieder mit anderen Jungs, wie zum Beispiel mit ihrem Cousin, und spielt in der KiTa am liebsten mit anderen Jungen. Ihre Äußerungen sind nicht dahingehend, dass sie das Mädchensein ablehnt, oder zumindest hat sie bisher nichts dergleichen geäußert. Aber für sie scheint das Leben als Junge zumindest erstrebenswert(er) zu sein. Mein Mann macht sich diesbezüglich wenig Gedanken und ist der Meinung, dass sich das »auswachsen« wird. Ich selbst bin verunsichert und habe ein wenig zu dem Thema Transidentität recherchiert. Marlene ist ein wildes Kind (so wie ich und mein Mann es auch waren) und hatte bereits sehr früh ihren eigenen Kopf und einen extrem starken Willen und Charakter. Selbst in der KiTa waren die ErzieherInnen über ihre frühen Wutausbrüche und ihre Charakterfestigkeit und Beharrlichkeit erstaunt. Ihre verbalen Fähigkeiten sind bereits stark ausgeprägt. Meine Frage an Sie ist nun: Glauben Sie, dass man in einem so frühen Alter schon wirklich davon ausgehen kann, dass sie als Junge leben möchte? Und wie kann ich ihr helfen und beistehen, den richtigen Weg für sich zu finden (die Frage aller Fragen sozusagen). Ich liebe meine Tochter, ganz egal, wie sie ist und was sie sein möchte. Ich möchte nur eines: dass sie glücklich ist und wird.

Viele herzliche Grüße

Laura H.

Nicht nur Eltern von trans*normalen Kindern spüren meist schon sehr früh, dass ihr Kind anders ist, sondern Eltern haben generell ein Gefühl für ihre Kinder. Dabei gibt es kein eindeutiges Verhalten, das auf eine Trans*normalität hinweist. Manche Kinder sind introvertiert, beobachten ihre Welt und versuchen ihre innere Zerrissenheit mit sich selbst auszumachen. Andere sind extrovertiert und preschen mit ihrem Sein voran. Häufig äußert sich die empfundene Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwahrnehmung durch Unkonzentriertheit, Wutausbrüche und Trauer über das eigene Unverständnis und das Nichtverständnis des Umfeldes.

Trans*normalität kann in jeder Familie vorkommen und resultiert nicht aus einer »falschen« Erziehung. Transkinder merken bereits oft selbst sehr früh, dass sie anders als die anderen Kinder sind. Sie fühlen sich im Spiel häufig dem Geschlecht zugehörig, das sie im Inneren sind. »Jungen« ziehen gerne Kleider an, lieben es sich zu schminken, selbst wenn es sonst niemand in ihrem Umfeld tut. »Mädchen« raufen sich gerne, messen sich mit anderen Jungs, tragen oft die Haare kurz und interessieren sich für typisch »männliche« Spiele und Spielsachen. Sie ahmen dabei nicht nach, sondern folgen ihrem Gefühl, ihrem Sein. Sie wirken »weiblich« bzw. »männlich«, und dieses Verhalten resultiert aus ihrem Selbstverständnis, dass sie eben weiblich bzw. männlich sind.

Manche Kinder artikulieren schon sobald sie sprechen können, dass sie ein Junge sind, obwohl ihr Umfeld sie als »Mädchen« sieht. Und umgekehrt. Häufig wird dieses Sein als eine Art Empfindung beschrieben, so wie Marlene es mit zweieinhalb Jahren ausdrückte. Wenig später wird es dann konkreter: »Ich will auch einen Penis«, fordert das »Mädchen«, und ein als »Junge« angesehenes Kind erklärt den Eltern dagegen, dass der Penis nicht zu ihm gehört und er sich wünscht, ihn abschneiden zu können.

Eltern sind mit solchen direkten Aussagen oft überfordert oder tun das Verhalten ihrer Kinder als eine Phase ab, die sich »auswachsen« wird. Gerade Vätern fehlt da häufig Empathie und Akzeptanz. Mit Sätzen wie »Leo, du bist kein Mädchen! Du bist ein Junge!« versuchen sie zu intervenieren und zu beeinflussen und wundern sich dann, wenn sie vor Wut den Bauklotz an den Kopf geworfen bekommen. Doch wenn das Kind wirklich trans*normal ist, wird »es« sich nicht auswachsen, und die Eltern werden so lange den kindlichen Unmut zu spüren bekommen, bis sie ihr Kind ernst nehmen.

Vor einiger Zeit war eine Familie mit ihrer 16-jährigen Tochter bei mir zur Beratung. Sie hatten viele Fragen, auf die sie Antworten suchten. Dabei spürte ich deutlich, dass vor allem die Mutter große Angst hatte, eine falsche Entscheidung zu treffen, die erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft ihres Kindes haben würde.

Die Familie musste bereits vor ein paar Jahren schon eine Entscheidung bezüglich der Pubertätsblocker treffen, die ihrem Kind Zeit verschaffte, über sich selbst und seine geschlechtliche Identität klarzuwerden, denn wäre es in die männliche Pubertät gekommen, wäre zum Beispiel die tiefe Stimme nahezu unumkehrbar gewesen. Ebenso hätte es sich vielleicht mit der vermehrten Körperbehaarung und dem Bartwuchs verhalten.

Der Vater selbst war zuerst gegen den Einsatz der Pubertätsblocker gewesen und brauchte auch lange, bis er verstand, dass er sein Kind verlieren würde, sofern er es nicht unterstützt.

Der Teenager war bei unserem Termin sehr reflektiert, sprachlich auf Zack und machte ganz klar: Ich weiß wer ich bin, und ich möchte über mich selbst entscheiden und bestimmen. Ich bin eine junge Frau und möchte als das angesehen werden, was ich bin. So war es bei dem Gespräch meine Aufgabe, den Eltern die Ängste zu nehmen und das Vertauen in die klare Entscheidung ihres Kindes zu stärken.

Zehn Dinge, die (allen) Kindern guttun

Nimm dein Kind an, so wie es ist.

Steh ihm bei, auch gegenüber anderen.

Spreche ihm Mut zu, so zu sein, wie es sein möchte.

Vertraue deinem Kind, es weiß selbst, was gut für es ist.

Schenke ihm deine Aufmerksamkeit.

Sage ihm, dass du da bist, was auch immer geschieht.

Hab Geduld, auch wenn es manchmal schwerfällt.

Sage deinem Kind, dass es (fast) alles erreichen kann, wovon es träumt.

Lass dein Kind los, wenn es bereit zu fliegen ist.

Sei da, wenn es stürzt und ermutige es erneut.