Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/52 - Martin Heidegger - E-Book

Was heißt Denken? Vorlesung Wintersemester 1951/52 E-Book

Martin Heidegger

0,0
6,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Heidegger gibt in seiner Vorlesung von 1951/52 auf die im Titel gestellte Frage keine Antwort, die man einfach nur zur Kenntnis nehmen müsste. Denn: »In das, was Denken heißt, gelangen wir, wenn wir selber denken. Damit ein solcher Versuch glückt, müssen wir bereit sein, das Denken zu lernen.« Das aber heißt, dass wir noch nicht – jedenfalls nicht eigentlich – denken. Warum? Heidegger fand in diesem Text den nötigen Schritt des Denkens deutlicher gemacht als in allen seinen anderen Schriften. Mark Michalski hat für diesen Band ein neues Nachwort verfasst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 107

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Martin Heidegger

Was heißt Denken?

Vorlesung Wintersemester 1951/52

Mit einem Nachwort von Mark Michalski

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 14491

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962216-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014491-6

www.reclam.de

Inhalt

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

Nachwort

I

In das, was Denken heißt, gelangen wir, wenn wir selber denken. Damit ein solcher Versuch glückt, müssen wir bereit sein, das Denken zu lernen.

Sobald wir uns auf dieses Lernen einlassen, haben wir auch schon zugestanden, daß wir das Denken noch nicht vermögen.

Aber der Mensch heißt doch der, der denken kann – und das mit Recht. Denn er ist das vernünftige Lebewesen. Die Vernunft, die ratio, entfaltet sich im Denken. Als das vernünftige Lebewesen muß der Mensch denken können, wenn er nur will. Indes will der Mensch vielleicht denken und kann es doch nicht. Am Ende will er bei diesem Denkenwollen zu viel und kann deshalb zu wenig. Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat. Allein dieses Mögliche verbürgt uns noch nicht, daß wir es vermögen. Denn wir vermögen nur das, was wir mögen. Aber wir mögen wiederum wahrhaft nur Jenes, was seinerseits uns selber und zwar uns in unserem Wesen mag, indem es sich unserem Wesen als das zuspricht, was uns im Wesen hält. Halten heißt eigentlich hüten, auf dem Weideland weiden lassen. Was uns in unserem Wesen hält, hält uns jedoch nur so lange, als wir selber von uns her das Haltende be-halten. Wir behalten es, wenn wir es nicht aus dem Gedächtnis lassen. Das Gedächtnis ist die Versammlung des Denkens. Worauf? Auf das, was uns hält, insofern es bei uns bedacht ist, bedacht nämlich deshalb, weil Es das zu-Bedenkende bleibt. Das Bedachte ist das mit einem Andenken Beschenkte, beschenkt, weil wir es mögen. Nur wenn wir das mögen, was in sich das zu-Bedenkende ist, vermögen wir das Denken.

Um das Denken zu vermögen, müssen wir es lernen. Was ist Lernen? Der Mensch lernt, insofern er sein Tun und Lassen zu dem in die Entsprechung bringt, was ihm jeweils an Wesenhaftem zugesprochen wird. Das Denken lernen wir, indem wir auf das achten, was es zu bedenken gibt.

Unsere Sprache nennt z.B. das, was zum Wesen des Freundes gehört, das Freundliche. Dementsprechend nennen wir jetzt das, was in sich das zu-Bedenkende ist: das Bedenkliche. Alles Bedenkliche gibt zu denken. Aber es gibt diese Gabe immer nur insoweit, als das Bedenkliche von sich her schon das zu-Bedenkende ist. Wir nennen jetzt und in der Folge dasjenige, was stets, weil einsther und allem voraus, zu bedenken bleibt: das Bedenklichste. Was ist das Bedenklichste? Wie zeigt es sich in unserer bedenklichen Zeit?

Das Bedenklichste ist, daß wir noch nicht denken; immer noch nicht, obgleich der Weltzustand fortgesetzt bedenklicher wird. Dieser Vorgang scheint freilich eher zu fordern, daß der Mensch handelt und zwar ohne Verzug, statt in Konferenzen und auf Kongressen zu reden und sich im bloßen Vorstellen dessen zu bewegen, was sein sollte und wie es gemacht werden müßte. Somit fehlt es am Handeln und keineswegs am Denken.

Und dennoch – vielleicht hat der bisherige Mensch seit Jahrhunderten bereits zu viel gehandelt und zu wenig gedacht. Aber wie kann heute jemand behaupten, daß wir noch nicht denken, wo doch überall das Interesse für die Philosophie rege ist und immer lauter wird, wo beinahe jedermann wissen will, was es denn mit der Philosophie auf sich hat. Die Philosophen sind »die« Denker. So heißen sie, weil sich das Denken eigentlich in der Philosophie abspielt.

Niemand wird bestreiten wollen, daß heute ein Interesse für die Philosophie besteht. Doch gibt es heute noch etwas, wofür der Mensch sich nicht interessiert, in der Weise nämlich, wie er das »Interessieren« versteht?

Inter-esse heißt: unter und zwischen den Sachen sein, mitten in einer Sache stehen und bei ihr bleiben. Allein für das heutige Interesse gilt nur das Interessante. Das ist solches, was erlaubt, im nächsten Augenblick schon gleichgültig zu sein und durch anderes abgelöst zu werden, was einen dann ebensowenig angeht wie das vorige. Man meint heute oft, etwas dadurch besonders zu würdigen, daß man es interessant findet. In Wahrheit hat man durch dieses Urteil das Interessante bereits in das Gleichgültige und alsbald Langweilige abgeschoben.

Daß man für die Philosophie ein Interesse zeigt, bezeugt noch keine Bereitschaft zum Denken. Gewiß gibt es allenthalben eine ernsthafte Beschäftigung mit der Philosophie und ihren Fragen. Es gibt einen rühmenswerten Aufwand von Gelehrsamkeit zur Erforschung ihrer Geschichte. Hier bestehen nützliche und löbliche Aufgaben, zu deren Erfüllung nur die besten Kräfte gut genug sind, zumal dann, wenn sie uns Vorbilder großen Denkens vor Augen führen. Aber selbst die Tatsache, daß wir uns Jahre hindurch mit den Abhandlungen und Schriften der großen Denker eindringlich abgeben, leistet noch nicht die Gewähr, daß wir selber denken oder auch nur bereit sind, das Denken zu lernen. Im Gegenteil: die Beschäftigung mit der Philosophie kann uns sogar am hartnäckigsten den Anschein vorgaukeln, daß wir denken, weil wir doch unablässig »philosophieren«.

Gleichwohl bleibt es befremdlich und erscheint als anmaßend zu behaupten, das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit sei, daß wir noch nicht denken. Darum müssen wir diese Behauptung beweisen. Noch ratsamer ist indessen, die Behauptung erst einmal zu erläutern. Es könnte nämlich der Fall eintreten, daß die Forderung nach einem Beweis hinfällig wird, sobald eine genügende Helle in das kommt, was die Behauptung sagt. Sie lautet:

Das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, daß wir noch nicht denken.

Wie der Name »das Bedenkliche« zu verstehen sei, wurde bereits angedeutet. Es ist das, was uns zu denken gibt. Beachten wir es wohl und lassen wir jetzt schon jedem Wort sein Gewicht. Es gibt solches, was selber, von sich her, gleichsam von seinem Haus aus, uns zu denken gibt. Es gibt solches, das uns daraufhin anspricht, daß wir auf es bedacht sind, daß wir, denkend, ihm uns zuwenden: es denken.

Das Bedenkliche, das, was uns zu denken gibt, ist demnach keineswegs durch uns festgesetzt, nicht durch uns erst aufgestellt, nicht durch uns nur vor-gestellt. Was am meisten von sich aus zu denken gibt, das Bedenklichste, ist nach der Behauptung dies: daß wir noch nicht denken.

Dies sagt jetzt: wir sind noch nicht vor das und noch nicht in den Bereich dessen gelangt, was von sich her in einem wesentlichen Sinne bedacht sein möchte. Dies wird vermutlich daran liegen, daß wir Menschen uns dem, was bedacht sein möchte, noch nicht hinreichend zu-wenden. Dann wäre dies, daß wir noch nicht denken, lediglich eine Säumnis, eine Verzögerung im Denken oder, wenn es hoch kommt, ein Versäumnis von seiten des Menschen. Daher könnte einer solchen menschlichen Saumseligkeit auf menschliche Weise durch geeignete Maßnahmen abgeholfen werden. Das menschliche Versäumnis gäbe zwar zu denken, aber doch nur vorübergehend. Daß wir noch nicht denken, wäre zwar bedenklich, dürfte jedoch als dieser augenblickliche und behebbare Zustand des heutigen Menschen niemals das Bedenklichste schlechthin genannt werden. Wir nennen es aber so und deuten hierdurch folgendes an: daß wir noch nicht denken, liegt keineswegs nur daran, daß der Mensch sich noch nicht genügend dem zuwendet, was von Haus aus bedacht sein möchte, weil es in seinem Wesen das zu-Denkende bleibt. Daß wir noch nicht denken, kommt vielmehr daher, daß dieses zu-Denkende selbst sich vom Menschen abwendet, langher schon abgewendet hat.

Sogleich werden wir wissen wollen, wann dies geschah. Wir werden vordem schon und noch begieriger fragen, wie wir denn überhaupt von einem solchen Ereignis wissen können. Die auf der Lauer liegenden Fragen solcher Art überstürzen sich vollends, wenn wir dazu noch dieses sagen: Das, was uns eigentlich zu denken gibt, hat sich nicht irgendwann zu einer historisch datierbaren Zeit vom Menschen abgewendet, sondern: das eigentlich zu-Denkende hält sich von einsther in solcher Abwendung.

Andererseits hat der Mensch unserer Geschichte immer in irgendeiner Weise gedacht; er hat sogar Tiefstes gedacht und dem Gedächtnis anvertraut. Als der so Denkende blieb er und bleibt er auf das zu-Denkende bezogen. Gleichwohl vermag der Mensch nicht eigentlich zu denken, solange sich das zu-Denkende entzieht.

Wenn wir nun, so wie wir jetzt hier sind, uns nichts vorreden lassen, müssen wir das bisher Gesagte als eine einzige Kette leerer Behauptungen zurückweisen und außerdem erklären, daß das Vorgebrachte mit Wissenschaft nichts zu tun hat.

Es wird gut sein, wenn wir möglichst lange in solcher Abwehrhaltung zu dem Gesagten ausharren; denn so allein halten wir uns in dem nötigen Abstand für einen Anlauf, aus dem her vielleicht dem einen oder anderen der Sprung in das Denken gelingt. Es ist nämlich wahr, daß das bisher Gesagte und die ganze folgende Erörterung mit Wissenschaft nichts zu tun hat, gerade dann, wenn die Erörterung ein Denken sein dürfte. Der Grund dieses Sachverhaltes liegt darin, daß die Wissenschaft ihrerseits nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück und das heißt hier zur Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges. Die Wissenschaft denkt nicht. Das ist ein anstößiger Satz. Lassen wir dem Satz seinen anstößigen Charakter auch dann, wenn wir sogleich den Nachsatz anfügen, daß die Wissenschaft es gleichwohl stets und auf ihre besondere Weise mit dem Denken zu tun hat. Diese Weise ist allerdings nur dann eine echte und in der Folge eine fruchtbare, wenn die Kluft sichtbar geworden ist, die zwischen dem Denken und den Wissenschaften besteht, und zwar besteht als eine unüberbrückbare. Es gibt hier keine Brücke, sondern nur den Sprung. Darum sind vollends alle Notbrücken und Eselsbrücken, die zwischen dem Denken und den Wissenschaften gerade heute einen bequemen Marktbetrieb einrichten wollen, vom Übel. Darum müssen wir jetzt, insofern wir aus den Wissenschaften herkommen, das Anstößige und Befremdliche des Denkens aushalten – gesetzt, daß wir bereit sind, das Denken zu lernen. Lernen heißt: unser Tun und Lassen zu dem in die Entsprechung bringen, was sich jeweils an Wesenhaftem uns zuspricht. Damit wir solches Bringen vermögen, müssen wir uns auf den Weg machen. Wenn wir das Denken lernen, dürfen wir vor allem auf dem Weg, den wir dabei einschlagen, uns nicht voreilig über die bedrängenden Fragen hinwegtäuschen, sondern müssen uns auf Fragen einlassen, die Jenes suchen, was sich durch kein Erfinden finden läßt. Wir Heutigen zumal können nur lernen, wenn wir dabei immer zugleich verlernen; für den uns angehenden Fall gesprochen: wir können das Denken nur lernen, wenn wir sein bisheriges Wesen von Grund aus verlernen. Aber dazu ist nötig, daß wir es zugleich kennen lernen.

Wir sagten: der Mensch denkt noch nicht und zwar deshalb nicht, weil das zu-Denkende sich von ihm abwendet; er denkt keineswegs nur darum nicht, weil der Mensch sich dem zu-Denkenden nicht hinreichend zuwendet.

Das zu-Denkende wendet sich vom Menschen ab. Es entzieht sich ihm. Doch wie können wir von Solchem, das sich einsther entzieht, überhaupt das Geringste wissen oder es auch nur nennen? Was sich entzieht, versagt die Ankunft. Allein – das Sichentziehen ist nicht nichts. Entzug ist Ereignis. Was sich entzieht, kann sogar den Menschen wesentlicher angehen und in den Anspruch nehmen als alles Anwesende, das ihn trifft und betrifft. Die Betroffenheit durch das Wirkliche hält man gern für das, was die Wirklichkeit des Wirklichen ausmacht. Aber die Betroffenheit durch das Wirkliche kann den Menschen gerade gegen das absperren, was ihn angeht, angeht in der gewiß rätselhaften Weise, daß es ihm entgeht, indem es sich ihm entzieht. Das Ereignis des Entzugs könnte das Gegenwärtigste in allem jetzt Gegenwärtigen sein und so die Aktualität alles Aktuellen unendlich übertreffen.

Was sich uns entzieht, zieht uns dabei gerade mit, ob wir es sogleich und überhaupt merken oder nicht. Wenn wir in den Zug des Entziehens gelangen, sind wir – nur ganz anders als die Zugvögel – auf dem Zug zu dem, was uns anzieht, indem es sich entzieht. Sind wir als die so Angezogenen auf dem Zuge zu dem uns Ziehenden, dann ist unser Wesen schon durch dieses »auf dem Zuge zu …« geprägt. Auf dem Zuge zu dem Sichentziehenden weisen wir selber auf dieses Sichentziehende. Wir sind wir, indem wir dahin weisen; nicht nachträglich und nicht nebenbei, sondern: dieses »auf dem Zuge zu …« ist in sich ein wesenhaftes und darum ständiges Weisen auf das Sichentziehende. »Auf dem Zuge zu …« sagt schon: zeigend auf das Sichentziehende.

Insofern der Mensch auf diesem Zug ist, zeigt er als der so Ziehende in das, was sich entzieht. Als der dahin Zeigende ist der Mensch der Zeigende. Der Mensch ist hierbei jedoch nicht zunächst Mensch und dann noch außerdem und gelegentlich ein Zeigender, sondern: gezogen in das Sichentziehende, auf dem Zug in dieses und somit zeigend in den Entzug, ist