Weißt du, was ich meine? - Nura Habib Omer - E-Book

Weißt du, was ich meine? E-Book

Nura Habib Omer

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Beschreibung

Nura ist eine der erfolgreichsten deutschen Rapperinnen, doch über ihren außergewöhnlichen Lebensweg ist wenig bekannt. In ihrem Buch erzählt sie erstmals ihre ganze Geschichte: von der Flucht als dreijähriges Mädchen aus Kuwait nach Deutschland und dem Leben mit der fünfköpfigen Familie im Flüchtlingsheim. Von ihrer muslimischen Erziehung, dem Bruch mit der Mutter und dem Aufwachsen in einem Kinderheim. Von ihrem Engagement für LGBT – und schließlich von ihren ersten Schritten als Sängerin in einem Chor und ihrer steilen Karriere als Rapperin. Nuras Weg ist gekennzeichnet von Rückschlägen, Depressionen und Rassismuserfahrungen. Immer wieder hat sie zu hören bekommen, dass sie etwas nicht darf – schon gar nicht als muslimisches Mädchen. Aber sie hat sich durchgekämpft und ist heute vielen jungen Menschen ein Vorbild.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Weißt du, was ich meine?

Die Autorin

NURA HABIB OMER, geboren 1988 in Kuwait, aufgewachsen in Wuppertal, ist eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Sängerinnen. Mit 18 zog sie nach Berlin, schloss sich dem Berliner Kneipenchor und The toten Crackhuren im Kofferraum an, einer Berliner Fun-Punk-Band. Sie war Teil des HipHop-Duos SXTN und macht heute als Solo-Künstlerin Musik.

Das Buch

»KÖNIGIN DES RAP. NURA HABIB OMER IST EINE DER WICHTIGSTEN STIMMEN IM DEUTSCHSPRACHIGEN HIPHOP.« Süddeutsche Zeitung

In ihrem Buch erzählt Nura erstmals ihre ganze Geschichte: von der Flucht als dreijähriges Mädchen aus Kuwait nach Deutschland und dem Leben mit der fünfköpfigen Familie im Flüchtlingsheim. Von ihrer muslimischen Erziehung, Zukunftsängsten, dem Bruch mit der Mutter und dem Aufwachsen in einem Kinderheim. Von ihrem Engagement für die LGBTQ-Community – und schließlich von ihren ersten Schritten als Sängerin in einem Chor und ihrer steilen Karriere als Rapperin. Nuras Weg ist gekennzeichnet von Rückschlägen, Depressionen und Rassismuserfahrungen. Immer wieder hat sie zu hören bekommen, dass sie etwas nicht darf – schon gar nicht als muslimisches Mädchen. Aber sie hat sich durchgekämpft und ist heute vielen jungen Menschen ein Vorbild.

Nura Habib Omer

Weißt du, was ich meine?

Vom Asylheim in die Charts

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN: 978-3-8437-2429-6© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Im Kapitel »Back to the roots« findet sich der Songtext zu »Trost« von GLASHAUS, mit freundlicher Genehmigung der Pelham & Freunde GmbH. Autor: Moses Pelham. © Fotos Bildteil: privatAlle Rechte vorbehaltenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Zitate

Vorwort

Meine Mutter

Von Eritrea nach Kuwait-City

Die Flucht nach Deutschland

Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Omer-Clan ain’t nuthin’ to fuck with

Familienduell

1 Meter 28

Juniorclub bis Tupperparty

Welcome to the fake world

Ich hab keinen deutschen Pass mit einem goldenen Adler drauf

Haram

Reingehauen

Aus dem Heim auf die Haddsch

Back to the roots

Glashaus – Trost (Es tut weh)

Ab achtzehn

In Berlin

The toten Crackhuren im Kofferraum

I’m a hustler

Reunited

Von Party zu Party

Leben am Limit

Wir ficken deine Mutter

Der Anfang vom Ende

babebabe

Nura – babebabefeat. SAM

Bist du dabei?

Ich bin schwarz

Allo, Leute!

Weißt du, was ich meine?

Danksagung

Bildteil

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zitate

Zitate

»Doch ihr müsst wissen, egal was auch ist,schau mich an, Ma, ich bin jetzt groß, bitte glaub an mich.Ich schaff das schon, die große Stadt frisst mich nicht auf.Und wenn was ist, kenn ich mein’ Platz bei euch zu Hause –Dankeschön.«SAM – Love You

»Das Glück begreifen, daß der Boden, auf dem du stehst,nicht größer sein kann, als die zwei Füße ihn bedecken.«Franz Kafka: »Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg« in: Max Brod (Hg.): Beim Bau der Chinesischen Mauer, Berlin 1931, S. 229.

Vorwort

Dieses Buch trägt den Titel »Weißt du, was ich meine?«. Wer mich und meine Musik kennt, der weiß, dass ich diesen Satz nicht zum ersten Mal benutzt habe. Auf meinem ersten Soloalbum »habibi« aus dem Jahr 2019 gibt es den Song »Was ich meine«, in dem ich diese Frage immer wieder stelle. Das Lied war, ehrlich gesagt, nicht besonders tiefgründig. Es handelte vielmehr davon, dass ich jetzt Geld mache und mir außerdem ziemlich egal ist, ob irgendjemand neidisch auf mich oder meinen Erfolg ist.

»Weißt du, was ich meine?« ist im Grunde ja nur die eingedeutschte Version des amerikanischen »You know what I mean?«. Fünf Worte, die man einfach so dahersagt, wenn man nicht weiterweiß. Ein Universalsatz, ein Lückenfüller, eine Art ausformuliertes Komma, eine Phrase, die einem Zeit verschafft, um danach die wirklich wichtigen Sachen zu sagen – genau das habe ich mir jetzt mit diesem Buch vorgenommen.

Wenn ich so zurückdenke, habe ich eigentlich nie viel geschrieben. Klar, in der Schule, wenn ich musste, schon. Hier eine Klassenarbeit, dort einen Aufsatz. Mittlerweile schreibe ich natürlich auch die Texte für meine Songs. Aber ich hatte nie das Bedürfnis, das über den Tag Erlebte und besondere Ereignisse Abend für Abend in einem Buch festzuhalten. Eigentlich habe ich nur während meiner Zeit im Heim ein Tagebuch geführt, um meine Sorgen zu verarbeiten.

Aber ich muss gestehen, dass ich nicht sehr lange hineinschrieb – aus Angst davor, dass jemand das Buch finden und meine geheimsten Gedanken lesen könnte.

Inzwischen sehe ich das anders. Ich finde es eine schöne Vorstellung, dass jemand all das nachlesen kann, was ich erlebt habe und was mir in diesen Momenten durch den Kopf gegangen ist. Tatsächlich trage ich die Idee schon einige Jahre mit mir herum, alles, was ich erlebt habe, endlich mal aufzuschreiben und daraus ein Buch zu machen. Denn seitdem ich in der Öffentlichkeit stehe, merke ich, dass sich immer mehr Menschen für meine Lebensgeschichte interessieren.

Nach jedem Interview bekomme ich unzählige Nachrichten von Fans, die gerne mehr über mein Leben erfahren würden. Die Fragen haben, mir gerne länger zuhören würden, wenn ich über mein Leben erzähle. Richtig krass wurde das, als ich im YouTube-Format »Germania« zum ersten Mal über die Konflikte mit meiner Mutter wegen ihres Glaubens und über meine Zeit im Heim erzählte. All diese Reaktionen haben mir gezeigt, dass ich meine Geschichte nicht geheim halten sollte. Im Gegenteil: Ich weiß mittlerweile, dass sie außergewöhnlich ist. Ich meine, ich habe in einem Asylheim gelebt und verdiene jetzt mit Musik mein Geld und führe ein schönes Leben. Ich hätte nie gedacht, dass das möglich sein würde. Und doch wusste ich, dass ich es schaffen kann.

Dass ihr jetzt dieses Buch in den Händen haltet, ist der beste Beweis. Oder?

In diesem Buch erzähle ich euch meine Lebensgeschichte. Von meinem Aufwachsen in Kuwait und der Ankunft in Deutschland. Von all den Problemen, aber auch den schönen Dingen, die dieses Land in den Jahren darauf für mich bereitgehalten hat. Von den Konflikten mit meiner Mutter und der Aussöhnung. Von meinen ersten musikalischen Gehversuchen bis zum Karrierebeginn mit SXTN und darüber hinaus.

Es ist keine Geschichte, in der alles glattgelaufen ist. Es ist eine Geschichte mit vielen Stolpersteinen, aber auch mit einem guten Ende. Wobei, das Ende kommt ja erst noch. Irgendwann …

Vielleicht erkennt ihr euch beim Lesen in der einen oder anderen Situation wieder. Vielleicht seid ihr an einem Punkt in eurem Leben, an dem ihr ähnliche Entscheidungen fällen müsst. Vielleicht habe ich sogar dieselben Sorgen und Ängste, die euch gerade plagen, schon durchlebt.

Ich möchte in diesem Buch meine Lebensgeschichte erzählen. Ich will euch aber auch zeigen, dass jeder es schaffen kann. Auch wenn man in nicht so guten Verhältnissen groß geworden ist. Wenn die Startvoraussetzungen überschaubar sind, wie meine es waren. Ich möchte euch mit diesem Buch Hoffnung geben und Mut machen, euch Kraft spenden und zeigen: Wenn ich es schaffen kann, dann könnt ihr das auch – ganz egal, ob ihr hier in Deutschland geboren oder erst vor einiger Zeit hierhergekommen seid.

Egal, ob ihr Heimkinder oder muslimische Kids seid, Mädels mit oder ohne Kopftuch, schwule Jungs oder Menschen, die trans sind. Dieses Buch ist für euch alle. Für jeden, der manchmal Angst hat, sich unverstanden fühlt, der Sorgen hat, wenn er an die Zukunft denkt oder meint, dass niemand an ihn glaubt.

Vielleicht hilft es euch ein bisschen.

NuraBerlin, Juni 2020

Meine Mutter

Meine Geschichte zu erzählen, heißt auch, die Geschichte meiner Mama zu erzählen. Mama wurde am 12. November 1966 in Eritrea geboren. Einem kleinen Land im Osten des afrikanischen Kontinents, das im Nordwesten an den Sudan, im Süden an Äthiopien und im Südosten an Dschibuti grenzt.

Vielleicht hilft es, wenn ich zu Beginn mal ein bisschen über dieses Land erzähle. Eritrea ist vor allem ein junges Land. Das Gebiet des heutigen Eritreas und die Völker, die dort lebten, trugen im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Namen und wurden von unterschiedlichen Mächten beherrscht, darunter das christliche Aksumitische Reich, das Osmanische Reich und Ägypten.

Ende des 19. Jahrhunderts besetzten die Italiener das Gebiet und versuchten von dort aus immer wieder, auch Äthiopien zu erobern. Als das 1936 gelang, wurden Eritrea und Äthiopien kurzerhand als Italienisch-Ostafrika zusammengeschlossen. Im Zweiten Weltkrieg eroberten 1941 britische Truppen Eritrea, ehe das Land 1952 der Obhut der neu gegründeten Vereinten Nationen übergeben wurde. Als eigenständiges und anerkanntes Land existiert Eritrea erst seit 1993.

Eritrea hat nicht nur eine Landessprache, sondern es werden neun verschiedene Sprachen gesprochen: Afar, Arabisch, Bedscha, Bilen, Kunama, Nara, Saho, Tigre und Tigrinya. Jede der neun Sprachen ist dabei Nationalsprache.

Mama ist aus dem Stamm Saho. Aber bis auf sie und ihre Mutter Jidetti spricht niemand in unserer Familie mehr die Sprache, was allerdings ganz gut für die beiden ist: Wann immer sie heute etwas zu besprechen haben, was wir Kinder nicht mitbekommen sollen, switchen sie einfach auf Saho, und keiner außer den beiden weiß, worum es gerade eigentlich geht.

Jedenfalls wurde Mama in Massaua geboren, einer eritreischen Hafenstadt mit ungefähr 45.000 Einwohnern im Norden des Landes, direkt an der Küste des Roten Meeres. Ihr Vater Jedu war ein einfacher Hafenarbeiter. Gemeinsam mit vielen anderen Männern wartete er am Pier auf einlaufende Schiffe, die Waren aus anderen Ländern über den Seeweg brachten, und half anschließend, die Boote zu entladen. Seine Frau, also meine Oma Jidetti, war Hausfrau – so wie eigentlich alle Frauen in muslimischen Haushalten zu der Zeit. Mama war das zweitälteste von vier Kindern. Erst kam Jemal und dann meine Mama auf die Welt. Danach folgten Musa und Salih. Klingt erst mal nach einem ganz normalen Leben in einem nordafrikanischen Land – bis mit einem Mal die Angriffe begannen und der eritreische Unabhängigkeitskrieg ausbrach.

Die Äthiopier kamen mit Schiffen über das Wasser und griffen das Festland an. Als noch am gleichen Tag die ersten Luftangriffe starteten, beschlossen viele Bewohner von Massaua, darunter auch meine Großeltern mit Mama, Salih, Musa und Jemal, vor den Angriffen ins Landesinnere zu fliehen. Zu Fuß ging es unzählige Kilometer durch das Land, bis an die Grenze zu Äthiopien.

Ursprünglich war der Plan, dort nur so lange auszuharren, bis die Angriffe vorbei wären: ein, zwei oder vielleicht drei Tage zu bleiben und dann wieder in die Stadt zurückzukehren. Aber weil die Angriffe weiter andauerten, wurden aus ein paar Tagen erst eine Woche und schließlich zwei ganze Monate. Mama und ihre Familie lebten in ständiger Angst vor Luftangriffen. Jedes noch so kleine Licht, das in der Nacht zu sehen war, und jede unachtsame Bewegung waren ein Signal für die Kampfjets und ihre Raketen. Dazu kam, dass es ständig regnete und viele der Menschen, die mit Mama und ihrer Familie ebenfalls aus Massaua geflohen waren, krank wurden.

Nach Massaua zurückzukehren, war angesichts der andauernden Angriffe keine Option, weshalb meine Großeltern beschlossen, mit ihren Kindern nach Tsorona, in den Geburtsort Jedus, weiterzuziehen. Jedu hatte selbst kaum Erinnerungen an den Ort und kannte dort niemanden mehr. Aber alles schien aussichtsreicher, als weiter an einem ungeschützten und nassen Fleckchen Erde in der Wüste auf ein Ende des Krieges zu hoffen.

Nun schien Tsorona im ersten Moment nach der Ankunft zwar ein sicherer Ort zu sein, war aber letzten Endes immer noch ein eritreisches Dorf im Nirgendwo – und das dort stattfindende Leben auf dem Land ein himmelweiter Unterschied zu dem, was Jidetti, Jedu und ihre Kinder aus der Stadt kannten.

Als der Bürgerkrieg schließlich auch vor Tsorona keinen Halt mehr machte, fassten meine Großeltern einen Entschluss: Sie würden nicht weiter von einem Ort in den nächsten fliehen. Erst recht nicht mit vier kleinen Kindern im Schlepptau. Jedu und Jidetti beschlossen, ihr Heimatland Eritrea hinter sich zu lassen und mit ihrer Familie in den Sudan zu fliehen.

Nun ist Eritrea nicht gerade klein. Die Grundfläche von 120.000 Quadratkilometern entspricht ungefähr der Größe von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen zusammen. Eine Flucht von dort in den Sudan unternimmt man also nicht mal eben so. Schon gar nicht zu Fuß und mit vier Kindern.

Der Weg in den Sudan dauerte ewig. Wenn die sechs Glück hatten, wurden sie hier und da ein paar Hundert Kilometer per Anhalter mitgenommen. Dann ging es wieder zu Fuß weiter. Bald wurde nicht nur das wenige Geld, das Jedu gespart hatte, sondern auch das Essen knapp. Mama und ihre Familie überlebten die Reise nur, weil sie auf dem Weg immer wieder hilfsbereite Menschen trafen, die ihnen Nahrung oder einen Schlafplatz anboten. Nach unzähligen Tagen erreichten meine Großeltern, Mama und ihre drei Brüder schließlich den Sudan.

In Bur blieb die Familie ungefähr zwei Jahre. Jedu suchte sich Arbeit, Jidetti zog ihre Kinder weiter groß. Aber wirklich angekommen waren die sechs immer noch nicht. Jedu ging nach Kuwait-City. Von dort schickte er Jidetti und den vier Kindern ein Visum, und sie kamen nach.

In Kuwait angekommen, wurde Mama, die gerade fünfzehn war, im Grunde gleich mit Habib, dem Sohn eines Freundes der Familie, verheiratet. Der Grund für die schnell arrangierte Ehe war der Krieg in Eritrea, weshalb jeder, der kämpfen konnte, ins Militär eingezogen wurde. Auch Minderjährige, und zwar nicht nur Jungs, sondern auch Mädchen. Musa war schon eingezogen worden, und Salih sollte das gleiche Schicksal ereilen. Um Mama zu schützen, blieb nichts anderes als die Heirat mit Habib. Habib arbeitete in Kuwait als selbstständiger Schreiner und Zimmermann. Er baute Möbel jeder Art, von Sofas bis Betten. Das Geschäft lief gut, aber nachdem Mama und er geheiratet hatten, wechselte er den Beruf. Von da an fuhr er mit einem Kühllastwagen von Stadt zu Stadt durch das ganze Land und lieferte Obst an Supermärkte aus.

Nach sieben Monaten Ehe wurde Mama zum ersten Mal schwanger, verlor jedoch das Kind. Zwei Jahre später wurde schließlich meine große Schwester Hannan geboren. Zehn Monate später kam mein großer Bruder Ramadan auf die Welt.

Weil Mama mittlerweile eine Familie gegründet hatte und somit versorgt war, mussten meine Großeltern sich nur noch um Mamas Brüder kümmern, die vom Militär eingezogen worden waren. Also flohen Jedu und Jidetti nach Bologna in Italien, wo sie als Gastarbeiter Geld verdienten. Geld, das sie Salih und Musa zukommen ließen, die damit ihre Flucht nach Italien realisieren konnten. Als beide Söhne in Italien angekommen waren, reiste Jedu zurück nach Kuwait, während Jidetti mit ihren beiden Söhnen nach Deutschland floh, weil sie gute Connections in die hier lebende eritreische Community hatte. Außerdem war Jidetti der Meinung, dass die beiden eine vernünftige Schule besuchen sollten. In Deutschland angekommen, zogen sie in eine Wohnung im Wuppertaler Stadtteil Dasnöckel. Jedu kam ein paar Jahre später nach.

Jidetti schwärmte Mama ständig von ihrem Leben in Deutschland vor. Vor allem davon, dass Salih und Musa dort problemlos einen Platz in Kindergarten und Schule bekommen hatten. Also beschlossen meine Eltern 1986, mit ihren beiden Kindern Hannan und Ramadan für einen Besuch nach Deutschland zu kommen. Einfach um mal zu schauen, wie es hier so war. Um das zu ermöglichen, musste Jidetti ihrer Tochter eine Einladung schicken, und dem Besuch stand nichts mehr im Wege.

Mama fühlte sich gleich wohl, aber Habib gefiel es nicht. Er war schon Mitte dreißig, und sich in dem Alter auf eine komplett ungewohnte und neue Situation einzulassen, fiel ihm schwer. Er konnte kein Deutsch, hatte keine Arbeit und hätte sich in allen Belangen auf seine Frau und deren Familie verlassen müssen. Für diese Art von Abhängigkeit war er nicht gemacht. Sein Ego und sein Sturkopf standen ihm dafür einfach zu krass im Weg. Noch dazu sein Glaube, vielleicht auch Erfahrungen mit Rassismus oder eventuell das Klima. Am Ende war es sicher ein Mix aus all diesen Dingen, der dafür sorgte, dass er es nach vier Monaten nicht mehr aushielt und mit Mama und meinen beiden Geschwistern in ihr altes Leben nach Kuwait zurückkehrte. Dort kamen zwei weitere Jahre später, am 24. Dezember 1988, erst ich und anderthalb Jahre später mein kleiner Bruder Mohamed auf die Welt.

Von Eritrea nach Kuwait-City

Ich will ehrlich sein: Meine Erinnerungen an unsere Zeit in Kuwait-City sind praktisch nicht vorhanden. Ich war einfach noch zu jung. Aber Hannan und Ramadan erinnern sich sehr gut und erzählen oft davon, wie es war, in dieser Stadt aufzuwachsen.

Während Habib seinem Job als Fernfahrer nachging, war Mama mit meinen Geschwistern und mir zu Hause. Sie kochte für uns und kümmerte sich um den Haushalt. Wir wohnten in einem Mehrfamilienhaus in einer ziemlich großen Dreizimmerwohnung. Wobei man sich das alles nicht wie in Deutschland vorstellen darf. Die Häuser in Kuwait waren allesamt im orientalischen Stil gebaut, dazu in die Jahre gekommen und mitunter schon kaputt oder sogar in sich zusammengefallen.

Unsere Wohnung war hingegen recht schön. Von einem langen Flur gingen insgesamt drei Zimmer ab. Eins für Mama und Habib, eins für die Kinder und ein Wohnzimmer.

Außerdem gab es eine geräumige Küche, die aber natürlich nicht mit Hightech-Geräten eingerichtet war. Ebenso wenig das Badezimmer: Statt einer Toilette mit Spülung gab es nur ein Plumpsklo.

Auch die Möbel hatten weniger mit dem zu tun, was man hierzulande aus dem IKEA-Katalog und jeder zweiten Wohnung kennt. Unsere Einrichtung war alles in allem um einiges rustikaler. Es gab keine Schränke, sondern Regale. Es gab keine Sofas, sondern Sitzecken mit Polstern auf dem Boden. Wir hatten einen Fernseher und eine Stereoanlage, aber das war’s. Alles eher minimalistisch. Was es hingegen gab, waren prunkvolle Accessoires und glitzernder und goldener Dekokram, wie er in arabischen Haushalten einfach typisch ist. An den Wänden hingen Schriften aus Mekka.

Für Habib war klar: Mama ist die Frau, die zu Hause ist, um sich dort um alles zu kümmern. Das war ihr Job. Ramadan und Moe durften nicht in die Küche. Wenn sie Hunger hatten, haben sie das gesagt, und meine Mama, meine Tante oder meine Cousinen haben sich darum gekümmert. Die klassische Rollenverteilung wurde auch mir und Hannan so beigebracht. In den ersten Jahren wurde ich wie eine Prinzessin behandelt – und wenn ich alt genug war, hätte ich eine andere Rolle übernehmen müssen. Nämlich die, die meine Mutter uns all die Jahre vorgelebt hatte. Wenn Habib nicht zu Hause war, war Ramadan der Mann im Haus.

Ramadan war schon sehr früh von mir genervt und erinnert sich vor allem an eine Geschichte, die er mir oft erzählt: Mama war einkaufen und wir alleine zu Hause. Er öffnete die Wohnungstür und meinte zu mir: »Geh mit Gott!« Mein Bruder wollte mich einfach aus unserer Wohnung im dritten Stock ins Treppenhaus krabbeln lassen! Zum Glück kam Mama gerade die Treppe hoch. Ramadan war auch für meinen ersten Haarschnitt verantwortlich. Immer, wenn unsere Mutter nicht da war, hat er mir mit der Schere ein neues Loch in meine Haare geschnitten. Einmal hat er mir sogar eiskalt einen Vokuhila verpasst. Zum Glück war ich erst ein oder zwei Jahre alt. Aber damit er irgendwann damit aufhörte, wurden meine Haare komplett abgeschnitten.

Ramadan war wirklich der Teufel. Er machte meiner Mama als Kind mehr als einmal das Leben zur Hölle. Ramadan trieb sie zur Weißglut. Er ließ sich nichts sagen. Er war nicht einfach nur neugierig, sondern hatte überkrass viel Energie. Manchmal verprügelte er uns, dann stiftete er Fitna – und manchmal versuchte er sogar, die Schuld auf unseren kleinen Bruder Moe zu schieben. Dabei konnte der noch nicht mal sprechen! Hier in Deutschland hätte man ihn vermutlich mit ADHS diagnostiziert. Aber bei uns hieß es einfach, er sei vom Teufel besessen.

Das Krasse: Bei Habib war das nicht so. Wenn der nach einer langen Fahrt wieder nach Hause kam, behandelte er Ramadan wie einen König. Wenn Mama Ramadan dann bei Habib verpfiffen hat, gab’s für ihn keinen Abriss. Die beiden hatten ohnehin eine besondere Beziehung: Ramadan begleitete Habib manchmal sogar auf seinen Reisen. Er fuhr tagelang mit ihm durch das komplette Land. Tagsüber saßen sie zusammen in der Führerkabine und bretterten über die Autobahn, nachts schliefen sie unter dem Wagen.

In Kuwait war es eigentlich das ganze Jahr über extrem heiß. Draußen herrschten die meiste Zeit Temperaturen von weit über vierzig Grad, weshalb wir die Zeit bis zum Nachmittag meist in der von der Klimaanlage gekühlten Wohnung verbrachten. Wenn es etwas kühler wurde, durften wir endlich vor die Tür.

In der direkten Nachbarschaft lebte Habibs Bruder mit seiner Familie, weshalb wir jeden Tag mit unseren sechs Cousinen und Cousins spielen konnten. Spielplätze, Handys, Konsolen gab es nicht. Aber wir wussten uns auch so die Zeit zu vertreiben. Ramadan war der Anführer unserer Geschwister-Gang. Er entschied, was wir spielten – und wir machten einfach mit. Wir zockten mit dem Ball, liefen rum und unterhielten uns – oder wir spielten die Spiele, die wir von unseren Eltern und Großeltern beigebracht bekommen hatten. Ein Spiel von Jidetti ging so: Man legte ein paar Steine vor sich auf den Boden, dann nahm man einen der Steine, warf ihn in die Luft, griff den nächsten Stein und versuchte, den Stein, der gerade wieder zu Boden fiel, mit dem anderen Stein aufzufangen. Das tat man so lange, bis man alle Steine auf einem Stapel in der Hand balancierte.

Wir blieben beim Spielen immer in der Nähe unseres Hauses. Einfach um die nächste Straßenecke zu verschwinden, war ein Ding der Unmöglichkeit. Grenzen austesten auch. Wir wussten, was uns sonst erwartet: körperliche Bestrafung jeder Art. Der Undercover-Ninja-Latschenwurf von Mama war da noch das Harmloseste. Den gab es immer mal wieder, und er war eigentlich gar keine Bestrafung, sondern eher eine Challenge, bei der man beweisen konnte, dass man den fliegenden Schuhen schnell genug ausweichen konnte.

Schlimmer war es in der Koranschule, in die wir jeden Samstagvormittag gingen. Dort gab es vom Hodscha mit einem Stock Schläge auf die Handinnenflächen, oder man musste sich in auf dem Boden verstreuten Reis knien und ausharren. Etwas, das ich sogar noch in Deutschland in der Koranschule erlebt habe. Aber nach Hause gehen und Mama davon erzählen? Kam nicht infrage! Die Antwort wäre sowieso nur »Selbst schuld!« gewesen – und hätte gleich die nächste Strafe folgen lassen. Eine Sache, die ich schon früh lernte, war, das Gesetz des Älteren zu respektieren. Das besagte: Der Ältere hat recht. Ende der Diskussion. Wir hatten einen ganz natürlichen Respekt vor dem Alter – ganz egal, ob es vier Monate oder dreißig Jahre waren, die uns von unserem Gegenüber trennten. Wenn wir draußen spielten und ein älterer, fremder Mann meinte: »Was macht ihr hier, geht nach Hause!«, dann mussten wir nach Hause gehen. Einfach weil er älter war und das Sagen hatte. Genauso hatte man älteren Leuten beim Tragen ihrer Einkäufe zu helfen. Das war ganz normal. Das Helfen beim Tragen war eher den Jungen vorbehalten, die Mädchen mussten dafür schon früh in der Küche helfen. Wobei das gleichzeitig auch ein religiöses Ding war. Denn in Kuwait war Religion allgegenwärtig. Die Bevölkerung ist überwiegend muslimisch, und der Islam ist die Staatsreligion. Die Moscheen, die Gebetsrufe, die anschließenden Gebete zu bestimmten Zeiten, in denen das ganze Land knocked out war – man wurde einfach von morgens bis abends an den Glauben erinnert. Religion und vor allem auch die damit einhergehende Gottesfurcht waren allgegenwärtig.

Mama, Habib, Jidetti, Jedu, sämtliche Nachbarn – im ganzen Land gab es niemanden, der nicht gläubig war. Wenn man zu den festen Gebetszeiten nicht alles stehen und liegen ließ, mal nicht mitbetete, wurde man gleich gefragt, was der Grund dafür sei. Aber die Religion äußerte sich nicht nur im ständigen Niederknien und Beten. Wenn wir Nachrichten schauten und irgendwo schlimme oder auch schöne Dinge passierten, begründete meine Mutter das immer mit dem Koran und zitierte eine zutreffende Stelle.

Als Kind verstand man das Konzept der Religion noch gar nicht. Aber wenn die eigenen Eltern und Großeltern, die einem auch sonst alles beibringen und das Leben erklären, den Glauben mit all seinen Aspekten vorleben, macht man es nach. Klar, dass Islam und Koran auch in unserer Erziehung eine große Rolle spielten.

Ich habe zum Beispiel bis zu meinem siebten Lebensjahr nicht gelogen. Denn immer, wenn Mama den Verdacht hatte, dass meine Geschwister oder ich lügen, mussten wir auf Gott schwören, dass unsere Antwort der Wahrheit entsprach. Eine Lüge würde umgehend von Allah bestraft werden. Also schworen wir natürlich alle, was das Zeug hielt. Irgendwann merkte ich, dass Allahs Strafe für mein Fehlverhalten ausblieb, und log immer öfter. Wenn meine Geschwister oder ich eine Story erzählen, die an den Haaren herbeigezogen klingt, ruft Mama noch immer jedes Mal: »Sag Wallah!«

Die Flucht nach Deutschland

Als Hannan sechs Jahre alt wurde, kam sie ins schulpflichtige Alter. Also zog Mama auf der Suche nach einem Schulplatz mit ihr durch die ganze Stadt. Zur selben Zeit brach der Zweite Golfkrieg aus. Am 2. August 1990 überfiel der Irak Kuwait. Weil Eritrea sich auf die Seite des Irak stellte, war es für unsere eritreische Mama in Kuwait unmöglich, einen Schulplatz für Hannan zu bekommen. Schlimmer noch: Wir sollten das Land so schnell wie möglich verlassen. Mit vier Kindern, die nach und nach alle eine Schule besuchen sollten, aber praktisch nicht durften, sah Mama für uns keine Perspektive mehr. Das war der Moment, in dem Mama beschloss, mit uns nach Deutschland zu kommen und dieses Mal auch zu bleiben. Für dieses Vorhaben konnte Jidetti natürlich nicht erneut eine Einladung schicken. Also flog Mama mit uns in die Türkei und organisierte von dort über Connections eine Möglichkeit, mit dem Bus illegal nach Deutschland einzureisen.

Um den Flug bezahlen zu können, verkauften wir alles, was wir hatten: Schmuck genauso wie Möbel. Habib beschloss derweil, nachzukommen. Also trat Mama, die zu dem Zeitpunkt gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt war, die Reise mit uns vier Kindern an. Ramadan und Hannan erzählen mir oft, dass für sie in dem Moment gar nicht klar war, was eigentlich genau passierte. Mama sagte ihnen nur, dass wir unsere Großeltern in Deutschland besuchen würden. Dass wir dort nicht nur für ein paar Wochen, sondern ein ganzes Leben lang bleiben wollten, verriet sie nicht.

Mit dem Flugzeug ging es in die Türkei, von dort aus fuhren wir mit einem Minibus weiter. Alles, was wir dabeihatten, waren ein paar Koffer mit Klamotten und ein Zettel, auf dem die Adresse von Jidetti und Jedu notiert war. Moderne Kommunikationsmittel gab es damals ja noch nicht. Mama erzählt heute noch davon, wie anstrengend und schrecklich die Fahrt für sie, aber auch für uns war. Eingepfercht in einen kleinen Bus, der auf seiner Fahrt ein fremdes Land nach dem anderen passierte, auf ihrem Schoß und dicht an sie gedrängt ihre vier ängstlichen Kinder.

Nach zwei oder drei Tagen endloser Busfahrt durch halb Europa erreichten wir schließlich Wuppertal. Gleich nach unserer Ankunft fing es dort an zu schneien. Für uns war das ein Schock. Vor ein paar Tagen waren es in Kuwait noch gut fünfzig Grad gewesen. Hier in Deutschland hatten wir plötzlich Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt, und aus dem Himmel fielen weiße Flocken auf die Erde, die den Boden bedeckten. So etwas hatten wir noch nie gesehen, geschweige denn berührt.

Die ersten Wochen verbrachten wir bei Jidetti und Jedu, die mit Mamas Brüdern in einer kleinen Dreizimmerwohnung im vierten Stock eines Plattenbaus in Wuppertal-Vohwinkel lebten. Aber dort blieben wir nur so lange, bis uns ein Platz in einem Asylheim in Oberhausen zugeteilt wurde. Also zogen wir im tiefsten Winter von der einen fremden Stadt in die nächste. Der Schnee lag fast einen halben Meter hoch. Selbst bei strahlendem Sonnenschein hätte Mama es nicht geschafft, mit uns vieren und dem ganzen Gepäck alleine nach Oberhausen umzuziehen. Also stapften wir mit der Hilfe von Jidetti und auch Salih mit Sack und Pack und diversen Kinderwagen durch den Schnee bis zum Bahnhof, nahmen den Zug nach Oberhausen und kämpften uns auch dort wieder durch den Schnee – nur um am Ende vor einem heruntergekommenen Haus mit eingeschlagenen Scheiben zu stehen, in dem wir zum Glück nicht lange blieben, weil es bereits wenig später in ein Asylheim nach Düsseldorf ging.

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