Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer - Heinz Florian Oertel - E-Book

Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer E-Book

Heinz Florian Oertel

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Beschreibung

Eine Reporterlegende wird 90 Heinz Florian Oertels mitreißende Sportreportagen sind unvergessen, in Radio und Fernsehen begeisterte er mit Sendungen wie "Schlager einer großen Stadt" und "Porträt per Telefon". Auch nach 1990 widmete er sich weiter der Sportberichterstattung, war Herausgeber der Olympiabücher im Verlag Das Neue Berlin und machte auch mit politischen Büchern als streitbarer Geist auf sich aufmerksam. Zum runden Geburtstag gibt es nun noch einmal das Beste von HFO: Anekdoten aus neun Jahrzehnten, die bewegendsten Erlebnisse, legendäre Kommentare und prägnante Bonmots. Wie reißt ein Einzelner Millionen aus ihren Sitzen? In dieser Auswahl wird es noch einmal erlebbar!

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Seitenzahl: 152

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Bildnachweis:

Weyrich, Klaus Winkler und Archiv Heinz Florian Oertel

Quellenverzeichnis:

Heinz Florian Oertel: Mit dem Sportmikrofon um die Welt. Berlin 1958

Ders.: Immer wieder unterwegs. Berlin 1966

Ders.: 30 Jahre wie ein Sprint. Berlin 1984

Ders.: Höchste Zeit. Erinnerungen. Berlin 1997

Ders.: Reportagen. Unvergessenes aus 40 Jahren. CD. Berlin 1998

Ders.: Nachspiel-Zeit. Bemerkungen. Berlin 1999

Ders.: Gott sei Dank. Schluss mit der Schwatzgesellschaft. Berlin 2007

Ders.: Pfui Teufel. Über Verdrängtes und Vergessenes. Berlin 2009

Ders.: Halleluja für Heuchler. Berlin 2011

Manfred Gößinger (Hrsg.): Sportler über Heinz Florian Oertel. Nennen Sie Ihre Söhne Waldemar! Berlin 2012

Jan Hofer und Heinz Florian Oertel: Ein Leben für den Sport. Berlin 2012

ISBN E-Book 978-3-355-50044-9

ISBN Buch 978-3-355-01865-4

© 2017 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann, unter Verwendung eines Fotos von André Kowalski

Die Bücher des Verlags Neues Leben

erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Dieses Buch ehrt den Mann, den »die Stimme des Sports« genannt wird. Und es ist eine Offerte an seine einstigen Hörer und Zuschauer, an seine Leser und all jene, die sich gern an Begegnungen mit ihm erinnern. Schließlich verschanzte sich »Reporterlegende« Heinz Florian Oertel nicht in der Reporterkabine, sondern ging auch dorthin, wo Breitensport stattfand und Menschen sich trafen.

Über den Autor

Heinz Florian Oertel, geboren am 11. Dezember 1927 in Cottbus. Als Siebzehnjähriger wurde er zur Kriegsmarine eingezogen. Aus britischer Kriegsgefangenschaft in seine Heimatstadt zurückgekehrt, arbeitete er zunächst als Schauspieler am Cottbuser Stadttheater und dann als Neulehrer für Sport und Deutsch. Von 1949 bis 1991 war er Sportreporter beim Hörfunk, ab 1955 beim Deutschen Fernsehfunk. Erstmals 1952 aus Helsinki, berichtete er von insgesamt 17 Olympischen Spielen, acht Fußball-Weltmeisterschaften und Eiskunstlauf-Welt- und Europameisterschaften. Nach 1990 arbeitete er beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg und beim NDR und war darüber hinaus als Dozent für Rhetorik an der Freien Universität Berlin und als Lehrbeauftragter für Sport und Publizistik an der Universität Göttingen tätig.

Inhalt

Geleitwort von Klaus Feldmann

Heinz Florian Oertel über seinen Jahrgang

Heinz Florian Oertel als …

Kind

Ambitionierter Jungsportler

Schauspieler

Lehrer

Nachwuchsreporter

Sportreporter

TV-Moderator

Reisender

Fan

Kritischer Kopf

Heinz Florian Oertel über …

Heimat

Sportliche Auseinandersetzungen

Breitensport

Vielfalt

Die deutsche Verfassung

Parteien

Lokalpolitik

Kritiker

Ranglisten

Leistungssportler

Die DDR

Parteimitgliedschaft

Ehe

Doping

Fußballmillionäre

Pensionen und Renten

Feinkost

Journalismus heute

Die DEFA

Laufsport

Friedrich Schiller

Gleichberechtigung

Straßenverkehr

Muhammad Ali

Gehaltsverhältnisse

Die Sturmspitze am runden Leder

Falsche Helden

Fernsehen

Buchmuffel

Angst

Weibliche Politik

Das Potenzial der Kirche

Kinder

Sport an der Basis

Wahlheimat

Die Lausitz

Das Alter

Frieden

Unvergessene Reporter-Sprüche

Geleitwort

Ich bin vermessen und verdächtige die Leser, nachdem sie sich mit dem Geleitwort vertraut gemacht haben, mich der Lobhudelei für Heinz Florian Oertel zu bezichtigen. Das halte ich aus.

Unangenehm aber wäre es mir, wenn er meine Huldigung als überflüssig abtun würde. Seine Meinung zu meiner Arbeit war mir immer wichtig. Dabei gehörte er zu jenen Mentoren meines Praktikums 1955 in der Sportredaktion des Rundfunks, die meine Reporter-Untauglichkeit bestätigten und mir so die Illusion nahmen, ein zweiter Oertel werden zu können, wenngleich sie mir Fähigkeiten zum Sportjournalisten nicht völlig aberkannten.

Diese vierwöchige Lehrzeit war für mich eine nicht mit Geld zu bezahlende Lernzeit an der Seite von Heinz Florian Oertel. Er vermittelte nicht nur spezifische Anforderungen an einen Sportjournalisten, sondern auch Haltungs- und Verhaltensweisen.

Als ich Oertel zur Berichterstattung von der Winterbahn in die Werner-Seelenbinder-Halle begleitete, hatte ich mich schon Tage vorher erst einmal über Wettbewerbe im Radsport belesen. Von einem Omnium hatte ich schon gehört. Was das »Ganze« aber beinhaltet, war mir nicht geläufig. Und als ich Einzelverfolgung, Ausscheidungsfahren, Zeitfahren oder Punktefahren auf dem Lattenoval staunend und voller Begeisterung verfolgte, musste mich Heinz Florian daran erinnern, dass ein Berichterstatter, bei aller Begeisterung, nicht in Trance verfallen könne, sondern seine Beobachtungen als Notizen festzuhalten habe. Und wenn diese im Augenblick nicht zu verwerten seien: ein Archiv sei die halbe Miete.

HFO besitzt ein solches Archiv – in Ordnern und in einem mit großem Allgemeinwissen gefüllten und geordneten Kopf. Davon abzugeben, mit Kollegen zu teilen, dazu ist er gern bereit. Man muss ihn nur fragen. Ungefragt wird Oertel nicht zum Klugschwätzer. Und da auch er nicht allwissend ist, scheut er sich durchaus nicht, zum Fragenden zu werden.

Gerade was Regeln bei Fremdsprachen betraf, holte er sich gelegentlich Rat von uns Nachrichtensprechern ein. Manchmal gab das die Zeit nicht her, und da konnte es schon passieren, dass der Name des Benannten für dessen Ohr eigenartig klang. Aber das war selten. Namen, die Heinz Florian Oertel in seinen Sportreportagen nannte, sind heute noch ein Wohlklang in meinem Ohr. Und nicht nur in meinem. Während der »Internationalen Radfernfahrt für den Frieden« alljährlich im Mai tönten die Namen der Fahrer aus den Kofferradios in den Städten und Dörfern unseres Landes, wenn Reporter Heinz Florian Oertel Begriffe und Geschehen für die Stimme arrangierte: »Course de la Paix« mit Fahrern wie Romeo Venturelli, Johannes van der Velden, Aurelio Cestari. Auf diesen Namen konnte er sich ausruhen, jede Silbe war gut zu verstehen. Sogar der Pole Andrzej Mierzejewski und der mehrfache sowjetische Etappensieger Dschamolidin Abduschaparow blieben ohne sprachlichen Makel, wenn Oertel sie zum »Contre la montre« aufrief.

Manch einer mag das als Masche abtun. Ich sehe mich da eher als Bruder im Geiste. Es ist eine Pflicht der Höflichkeit, den Namen eines Menschen korrekt auszusprechen, zumal wenn er einer großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Wenn junge Reporter sich Oertel zum Vorbild genommen haben und vielleicht heute noch nehmen und ihm nacheifern möchten, dann sollte das eine der Prämissen für die Berufsausübung sein. Wie überhaupt Oertel großen Wert auf die Pflege seines Handwerkszeuges, der Sprache, legte, wozu ein umfangreicher Wortschatz und der Gebrauch von Synonymen gehören. Es nimmt deshalb nicht wunder, wenn er, damals wie heute, Kollegen bei ihren Reportagen nur kopfschüttelnd zuhören kann, weil sie jegliche Bemühungen zur Weiterentwicklung vermissen lassen, obwohl sie schon Jahre dieser Tätigkeit nachgehen.

Stillstand kannte Heinz Florian nicht. Und er war nicht ausschließlich auf den Sport fixiert. Man hätte ihn getrost zu einer Theaterpremiere als Berichterstatter schicken können und es wäre ein hörenswerter Beitrag dabei herausgekommen. Es wäre ihm nicht ergangen wie dem Sportreporter in einer Anekdote, der für einen Kulturredakteur bei einem Konzert einspringen muss und davon berichtet, dass die Sängerin Lieder von Schubert sang, wobei Schubert verlor und sich in der Halbzeitpause die Ränge leerten.

Seine Vielseitigkeit bewies Oertel mit eigenen Sendungen im Hörfunk und Fernsehen. Sie wurden allesamt Renner: »7–10 Sonntagmorgen in Spreeathen«, »He, he, he – Sport an der Spree«, »Schlager einer großen Stadt« oder »Porträt per Telefon«, die erste Talkshow im DDR-Fernsehen. Der Bildschirm öffnete sich für ihn als Moderator bei »Ein Kessel Buntes« oder als Partner von Helga Hahnemann. Und ich selbst erinnere mich gern an eine Sendung von Heinz Quermann, in der wir, »Da lacht der Bär« singend, durch den Berliner Tierpark Friedrichsfelde zogen.

Mit dem Ruhm kommt der Neid und der Verruf. Überheblich, unnahbar. Besonders Reisen zu Sportereignissen in westliche Länder, von denen er mehr im Reisepass aufzuweisen hatte als andere Kollegen, brachten ihm den Ruf der Begünstigung ein. Aber es war wohl eher so, dass Heinz Florian Oertel die sicherste Bank für eine gute Berichterstattung war. Auch bei unerwarteten Ereignissen.

Er habe in den Reportagen im Fernsehen nie den Rundfunkmann verleugnen können, habe die Bilder zugequatscht. Nun, soviel ich weiß, will er das auch gar nicht. Wie wir alten Rundfunkleute das sowieso nicht wollen, weil der Rundfunk die beste Lehranstalt war, die wir uns denken können. Er war sich durchaus bewusst, dass seine Fernsehreportagen wortkarger hätten ausfallen können. Ich empfand es nicht als lästig, war doch bei dem, was aus dem Lautsprecher kam, nichts Sinnloses darunter.

In einer Anekdote erfährt man, dass er einmal bei einer Live-Fußball-Übertragung aus dem Moskauer Lushniki-Sportpark mit Darmproblemen zu kämpfen hatte und den Reporterplatz verlassen musste. Er hatte Glück. In der diarrhöischen Sprechpause war kein Tor gefallen. Wieder in der Heimat, belobigte ihn der Intendant für seine zurückhaltende Berichterstattung, die er sich von ihm nun immer so wünsche.

»Was ist er denn für ein Mensch?«, wird man oft gefragt. In einer Erzählung von Christa Wolf wird über die Hauptfigur gesagt, er sei ein guter Mensch. Das kann ich über Heinz Florian Oertel auch sagen.

Ich möchte noch einmal auf die anfangs erwähnte Winterbahn zurückblicken. Oertel war voll beschäftigt, an ein Verlassen des Reporterplatzes war nicht zu denken. Und so bat er mich, obwohl, wie er ausdrücklich betonte, das nicht zu meinen Aufgaben gehöre, Würstchen zu holen und drückte mir Geld in die Hand. Ich beeilte mich, den langen Weg schnell zurückzulegen, damit das Gewünschte wenigstens lauwarm bei ihm ankam. Sein erster Satz war: »Wo sind deine Würstchen?« Meine Druckserei deutete er richtig, dass ich von seinem Geld für mich keine Würstchen gekauft hatte, und er ahnte, dass mein Stipendium diese Sonderversorgung nicht mehr zuließ. Er machte mir klar, dass für alle Zukunft gelte, wenn er mich bitte, Essen zu besorgen, ich immer einbezogen sei.

Ich stehe auf und verbeuge mich, dankbar, dass Heinz Florian Oertel ein Teil meines, wie er sagen würde, Lebensmarathons ist.

Klaus Feldmann

Heinz Florian Oertel über seinen Jahrgang

27er, na und?

Richtig, geschätzter und kritischer Leser – na und? Warum sollten 27er, also 1927 Geborene, was Besseres oder Interessanteres sein als 28er, 29er, 30er … und, und, und? Dennoch wird es vielen Menschen ähnlich gehen, nämlich wissen zu wollen, wer ist auch so alt, so jung wie ich? Mit welchen Lebensabläufen lässt sich meiner vergleichen?

Sicherlich sind das nicht die himmelbewegenden Fragen, aber … Warum auch nicht?

Mir schickte ein Freund zum Geburtstag eine originelle Glückwunschkarte. Vorn prangt bunt die Superfeststellung: 1927 war ein Spitzen-Jahrgang. Ich machte mir dann nicht die Mühe, nachzuprüfen, ob das auf allen ähnlichen Pappen auch behauptet wird. Ich vermute stark: ja. Immer.

Also zum 27er »Spitzenjahrgang«!

Als mich im Cottbuser Osten damals eine Hebamme (die ich später persönlich kennenlernte) aus dem Körper meiner Mama Anna Bombeck-Oertel »befreite«, lebten in Deutschland 64023619 Einwohner. Mithin, ich wurde für Sekunden der »Einmalige« 64023620ste, ein fast neun Pfund schwerer Dicker. Meine Mutter brachte mich an einem Sonntag, dem 11. Dezember, um 11 Uhr vormittags auf die Welt. Ich bin Schütze-Kind und hatte tatsächlich viel, viel Glück.

Hans Rosenthal wäre jetzt hochgesprungen: »Das ist … – Spitze!«

Ich sage: Danke, Mama und Papa. Im Himmel sehen wir uns wieder.

Heinz Florian Oertel mit Mutter, Vater und Schwester, 1934

Heinz Florian Oertel als …

… Kind

Herkunft

Ich schäme mich, dass ich mich schämte.

Riefen die Lehrer einzelne Schüler auf und fragten nach den Eltern, Beruf des Vaters und so weiter, bekam ich rote Ohren. Immer hoffte ich, man würde mich übersehen. Blätterten andere im Klassenbuch, wo bekanntlich alles Schwarz auf Weiß zu lesen war, duckte ich ab. Links und rechts antworteten Mitschüler: »Mein Vater ist Apotheker«, »Meiner ist Chemiker«, »Ingenieur«, »Studienrat«, »Bibliothekar« … Da konnte ich nicht mithalten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mein »Weber« oder »Tuchmacher« murmelte, grinsten die anderen. Später musste mein Vater, der bis dahin wegen einer Herzgeschichte nicht einberufen wurde, in einen Rüstungsbetrieb. Dort stank es jämmerlich nach allen möglichen Giften. Aus allem machte man Kunstfasern und wer weiß noch was. Jetzt nannte sich Vater Chemiewerker. Mich verführte das zum Schwindeln. Kam ein neuer Lehrer, viele bekannte verschwanden in letzte Wehrmachtsaufgebote, und fragte nach dem Vater, nuschelte ich ein Mischmaschwort wie »Chemwiker« …

Warum, dachte ich hundertmal, warum bin ich gerade so, hierher geboren? Mein Vater Weber in einer Tuchfabrik an der Spree, meine Mutter Reinemachefrau im Lehrerbildungsinstitut um die Ecke. Und wir wohnten zu viert in Stube und Küche. Mutter, Vater, Schwester und ich. Bis zu meinem vierzehnten Geburtstag. Nach der Schule brachte ich Vater das Essen in die Fabrik. Ich trug seine abgelegten Schuhe und gestopften Pullover. Einen Wintermantel kannte ich nicht. Zur Konfirmation bekam ich mein erstes eigenes Jackett.

Warum schämte ich mich?

Ich wusste, andere wohnen besser. Meine Klassenkameraden besitzen richtiges Sportzeug, Fußballstiefel, Badezeug, im Winter Skier, manche ein Fahrrad. Für mich: Fehlanzeige. Weihnachten, wenn es anderswo trotz der miserablen Zeit noch Geschenke gab, Neues, pinselte Vater auf meine Spielsoldaten neue Dienstgrade. Aus einem Gefreiten machte er per Pinselwinkel einen Obergefreiten, aus einem Leutnant mit Klecks einen Oberleutnant. Das war’s. Halt, und dazu mein Lieblingsessen: Kartoffelsuppe mit Bockwurst. In der Schule rangierte ich mit den Leistungen vor vielen, aber die lagen dafür im Leben vorn. Das wurmte. Immer wieder.

Vater konnte für seine Herkunft so wenig wie ich für meine. Die Oertels stammten aus Niederschlesien und waren meist Arbeiter. Vater wuchs zudem in einer ähnlich erbärmlichen Zeit auf. Im Ersten Weltkrieg waren fast alle Lehrer an die Front beordert. Immer wieder fiel Unterricht aus. Entsprechend war das Lernniveau. So »ausgebildet«, geriet er auf den Arbeitsmarkt der Nachkriegsjahre. Eine Katastrophe. Null Berufschancen. So, wie heute wieder für viele junge Leute. Dann glückte eine kurze Bäckerlehre. Es folgte Arbeitslosigkeit. Viele Jahre. Weimarer Republik. Und dann kamen wir. Zuerst ich, dann meine Schwester.

Mein Cottbus

Sprem, Cottbuser Kürzel für Spremberger Straße. Die Straße der Stadt. Überheblich ließe sich auch feststellen – unser Ku’damm. Oben, am südlichen Ende, überragt der Spremberger Turm altbürgerliche Wohn- und Geschäftshäuser, Banken und vorbeiquietschende Straßenbahnen. Dieser dicke Turm mit seinem steinernen Bauch ist fast so alt wie meine Heimatstadt, die immerhin schon über 770 stolze Jahre auf dem Buckel trägt. Hussiten bissen sich am Turm die Zähne aus und Wallensteins Plünderer. Er nahm Pestkranke auf und später hugenottische Emigranten. Dann rissen ihm der Siebenjährige Krieg und Napoleons Truppen Wunden. Baumeister Schinkel heilte sie mit neuen Zinnenkronen, die noch immer halten.

Mich brachten der Zufall und natürlich meine Mutter in Cottbus auf die Welt. Ich liebe die Stadt. Früher hieß sie Chotibus, Godebuz, Choschobuz und Kottbus, Sorbisch immer Chosebuz. An ihrem Wahrzeichen, dem Turm, nahm vieles seinen Lauf. Beim Dickbäuchigen hatte ich mein erstes Rendezvous …

Mein erster Lehrer

Lebte er noch, ich könnte ihn jeden Tag umarmen. Meinen ersten Grundschulklassenlehrer, Herrn Hildebrand. Nie hatten wir herausbekommen, wie er mit Vornamen hieß. Doch das tut längst nichts mehr zur Sache. Was mir aber Herr Hildebrand schenkte, wie er mir vorentscheidende Lebensweichen stellte, das bleibt unvergessen. Als ich in der vierten Klasse war, bekam ich eine sogenannte Freistelle, so dass ich auf die Mittelschule gehen konnte. Meine Mutter freute sich sehr, aber mein Vater war unsicher. Ich sehe es noch vor mir: Vater ging eines Abends mit mir in den Cottbusser Ortsteil Ströbitz, wo Lehrer Hildebrand wohnte. Dort klopften wir an seine Tür. Was ist denn? Ich bin der und der, sagte mein Vater, und mache das und das, und ich will nur fragen, kommen da größere Kosten auf uns zu? Nein, wir haben doch gesagt, der Junge kriegt eine Freistelle. Aber trotzdem, die Bücher und Hefte und alles, kostet das nicht doch? Nein, nein, dafür wird schon gesorgt werden. Damit waren die Zweifel aus dem Weg geräumt, und so trat es auch ein. Ich habe später, als ich sechzehn war, für die Oberschule wieder eine Freistelle bekommen.

Musterschüler

Ich gehörte zu den ganz guten Aufsatzschreibern. Noch besser war ich aber als Gedichteaufsager. Das brachte mir auch den Respekt der Klassenkameraden, weil ich ihnen oft aus der Patsche half. Jeder weiß von solchen Situationen: Der Deutschlehrer stellt die Hausaufgabe, bis zur nächsten Woche beispielsweise Schillers »Glocke« zu lernen. Dann ist es so weit.

»Wer meldet sich freiwillig? Na …?«

Schweigen im Klassen-Wald. Das war meine Chance.

»Ich!«

Ein zufriedener Lehrer sah das Eis gebrochen, und für die Mitschüler waren die lähmenden Peinlichkeitssekunden vorbei. Ich hatte sie erlöst. Was andere irritierte, manche total verunsicherte, machte mir Spaß. Vorn zu stehen, Auge in Auge mit teils verlegenem, teils feixendem Publikum. Ich legte los.

Rilke

Jede Schule delegierte damals die Besten zu Rezitatoren-Wettbewerben. Im Cottbuser Stadttheater ging es um die Stadt-Besten, die wurden dann zur Landes-»Meisterschaft« geschickt. Eine erlebte ich in Frankfurt. Es musste eine »Pflicht« und eine »Kür« geboten werden. Pflicht hieß, eine vorgegebene Ballade zu rezitieren. Ich weiß noch genau, beim Endausscheid war das Uhlands »Des Sängers Fluch«. »Es stand in alten Zeiten ein Schloss so hoch und hehr …« Meine Kür bestand aus Versen von Rainer Maria Rilke.

Ältere Cottbuser Freunde hatten mich zum Rilke-Fan gemacht. Der gerade zuständige Deutschlehrer unterstützte mich. Mir gefiel dieser spezielle, schöne Sprachrhythmus, die dadurch möglichen Sprechmelodien und die Bilder, die Rilke schuf. Viele Metaphern verstand ich noch nicht, klar, aber alles beeindruckte mich, und die mit alten Schreibmaschinen abgetippten Texte hob ich lange, lange auf.

Fürs Finale wählte ich drei oder vier Abschnitte aus einem Rilke, der zu dieser Zeit manchen von uns begeisterte. »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Gleich der Anfang faszinierte: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden, und die Sehnsucht so groß …« Meine zweite Kür-Wahl wurde Rilkes »Herbsttag«. Warum? Wieso? Keine Erklärung. Alles Lebenssymbolische dieser Zeilen ging mir erst viel später auf. Gerade die Erinnerungen, die jetzige Lebensherbstnähe und das sprachlich Ewig-Meisterliche …

Ende der Kindheit

1943, als wir Fünfzehnjährigen noch martialisch Pimpfengesänge schmetterten, verräterische Lieder, wonach »die Fahne mehr ist als der Tod«, und allen Nichtdeutschen gedroht wurde, »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, 1943 also, brüllten deutsche Männer, Erwachsene, im Berliner Sportpalast auf Goebbels’ Wahnsinnsfrage »Wollt ihr den totalen Krieg?« ihr selbstmörderisches »Jaaa«! In Stalingrad endete die furchtbare Umklammerungsschlacht mit dem deutschen Fiasko … Erstmals beriefen die Nazis Schüler zum Luftwaffenhelferdienst.