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Dass die sowjetischen Soldaten beim Sturz der NS-Herrschaft in Europa eine entscheidende Rolle spielten, wird seit 2014 immer mehr heruntergespielt oder sogar gänzlich verleugnet. Immer mehr verdrängt wird in den großen deutschen Medien, dass im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Sowjetbürger starben, dass über die Hälfte der 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangen an Hunger und Krankheiten elendig verreckten und dass 8,7 Millionen sowjetischer Zwangsarbeiter die deutsche Kriegswirtschaft am Laufen hielten. Deshalb habe ich mich entschlossen, zum 75. Jahrestag des Kriegsendes die Interviews, welche ich in den vergangenen 20 Jahren in verschiedenen Städten Russlands mit ehemaligen sowjetischen Soldaten und Zwangsarbeitern führte, gesammelt zu veröffentlichen und mit aktuellen Analysen zu den Themen Zweiter Weltkrieg und Geschichtsfälschungen anzureichern. Die meisten Texte in diesem Buch sind schon einmal in Zeitungen oder auf Internet-Portalen veröffentlicht worden. Durch die Sammlung der Texte bekommt der Leser ein umfassendes Bild darüber, wie die einfachen Menschen in der Sowjetunion den Krieg erlebt haben und was sie heute denken und fühlen.
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2020
Foto: Galina Gryaznova
Die entscheidende Rolle der sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg bei der Befreiung von Faschismus und Krieg und das Leiden sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter werden seit 2014 immer mehr heruntergespielt oder sogar gänzlich verleugnet. Deshalb habe ich mich entschlossen, zum 75. Jahrestag des Kriegsendes die Interviews, welche ich in den vergangenen 20 Jahren in verschiedenen Städten Russlands mit ehemaligen sowjetischen Soldaten und Zwangsarbeitern führte, gesammelt zu veröffentlichen und mit aktuellen Analysen zu den Themen Zweiter Weltkrieg und Geschichtsfälschungen anzureichern. Die meisten Texte in diesem Buch sind schon einmal in Zeitungen oder auf Internet-Portalen veröffentlicht worden. Durch die Sammlung der Texte bekommt der Leser nun ein umfassendes Bild darüber, wie die einfachen Menschen in der Sowjetunion den Krieg erlebt haben und was sie heute denken und fühlen.
Ulrich Heyden wurde in Hamburg geboren. Er lebt seit 1992 in Moskau und berichtet für die Wochenzeitung der Freitag, Nachdenkseiten, Telepolis, Rubikon und RT deutsch über Russland und andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Von 2001 bis 2014 war er Korrespondent der Sächsischen Zeitung. In den 1990er Jahren berichtete er für den Deutschlandfunk und die Tageszeitung.
„Ihr seid umgekommen, aber wir lebenden Zeugen werden unser ganzes Leben lang an die Folter der Henker erinnern und unserem großen Volk über den Zorn der von den Faschisten gequälten Menschen berichten.“
Im Jahre 1964 bei „Modernisierungsarbeiten“ beseitigte Inschrift an dem zentralen Denkmal für sowjetische Kriegsgefangene auf dem Friedhof in Oerbke, Niedersachsen
Ulrich Heyden
Wer hat uns 1945befreit?
Interviews mit Kriegsveteranen undAnalysen zu Geschichtsfälschung undneuer Kriegsgefahr
© 2020 Ulrich Heyden
Titelbild: Die Vorsitzende der Vereinigung der BlockadeÜberlebenden von Leningrad, Jelena Tichomirowa, Foto: Ulrich Heyden
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-03521-8
Hardcover:
978-3-347-03522-5
e-Book:
978-3-347-03523-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltverzeichnis
Vorwort des Autors
Grußwort Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)
Grußwort Jan Korte (Mitglied des Bundestages)
1. WAS DEUTSCHE UND RUSSEN VOM KRIEG ERINNERN
Mit meinem Vater „an der Front“
Gregor Alfredowitsch - der Mann mit dem Lautsprecher
Der Krieg hat sie nicht gebrochen
Ich glaubte, meine Knie knirschen zu hören
Ein Kuss für den Panzer
Friedhof der Namenlosen
Oktober 1941: Letzter Erfolg der Wehrmacht
Graue Kolonnen
Woher dieser Hochmut?
„Hitler wurde von Stalin und im Westen unterschätzt“
2. DIE NEUE DEUTSCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG „Leitmedien“ als Geschic hts-Fälscher
Beredtes Schweigen
Wolhynien: Ein Massaker in der Westukraine
3. DER KAMPF UM STALINGRAD UND LENINGRAD
Angriff auf die Sowjetunion kein Verbrechen mehr?
Die Stalingrad-Abrechnung.
Gepflügte Erde ist Menschenerde
Ruhig fließendes, dunkles Wasser
Leningrad-Jahrestag – Drei Millionen eingeschlossen
4. WARUM SOGAR KINDER IN DEN KRIEG ZOGEN
Kind des Krieges
Mit acht Jahren an die Front
5. ENTSCHÄDIGUNG DER EHEMALIGEN SOWJETISCHEN ZWANGSARBEITER
Eine Schlange, die sich nicht bewegt
Die Hungerjahre vergisst sie nie
Zwangsarbeiter-Ausstellung in Moskau
6. GESCHICHTSREVISIONISTEN IN RUSSLAND UNDDEUTSCHLAND
Skurriles Spektakel auf den Knochen der Blokadniki
Russischer Schriftsteller lobt Hitler-Kollaborateur
AfD: Ist in Russland die Schmerzgrenze jetzt erreicht?189
Die Verleugnung
Erst „Friedenskapelle“, dann FJ-Strauß-Denkmal
7. WIE DIE RUSSEN DEN 9. MAI FEIERN
Im Mausgrau der Wehrmacht
Russland feierte den 74. Jahrestag des Sieges
Wie weiter?
Vorwort des Autors
Der 8. Mai ist für die meisten Deutschen ein schwieriger Tag. Es gibt keine Klarheit, was dieser Tag bedeutet. Ist es ein trauriger Tag oder ein Tag der Freude? Ein Tag des Dankes an die Sowjetsoldaten und die westlichen Alliierten oder ein Tag an dem man wegen einer großen Militärparade aufgebracht nach Moskau guckt?
Für mich selbst war der 8. Mai immer ein Tag der Freude. Doch diese Freude war abstrakt. Erst durch die Interviews mit russischen Kriegsveteranen bekam ich ein einigermaßen realistisches Bild vom Zweiten Weltkrieg.
Ich interviewte in den letzten zwanzig Jahren zahlreiche russische Kriegsveteranen, weil ich spürte, dass in den Erzählungen meines Vaters, der als Soldat kurz vor Moskau stand, etwas Entscheidendes fehlte. Der russische Soldat als Mensch kam in seinen Erzählungen nicht vor. Ich wollte wissen, was das für Menschen waren, die von der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 mit 3,3 Millionen Soldaten auf breiter Front angriffen wurden.
Den Tod von Bürgern der Sowjetunion kann ich nicht ungeschehen machen. Aber als Journalist kann ich dazu beitragen, dass diejenigen, welche die Sowjetunion damals verteidigten, ein Gesicht bekommen und nicht nur graue Masse sind. Das ist auch – so denke ich - ein Mittel gegen einen neuen Krieg, für den in Europa schon eifrig geübt wird.
2016 schrieb Joachim Käppner in der Süddeutschen Zeitung, man könne, angesichts zahlreicher Nato-Manöver an Russlands Grenze, das Deutschland von heute nicht mit dem Dritten Reich vergleichen. „Und doch“, schreibt Käppner weiter, „ist der Mangel an historischer Sensibilität erstaunlich, dass ausgerechnet das Land der Invasoren von einst, statt Soldaten zu schicken, seine Rolle nicht deutlicher als Mittler zwischen dem Westen und Moskau versteht. Vielleicht hat das noch immer damit zu tun, dass der Krieg des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion 1941 hierzulande in seinen apokalyptischen Dimensionen bis heute vielfach nicht ganz begriffen wurde. Mindestens 27 Millionen Menschen wurden auf sowjetischer Seite Opfer dieses Krieges.“1
Die Formulierung „nicht ganz begriffen wurde“ legt nahe, dass es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine intensive Aufklärungsarbeit über die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion gegeben hat. Doch diese Aufklärung gab es nur in Ansätzen. Wenn heute von Verbrechen in der Sowjetunion die Rede ist, dann geht es meist um Stalin, aber fast nie um Hitler.
An der Dämonisierung Russlands arbeiten die großen deutschen Medien und viele Politiker seit Wladimir Putin im Jahre 2000 zum Präsidenten gewählt wurde. Ein großer Teil der deutschen und der amerikanischen Elite will ein starkes Russland nicht akzeptieren. Man möchte ein schwaches Russland, dass die Kontrolle über seine Rohstoffe an westliche Konzerne abgibt. Je mehr Putin das Land stabilisierte und aus dem Chaos der Jelzin-Jahre herausführte, desto giftiger wurden die Kommentare in deutschen Medien.
Mit der Ukraine-Krise verschärfte sich der Ton der großen Medien gegenüber Russland dann in einem Maß, wie es seit den 1960er Jahren nicht mehr der Fall war. Die Entspannungspolitik, die Anfang der 1970er Jahre zwischen Deutschland und Russland begann und bei der viel für das gegenseitige Verstehen der beiden Völker erreicht wurde, wurde seit 2014 fast vollständig zerstört.
Ich selbst habe bei meinen Interviews mit den Veteranen einiges dazugelernt. Ich meinte immer, ich wüsste das Wichtigste über Russland. Doch erst durch die Gespräche mit den Veteranen und ehemaligen Zwangsarbeitern habe ich die Bedeutung des Sieges über Hitler-Deutschland nicht nur verstanden, sondern auch erfühlt.
Der 22. Juni 1941 war für mich ein abstraktes Datum. Das änderte sich, als ich im Sommer 2002 in Moskau den Kriegsveteranen Wladimir Kolganow interviewte. In einer russischen Küche zu sitzen und aus dem Munde eines Russen zu hören, wie er die Rede von Außenminister Molotow zum Überfall von Hitler-Deutschland erlebte, das ging unter die Haut.
Ich stellte mir vor, dass ich an diesem Juni-Tag im Jahr 1941 in der Masse der Menschen auf der Straße stand, welche die Rede aus den Lautsprechern hörten.
Das Kriegs-Thema beschäftigte mich von nun an immer mehr. Und ich fürchtete, zu spät zu kommen. Denn immer mehr Veteranen starben. Zufällig erfuhr ich, dass meine Wohnungsnachbarin, Anna Pessina, im Gebiet Stalingrad als Krankenschwester im Einsatz war. Auch sie gab mir 2002 ein langes Interview.
Während der Interviews wurde mir klar, dass die sowjetischen Soldaten nicht nur ihre Familien vor der Versklavung und Ausrottung retten wollten. Sie kämpften nicht nur für die heimische Erde. Sie kämpften auch für den Erhalt einer Gesellschaftsordnung, die sie aus der Armut befreit hatte, eine Gesellschaftsordnung in der Bildung, Gesundheit und ein würdiges Einkommen für die einfachen Menschen einen hohen Stellenwert hatte.
„Hätte man uns 1989 angegriffen, weiß ich nicht, ob wir uns so gewehrt hätten wie damals“, sagte mir vor kurzem eine Bekannte.
1989 war das Jahr, als es vor den sowjetischen Läden lange Schlangen gab. Die Menschen erlebten, dass die Perestroika von Michail Gorbatschow zu Armut, Wirtschaftschaos und Staatszerfall führte. Der Gewinn an politischer Freiheit wurde überlagert von dem Überlebenskampf jedes Einzelnen und jeder Familie.
Hundertausende – unter ihnen viele gut Ausgebildete – emigrierten in den 1990er Jahren in westliche Länder und suchten dort ihr Glück.
Doch der Staatsstreich in der Ukraine im Februar 2014 und der darauffolgende Krieg im Donbass brachte für viele Auswanderer die bittere Erkenntnis, dass die Vorstellung von einem Europa in Frieden und Wohlstand nur ein schöner Traum war.
Im Juli 2014 nahm ich in Hamburg zusammen mit einigen Russen und Ukrainern an einer Demonstration gegen den Krieg im Donbass teil. Der dringend notwendige Protest auf der Straße gegen Kriegsvorbereitungen und Russland-Dämonisierung ist in Deutschland seitdem leider nicht stärker geworden. Dies ist auch Resultat der massiven Medienpropaganda, um die es in diesem Buch auch geht.
1 Wehe den Besiegten, Joachim Käppner, Süddeutsche Zeitung, 21.06.2016, https://www.sueddeutsche.de/politik/unternehmen-barbarossa-wehe-den-besiegten-hitlers-vernichtungskrieg-im-osten-1.3035250
Grußwort von Andrej Hunko
(Mitglied des Bundestages, Die Linke)
Es ist ein überaus verdienstvolles Anliegen, in Form von Interviews mit Zeitzeugen die verdrängte Erinnerung an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten zu erinnern, dem 27 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, darunter überwiegend Russen, aber auch viele Ukrainer und andere Völker der damaligen Sowjetunion. Ulrich Heyden legt hier rund um den 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus ein sehr wichtiges Buch vor.
Das ist umso bedeutsamer, als wir in einer Zeit leben, die starke Züge eines neuen Kalten Krieges aufweist, der auch die Erinnerungskultur berührt. Im September 2019 etwa beschloss das EU-Parlament unter dem Titel „Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ eine Resolution, die insbesondere auf Betreiben polnischer Nationalisten eine revisionistische Neudefinition des 2. Weltkriegs vornimmt, die sich in die aktuelle geopolitische Stimmungsmache gegen die Russische Föderation einfügt.
Denkmäler etwa die, die Erinnerung an die Rolle der Roten Armee beim Sieg über den Nazismus aufrechterhalten, sollen laut dieser Resolution einem umgeschriebenen Geschichtsbild weichen. Erschütternde 82% der Abgeordneten stimmten dafür, einzig die Linksfraktion und einzelne Abgeordnete anderer Fraktionen stimmten dagegen. 77 Abgeordnete der parlamentarischen Versammlung des Europarates aus 17 Ländern widersprachen daraufhin in einer „written declaration“ Ende Januar 2020 jeglichen Versuchen, die „historische Wahrheit“ über den 2. Weltkrieg umzudeuten.
Ausgerechnet zum 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus sollte der Höhepunkt des größten Militärmanövers seit dem Kalten Krieg vor der russischen Westgrenze stattfinden. Auch wenn es so aussieht, dass das Corona-Virus diese Provokation in diesem Jahr vereitelt, ist doch davon auszugehen, dass vergleichbare Manöver in den nächsten Jahren geplant werden.
Meine teilweise ukrainischen Wurzeln ändern nichts daran, dass ich sehr westdeutsch sozialisiert bin, aufgewachsen in Aachen, derjenigen deutschen Stadt, die schon am 21. Oktober 1944 befreit wurde. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich als 11-Jähriger im Rahmen einer Fußball-Jugendmannschaft nach Paris fuhr und dort von einer französischen Großfamilie aufgenommen wurde. Ich spürte die feierliche Überwindung, die es meine französischen Gastgeber 30 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs kostete, einen Deutschen aufzunehmen. Erst später begriff ich, dass dieser Jugendaustausch Teil der Elysee-Verträge war, die auch der zivilgesellschaftlichen Versöhnung der ehemaligen Erzfeinde Deutschland und Frankreich dienten.
Während diese deutsch-französische Aussöhnung erfreulicherweise weitgehend erfolgreich umgesetzt wurde, hat es nie vergleichbare Initiativen einer deutsch-russischen Aussöhnung gegeben. Die Erinnerung etwa an die Hungerblockade von Leningrad oder die Dimension des Vernichtungskrieges selbst, ist im deutschen Bewusstsein verglichen mit anderen Verbrechen des NS-Regimes nur äußerst rudimentär ausgeprägt. So konnte etwa Thomas Oppermann bei seiner offiziellen Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung von Aachen im dortigen Krönungssaal am 21. Oktober 2019 völlig unwidersprochen etwa die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung von Ausschwitz „vergessen“.
Ähnliches dürfte bei den offiziellen Feierlichkeiten im Mai 2020 zu erwarten sein. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Interviews wichtige Stimmen, um dieses Vergessen zu vermeiden.
Andrej Hunkoist stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag und im Europarat
Grußwort von Jan Korte
(Mitglied des Bundestages, Die Linke)
Liebe Leserin, lieber Leser,
innerhalb von nur acht Monaten erschüttern drei schreckliche rechtsterroristische Anschläge unser Land. In Thüringen machen FDP und CDU gemeinsame Sache mit der AfD und brechen den demokratischen Konsens, dass nie wieder Faschisten Regierungsmacht bekommen dürfen. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig an die Geschichte zu erinnern. Und da gibt es keine tiefere Zäsur als den 8. Mai 1945.
Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands besiegelte das Ende eines verbrecherischen Systems, dessen Weltherrschaftspläne und Rassenwahn die menschliche Zivilisation infrage stellten. Erst durch die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 wurde der industrielle Massenmord an sechs Millionen Juden beendet. Die Bilanz des Zweiten Weltkrieges ist eine des Schreckens und des Terrors: Mehr als 60 Millionen Menschen starben bei Kampfhandlungen und durch Repressalien. Von den 18 Millionen Menschen in den Konzentrationslagern, wurden elf Millionen ermordet oder durch Zwangsarbeit vernichtet.
Die nationalsozialistische Kriegsplanung sah im Jahr 1941 für die Sowjetunion ausdrücklich vor, dass die Bevölkerung um 30 bis 50 Millionen Menschen reduziert werden sollte. Zuerst realisiert wurde diese Vernichtungsplanung an den sowjetischen Kriegsgefangenen. Zehntausende von ihnen wurden ausgesondert und nach den Richtlinien des „Kommissarbefehls“ direkt hinter der Front erschossen oder in den Konzentrationslagern ermordet. Mehr als drei Millionen Gefangene überlebten den Krieg nicht. Nur dadurch, dass eine Einnahme von Leningrad verhindert werden konnte, scheiterte die deutsche Planung, die den Tod aller drei Millionen Einwohner der Stadt vorgesehen hatte. Doch 800 000 Leningrader verhungerten durch die deutsche Blockade oder starben im Bombenhagel der Wehrmacht.
Am Ende hatte Nazideutschland einen Leichenberg mit 27 Millionen sowjetischen Männern, Frauen und Kindern aufgetürmt – teils im Kampf gefallen, zu Hunderttausenden in der Gefangenschaft ermordet, als Zivilisten vergast, willkürlich erschossen, gehenkt, in ihren Häusern verbrannt, zu Millionen und mit Vorsatz dem Hunger- und Kältetod preisgegeben.
Man sollte meinen, dass dies alles Anlass für Bundestag und Bundesregierung sein sollte, sich um gute Beziehungen zu Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu bemühen. Doch weit gefehlt. Seitdem die Bundesregierung 2012 die Modernisierungspartnerschaft mit Russland einseitig aufgekündigt hat verschlechtern sich die deutsch-russischen Beziehungen von Jahr zu Jahr mehr. Das diesjährige NATO-Manöver Defender 2020, ausgerechnet rund um den 75. Jahrestag der Befreiung vom Nazi-Faschismus, zeigt dies in drastischer Form. Statt immer neuer Konfrontation brauchen wir Entspannung und Kooperation mit Russland. Es wäre an der Zeit ein starkes öffentliches Zeichen für Versöhnung, Völkerverständigung und Frieden zu setzen. Endlich den vergessenen Opfern des NS-Vernichtungskrieges mit einem zentralen Gedenkort in Berlin zu gedenken, könnte so ein Zeichen sein.
Wünschenswert wäre, wenn dieses Buch, in dem dankenswerter Weise die Befreier und Betroffenen selbst ausgiebig zu Wort kommen, einen Beitrag dazu leisten könnte, dass die Erinnerung an den Vernichtungskrieg Nazideutschlands im Osten aus dem Erinnerungsschatten geholt und den Opfern dauerhaft ein ehrendes Andenken in unserer Erinnerungskultur zuteilwird.
Jan Korteist 1. Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE
1. Was Deutsche und Russen vom Krieg erinnern
Mit meinem Vater „an der Front“
Es ist ein Sommertag Ende Mai 1997 und ich bin mit meinem Vater Wilhelm auf dem Weg zu dem Dorf, wo er mit seiner Wehrmachts-Einheit im Winter 1941 sechs Wochen lang im Einsatz war. Es ist der Ort, an dem mein Vater im „Feldzug Barbarossa“ Moskau am nächsten war.
Kurz vor dem Dorf Kusmistschewo läuft ein junger Schimmel über die Straße. Wilhelm schreit: „Anhalten!“ Er ist wieder in seinem Soldaten-Modus, sagt mir meine innere Stimme.
Der Fahrer unseres Taxis hält und mein Vater springt aus dem Wagen, als ob zum Angriff geblasen wurde. Trotz seines Alters – er war damals 76 Jahre alt – hangelt er sich ohne Hilfe aus dem Wagen und läuft mit ausgebreiteten Armen dem Schimmel hinterher. Doch der Versuch, das Pferd einzufangen, misslingt. Der Schimmel wechselt die Richtung und trabt über die Wiese davon.
Mit unzufriedenem Gesicht kehrt Wilhelm zum Auto zurück. Was hat ihn auf die Wiese getrieben?
Je näher wir zu seinem ehemaligen Stationierungsort kommen, desto aufgeregter wurde mein Vater. Ich spürte, wie die Kriegszeit wieder in ihm hochkommt. „In Deckung“, „Aufsitzen“, „vorwärts …“, das waren die Worte, die in seinen Erzählungen immer wieder vorkamen.
Der deutsche Soldat war einsatzbereit und gewohnt zu jeder Tages- und Nachtzeit Befehle auszuführen. Gehorsamkeit, Mut und Ehre. Das waren die „Werte“, welche die deutschen Soldaten zusammenschweißte.
Im Oktober 1941 hatte Wilhelm für irgendeine „Heldentat“ das Eiserne Kreuz erster Klasse bekommen. Der schnelle Vorstoß Richtung Moskau hatte auch bei ihm die Hoffnung genährt, man könne bald in Moskau sein.
Nein, ein Nazi war Wilhelm nicht. Aber er hat den „Feldzug Barbarossa“ mir gegenüber nie kritisiert. Möglicherweise hielt er den Angriff auf die Sowjetunion im Nachhinein für falsch. Aber sich öffentlich dazu zu bekennen, hätte bedeutet, dass er der Wehrmacht in den Rücken fällt. Und das wäre für ihn „unsoldatisch“ gewesen.
Noch Jahrzehnte nach dem Krieg las er die Erinnerungen von deutschen Generälen und die Abhandlungen von Historikern, um herauszufinden, welche taktischen Fehler gemacht wurden.
Kein Wunder war für mich, dass Wilhelm die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“2, die im März 1995 in Hamburg begann, verurteilte, als Verleumdung von Soldaten, die in ihrer überwiegenden Zahl nicht an Verbrechen beteiligt gewesen seien.
Als Wilhelm nun 50 Jahre später den Schimmel über die Straße laufen sieht, fühlt er sich in seine Soldatenzeit zurückversetzt. Seine Ausbildung hatte er an einer KavallerieSchule gemacht. Mit Pferden kannte er sich aus. Und in der emotionalen Anspannung kurz vor dem Dorf Kusmistschewo, wollte er offenbar noch einmal im „wilden“ Russland „Ordnung schaffen“ und das Pferd einfangen.
Das „Auge der Division“
Das Dorf Kusmitschewo, wo Wilhelm stationiert war, liegt 100 Kilometer südlich von Moskau im Gebiet Kaluga. Es war der Wunsch meines Vaters, das Dorf einmal zu besuchen. Ich sollte ihm helfen dahin zu kommen.
Im Dezember 1941 führte Wilhelm das Kommando über eine Schwadron von 40 Radfahrern. Die Schwadron gehörte zur „Aufklärungs-Abteilung 152“. Diese war eine Voraus-Abteilung der deutschen 52. Infanterie-Division.
Er habe vor dem Dorf Kusmistschewo in einer „primitiven Schneeloch-Verteidigungsstellung“ gelegen, erinnert sich Wilhelm. An Eingraben war nicht zu denken. Die Erde war bei Minus 30 Grad steinhart.
Die deutschen „Aufklärungs-Abteilungen“ waren „das Auge“ der Division. Sie hatten in der Regel 630 Soldaten und Offiziere und wurden bis zu 30 Kilometer vor oder neben der eigentlichen Front eingesetzt. Zu einer Aufklärungs-Abteilung gehörten ein Abteilungsstab sowie eine Reiter-, Radfahr- und eine schwere Schwadron.
Die Aufgabe der deutschen „Aufklärungs-Abteilung“ beim Dorf Kusmistschewo war nicht einfach. Sie musste nach sowjetischen Angaben einen mehrere Kilometer langen Abschnitt kontrollieren.
Doch der Traum, Moskau zu erobern, zerplatzte wie eine Kristallkugel unter einem Hammerschlag. Am 17. Dezember 1941 eroberten Einheiten der 49ten sowjetischen Armee unter General Igor Sacharkin das Dorf Kusmistschewo. Die deutschen Soldaten mussten in aller Eile einen Tross bilden und abziehen.
Zwei russische Jungs „als Bedienung“
Das Dorf Kusmistschewo liegt in einer wunderschönen hügeligen Landschaft nicht weit vom Oka-Fluss und nur vier Kilometer vor dem Dorf Tarusa, wo zu Sowjetzeiten die Dichterin Marina Zwetajewa, der Pianist Swjatoslaw Richter und andere bekannte Künstler ihre Datschen hatten.
In einem Foto-Album meines Vaters gab es ein SchwarzWeiß-Foto. Darauf sieht man den damals 20 Jahre alten Wilhelm in Kusmistschewo vor einem schönen Holzhaus stehen. Neben ihm stehen zwei etwa zwölfjährige Jungs, die Mützen mit Ohrenklappen und Stiefel aus Filz tragen. Einer der Jungen grinst. Wilhelm guckt selbstbewusst und entspannt in die Kamera. Die beiden Jungen hätten ihn – den Offizier – bedient, erzählte Wilhelm. Die Jungs mussten Holz zum Heizen heranschaffen.
Bei unserem Besuch des Dorfes Kusmistschewo im Mai 1997 kommen mein Vater und ich am Gartenzaun vor einem alten Holzhaus mit zwei grauhaarigen Frauen ins Gespräch. Ihrem Alter nach zu urteilen haben wohl beide den Krieg miterlebt. Eine der beiden hält ein Kind auf dem Arm.
Wilhelm erzählt, er sei als Soldat im Dorf gewesen. Die beiden Frauen bleiben freundlich und beantworten weiter Fragen. Ich dolmetsche.
Mein heimlicher Wunsch, Wilhelm würde sich auch nach dem Schicksal der Frauen im Krieg erkundigen, erfüllt sich nicht. Seine Ignoranz beschämt mich. Mir kommen die Tränen
Mein Vater suchte auf Reisen gerne das Gespräch mit wildfremden Menschen. Er hatte die Angewohnheit, wildfremde Menschen in lange Gespräche über Leben und Politik zu verwickeln. Aber an diesem Gartenzaun in Russland wirkt er gefangen.
Im Gespräch mit den Frauen hat Wilhelm die Orientierung im Dorf wiedergefunden. Wir verabschiedeten uns und gehen über eine Wiese in Richtung Oka-Fluss.
Auch hier erkennt er alles wieder. Mit lauter Stimme, fast im Befehlston, erklärt Wilhelm einem Schäfer, der uns über den Weg läuft, dort und dort habe man verwundete Kameraden zurücklassen müssen. Die seien wahrscheinlich gestorben. Man müsse unbedingt die deutsche Kriegsgräberfürsorge über die Stellen informieren.
Ich spüre, dass es ihm leidtut, dass er die Kameraden zurücklassen musste, und dass er das Geschehene wieder gut machen will.
Russland „vom Bolschewismus befreien“
Immer wenn ich Wilhelm fragte, was die deutschen Soldaten in der Sowjetunion wollten, sagte er, man habe Russland von den Bolschewisten befreien wollen. Mein Vater schwärmte vom bäuerlichen Leben in Russland und er sprach immer gut über den russischen Zaren.
Die 52. Infanterie-Division wurde nach Schilderungen3 anderer deutscher Soldaten auch zur Partisanenbekämpfung eingesetzt, wobei auch Frauen und Kinder getötet wurden. Über Derartiges hat mein Vater aber nie berichtet.
Das einzige was er erwähnte waren „furchtbare Partisanen“, welche „entgegen der soldatischen Regeln von hinten angriffen“. Ob er an Erschießungen v on Partisanen beteiligt war, wagte ich ihn nicht zu fragen.
Im Dezember 1941 waren die Tage der deutschen Okkupanten im Dorf Kusmistschewo gezählt. „Die Schlitzäugigen kamen in Massen über die Oka“, erinnert sich Wilhelm.
Wieso schlitzäugig? Gemeint waren offenbar Burjaten, Tadschiken und Usbeken, die aus dem südöstlichen Teil der Sowjetunion mobilisiert worden waren, um den deutschen Vorstoß auf Moskau zu stoppen. In immer neuen Wellen seien „schlitzäugige“ Soldaten über das Eis der Oka auf das Dorf Kusmistschewo vorgerückt.
Mit Stolz erzählt Wilhelm, er habe den Rückzug seiner Schwadron geleitet, da der Kommandeur der Einheit beim „russischen Angriff“ starb. Die Fahrräder, welche die Schwadron mitführte, musste man im Dorf zurücklassen.
Der Tross für den Rückzug wurde in höchster Eile gebildet. Die deutschen Soldaten hatten alle noch graue Uniformen angehabt und seien deshalb für „die Russen“ ein leichtes Ziel gewesen.
Nachdem die deutsche Einheit abgezogen war, habe man einen Späher nach Kusmistschewo geschickt. Der sollte herausfinden, was im Dorf los war. Die sowjetischen Soldaten seien betrunken und lachend auf den Wehrmachts-Fahrrädern im Kreis gefahren, habe der Späher berichtet.
War das Fantasie oder Realität? Schwer zu sagen.
Die Erzählungen von Wilhelm decken sich in vielen Punkten mit den sowjetischen Frontberichten. In einem dieser Berichte heißt4 es, man habe von den Deutschen „180 Fahrräder erbeutet“. Außerdem habe man 32 Motorräder, 80 verschiedene Fahrzeuge, vier Panzer-Abwehr-Geschütze und 300 Gewehre in Besitz genommen.
Die Eroberung des Dorfes Kusmistschewo sei von sowjetischen Katjuscha-Raketenwerfern und Artillerie „vorbereitet“ worden.5 Bei schwerem Schneetreiben hätten dann 800 Soldaten der 49. sowjetischen Armee zwei Tage gebraucht, um das Dorf zu erobern. Die Deutschen hätten befestigte Feuerstellungen und Schützengräben gehabt. Auch Wohnhäuser seien als Deckung genutzt worden. Schließlich sei es zu heftigen Straßenkämpfen gekommen.
Auf sowjetischer Seite seien 75 Soldaten getötet und 432 verletzt worden. Die größten Verluste hätten die sowjetischen Aufklärer erlitten. Von ihnen seien 70 Prozent gefallen. Nach dem sowjetischen Frontbericht gab es auf deutscher Seite 300 Tote und Verletzte. Merkwürdig: Wilhelm hatte nur von wenigen deutschen Gefallenen erzählt.
Schwer verletzt im Nahkampf
Im August 1942, auf dem Rückzug, bekam Wilhelm bei der Stadt Brjansk den Befehl, zusammen mit der Bataillons-Infanterie einen feindlichen Frontbogen im dichten Waldgelände „auszumisten“. Als Wilhelm einen „minenverseuchten Holzbunker“ angriff, wurde er im Nahkampf „mit Russen“ schwer am Bein verletzt. Es folgte ein längerer Lazarett-Aufenthalt in Deutschland. Danach wird er nach Norwegen abkommandiert und schließlich als Ausbilder an eine Kavallerieschule in Polen verlegt. Von der gefährlichen Ostfront war er erstmal weg.
5,2 Millionen deutsche Soldaten starben im Zweiten Weltkrieg. Das war ein Drittel der Eingezogenen. Auf sowjetischer Seit starben 8,7 Millionen Soldaten.
Gregor Alfredowitsch - der Mann mit dem Lautsprecher
Wie aus einem Deutschen ein Sowjetbürger wurde, der Wehrmachtssoldaten zum Aufgeben überredete
veröffentlicht in: Neues Deutschland6, 2. Mai 2015
Wo er am 9. Mai gewesen sei? Gregor Alfredowitsch Kurella überlegt einen Augenblick. Dann werden die Erinnerungen wach und aus dem 89-Jährigen sprudelt es heraus. »Ich war in Mittel-Österreich. Genau gesagt an der Grenze zwischen Österreich und Tschechien. Ich war alleine. Ich hatte keine Waffe, nur einen Lautsprecher. Aber die Akkus waren schon leer.«
Er habe den Auftrag bekommen, mit seinem Pferdewagen von Bauernhof zu Bauernhof zu fahren und auszukundschaften, „ob sich da jemand der Kriegsgefangenschaft entzieht“. Um nicht aufzufallen, trug er eine zivile Jacke. Während der gleichen Zeit hatten seine Genossen von der „7. Abteilung“ der Roten Armee, die sich mit der „Zersetzung der feindlichen Reihen“ beschäftigte, ihren Lautsprecher mit Hilfe französischer Kriegsgefangener auf ein deutsches Feuerwehrauto umgeladen, weil das eigene Auto schlappgemacht hatte, und waren schon weiter Richtung Westen gefahren. „Sie wollten die ersten sein, die die Amerikaner treffen.“
In Österreich ging es im Mai 1945 „so schnell vorwärts, dass die Front zerfiel“. Einmal fuhren die Genossen Gregors nachts durch Zufall an einer marschierenden Kolonne von SS-Soldaten vorbei. Auch die hofften, so schnell wie möglich die Amerikaner zu treffen. Die SS-Männer riefen den Rotarmisten zu, „ihr Arschlöcher, nehmt uns mit“. Aber die sowjetischen Soldaten mit ihrem deutschen Feuerwehrwagen fuhren weiter.
Sie hatten nicht genug Leute, um es mit der SS-Kolonne aufzunehmen. Gregors Zeit in der Roten Armee begann im Januar 1943 an der Südwestfront, der späteren „3. Ukrainischen Front“. Die Fahrt von Moskau an die Front dauerte geschlagene drei Wochen. Es gab organisatorische Schwierigkeiten. An der Front wurde der 17-jährige Gregor als Dolmetscher eingesetzt. Ja, er habe unbedingt zur Armee gewollt, aber man habe ihn nicht gelassen, weil er Deutscher war.
Gregor Kurella, Foto: Ulrich Heyden
Doch Gregors Vater, Alfred Kurella, der damals als Redakteur für verschiedene sowjetische Frontzeitungen arbeitete, setzte sich für seinen Sohn ein. Die Armee brauche dringend Dolmetscher, so das Argument des Vaters. Was die „moralnoje rasloschenije“, die moralische Zersetzung des Feindes betraf, habe die „7. Abteilung“ noch „keinerlei Erfahrungen“ gehabt, erinnert sich Gregor.
Aber man habe schnell gelernt. Später wurde die Abteilung durch desertierte deutsche Soldaten verstärkt, so wie durch Eberhard Charisius, dessen Heinkel-Kampfflugzeug am 22. Juni 1941 über Lviv (Lemberg) abgeschossen wurde. Charisius wurde 1945 Polizeidirektor von Gera. Gregors Aufgabe war das Abfassen von Flugblättern und Lautsprecherdurchsagen an die gegnerischen Soldaten. Die Flugblätter wurden von Kurieren hinter die feindlichen Linien gebracht. Übergelaufene deutsche Soldaten, die im Krieg zu Antifaschisten wurden, hielten sich, so Gregor, monatelang in dem von Deutschen besetzten Odessa versteckt, druckten dort Flugblätter und steckten sie in die Briefkästen. Mit der 46. Armee zog Gregor weiter über Odessa, Belgrad und Budapest bis nach Wien.
Wichtige Hinweise bekam Gregor durch anscheinend belanglose Gespräche mit deutschen Kriegsgefangenen. Er erfuhr etwas über die Stimmung unter den deutschen Soldaten und auch etwas über ihre Anekdoten. Mit diesem Wissen konnte Gregor die Flugblätter und die Lautsprecherdurchsagen ausschmücken, so dass sie sich nicht so anhörten, wie die Reden eines sowjetischen Polit-Kommis sars. „Unser wichtigstes Argument gegenüber den deutschen Soldaten war, dass nicht die Sowjetunion, sondern Deutschland den Krieg angefangen hat.“ Außerdem wurde den Soldaten auf der anderen Seite der Front versprochen, dass deutsche Kriegsgefangene nicht erschossen werden, dass sie zu essen bekommen und dass man sie nach dem Krieg nach Hause entlassen werde.
Wie kam Gregor überhaupt in die Sowjetunion? 1934 folgte der damals Achtjährige mit seiner Mutter Margret dem Vater, einem Komintern- Funktionär, nach Moskau. Alfred und seine spätere Frau Margret gehörten dem linken Flügel der Wandervögel an. Angesichts des Grauens des Ersten Weltkrieges wandten sie sich der Politik zu. Alfred, der aus einer Familie von Psychiatern kam, wurde Mitglied der KPD. Als Parteikurier kam er 1919 nach Moskau, wo er auch Lenin traf. Von 1934 bis 1935 war er persönlicher Sekretär des späteren Komintern-Chefs, des Bulgaren Georgi Dmitroff. Die Familie Kurella wurde nicht vom Terror unter Stalin verschont. 1937 wurde Arturs jüngerer Bruder, der Journalist Heinrich Kurella, erschossen.
Erst 1954 durfte Gregors Vater, Alfred Kurella, in die DDR ausreisen, wo er schnell Karriere machte. 1963 wurde er Mitglied der Ideologischen Kommission des Politbüros der SED. Alfred Kurella, der in seiner Jugendzeit in der Partei Probleme wegen „Linksabweichung“ bekam, machte sich in der DDR für den sozialistischen Realismus in der Kunst stark.
Ob er an Stalin geglaubt habe? „Zum großen Teil ja. Nicht alles. Es herrschte auch Unkenntnis europäischer Gewohnheiten. Im Oberkommando gab es auch Leute, die noch nicht mal mit einer Kompanie umgehen konnten.“ Und die Vergewaltigung von Frauen durch sowjetische Soldaten, wurde dagegen etwas unternommen? „Wir haben sehr energisch dagegen gekämpft.“ Wie er sich heute fühle, als Deutscher, als Sowjetbürger oder als Russe? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. „Als Sowjetbürger.“ Nach einer kurzen Pause korrigiert sich Gregor. „Als Russe.“ Als der Krieg vorbei war, wollte Gregor nichts sehnlicher, als nach Moskau zurückzukehren. Doch als erfahrenen Dolmetscher brauchte man ihn in der Sowjetischen Besatzungszone, wo er bei der sowjetischen Militärverwaltung arbeitete. Viel Zeit steckte er in die Jugendarbeit.
Als Dolmetscher war er außerdem dabei, wenn den befreiten Deutschen erklärt wurde, wie die Menschen im Sowjetsystem leben. Eine häufig gestellte Frage der Deutschen war, ob es in der Sowjetunion überhaupt Privateigentum gebe. Ein Kamerad Gregors erklärte den Deutschen in einer wortreichen Rede, er hätte in seiner Wohnung alles, auch „ein Geflügel“. Das Gelächter war groß. Der Vortragende, in dessen Rede sich manchmal Worte aus dem Jiddischen mischten, wollte eigentlich damit prahlen, dass er einen Flügel habe.