Wertvolle Freiheit - Gerd Keil - E-Book

Wertvolle Freiheit E-Book

Gerd Keil

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Beschreibung

Der Autor wurde 1963 in Ostberlin geboren. Bis zu seinem 17. Lebensjahr wuchs er in einem systemtreuen Elternhaus auf. Mehr und mehr begann er Fragen zu stellen. Seine Eltern warfen ihn aus der Wohnung und er hörte nicht auf, dieses heuchlerische System zu hinterfragen. Als er auch noch beginnt Fluchtwillige zu unterstützen gerät er ins Visier der Stasi. Er wird verraten, verhaftet und im April 1989 durch die Bundesrepublik freigekauft. 1994 folgen Hochzeit, 1999 und 2002 die Geburten seiner Kinder. Die Ehe zerbricht und nach einer weiteren kurzen Beziehung will er keine Partnerschaft mehr. Jetzt findet die Liebe ihn und mit seiner Manuela lernt er, was wirkliche und wahre Liebe ist. Sie ist die Frau mit der er glücklich werden wird. Die standesamtliche Hochzeit und die kirchliche Trauung bilden den schönsten Abschluss dieses Buches.

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Wenn Sie möchten, besuchen Sie mich im Internet aufwww.gerdkeil.de Dort finden Sie meine weiteren Bücher und auch einige Fotos und Videos. Über einen Eintrag, in mein Gästebuch, würde ich mich sehr freuen.

Inhaltsverzeichnis

Anstelle eines Vorworts: Warum?

1963

1965

1966

1969

1970

1972

1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

1983

1986

1987

1988

1989

1990

1993

1994

1995

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2013

2014

2015

2016

2020

2021

Ein letztes Wort

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weitere Bücher von mir

Dieses Buch ist gewidmet meinen beiden Kindern Vivien und Sebastian, meiner ersten großen Liebe Heike, die 2013 – zu früh – an Leukämie verstarb, meiner zweiten großen Liebe, Manuela, meiner Traumatherapeutin, Frau Scheller, meinem Papa der auch viel zu früh starb, sowie allen Freundinnen und Freunden, die immer für mich da waren und da sind.

Anstelle eines Vorworts: Warum?

Ich möchte den Lesern dieses Buches ein Bild von meinem Leben aufzeigen, welches in einem System stattfand, das es heute glücklicherweise nicht mehr gibt. Es ist wichtig, darauf zu achten, dass es auch künftig keine Diktatur mehr geben darf, weder die von links noch die von rechts. Denn jede Form der Diktatur verhindert eine Demokratie in unserem schönen Deutschland. Für mich ist dieses Buch eigentlich ‚nur‘ die Aufarbeitung meiner Biografie. Dass es in ihr Menschen gibt, die schlechter dastehen, und ebenso solche, die besser dastehen, versteht sich von selbst, wenn man nur den Titel des Buches liest und sich darüber einen Augenblick lang Gedanken macht.

Ich habe in meiner Kindheit oft gelernt, dass Familie eher das ist, was man besser nicht hat. Ich habe aber auch gelernt, dass es in dieser Familie Menschen gab, die mir unendlich wichtig waren.

Liebe Vivien, lieber Sebastian,

ihr beide seid das allergrößte Glück für mich.

Ich kann mich auch heute noch ganz genau daran erinnern, wie unbeschreiblich schön und doch jedes Mal neu die Geburt eines Menschen ist.

Bei dir, lieber Sebastian, waren es ganze zweiundzwanzig Stunden, die wir, deine Mama und ich, darauf warteten, deinen ersten Schrei hören zu können. Zwischendurch dachten wir schon, es würde noch ewig dauern. Dann kam er, nach einem sanften Klaps auf deinen Po durch die Hebamme.

Bei dir, liebe Vivien, war es eine Entbindung per geplantem Kaiserschnitt. Was jedoch nicht heißen soll, dass es für uns als deine Eltern weniger aufregend war. Deinen ersten Schrei habe ich leider nur durch die Tür hören können, denn ich musste draußen bleiben. Als ich dich dann auf meinem Arm hielt, habe ich mich unsagbar glücklich gefühlt.

Danke schön dafür an euch beide, denn ihr habt mich zum stolzen Paps gemacht. Paps, weil das das Wort war, was ihr beide zum Paps gesagt habt, als ihr noch klein wart. Ich finde Paps wunderschön.

1963

Ich wurde als zweites Kind in eine Familie hineingeboren, die eine sehr sozialistische Einstellung hatte. Mein Papa, gelernter Elektriker, war bei der NVA und meine Mutter, gelernte Verkäuferin für Möbel, hatte mit meinem zweieinhalb Jahre älteren Bruder und mir genug zu tun. Schließlich war ich noch ein Baby und hier konnte man nicht einfach mal Babynahrung kaufen gehen. Bananen standen eher im Fremdwörterbuch als im KONSUM oder womöglich in der eigenen Küche. Wir lebten in einer Berliner Altbauwohnung.

Seit zwei Jahren stand die Mauer, oder wie mein Papa sagen würde, der antifaschistische Schutzwall. Wieso ‚Schutzwall‘, kann ich auch nicht erklären, denn vor wem oder was sollte denn dieses hässliche Bauwerk schützen? Vor der ‚bösen‘ Verwandtschaft im sogenannten nichtsozialistischen Ausland? Vor den Waren, die man hier nur unter dem Ladentisch – wenn überhaupt – bekam, oder etwa vor den Medien, die aussprachen, was man hier nur hinter vorgehaltener Hand denken durfte? Mit dieser Mauer wurde ein ganzes Volk eingesperrt und dieses hässliche Bauwerk sollte noch viele Jahre stehen bleiben.

Zwar hatte Walter Ulbricht verkündet, dass all die Bauarbeiter mit dem Wohnungsbau beschäftigt seien und niemand die Absicht hätte, eine Mauer zu errichten, aber gebaut wurde sie trotzdem. Und das von Bauarbeitern, die von Soldaten der Nationalen Volksarmee, wie diese sich nannte, streng bewacht. Die Mündungen der Maschinenpistolen im Rücken der Bauarbeiter.

Erich Honecker hat später mal gesagt, die Mauer werde auch in fünfzig oder hundert Jahren bestehen bleiben, solange stand sie aber zum Glück nicht mehr. Nicht mal Erich blieb zum Glück noch fünfzig Jahre an der Macht.

1965

Ich kam für ein Jahr in ein Kinderheim, da mein Papa bei der NVA seinen Ehrendienst leistete und meine Mutter mit Gelbsucht im Krankenhaus lag. Ehrendienst? Na, es war offiziell eben eine Ehre, bei der Armee zu dienen. Meine Oma und mein Opa mussten noch arbeiten und hatten meinen großen Bruder zu sich genommen. Da die Wohnung meiner Großeltern nicht sehr groß war, war für mich bei ihnen kein Platz mehr gewesen.

Diese Zeit im Kinderheim hat, denke ich, auch mein späteres Leben sehr beeinflusst. Die anderen Kinder und das Spielen vielleicht weniger als die ständig erzwungenen Handlungen. Lächeln und freuen geschah hier oft genauso auf Kommando wie gerade sitzen und essen oder spielen. Selbst wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, bekomme ich das Gefühl von Angst und davon, allein gelassen zu sein. Als Kind war das für mich so schlimm, dass es mir heute schwerfällt, darüber zu schreiben.

1966

Nun war ich schon beinahe drei Jahre alt. Unsere Eltern zogen mit uns in eine fast unbezahlbare Neubauwohnung, aber mein Papa war schließlich ein treuer Genosse der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, kurz: SED. Immerhin tauchte hier das Wort Deutschland auf und keiner, nicht mal einer der Genossen im Politbüro, merkte das. Aber nicht nur die Mitgliedschaft in der SED wurde benötigt, um eine solche Plattenbauwohnung zu bekommen. Mein Papa war auch jede Woche während der Sprechzeit in das Büro der „Kommunalen Wohnungsverwaltung“ (KWV) gelaufen. Dort war er den Sachbearbeitern so lange auf die Nerven gegangen, bis diese endlich eingewilligt hatten und wir in eine solche Wohnung ziehen konnten.

Hier tropfte es nun nicht mehr von der Decke. Es war eine Drei-Raum- Wohnung in Friedrichsfelde, unweit vom Berliner Tierpark. Dieser wurde zum beliebtesten Ausflugsziel für uns vier. Wenn dort im Sommer die Affen früh gegen vier Uhr mit großem Spektakel wach wurden, konnten wir das zu Hause hören, und so begann für uns Kinder auch der Tag. In der Woche war das kein Problem, da unsere Mutter zu dieser Zeit schon wach war, um die Zeitungen auszutragen. Am Sonntag war dies anders, darauf nahmen wir als Kinder aber nicht wirklich Rücksicht. Mittlerweile arbeitete mein Papa bei der Berliner S-Bahn in der Bahnstromversorgung.

Fortan würde er nun auch im Westteil der Stadt, also hinter der Mauer, arbeiten und die Soldaten der Grenztruppen der NVA bei jeder Grenzüberschreitung freundlich grüßen. Womöglich hatte einer von denen nur einen Tag vorher einen Menschen erschossen, nur, weil dieser in Freiheit leben wollte. Kann man so einen Soldaten freundlich grüßen?

Er war jetzt ein sogenannter Reisekader. Er war einer der wenigen, die nach dem Mauerbau im ehemaligen Westteil arbeiten durften, obwohl sie im Ostteil der Stadt wohnten. Für uns Kinder brachte er von dort nie etwas mit, dafür hatten wir zum Glück unsere Oma und unseren Opa. Für unsere Mutter brachte er gelegentlich ein Medikament mit, welches die Verdauung anregen sollte und frei verkäuflich war.

Da es keinen anderen Kindergartenplatz für mich gab, war ich in einer kirchlichen Einrichtung angekommen. Hier wurde vor jeder Mahlzeit, obwohl dies eine evangelische Kita war, ganz sozialistisch gebetet und die Erzieherinnen trugen ihre schwarzen Nonnenkleider. Glücklicherweise war es ein freundliches Schwarz. Die wenigen Spielsachen wurden unter vielen Kindern aufgeteilt. So lernte ich schon als kleines Kind, mich durchzusetzen, was mir meist sehr schwerfiel. Ich hatte wohl immer gedacht, dass ich ja zu Hause auch etwas zum Spielen hatte, und gegen meinen älteren Bruder war das mit dem Durchsetzen nicht so schwer wie gegen die anderen Kinder hier im Kindergarten. Vor und nach dem Mittagessen saßen dann 25 Kinder nebeneinander auf dem Topf. Hier wurde das große Geschäft gemeinschaftlich in einer Reihe auf Kommando erledigt.

1969

Mein Bruder kam in die erste Klasse und fuhr nun künftig immer mit dem Linienbus zur Schule. Er war ein fleißiger Schüler, der auch bald nach seiner Einschulung ein Jung-Pionier werden sollte. Stolz fuhr er, sein blaues Halstuch und bei allen Festivitäten die weiße Pionierbluse tragend, zur Schule. In der HO-Kaufhalle gab es auch nicht viel mehr als im KONSUM und so waren wir zufrieden mit dem, was wir nicht hatten.

Nach ein paar Tagen Schule hatte er einen Unfall, weil er von einem Linienbus an der Haltestelle angefahren wurde. Der Krankenwagen und die Volkspolizisten ließen nicht lange auf sich warten und so wurde er schnell versorgt.

Zum Geburtstag von Opa fuhren wir dann mit einem Taxi – einem echten Taxi. Das allein war schon eine Attraktion, aber bei Oma und Opa war nicht Opa als Geburtstagskind die Hauptperson, sondern mein Bruder, der ja nun ein Gipsbein hatte. Jeder, der kam, gratulierte meinem lieben Opa zum Geburtstag und wendete sich sofort meinem armen Bruder zu und fragte ihn aus, wie das passieren konnte.

Ich fand das meinem Opa gegenüber so gemein, dass ich mich auf seinen Schoß setzte, um ihn mit meinen kleinen Armen richtig zu drücken und ihn zu trösten, denn aus meiner Sicht musste er doch traurig sein, wenn man ihn an seinem Geburtstag so behandelte.

Meine Oma und mein Opa waren nun beide im Rentenalter und beide hatten sich das bestimmt auch verdient. Ich selbst war fünf und wurde bald sechs Jahre alt, da ich erst im Dezember geboren wurde. Beide hatten von nun an auch mehr Zeit für uns Kinder. Wie sie vorher die Zeit gehabt hatten, war mir oft nicht klar gewesen, denn ich würde meinen, dass sie beinahe jede freie Minute dazu genutzt hatten, mit uns etwas zu unternehmen.

Eine Auswahl an Begebenheiten mit meinem Bruder

Auch zu Hause sah es nun nicht gerade super aus mit den Spielsachen, denn es gab doch nichts oder kaum etwas und davon ganz viel. So hatten wir zum Beispiel eine Holzlokomotive, mit der ich unbedingt zu der Zeit spielen wollte, zu der sie mein Bruder gerade hatte. Wer selbst mindestens zwei Kinder hat, kann sich nun ausrechnen, was wohl passierte.

Richtig, es gab Streit, und zwar richtigen Streit. Ich hatte so oft bei meinem Bruder nachgeben müssen, weil er der ältere und weil er krank war. Ich hatte das als kleiner Junge nie so gesehen. Als ich selbst zur Schule kam, verstand ich nicht, warum mich so viele Kinder auslachten. Der Grund: Ich hatte einen Bruder, der auf eine Sonderschule ging. Da ich aber auch nicht wirklich verstand, warum das so war, steckte ich wieder zurück, ließ mich auslachen und stand zu meinem Bruder.

Ein anderes Mal tobten wir beide in unserem gemeinsamen Zimmer herum, bewarfen uns mit Kissen und rannten dabei um den Tisch und um die Stühle. Ich war der Kleinere und das nicht nur vom Alter her, sondern auch von meiner körperlichen Größe. So schlug mein Bruder vor, ich dürfe, anstatt um die Stühle zu rennen, zwischen dem Tisch und den Stühlen eine kleine Abkürzung nehmen. Das tat ich auch und so war ich wenigstens ein wenig schneller als zuvor. Zwischendurch blieben wir auch mal stehen oder wechselten die Richtung. So kam es, dass ich die Tischdecke herunterriss. Dadurch stolperte mein Bruder und fiel gegen den Schrank. Passiert war ihm außer dem Schreck gar nichts. Den Schreck selbst bekamen wir eigentlich alle beide und ich musste mich, weil ich ja daran schuld war, bei meinem Bruder entschuldigen und durfte an diesem Tag nicht mehr weiterspielen. Danach erzählten uns unsere Eltern, dass sie eine Überraschung für uns gehabt hätten. Gehabt hätten?

Ja, da ich nicht artig war, gingen unsere Eltern mit meinem Bruder am Abend in den Zirkus, und um meine Eintrittskarte, die schon bezahlt war, nicht verfallen zu lassen, wollten sie nun die Tochter der Nachbarsfamilie mitnehmen. Sie würde sich bestimmt über einen Zirkusbesuch freuen.

Wir wollten zu Hause, in unserem Kinderzimmer, unbedingt Tischtennis spielen. Da ein Tischtennisspiel viel zu teuer war, beziehungsweise es vielleicht auch gar keines gab, bauten wir uns eines. Unseren Tisch konnte man an beide Seiten ausziehen, das war schon ein großer Vorteil für unser Vorhaben. So hatten wir nämlich einen Tisch, der so etwa die Abmessungen einer Tischtennisplatte hatte. Anstelle des Netzes verwendeten wir meine Hosenträger. Aufgrund meines minimalen Körperumfangs zu dieser Zeit brauchte ich diese, da es so einen kleinen Gürtel nicht gab. Ohne wäre mir jedoch jede Hose beim ersten Schritt heruntergerutscht.

So hatten wir zwei Felder und jeder seine Seite, wenn der Hosenträger an der Stelle liegenblieb. Wir rückten ihn immer wieder an die richtige Stelle, meist zu dem Zeitpunkt, wenn unser Gummiball wieder auf die Erde gefallen war. Das kam, weil wir beide nicht gerade die perfekten Spieler waren, ziemlich oft vor. Da wir auch keine Tischtenniskellen hatten, nutzten wir unsere Farbmischpaletten, die eigentlich dazu da waren, zum Beispiel aus Blau und Gelb die Farbe Grün zu machen, wenn wir malen wollten. Aber erfinderisch zu sein, oder besser sein zu müssen, lernte man auch schon als kleiner DDR-Bürger von sechs Jahren.

So haben wir angefangen zu spielen, bis ich einen ganz schnellen Ball spielte und danach nur noch das Klirren der Scheibe in unserer Tür zu hören war. Mein Bruder war wieder mal schuldlos. Ich wurde im dunklen Badezimmer eingeschlossen, wo ich die nächsten Stunden eingesperrt blieb.

Wir spielten wieder einmal Fangen in unserem Kinderzimmer. Mein Bruder war wie immer der Schnellere. Ich überlegte mir also einen Plan, wie ich meinen Bruder fangen konnte. Ich nahm mein Unterhemd und warf es ihm in einem möglichst hohen Bogen entgegen. Möglichst hoch, weil mein Bruder größer war, aber auch, weil dieses Unterhemd nicht unbedingt die beste Flugbahn hatte. So glaubte ich, würde das Unterhemd auf dem Kopf meines Bruders landen und ihm die Sicht verdecken.

Leider ging mein toller Plan nicht auf und so flog mein Unterhemd auf dem kürzesten Weg direkt auf die Gardinenstange. Meine Eltern kamen ins Zimmer, um zu sehen, warum wir so laut waren. Ich hatte keine Chance, vorher noch das Unterhemd von der Gardinenstange zu holen. Als mein Papa fragte, wie denn das Hemd dorthin gekommen sei, antwortete ich: „Das ist mir da raufgefallen.“ Ich glaube, eine dümmere Ausrede wäre wohl auch keinem anderen eingefallen.

Wie bei den meisten Kindern, die in der DDR geboren wurden, war das Spielzeug nicht so üppig wie das der Kinder, die heute groß werden.

Irgendwann bekamen wir Kuscheltiere. Da auch diese geteilt werden mussten, nahm so manches Kuscheltier Schaden. Mal ging ein Arm, ein anderes Mal ein Bein oder auch mal ein Auge verloren.

Zum Glück gab es da das Kinderfernsehen mit dem täglichem Abendgruß vom Sandmann. In diesem war auch: Frau Puppendoktor Pille mit der großen klugen Brille. Genau dorthin nahm mein Papa dann diese Kuscheltiere mit, und nach einigen Tagen, manchmal auch Wochen, kam das Kuscheltier wieder zurück. Nun war alles wieder ganz. Aber das allein ging natürlich nicht. Wir bekamen jedes Mal einen Brief von Frau Puppendoktor Pille, in dem sie uns schrieb, dass wir doch etwas vorsichtiger mit unseren Spielsachen umgehen sollten.

Dies nahmen wir uns auch immer fest vor, aber wie das so ist, unter Brüdern: Es gab wieder Streit und der Teddy hatte ein Auge weniger. Wir machten das nicht absichtlich, aber wenn nun mein Bruder zur selben Zeit mit dem Spielzeug spielen wollte wie ich, gab es eben Streit.

Einen Fernseher hatten wir auch: schwarz-weiß und ein Bildschirm, mit einem Diagonalmaß von 33 Zentimetern. Nicht viel größer war auch der hintere Teil des Gerätes. Umso mehr wunderten wir Kinder uns, wie da wohl die ganzen Leute hineinpassten.

Irgendwann ging der Fernseher wieder mal kaputt und mein Papa, der Elektriker war, schraubte die Rückwand ab. Gott sei Dank kannte er sich mit diesem Gerät wohl aus. Denn von mir kam sofort die Frage: „Wo sind Frau Elster, Herr Fuchs, Pittiplatsch, der Sandmann, Schnatterinchen und all die anderen Figuren aus dem Kinderfernsehen?“

Mein Papa brauchte nicht lange zu überlegen. Er erklärte mir, wer in welcher Röhre sei. Dass ich diese Figuren jetzt nicht sehen könne, liege daran, dass er den Fernseher geöffnet habe. Die Figuren können da also nicht drin sein, denn wenn sie jetzt herauslaufen würden, sei es möglich, dass sie nicht mehr nach Hause finden.

1970

Die Zeit im Kindergarten war nun auch für mich vorbei und auch ich sollte bald ein Jungpionier werden.

Die Pioniere der 1. bis 3. Schulklasse (von sechs bis zehn Jahren) zählten zu den Jungpionieren und trugen zu besonderen Anlässen blaue Halstücher.

Die „Zehn Gebote der Jungpioniere“, die auch auf der „Pionierausweis“ genannten Mitgliedskarte standen, lauteten zunächst:

Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.

Wir Jungpioniere lieben unsere Eltern.

Wir Jungpioniere lieben den Frieden.

Wir Jungpioniere halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und aller Länder.

Wir Jungpioniere lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert.

Wir Jungpioniere achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall tüchtig mit.

Wir Jungpioniere sind gute Freunde und helfen einander.

Wir Jungpioniere singen und tanzen, spielen und basteln gern.

Wir Jungpioniere treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund.

Wir Jungpioniere tragen mit Stolz unser blaues Halstuch.

Später wurde das zehnte Gebot um einen Satz ergänzt:

Wir bereiten uns darauf vor, gute Thälmannpioniere zu werden.

Quelle: Wikipedia

Eigentlich wird jedes Schulkind zuerst ein Jungpionier. Auch ich wurde einer. Nach knapp einem halben Jahr Schule bekam unsere Schule auch einen Namen. Sie hieß nun: Robert-Uhrig-Oberschule. Wir, die anderen Kinder aus meiner Klasse und ich, waren die ersten in dieser Schule. Vor uns hatte es hier noch keine Einschulungen gegeben. So wurden wir also Jungpioniere und auch ich trug bei allen Festivitäten das blaue Halstuch und die weiße Pionierbluse eines Jungpioniers. Das Lernen fiel mir in den ersten Jahren der Schule schwer, aber ich strengte mich an, um mein Bestmöglichstes zu geben.

Unsere Klassenlehrerin war eine Frau mit dem Gemüt eines Schaukelpferdes, eine bessere Lehrerin hätten wir nicht bekommen können. Wenn ich mal wieder nicht so viel oder besser gesagt: gar nichts verstanden hatte, fragte ich nach und sie half mir oder uns allen weiter. Immerhin waren wir 36 Kinder in einer Klasse und diese Rasselbande zu bändigen, war sicher nicht immer leicht. Aber sie hat das mit Bravour gemeistert.

Ich bin heute froh, eine solch gute Lehrerin gehabt zu haben.

Wie gut, dass im real existierenden Sozialismus alles so vortrefflich einheitlich geregelt war. Sogar die schönen neuen Häuser, die die fleißigen Bauarbeiter aus allen Teilen der DDR bauten, waren so schön einheitlich grau. Immerhin wurden aber Wohnungen gebaut, sodass die Werktätigen in der DDR ein Dach über dem Kopf hatten, durch das es nicht regnete wie in unserer alten Wohnung im Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain.

Ja, dort standen zuletzt tatsächlich in mehreren Zimmern der Drei-Zimmer-Wohnung mit Außentoilette große Schüsseln, um das Wasser, welches von der Decke tropfte, aufzufangen.

1972

Der Unterricht in der zweiten Klasse hatte gerade vor ein paar Wochen begonnen und es war spannend, all die neuen Zahlen kennenzulernen. Die anderen oder eigentlich alle Unterrichtsfächer wurden schwerer. Die erste Klasse war doch noch ein wenig spielerischer, aber nun kam wohl wirklich der Ernst des Schülerlebens. Wir bekamen alle von Anfang an Zensuren auf unseren Zeugnissen. Nur die Beurteilungen in unseren Heften wurden mit roten Bienchen für gute und blauen für schlechte Leistungen beurteilt.

An einem kühlen und verregneten Novembertag fegte ein Sturm durch Berlin, der Bäume entwurzelte, Dächer abdeckte und die Gullys, die eigentlich das Regenwasser auffangen sollten, in Springbrunnen verwandelte. Kurz, es war mehr als nur ein Unwetter. Aus der Schule kam kein Kind allein heraus. Es musste von einem Erwachsenen abgeholt werden.

Ich wurde von einem Arbeitskollegen meines Papas abgeholt und so hatte dieser Tag noch etwas Gutes – ich durfte im Trabbi mitfahren. Das war ein Erlebnis. Der Sturm peitschte den Regen durch die Straßen und so dauerte die Autofahrt fast eine halbe Stunde. Zu Fuß brauchte ich an normalen Tagen etwa 35 Minuten.

Eigentlich, dachte ich, war ich doch schon ein großer Junge. Wie hieß es doch gleich? Ein echter Indianer kennt keinen Schmerz oder ein Junge weint doch nicht gleich. Aussagen, die sicherlich so mancher Junge, der etwa in derselben Zeit geboren wurde, des Öfteren gehört hat. Heute wundert sich so manche Frau über ihren Mann und so manches Mädchen über ihren Freund, warum sich unsereiner so schwer damit tut, Gefühle zu zeigen oder diese auch nur zuzulassen.

Wie ich darauf komme? Das ist leicht zu erklären. Mein Papa fuhr mal wieder mit dem Fahrrad zu Oma und Opa und ich dieses Mal auf meinem eigenen Fahrrad.

Ein Weihnachtsgeschenk hatte sich im letzten Jahr – anders als sonst – unter dem Bett meiner Mutter befunden, und zwar in einem aus meiner Sicht riesigen Karton. Also hatte ich mich neben das Bett auf den Fußboden gelegt, um diesen Karton besser hervorziehen zu können. Mann, war der schwer gewesen. Ich hatte mich noch mehr gefreut, denn bei dem Gewicht hatte wohl etwas Großes darin sein müssen. Ich hatte es geschafft und den Karton geöffnet.

Da hatte ein Fahrrad drin gelegen, ein richtiges Klappfahrrad im schönsten Himmelblau.

Es hatte zwar noch zusammengebaut werden müssen, aber die Teile hatten mich ahnen lassen, dass es ein Fahrrad sein musste.

Von meiner Oma und meinem Opa hatten wir ein richtiges Tischtennisspiel mit Netz und Kellen und auch richtigen Tischtennisbällen bekommen.

Richtig Tischtennis spielen, das würde schön werden. Ja, meine Großeltern! Ich war der glücklichste Junge gewesen, den man sich vorstellen kann.

Im kommenden Jahr konnte ich also mit diesem Rad allein fahren, solange ich keine großen Straßen benutzte. Sobald jedoch mein Papa dabei war, durfte ich auch auf die sogenannten großen Straßen. Während der ersten Fahrten sollte ich auch noch die Verkehrszeichen lernen.

So rief mein Papa einmal zu mir, ich solle anhalten, damit er sich eine Zigarette anzünden könne. Ich aber fuhr weiter, nicht, weil ich den Wunsch von ihm nicht gehört hatte, sondern weil hier Halteverbot war. Ein anderes Mal bat er mich, an der nächsten Ecke links zum Bäcker abzubiegen. Oh, dachte ich, holen wir noch Kuchen oder Kekse? Ich wäre sofort links abgebogen, man durfte an dieser Ecke jedoch nur geradeaus oder rechtsherum fahren. Solche Situationen gab es bei den ersten Fahrten öfter und ich passte immer mehr auf, obwohl mir auch einige Fehler unterliefen. Es machte aber riesigen Spaß, mit meinem Papa durch die Straßen zu radeln.

Ich fuhr mit meinem eigenen Rad vor meinem Papa zu Oma und Opa. Es war eine Strecke von knapp zwanzig Kilometern, aber das sollte doch zu schaffen sein. Mein Problem bestand auch nicht unbedingt darin, die Strecke zu bewältigen, sondern vielmehr darin, dass mein Vorderrad genau in die Schienen der Straßenbahn passte. So kam es, dass ich mit dem Rad in die Schiene fuhr, stecken blieb und kopfüber über den Lenker auf den Kopfsteinpflasterboden fiel. Das tat so weh, dass ich beschloss, nie wieder auf ein Fahrrad zu steigen und damit loszufahren. Meine Knie waren kaputt und das Blut lief. Aber nicht nur die Knie, sondern auch meine Hände bluteten, da ich versucht hatte, mich abzustützen. Das war mir leider nicht so ganz gelungen und so hatte ich mir auch noch eine Platzwunde am Kopf zugezogen. So fuhren wir nicht mehr weiter, sondern mussten das letzte Stück des Weges – etwa zwei Kilometer – gehen und schieben. Mein Papa konnte keinen Krankenwagen rufen, denn Handys gab es damals noch nicht, weder in der DDR noch in Deutschland.

Dann kamen wir endlich bei Oma und Opa an. Schräg gegenüber von der Haustür war der Laden, in dem Oma arbeitete. Damit auch wir Kinder mal mitbekamen, dass Bananen etwas zum Essen sind, ging mein Papa mit mir dorthin. Oma, die hinter dem Ladentisch stand, bekam einen großen Schreck, als sie mich sah. Ich sehe heute noch das entsetzte Gesicht von ihr, wenn ich an diese Situation denke. Sie rief aus dem Laden einen Krankenwagen, der dann schon nach gut einer Stunde kam. Danach nahm sie mich erst mal in den Arm und tröstete mich, meine liebe Oma. Anschließend gab es eine große Banane und eine Tasse Kakao. Ich bekam auf jedes meiner Knie ein großes weißes Pflaster, auf meine beiden Hände wurde je ein braunes, kleineres Pflaster geklebt und auf meiner Stirn wurde ein großes weißes Pflaster gemeinsam mit einem Verband befestigt. Mein Papa sollte dann mit mir nach Hause gehen und dort meinen Impfausweis holen, um anschließend mit mir in das Oskar-Ziethen-Krankenhaus in Berlin-Lichtenberg zu gehen. Das tat er dann auch und unsere Räder blieben so lange bei Oma und Opa stehen.

Nach mehreren Stunden Wartezeit war ich dann auch endlich dran.

1973

Ich ging nun in die 3. Klasse und die Schule machte mir Spaß. Wir hatten eine sehr nette Klassenlehrerin, schon seit der 1. Klasse. Zwei neue Schulfächer hatten wir mittlerweile auch bekommen. Da war zum einen der Schwimm- und zum anderen der Heimatkundeunterricht. Im Schwimmunterricht sollten wir das Schwimmen erlernen, was sich bald als gar nicht so einfach für mich herausstellen sollte. Ich war mit meinen mittlerweile fast zehn Jahren schon sehr groß, was den Platzbedarf bei den Trockenübungen am Beckenrand vergrößerte. Ich wurde von den anderen Kindern aus meiner Klasse oft gehänselt, glücklicherweise nicht von allen 35, aber mehr als die Hälfte war es schon. Leider war der Platz von vornherein schon sehr eingeschränkt, da es sich bei dem Schwimmbad, in dem wir übten, um ein sehr altes Schwimmbad handelte. Der Schwimmlehrer, auch schon älteren Jahrgangs, war für mich als Kind eine Respektperson, was sich noch verstärkte, wenn man in seine dunkle, dicke Brille sah.

Wirklich schwimmen gelernt habe ich dann viel später durch ein eher lustiges Erlebnis – lustig war es jedenfalls für mich. Meine Oma und mein Opa hatten in dem Moment wohl eher nicht so viel zu lachen. Dazu komme ich später noch einmal.

Da ich gerade vom Schwimmunterricht schreibe, fällt mir eine Begebenheit ein, die ich bis heute nicht vergessen habe. Aus heutiger Sicht ist es eine eher heitere Geschichte: Ich hatte eine Mütze und eine Jacke, die ich überhaupt nicht mochte, aber meine Eltern waren der Meinung, dass ich eine Mütze aufsetzen solle, wenn ich vom Schwimmunterricht wieder zur Schule fuhr, gemeinsam mit all den anderen Kindern meiner Klasse. Es war nur ein Fußweg von knapp zehn Minuten bis zur U-Bahn und anschließend, nachdem wir zwei Stationen mit der U-Bahn gefahren waren, liefen wir noch einmal knapp zwanzig Minuten bis zu unserer Schule.

Ein Junge aus meiner Klasse musste für mich herhalten. Immer, wenn eigentlich ich etwas verzapft hatte, erklärte ich zu Hause: „Das war dieser Junge.“ Der wusste aber von all dem nichts und so kam es, wie es kommen musste. Ich ‚vergaß‘ meine Mütze nach dem Schwimmunterricht und als ich nach der Schule zu Hause ankam, fragte meine Mutter mich, wo denn meine Mütze sei. Darauf entgegnete ich, dass mir der Junge, der nun dafür herhalten musste, diese weggenommen und nicht wiedergegeben habe.

Die nächste Elternversammlung kam und mein Papa fragte dessen Eltern danach. Die jedoch wussten von nichts und fragten ihren Sohn, wie er denn dazu komme, mir meine Mütze nicht wiederzugeben. Er wusste nichts und konnte es auch nicht, da er so etwas ja gar nicht getan hatte. Ich habe mich dann bei ihm entschuldigt, und da auch er ein sehr ruhiger Schüler war, hatten wir danach keine Probleme miteinander.

Die 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten bescherten uns einen schönen Sommer. Wir hatten ein herrliches Wetter. Nur Sonnenschein und keinen Tag unter 25 Grad. Für mich als Kind von fast zehn Jahren ideale Bedingungen. Mein Papa baute an unserem Balkon eine sogenannte Weltfestspielblume an, die abends, dank der Relaissteuerung, in den Farben Orange, Grün, Violett, Blau und Gelb leuchtete. Für mich war dies ein so bunter Sommer, dass ich eigentlich heute noch gern an diese Tage zurückdenke. Auch wenn ich heute genau weiß, dass diese wunderschönen Tage, in denen wir so offen für die Gäste aus aller Welt waren, von den Stasischergen sehr genau überwacht wurden. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn hier jemand unentdeckt mit Jugendlichen aus dem Westen Kontakt aufgenommen hätte.

Im Heimatkundeunterricht lernte ich neben vielen interessanten Dingen, wie der heimischen Fauna und Flora, auch die ersten sozialistischen Kinderlieder, von denen mir heute noch manche Texte im Kopf herum spuken. Gleich ganz oben, und so nicht mehr zu toppen, lag die Nationalhymne der DDR. Natürlich durften wir in den FERIEN alle Strophen auswendig lernen. Da ich mehr als sozialistisch eingestellte Eltern hatte, begannen diese Ferien für mich erst in der dritten und damit letzten Ferienwoche. Mit dem Auswendiglernen habe ich so meine Probleme, was mir das Leben als Jungpionier und Schulkind nicht unbedingt einfacher machte.

Dann kamen nach ein paar Monaten Schule die ersten Winterferien. Das war schön. Schnee, Schnee und noch mehr Schnee und das nicht etwa nur im Thüringer Wald oder im Erzgebirge, nein, mitten in Berlin gab es Schnee. Für mich als Kind war das großartig. Als ich eines Tages rodeln gehen durfte – natürlich mit meinem großen Bruder zusammen –, fuhren wir mit der S-Bahn eine gute halbe Stunde zum Bahnhof Wilhelmshagen. Dieser Bahnhof lag genau am Waldrand, hier konnte man gut rodeln. Unsere Mutter hatte vorher zu uns gesagt, dass wir wieder zu Hause sein sollten, wenn es dunkel würde. Woher aber sollten wir wissen, wann es dunkel wird, und so rodelten und rodelten wir, bis es langsam dunkler wurde. Dann beschlossen wir, wieder zurückzufahren. So kamen wir zu Hause an, als es schon eine ganze Weile dunkel war. Wir haben solch einen Ärger bekommen, dass wir beim nächsten Mal nur noch ein paar Häuser weiter gingen. Dort war es zwar nicht so schön und auch sehr voll, aber wir waren wenigstens pünktlich wieder zu Hause und mussten uns nicht wieder Ärger einhandeln.

Die volkseigenen Nahverkehrsbetriebe wie die S-Bahn, die Straßenbahn und auch die Busse hatten so ihre liebe Not. Ganz besonders schlimm traf es die O-Busse, denn diese konnten nicht einfach andere Straßen benutzen, da sie ja an die Oberleitungen gebunden waren. Die U-Bahn hatte nur ein sehr kurzes Stück über der Erde und auch dort entwickelte sich die weiße Pracht im Laufe der Zeit, zu einem, immer ernster zu nehmenden, Problem.

Unsere Großeltern waren bei uns zu Besuch und so verging die Zeit wie im Fluge. Ich sehe mich heute noch mit meinem Opa Karten spielen, rumalbern oder ihn als Lokomotive auf der x-ten Runde durch das Kinderzimmer mit meinem Arm als Schranke anzuhalten. Vor der Weiterfahrt gab es dann immer eine Gute-Nacht-Geschichte oder einfach ein paar liebe Worte, mit denen es sich viel schneller und besser einschlafen ließ. Manchmal sollte ich Brötchen und Honig schlafen, sodass es am nächsten Morgen ein schönes Frühstück gab. Ich träumte dann oft tatsächlich von einem langen Frühstück mit meinen lieben Großeltern. Dass sie für die Brötchen lange anstehen mussten und den Honig aus dem ‚bösen‘ Westen mitbrachten, habe ich so nie gesehen, denn ich war ja noch klein.

1974

In der Schule bekam ich das nächste Schulfach hinzu. Aber nicht nur das, sondern auch gleich eine neue Klassenlehrerin. Leider fanden wir als Kinder, denn wir hatten unsere Lehrerin doch sehr liebgewonnen. Unsere neue Lehrerin hatten wir nur kurze Zeit, denn sie wechselte zu einer anderen Schule. So kam eine neue Lehrerin in unsere Klasse. Auch sie blieb nicht lange. Aber bei ihr erfuhren wir nie, warum das so war. Also bekamen wir noch einmal eine neue Lehrerin. Sie kam gerade von der Uni, war also eine sehr junge Lehrerin, die sich mit uns alle Mühe gab.

Oft hatte sie sicherlich auch ihre Mühe mit uns, denn wir waren zwar eine disziplinierte, aber keine einfache Klasse. Hier gab es mehrere, die alles hinterfragten. Auch ich gehörte dazu.

Das neue Schulfach, welches jetzt hinzukam, war der Schulgartenunterricht. Ein Fach, bei dem wir all unserer Fantasie beinahe freien Lauf lassen konnten. Vor und nach den Ferien sowie zwischendurch war auch noch ein Fahnenappell in der Schule, zu dem man erscheinen musste. Dort wurden die Abc-Schützen aufgenommen, was ich recht positiv fand, denn auch ich war ja mal ein solcher. Ich hätte es schön gefunden, wenn uns ältere Kinder in unserer neuen Schule begrüßt hätten, aber das ging ja nicht, weil wir die ersten Kinder in der Schule waren.

Meine Oma, mein Opa und ich waren zum Baden in die Wuhlheide gelaufen. Das war nicht mehr als ein kleiner Spaziergang von der Wohnung meiner Großeltern weg. Bei der damaligen „Pionierrepublik Ernst Thälmann“ – heute dem Freizeit- und Erholungszentrum, kurz: FEZ – gab es einen schönen Badesee.

Wir fuhren oft mit der Pioniereisenbahn dorthin, denn mit ihr konnte man durch den ganzen Park fahren. Alle Aufgaben, außer dem Lokführer, hatten Kinder – also Pioniere – übernommen. Ich fand das spannend und ich wollte auch dazugehören. Ein paar Jahre dauerte es noch, aber mit 11 Jahren war auch ich dabei. Dass ich dort auch traumatische Dinge durchleiden sollte, ahnte ich damals noch nicht.

Meine Großeltern hatten sich zu ihrer goldenen Hochzeit neue Trauringe machen lassen. Der Juwelier, der diese angefertigt hatte, verstand sein Handwerk wohl nicht so gut, sodass mein Opa seinen Ehering am Ufer des Sees verlor. Gut, dachte ich, dann werde ich diesen mal suchen gehen, und so lief ich ins Wasser. Dass es mir irgendwann bis zur Oberkante Unterlippe ging, störte mich nicht, schließlich ging es darum, diesen Ring wiederzufinden, denn mein Opa war mir sehr wichtig. Irgendwann bin ich losgeschwommen und so habe ich schwimmen gelernt, auch wenn der Ring verschwunden blieb.

Meine Großeltern bedeuteten mir sehr viel. Ich habe von beiden so viel mitbekommen, dass ich heute stolz sein kann und auch stolz darauf bin, solche Großeltern gehabt zu haben. Mein Opa sagte einmal etwas zu mir, das einen großen Teil meines späteren Lebens beeinflussen sollte: „Mach in deinem Leben so viele Fehler, wie du kannst, aber lerne daraus.“ Diesen Satz habe ich bis heute nicht vergessen und mein Opa ist schon lang, leider viel zu lang, tot. Am Ende dieses Buches gibt es einen Hinweis auf ein entsprechendes Buch.

Die Eltern meiner Mutter kannte ich nicht, denn sie kannte sie selbst kaum. Meine Mutter war bei ihrem Opa groß geworden, deshalb hatte sie viel von ihm gelernt. Ich aber hatte ihn nicht mehr kennengelernt.

Meine Freundin Heike holte mich von zu Hause ab, da wir gemeinsam nach Schönefeld fahren wollten. Wir wollten uns die vielen großen Flugzeuge ansehen. Nach einer langen Fahrt mit der S-Bahn und einem Fußweg von ungefähr zwanzig Minuten waren wir im Gebäude des Flughafens. War das aufregend, diese vielen Menschen und alle wollten, so glaubten wir jedenfalls, in den Urlaub fliegen. So starteten wir zur Aussichtsplattform und warteten auf das erste Flugzeug. Irgendwann kamen wir mit dem Zählen durcheinander. Wir haben versucht, zu zählen, wie viele Flugzeuge der Interflug, der Aeroflot und so weiter landeten.

Nach ein paar Stunden gingen wir wieder in Richtung Bahnhof, als wir beide Durst bekamen und uns eine Brause holen wollten. Am Bahnhof war es jedoch zu teuer für unser Taschengeld, sodass wir beschlossen, am Bahnhof vorbei in Richtung Ort zu gehen. Wir wunderten uns sehr, als der Weg, den wir entlangliefen, auf einmal nur noch in Richtung einer Wiese ging und immer schmaler wurde. So liefen wir diesen irgendwann nur noch hintereinander entlang, und als wir plötzlich etwa hundert Meter vor uns die Mauer sahen, wollten wir umkehren.

Wir wollten.

Hinter uns stand mit einem Mal ein Pkw des Typs „Wartburg“ der Volkspolizei und vor uns standen die Soldaten der Grenztruppen der DDR mit den Maschinenpistolen im Anschlag. Wir blieben wie erstarrt stehen. Nach langen Fragen wurden wir von der Volkspolizei in das Volkspolizeikreisamt Königs Wusterhausen mitgenommen. Dort wurden wir dann in getrennte Zimmer gebracht, vor denen jeweils ein Volkspolizist mit der Pistole in der Hand stand. Ich war noch nicht mal elf Jahre alt und wurde behandelt wie ein Verbrecher. Später habe ich erfahren, dass es meiner Freundin nicht anders ging.

Nach mehreren Stunden wurden wir nach Hause geschickt. Ja, man schickte uns nach Hause. Gegen 22 Uhr fuhren wir vom Bahnhof Königs Wusterhausen los und waren gut eineinhalb Stunden später zu Hause. Das war meine erste Erfahrung mit der sozialistischen Staatsmacht und deren Möglichkeiten. Ich fand es unmöglich, uns so gehen zu lassen. Wir wollten eine Bestätigung von der Volkspolizei haben, in der stand, wann, von wo und warum wir nach Hause geschickt wurden. Diese gab man uns nicht.

Ich wollte zu meinem ersten Konzert der PUHDYS, einer Rockgruppe aus der DDR. Es war schon sehr kalt, aber das störte uns alle nicht. Wir standen zu Hunderten, teilweise schon seit mehreren Stunden, nach Karten für dieses Konzert an. Die PUHDYS drückten schon zu Ostzeiten in ihren Texten das aus, was im Volk tatsächlich vorging. Das fanden viele, auch ich, einfach großartig. Ich wurde, oder war es schon, ein Fan der PUHDYS.

Doch nun zurück zum Anstehen. In der Schlange zu stehen, kannten wir vom täglichen Einkauf, allein oder mit den Eltern, schon sehr gut. Es herrschten zirka minus zwanzig Grad Celsius, doch wir froren nicht – wir zitterten uns warm. Endlich öffneten die Kassen des Friedrichstadtpalastes. Es sollte das letzte Konzert in diesem Haus werden, denn der neue Friedrichstadtpalast war fast fertig gebaut. Die Schlange rückte einige Meter nach vorn und wir hofften, auch noch Karten zu bekommen, obwohl ja jeder nur zwei Karten kaufen durfte.

Als wir etwa fünfzig Meter vor dem Eingang waren, schlossen die Kassen. Angeblich waren alle Karten verkauft. Das konnten wir nicht glauben und verliehen unserem Unmut lautstark Ausdruck. Es dauerte nicht lange und die Genossen der Volkspolizei rückten an, um uns mit roher Gewalt wegzutreiben. Nach etwa einer Stunde waren die Ersten mit blutenden Verletzungen an den Armen und den Köpfen mit Krankenwagen abtransportiert worden. Die PUHDYS selbst hörten davon, auch wenn in der sozialistischen Presse natürlich nichts davon stand. Dem Druck der PUHDYS musste scheinbar nachgegeben werden, denn sie hatten die Möglichkeit, im Westen bei ihren Konzertauftritten davon zu berichten, und das wollte die Partei- und Staatsführung natürlich auf gar keinen Fall. So ‚entdeckte‘ man noch einige hundert Karten, welche dann auch noch verkauft wurden. An diesem Tag hieß es erneut, sich anzustellen und warm zu zittern, denn minus achtzehn Grad waren nicht wirklich wärmer. So bekam ich aber auch noch meine zwei Karten.

Ich ging mit einem Schulfreund zu diesem Konzert. Es war so gut, dass sich all die Mühe gelohnt und die Auseinandersetzung mit der sozialistischen Staatsmacht ein wenig vergessen ließen. Das Konzert dauerte viel zu kurze drei Stunden. Es war ein so toller Abend, dass ich spätestens ab jetzt sagen konnte, dass ich ein PUHDYS-Fan war.

Das Lernen in der Schule fiel mir schwer und ich musste mich zu Hause stundenlang hinsetzen, bis ich meine Hausaufgaben fertig hatte. Bei meinem Bruder war das anders. Ihm fiel das Lernen leicht und so kam mir gegenüber immer öfter der Satz: „Dein Bruder wird es in seinem Leben mal weit bringen.“ Na klar, dachte ich, ich bin ja sowieso das schwarze Schaf der Familie und so kann ja aus mir nichts Vernünftiges werden. So sollte es ein schwerer, aber auch sehr steiler und steiniger Weg werden, der da vor mir lag, aber es spornte mich an. So strengte ich mich noch mehr an, um die von meinen Eltern geforderten besseren Zensuren zu erreichen. Denn wenn ich gute Zensuren auf meinem Zeugnis hatte, durfte ich mit in die ČSSR ins Ferienlager fahren. Das durften nur die Kinder mit den besseren Zensuren und so lernte ich, bis mir der Kopf rauchte.

Ich schaffte es. Meine Zensuren waren besser und ich freute mich, mal woanders hinfahren zu können, als immer nach Bernstadt im Zittauer Gebirge. So schön, wie ich gehofft hatte, war das Ferienlager jedoch nicht, sodass ich mich gar nicht wohlfühlte. Auch, weil es dort jeden Tag Knödel zu essen gab, die ich als Kind überhaupt nicht mochte.

Das hatte ich aber vorher schon gewusst, denn unsere Eltern sind einmal mit uns von der Sächsischen Schweiz aus, wo unser Urlaubsquartier war, nach Děčín gefahren. Dort gab es auch Knödel, die in mir einen Brechreiz auslösten. Meine Eltern hatten dafür aber kein Verständnis, sondern meckerten nur, um mir klarzumachen, dass ich hier die DDR vertrat. Ich und die DDR vertreten? Das war mir doch egal. Ich war noch nicht mal elf Jahre alt, mir war schlecht und ich wollte etwas trinken. Meine Brause hatten mir meine Eltern schon weggenommen und gesagt, dass ich erst wieder etwas zu trinken bekomme, wenn ich die Knödel aufgegessen habe. Ich aß mit größtem Widerwillen auf. Zu trinken gab es trotzdem nichts mehr, weil ich mich so angestellt hatte. Mein Bruder, der schon als Kind gerne Knödel aß, hatte diese Probleme natürlich nicht und er war ja sowieso der Goldjunge.

Irgendwann beschloss ich, auch mal der ältere Bruder zu werden und ihm all das heimzuzahlen. Dass dies nie gehen würde, wusste ich als Kind nicht. Nicht mal, als unsere Eltern mich wieder einmal in der Abstellkammer oder im Bad einsperrten, weil ich mich wie so oft mit meinem Bruder gestritten hatte.

Meine Mutter sagte mal zu mir, sie würde mich am liebsten in einen Sack stecken, ihn zu machen, einen Stein daran befestigen und dann alles zusammen in die Spree werfen. Diese Aussage habe ich auch noch heute im Kopf.

1975

Ich kam in die 5. Klasse und wurde beim ersten Fahnenappell im neuen Schuljahr ein Thälmannpionier. Dass jeder andere das auch erkennen konnte, bekam ich nun ein rotes Halstuch. Wie im Statut der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ dargelegt ist, konnten Thälmannpioniere „alle Mädchen und Jungen von der 4. Klasse an werden, wenn sie das Gelöbnis der Thälmannpioniere ablegen.“ Dieses lautete:

„Ernst Thälmann ist mein Vorbild. Ich gelobe, zu lernen, zu arbeiten und zu kämpfen, wie es Ernst Thälmann lehrt. Ich will nach den Gesetzen der Thälmannpioniere handeln. Getreu unserem Gruß bin ich für Frieden und Sozialismus immer bereit.“

In einer feierlichen Veranstaltung legten die Schüler der 4. Klasse dieses Gelöbnis gemeinsam ab. Dabei wurden den nunmehrigen Thälmannpionieren das Mitgliedsbuch und das rote Pionierhalstuch überreicht. Die Erfassung und Einbindung der heranwachsenden Generation setzte sich mit dem Wechsel zu den Thälmannpionieren fort: Ein neuer Lebensabschnitt begann und man konnte sich selbst als gereifter wahrnehmen. Dazu gehörte auch, ein Amt zu bekleiden und damit die Verantwortung für eine Aufgabe zu übernehmen. Die Pionierorganisation bot dazu reichlich Gelegenheit. Die so geleistete „gesellschaftliche Arbeit“ wurde auch auf dem Schulzeugnis zum Schuljahresende ausgewiesen. Sie war wichtig für den Werdegang; der Übergang zur EOS war ohne „gesellschaftliche Arbeit“ kaum möglich.

Quelle: Wikipedia

Das blaue Halstuch wurde abgegeben. Abgegeben? Na, als ob man einen Teil seines Lebens abgibt. So kam ich mir als elfjähriger Junge jedenfalls vor. Ich hatte sehr große Probleme damit, einen Teil meines Lebens einfach mal so abzuhaken. Ich wollte wissen, warum ich mein blaues Halstuch nicht mehr tragen durfte. Als Antwort bekam ich nur zu hören, dass dies nun einmal so sei, da jeder, der mal Jungpionier gewesen sei, automatisch Thälmannpionier werde. Ich wollte kein Thälmannpionier sein und so habe ich das rote Halstuch wieder zurückgegeben und es auch nie wieder angenommen.

Nun hatte ich auch noch ein neues Schulfach hinzubekommen, welches mich bis zur 10. Klasse begleiten sollte: Russisch.

Wer bitte brauchte in der DDR die russische Sprache? Keine Ahnung, aber die Sowjetunion war nun mal unser großer Bruder und unser Befreier, also lernte ich auch noch Russisch. Meine Schwierigkeiten mit dem Lernen waren im Lauf der Jahre nicht unbedingt weniger geworden, sondern hatten sich eher noch verstärkt.

Dass man nicht weinen darf und auch sonst möglichst keine Gefühle zulässt oder auch noch zeigt, hatte ich in der Zwischenzeit in bitteren Lektionen gelernt. Allein der jahrelange sexuelle Missbrauch durch den Bahnhofsleiter hat dafür gereicht. Ich hatte mich so sehr auf die Arbeit bei der Pioniereisenbahn gefreut und nun sollte ich über einen Zeitraum von drei Jahren hunderte Male missbraucht werden. Reden durfte ich mit niemandem darüber, das hatte er mir verboten und mir noch schlimmeres angedroht. Ich hatte aber auch keinen mit dem ich hätte reden können. Meine Mutter meinte immer nur, dass ich nicht so viel Eis essen sollte, dann wäre mir auch nicht so häufig schlecht. Meine Veränderungen bemerkten meine Eltern nicht, denn mein Papa war zu selten zu Hause und meine Mutter … naja ich hätte eher mit der Schranktür geredet als mit ihr. Oma und Opa hatte ich viel zu lieb, als dass ich ihnen davon hätte erzählen können. Heike ging nicht, denn hier schämte ich mich ganz doll. Ich fühlte mich doch selbst schuldig, dass mir dies passierte und immer und immer wieder über mich ergehen ließ. Ich war dem gegenüber doch ausgeliefert.

Ich weiß nicht, wie viele Jungs, die in meinem Alter waren, ebenfalls diesen Satz hörten: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Ehrlich gesagt, möchte ich es auch nicht wissen. Denn so etwas Dämliches hört man nur, um zu lernen, dass man keine Gefühle zeigen darf.

Ich sollte bald erfahren, wie wichtig es ist, seine Gefühle zu zeigen.

Donnerstag, der 13. November. Ich war gerade aus der Schule gekommen, als ich erfahren musste, wie schlimm es ist, einen lieben Menschen, meinen allerliebsten Opa, zu verlieren. Für die kommenden Tage ließen unsere Eltern meinen Bruder und mich von der Schule befreien. Als wir dann wieder zur Schule gingen, bekamen wir jeder einen Entschuldigungszettel. Diesen hätten wir wahrscheinlich gar nicht gebraucht, denn dafür hatten alle Verständnis.

Für uns alle, am meisten aber für meine Oma, starb mein Opa leider viel zu früh. Mein Opa war der tollste Mann, den ich kannte. Ein riesengroßer Kerl mit einem noch viel größeren, leider offenbar kranken Herzen. Ich ging, als ich noch in Berlin lebte, oft an das Grab und sprach mit ihm. Vielleicht hielten mich manche Menschen deshalb für verrückt, aber damit kann ich leben.

Zwei Tage vorher war meine Oma noch mit ihm beim Arzt gewesen. Dieser wandelnde Kunstfehler hatte zu meiner Oma gesagt: „Mit Ihrem Mann ist alles in Ordnung.“ Wie er zu dieser Weisheit kam, möchte ich lieber nicht wissen.

Wir alle waren wie in Trance und konnten keinen klaren Gedanken finden. Meine Oma blieb die nächsten Wochen und Monate bei uns.

Dann rückte der Tag der Beisetzung, der 5. Dezember, immer näher. Ein Scheisstag. Wir fuhren zum Friedhof und dort waren schon viele Menschen versammelt. Verwandte, Freunde, Nachbarn und ehemalige Kollegen warteten schon. Dann gingen wir in die Friedhofskapelle und der Pastor hielt eine kurze, aber sehr emotionale Predigt, wie mein Opa sie bestimmt gemocht hätte. Anschließend setzte sich der Zug der Trauernden langsam in Bewegung. Mir war schlecht, ich war traurig, ich war wütend auf diesen Aushilfsarzt, ich war erschrocken, mir war kalt und heiß zugleich und mir fiel mein Opa wieder ein, wie er als Lokomotive den Familienzug anführte.

Ich lief hinter meiner Mutter. Vor ihr liefen nur noch meine Oma und mein Papa gemeinsam mit meinem Bruder. Ich fragte den Pastor, warum mein Opa jetzt schon gestorben sei. Ich hatte doch noch so viele Fragen und ich wollte meinem Opa noch so viel erzählen und mein Opa wollte auch mir noch vieles zeigen und erklären. Das KZ Buchenwald zum Beispiel, indem er lange Zeit inhaftiert war. Die „Berliner Weiße“ im Restaurant „Zenner“ in Berlin-Treptow; wie man richtig Karten spielt; dass Rasieren nicht weh tut; dass ich ihm wahnsinnig viel bedeute, so, wie er mir auch; wie schön das Drachensteigen und der Winter sind und noch so viel mehr.

Mein eigener Geburtstag am 8. Dezember war mir völlig gleich und ich feierte diesen 12. wie auch meinen 13. Geburtstag nicht. Weihnachten 1975 fiel natürlich aus. Von uns war niemand auch nur annähernd in der Lage, an Weihnachten zu denken. Mein Papa holte zwar einen Weihnachtsbaum, aber wirklich Weihnachten gefeiert haben wir nicht.

Nicht ohne meinen Opa.

Auch an Silvester, was wir vorher immer gefeiert haben, war nicht zu denken. Ich war all die Jahre vorher gerne mit meinem Papa die Raketen, Wunderkerzen, Knallbonbons und natürlich auch das Konfetti kaufen gegangen. Selbstverständlich war auch dies mit einem mehrstündigen Anstehen lange vor Öffnung der Drogerie verbunden. Die Drogerie öffnete um neun Uhr und wir waren spätestens um sechs Uhr dort gewesen. Das hatte mich jedoch nicht gestört. Jedes Jahr waren meine Oma und mein Opa an Weihnachten zu uns gekommen und manchmal sogar bis zum neuen Jahr geblieben. Zwischendurch waren wir nur zu meinen Großeltern nach Hause gefahren, um in deren Wohnung nach dem Rechten zu sehen, den Briefkasten zu leeren und vor allem um zu heizen. Ein paar Kohlen in den Ofen und die Stube wurde wieder warm.

Sonst hatte sich Oma dann zusammen mit mir an den Ofen gesetzt und Opa hatte heißen Kakao serviert. Aber jetzt? Was jetzt? Wie weiter? Er fehlte überall!

Nicht ohne meinen Opa.

1976

Wir bekamen gleich drei neue Schulfächer hinzu: Biologie, Chemie und Physik. Alle drei Unterrichtsfächer waren sehr interessant, da ich hier viel über die Naturwissenschaften lernen konnte. Auch wenn die Formeln und der Aufbau der Moleküle, Atome, Ionen und Anionen und die Zusammenhänge der Blüten, Pflanzen und Tiere nicht immer so leicht zu verstehen waren. So war es doch sehr lehrreich, sich damit einmal zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Außerdem konnte man in der Schule vielfältige Experimente durchführen und die waren oft so interessant und spannend, dass das Lernen des eigentlichen Unterrichtsstoffes verständlicher wurde. Trotzdem muss ich zugeben, dass es mir nicht gerade leichtfiel, all diese Zusammenhänge zu erlernen. Aber ich gab mir alle Mühe, es trotzdem und gerade, weil es nicht so leicht war zu lernen und zu verstehen.

1977