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Jil Eileen lebt ein normales Leben, doch der Wunsch nach Weiterentwicklung treibt sie an. Schließlich wagt sie es, kündigt Wohnung und Festanstellung, dann geht es los: in zwölf Monaten rund um die Welt — und das ganz allein. Sie lernt nicht nur neue Kulturen und Menschen kennen, sondern auch sich selbst. Getrieben von ihrer Reiselust und der Erkenntnis, dass sie unterwegs endlich bei sich selbst angekommen ist, schlägt sie auch über die Weltreise hinaus eine neue Richtung in ihrem Leben ein.
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Seitenzahl: 363
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jil Eileen Füngeling
Where to Next
Ein Jahr
alleine um die Welt
Vorwort
Hier sitze ich nun. Auf sandigem Boden mit Blick auf das Meer. Seit meiner Weltreise sind mittlerweile drei Jahre vergangen. Ich spüre die Sonne auf meiner Haut, schlage die ersten Seiten meines grauen, leicht mitgenommen aussehenden Tagebuches auf, auf dem eine fette »365« steht, erinnere mich an die Vergangenheit und schreibe diese Zeilen. Noch immer mache ich genau das, was mich erfüllt: reisen. Mein Zuhause ist überall da, wo ich meinen selbst ausgebauten Van parke. Mal in den Bergen, mal am Strand oder in einem Wald. Das hier ist die Geschichte eines Mädchens, dessen Zuhause auf der ganzen Welt sein kann. Die Geschichte einer, die ihr Leben selbst in die Hand nahm und sich auf die Suche nach dem Glück machte. Die Geschichte eines Mädchens, das vor drei Jahren den Schritt ihres Lebens wagte, der alles veränderte. Dieses Buch ist für alle, die noch nicht den Mut gefunden haben, das zu tun, wonach ihr Herz ruft.
Sansibar
Sansibar, Tansania, 3 Uhr morgens. Hinter mir lag der längste Flug, den ich jemals erlebt hatte, vor mir der erste Stopp meiner Weltreise. Am Gepäckband griff ich nach meinem Backpack. 14 Kilo auf den Rücken und neun Kilo Handgepäck vor die Brust. »Eins … zwei … drei!«, zählte ich jedes Mal flüsternd vor mich hin, bevor ich mir die Gurte der schweren Rucksäcke, die fast so groß waren wie ich, laut atmend über die Schultern streifte. Aufgeregt steuerte ich den Ausgang an und suchte die wartenden Menschen am Gate nach der Person ab, die dort auf mich warten sollte.
Mein erstes und bislang einziges Jahr als Solo-Backpack-Reisende zu planen und zu organisieren, war eine meiner bisher größten Herausforderungen. Mein Leben lang war ich die klassische Pauschalreisende gewesen. Ich kannte Hotelurlaube mit riesiger Buffetauswahl und Poolanlage, privaten Zimmern, sauberen, bequemen Betten und fließend warmem Wasser. Das Reisen mit einem Backpack, in dem weniger verstaut war als das, was ich in einer Woche in Deutschland zum Leben genutzt hatte, kannte ich genauso wenig wie eine Übernachtung im Hostel mit wildfremden Menschen oder das Alleinreisen. Um also zuerst einmal in das Solo-Backpacker-Leben hineinzuwachsen, wollte ich mit einem Freiwilligenjob in einem Kindergarten in Nungwi, einem kleinen Ort nördlich der Hauptstadt Sansibar-Stadt, starten. Durch die Organisation, bei der ich diesen Freiwilligendienst leistete, sollten mich nicht nur ein sicherer Transfer und eine Unterkunft mit Verpflegung erwarten, sondern auch Menschen, die ich jederzeit um Rat fragen konnte. Trotz der Organisation war ich extrem aufgeregt, was und wer auf mich warten würde, und hoffte sehr, dass mein erster Stopp nach Plan verlaufen würde.
Als ich am Gate zwischen all den Passagieren und Abholservices einen großen, sympathisch aussehenden jungen Mann stehen sah, der durch sein orangefarbenes T-Shirt mit dem Aufdruck der Organisation auffiel, ging ich auf ihn zu und konnte auf dem Schild in seiner Hand meinen Namen lesen. »Jambo, Jil!«, sagte er mit freundlichem Grinsen im Gesicht und nahm mir mein Gepäck ab. Daraufhin zögerte er und sah mich für einen kurzen Moment an. »We can not drive to Nungwi«, sagte er mit entschuldigendem Blick und zuckte dabei leicht mit den Schultern. Ich sah zu ihm hinauf. »The petrol is empty«, fuhr er fort. Ich stutzte. Er erzählte mir, dass die Menschen schon seit Tagen darauf warteten, dass sich die Tanklaster wieder füllten, und ich merkte, dass es ihn nicht einmal ärgerte oder verwunderte. Natürlich wusste ich, dass so etwas in Afrika häufiger passierte, doch so naheliegend es auch war, dass die Menschen, die hier lebten, nicht den Luxus kannten, den ich gewohnt war, war die Situation für mich dennoch neu.
Umso glücklicher war ich über die Hilfe meiner Organisation. Die Alternative zu Nungwi war eine andere, näher liegende Unterkunft in Stone Town, einem Stadtteil von Sansibar-Stadt, in der ich vorrübergehend untergebracht werden konnte. Ohne zu wissen, wie lange ich dort bleiben müsste, sollte ich mit dem letzten Rest Benzin im Tank dorthin gefahren werden. »Zu früh gefreut«, ging mir auf dem Weg zum Wagen enttäuscht durch den Kopf. Ich wollte endlich ankommen. Da seit meinem ersten Flug mittlerweile mehr als 24 Stunden vergangen waren, spürte ich neben meiner noch immer anhaltenden Aufregung die Erschöpfung in den Knochen und die Müdigkeit an meinen schweren Augen.
Beim Auto wartete ein Mädchen meines Alters auf uns. Sie war, genau wie ich, gerade erst angekommen und sollte mit mir nach Stone Town gebracht werden, um dort freiwillig zu arbeiten. Gemeinsam rumpelten wir über schlecht ausgebaute, buckelige Straßen, während wir auf der Rückbank von rechts nach links geschleudert wurden, bis wir schließlich die Unterkunft erreichten und unser gemeinsames Zimmer bezogen. Wir sahen uns um und waren schockiert; alles war dreckig und versifft. Der Boden, die Decke und sogar die Bettlaken. Hochbetten, die so instabil waren, dass sie fast in sich zusammenfielen, Kriechtiere in jeder Ecke. »Hier schlafe ich nicht!«, rief das Mädchen sofort. »Das können die vergessen.«
Wenn ich eins gewusst hatte, als ich mich auf diese Reise eingelassen hatte, dann, dass ich durch sie meine Komfortzone verlassen würde. Dass ich einen Großteil der Zeit in dreckigen, heruntergekommenen, dafür aber günstigen Unterkünften verbringen würde. Es war mir nicht nur klar, sondern es war genau das, was ich wollte: Herausforderung und ein ganz anderes Leben als das, das ich zu Hause hinter mir ließ. Die Ansprüche an meine Schlafplätze waren gering, die meiner Zimmernachbarin hingegen nicht. Sie fing an, sich ununterbrochen zu beschweren. Während sie nervös durch das Zimmer lief, versuchte sie, ihre Familie zu erreichen, und wäre am liebsten sofort wieder abgereist. Ich, als ihre einzige Leidensgenossin in diesem Raum, bekam alles ab und so sprach ich ihr gut zu, während meine Augen immer schwerer wurden und ich nur noch daran dachte, endlich einzuschlafen. Ich war kaputt. K. o. vom Wachsein und müde vom Reden. Außerdem befand auch ich mich in einer Situation, in der ich lieber nicht gewesen wäre. Meine erste Nacht auf Weltreise lief anders als geplant und dazu hatte ich keine Ahnung, wann ich endlich nach Nungwi konnte. Gegen 4 Uhr morgens schliefen wir für ein paar Stunden ein.
»Es gibt Neuigkeiten!« Nachdem ich einen müden, langen und vor allem regnerischen Morgen in der Unterkunft und am nahe gelegenen Strand verbracht hatte, begrüßte mich eine Mitarbeiterin der Organisation mit einer positiven Nachricht. Die Benzinkanister füllten sich und ich konnte weiterfahren. Vor Freude fiel ich ihr fast um den Hals, lief ins Zimmer und packte so schnell wie möglich das bisschen Zeug zusammen, das ich für die letzte Nacht gebraucht hatte. Noch immer trug ich dieselben Klamotten wie vor 36 Stunden und 6.972 Kilometern. Weil mein Rucksack perfekt gepackt und sortiert war, hatte ich nicht einmal daran gedacht, etwas daraus auszupacken. Das wollte ich mir für meinen Zielort aufheben.
Nur wenige Minuten später wartete ich vor der Tür des Hauses, bereit zur Abfahrt, bis ein Jeep mit zwei jungen Männern vorgefahren kam. Kommentarlos kamen sie auf mich zu, räumten mein Gepäck in den Wagen und stiegen sofort wieder ein. Es war komisch, auf der Rückbank eines Autos mit zwei fremden Männern zu sitzen, die nicht nur wie wild durch die kaputten und alten Straßen Stone Towns fuhren, sondern auch nicht ein Wort von dem hätten verstehen können, was ich ihnen hätte erzählen können, oder andersherum. Ich war heilfroh, meine Notunterkunft und diese völlig überfüllte dreckige Stadt zu verlassen, und sammelte neue Kraft für das Abenteuer, das mich erwartete: das Paradies Sansibars.
Während ich stumm dasaß und mich an meinem Gurt festklammerte, hielten die Männer plötzlich am Straßenrand an und stiegen aus. Ich wurde skeptisch. Es kam mir ohnehin alles fremd vor und ich hatte keine Ahnung, was die beiden vorhatten. Als ich meinen Kopf über den Rand des großen Wagens streckte und aus dem Fenster blickte, sah ich die beiden, wie sie auf einen bunt geschmückten, mit Bananenbündeln und Ananas behangenen Stand zugingen, in dem eine ältere Frau saß. Sie kauften sich eine Ananas am Stiel, kamen zurück in den Wagen, bissen einige Male ab und hielten mir den angebissenen Ananasstiel vor mein Gesicht. An ihrer Gestik und Mimik bemerkte ich ihr Angebot, auch einen Bissen zu nehmen, also griff ich nach dem Stiel und probierte die beste Ananas meines Lebens. Nach dieser etwas merkwürdigen Situation lächelte ich sie dankbar an, reichte ihnen die Ananas zurück und es ging weiter, bis ich den Aufdruck der Straßenschilder sah. Endlich! Ich war in Nungwi.
Die Straßen Nungwis waren um einiges dörflicher als jene in Stone Town. Weniger Menschen, weniger Verkehr, weniger Enge.
»Alles richtig gemacht!«, dachte ich sofort. Ich griff nach meinem Gepäck, stieg aus dem Wagen und bedankte mich bei den beiden Fahrern, die sich mit einem breiten Grinsen im Gesicht von mir verabschiedeten.
Das Haus, in dem ich die nächsten vier Wochen leben sollte, lag umgeben von abgelegenen Straßen, die den verlassenen, staubigen Feldwegen ähnelten, die ich aus meinem dörflichen Zuhause kannte. Immer wieder liefen wilde Kühe und Hunde vorbei. Die Unterkunft war genauso alt und brüchig wie all die anderen Häuser in der Nachbarschaft. Was sie jedoch von den anderen Gemäuern unterschied, waren die steinige Mauer und der riesige Stacheldrahtzaun, die sie umringten. Anfangs verunsicherte mich die Tatsache, dass das Haus von den anderen Freiwilligen und mir das einzige in der Straße war, das ganz besonders gesichert war. Gegenüber meiner Unterkunft erblickte ich einen kleinen bescheidenen Kiosk, in dem es Snacks, Getränke und SIM-Karten zu kaufen gab. Er entpuppte sich als Kiosk unseres Vertrauens. Alle paar Tage gingen wir dorthin, um unsere SIM-Karten für nur wenige Tansania-Schilling mit einer einigermaßen funktionierenden Internetverbindung aufzufüllen oder uns am Abend mit ein paar Drinks oder Snacks auszustatten. Ich fühlte mich jedes Mal zurück in die Steinzeit versetzt.
Im Haus gab es Platz für zehn Leute, neun von ihnen waren schon da. Also machte ich die Runde als »die Neue« komplett. Als ich hineinging, musterten sie mich für einen kurzen Augenblick von oben bis unten. Ihren Gesichtern nach zu urteilen muss ich nach der langen Reise und dem Schlafmangel vom Vortag ziemlich fertig ausgesehen haben. Später erzählten sie mir dann aber, dass sie meinen Namen auf der Teilnehmerliste gesehen und mich vorher gegoogelt hätten. »Wir dachten alle, du wärst eine aufgestylte Tussi!«, sagten sie mir und lachten dabei verlegen. Wenn ich nach einer 30-stündigen Reise und einem 26-stündigen ungeplanten Aufenthalt in der Stadt als aufgestylt durchgegangen wäre, hätte ich vermutlich einen Orden verdient. Dennoch verstand ich ihr Vorurteil. Vor meiner Weltreise hatte es von mir kein Bild im Internet gegeben, auf dem ich nicht ordentlich geschminkt und zurechtgemacht gewesen war. Wie hätten sie also mit einer Jil rechnen sollen, die plötzlich als ungeschminkte Backpackerin die Welt erkundete?
Sie zeigten mir mein Zimmer, das ich mir mit fünf Mädels teilte. Ich ging hinein und sah drei kleine, mit Moskitonetzen überzogene Hochbetten, die vollgeklebt mit toten Insekten waren. Dazu zwei offene Schränke für unsere Kleidung und ein Fenster, vor dem anstelle eines Fensterglases nur ein Fliegennetz montiert worden war. In einem Nebenraum war unser eigenes, rosa gefliestes Badezimmer. Ich packte meine Kleidung aus den Rucksäcken in einen der Schränke, suchte mir den Platz oben auf einem der Hochbetten aus und richtete mir meinen Schlafplatz für die nächsten Wochen ein. Dann ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen und sah mich für einen kurzen Moment um.
»Endlich angekommen!«, dachte ich und atmete tief durch. Als ich zum ersten Mal seit Stunden Zeit für mich hatte, nahm ich wahr, was in diesem Moment überhaupt passierte. Ich war ganz allein, kilometerweit entfernt von zu Hause. Was mir in diesem Moment klarer wurde denn je, war die Tatsache, dass sich mein Leben für das kommende Jahr komplett ändern würde. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste – diese Reise würde mein Leben verändern – für immer.
Natürlich war auch die Unterkunft in Nungwi alles andere als luxuriös. Dazu kam ein für mich sehr ungewohnter Zustand: Seit meiner Ankunft gab es weder Strom noch Wasser. Im Klartext bedeutete das: kein heißes Essen, kein Licht und kein funktionierender Ventilator bei knapp 30 Grad Celsius in der Nacht. Vor allem aber: keine lang ersehnte Dusche. Während ich diesen Zustand nuraus den Nachrichten kannte, war er für die Menschen in Sansibar die Normalität. Die Strom- und Wasserversorgung fällt hin und wieder einfach flach; der Wassermangel betrifft fast alle von ihnen. Immer wieder sieht man Leute, die mit Kanistern auf dem Kopf durch die Straßen laufen und in Bächen oder Wasserlöchern nach Wasser suchen, das sie mehrfach am Tag nach Hause schleppen. Für mich der absolute Kulturschock! Obwohl es nicht besonders schön war, der Armut des Landes und der Menschen so nahe zu kommen, fand ich es gleichzeitig interessant. Ich denke, es lehrte mich viel darüber, was ich in meinem Leben vorher nie zu schätzen gewusst hatte. Außerdem reizte es mich, mich den Umständen anzupassen und nicht länger so zu leben, wie ich es kannte. Denn genau das war es, was ich von meiner Reise mitnehmen wollte.
Meine erste Nacht in Nungwi war zunächst sehr erholsam. Ich hatte so viel Schlaf nachzuholen, dass ich überall hätte zur Ruhe kommen können. Um 5 Uhr morgens jedoch erschrak ich durch den lauten Gesang von der Moschee, der die Menschen zum Gebet aufrief, und wachte schlagartig auf. Mit der Zeit schaffte ich es zwar, die Gebetsrufe einigermaßen auszublenden, doch an meinem ersten Morgen in meinem neuen Zuhause zuckte ich so sehr zusammen, dass ich bis zum Frühstück kein Auge mehr zumachte und ein paar Stunden wach in meinem Bett lag. Gegen 10 Uhr zeigten mir Mama Kiba und Rahma, die beide für die Freiwilligenorganisation vor Ort arbeiteten, schließlich das Dorf. Mama Kiba, die ursprünglich aus Deutschland stammte, war für das Wohl und die Arbeit der Volontäre zuständig. Rahma, die auf Sansibar geboren und groß geworden war, war unsere Köchin. Unter der Woche bereitete sie jeden Morgen und jeden Abend das Essen für uns vor, mittags und am Wochenende verpflegten wir uns selbst. Unsere Mahlzeiten aßen wir in unserem kleinen Garten hinter dem Haus, in dem ein selbst gebauter Pavillon mit einem Dach aus Stroh stand. Häufig verbrachten wir dort auch unsere Abende.
Nungwi ist der nördlichste Ort Sansibars. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, um zu beschreiben, wie dieses Dorf tatsächlich war. Doch eines lässt sich ganz bestimmt sagen: Es war das genaue Gegenteil von Deutschland. Die Häuser, in denen die Menschen lebten, waren in meinen Augen nur halb fertig. Dort, wo wir in Deutschland Türen haben, hingen Teppiche oder Gardinen. Als Dächer dienten Strohmatten und die Straßen davor waren eingerissen und löchrig. Überall fand man alte, kaputte Autos, die in Deutschland schon längst durch den TÜV gefallen wären. Wenn ich an das Dorf zurückdenke, erinnere ich mich an graue, eher dunkle Farben. Häuser, die weder verputzt noch gestrichen waren. Außerdem sah man viel Armut. Dennoch steckte dieses kleine Fleckchen Erde voller Freude und Energie. Stände, bestückt mit den buntesten Früchten, Kinder, die auf den Straßen spielten, und Menschen, die immer ein Lächeln auf den Lippen trugen und jeden von uns freundlich grüßten. Auch das kannte ich nicht von zu Hause – Freundlichkeit, egal wem man begegnete. Einige der Einheimischen trugen rote Röcke und lange Kleider. Diese Einheimischen gehörten zu den Massai, einem ostafrikanischen Volk, das in Tansania beheimatet ist. Auch ihre Kleidung brachte Farbe in das augenscheinlich eher düstere Dorf. Und dann, nach ein paar Metern Fußweg, überraschte einen plötzlich ein Palmenparadies mit weißem Sandstrand und türkisfarbenem Wasser.
Der Strand »Nungwi Beach« war nur fünf Minuten von der Unterkunft entfernt. Der Weg dorthin führte entlang einer Mauer und durch eine Gasse hindurch, in der sich mehrere kleine Geschäfte befanden. Was zuerst überhaupt nicht danach aussah, führte letztendlich zu einem wunderschönen Strand mit glasklarem Wasser, das in Farben strahlte, die ich bisher nur von Bildern kannte. Weißer Sand unter meinen Füßen und wir ganz allein. Konnte mich mal bitte jemand kneifen?
Unter der Woche hatten wir einen Stundenplan, an den wir uns zu halten hatten. Täglich sprang ich um 7 Uhr aus dem Bett und freute mich über die Kürze meiner Morgenroutine: Zähne putzen, Haare kämmen, fertig. In Deutschland hatte ich durch meine Arbeit im Einzelhandel jeden Tag schick ausgesehen, was mich morgens viel Zeit kostete. Hier interessierte das niemanden, am wenigsten mich selbst. Nach einem von Rahma frisch zubereiteten Frühstück gingen wir um kurz vor 8 Uhr los in Richtung Kindergarten. Dort verbrachten wir den Tag von 8 bis 12 Uhr mittags. Der Kindergarten war in einem aus Holz gebauten Pavillon auf dem Grundstück einer Schule untergebracht und lag nur fünf Minuten Fußweg von unserer Unterkunft entfernt. Einige von uns arbeiteten gemeinsam mit mir im Kindergarten, andere in der Schule.
Für mich stand die Entscheidung, wo ich arbeiten wollte, von Anfang an fest. Die Tatsache, dass ich zu Beginn meiner Reise kaum ein Wort Englisch sprach, machte es mir unmöglich, den älteren Kindern Englischunterricht zu geben. Im Kindergarten verständigten wir uns hauptsächlich mit Händen und Füßen. Wenn wir nicht gerade etwas spielten, dann tanzten wir. Das taten wir besonders gerne dann, wenn die Kleinen zu aufgedreht waren, um still zu sitzen. Manchmal stellten wir uns in einen Kreis und wer wollte, durfte in der Mitte etwas vorführen. Es war verrückt, wie gut die Kinder mit so jungen Jahren tanzen konnten. Sie waren kaum zu bremsen und schwangen ihre Hüften wie die Großen, während sie dazu lautstark »Shake your booty« sangen.
Am Ende eines Arbeitstages klingelten mir die Ohren. Eines der Wörter aus Kisuaheli, der weitverbreitetsten Sprache Ostafrikas, die mir in besonderer Erinnerung geblieben sind, ist »hapana« und bedeutet »nein«. Pro Tag musste ich dieses Wort bestimmt hundertmal sagen. Die Kleinen waren nicht besonders gut erzogen und viel wilder, als ich es von deutschen Kindern kannte. Jeder Tag war eine Herausforderung, vor allem, weil ich so etwas wie Kinderbetreuung noch nie gemacht hatte. Bei 20 bis 30 Kindern konnte niemand von uns Augen genug haben, bevor sie nicht irgendetwas ausgeheckt hatten. Täglich starteten wir den Tag mit gemeinsamem Zähneputzen, spielten Spiele, lernten Buchstaben und Zahlen und erste englische Sätze.
Nach Feierabend konnten wir den Rest des Tages frei nutzen. Gemeinsam gingen wir an den Strand, sonnten uns, wenn die Sonne herauskam, und waren sportlich aktiv, wenn sie sich mal wieder versteckte. Auf das Wetter war in der Regel wenig Verlass und die meisten Tage waren sehr wechselhaft. Trotzdem hatte ich fast jedes Mal nach einem Strandtag einen fetten Sonnenbrand, obwohl ich mich mehrmals eincremte. Rahma zeigte uns deswegen, wie wir Aloe-vera-Gel selbst machen konnten, um den Brand zu kühlen. Es wirkte Wunder.
Schon nach den ersten Arbeitstagen fühlte ich mich in unserer kleinen zehnköpfigen Gruppe immer wohler. Wir verstanden uns super, teilten den gleichen Humor und hatten immer viel zu lachen. Ich hatte das Gefühl, einfach ich selbst sein zu können. In Deutschland hätten wir zehn jungen Menschen uns in dieser Konstellation wahrscheinlich niemals zusammengefunden. Wir alle waren von Grund auf verschieden. Doch auf Reisen war das etwas anderes. Wir verbrachten den ganzen Tag zusammen und jeder wurde akzeptiert, wie er oder sie war, was mir unheimlich guttat. Auf dem Rückweg vom Strand gingen wir auf den Markt, kauften Obst und Gemüse und aßen gemeinsam zu Abend. Danach ließen wir unsere Tage entspannt ausklingen. Wir spielten Billard oder Gesellschaftsspiele und bewunderten fast jeden Abend den Sonnenuntergang am Strand. Manchmal saßen wir so lange dort, um die Sterne zu beobachten, bis wir zu müde waren, um unsere Augen offen zu halten. An anderen Tagen besuchten wir »Gerrys« – eine Strandbar in der Nähe mit Palmen und Hängematten – oder genossen den Abend mit Lagerfeuer am Meer.
Ein Event in der Woche stach besonders hervor: Jeden Mittwoch fand im Ort eine Reggae-Party im berühmt-berüchtigten »Cocco-Bello« statt. Sie war für jeden von uns Pflichtprogramm, niemand durfte sich davor drücken. Also gingen wir alle in den Club, um zu den besten Reggae-Songs zu tanzen. Der Club war voller Bob-Marley-Flaggen, leuchtete in bunten Lichtern und die Tanzfläche hatten wir meistens fast für uns allein. Ohne lange zu überlegen, tanzten wir einfach darauflos oder sahen den Einheimischen beim Tanzen zu, wie sie sich mit kreisenden Hüften über die Tanzfläche bewegten, als gäbe es kein Morgen.
An den Wochenenden war Inselerkundungszeit. Wenn wir die Strecken nicht gerade zu Fuß gehen konnten, stiegen wir meistens in ein Dala Dala – ein viel zu überfüllter und laut knatternder Bus, der uns von A nach B brachte. Auf der Insel fand man sie überall. An einem Wochenende fuhren wir mit einem Dala Dala nach Stone Town an den Hafen und stiegen dort in ein Boot, das uns zu den Prison Islands brachte, einer traumhaft schönen Insel mitten im Ozean, auf der bis zu 158 Jahre alte Riesenschildkröten leben, die wir aus der Nähe beobachteten. In der Hoffnung, dass die Sonne die nächsten Tage öfter für uns scheinen würde, machte ich auf der Insel meinen ersten Sonnentanz, den ich zu meinem persönlichen Ritual machte. An einem anderen Wochenende unternahmen wir eine Spice-Tour, bei der uns gezeigt wurde, wie Muskatnuss, Zimt, Pfeffer und viele andere Gewürze gewonnen werden. Dabei durften wir die exotischsten und leckersten Früchte probieren, wie zum Beispiel diese rote stachelige Frucht mit dem Namen Shoki Shoki, aus der man nur das weiße glitschige Innere essen kann.
Ein anderes Mal wanderten wir mehrere Stunden durch den Dschungel nach Fukuchani, wo wunderschöne Höhlen zu finden sind, in denen wir den ganzen Tag verbrachten und ununterbrochen in das kristallklare Wasser sprangen. Doch für mich war das schönste und aufregendste Erlebnis die Schnorcheltour. Früh morgens standen wir auf, packten ein paar Utensilien für den Tag zusammen und gingen nach dem Frühstück zum Strand. Dort stiegen wir auf ein Holzboot und steuerten zwei Stunden bis zu einem Korallenriff nahe Mnemba Island. Gemeinsam schnorchelten wir mehrere Stunden und freuten uns über jeden bunten und außergewöhnlichen Fisch, der uns über den Weg schwamm.
Vor dem Start meiner Weltreise war ich zehn Jahre lang nicht im Meer geschwommen. Ich hatte Angst vor der Tiefe und Angst davor, nicht zu wissen, was unter mir war. Also ging ich, wenn überhaupt, nur bis zu den Knien ins Wasser. Manchmal bekam ich sogar eine Panikattacke, sobald ich weiter hineinging, oder zitterte am ganzen Körper. Auf Sansibar traute ich mich jeden Tag ein Stückchen weiter. Da das Wasser so klar war, dass ich meine Füße problemlos sehen konnte, fiel es mir leichter. Bei der Schnorcheltour habe ich mich das erste Mal dazu überwunden, von unserem Holzboot ins offene Meer zu springen, und war unheimlich stolz darauf, meine Angst unter Kontrolle zu haben. Damit hatte ich eine meiner ersten Hürden überwunden.
Als wir auf dem Dach des Bootes ein wenig entspannten, zeigte einer von uns aufgeregt auf das offene Meer: Delfine. So viele, dass ich sie gar nicht zählen konnte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Mitten auf dem Ozean, auf einem Boot in türkisblauem Wasser und vor uns die Delfine. Wir alle waren mucksmäuschenstill; beobachteten, wie die Tiere aus dem Wasser sprangen und wieder abtauchten, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dieser Tag war für mich einer der schönsten meiner Reise. Und das Beste: Am Abend gab es endlich wieder Wasser und Strom. Zum ersten Mal bekochten wir uns selbst. Am nächsten Tag konnte ich dann meine Wäsche waschen und kochte dafür ganz altmodisch einen Kessel mit Wasser auf, gab ihn in einen Behälter mit Reiseseife und kälterem Wasser, knetete darin meine Kleidung ordentlich durch und wusch dann die Seife mit klarem Wasser wieder aus, bevor ich alles auswrang und draußen zum Trocknen aufhängte. Ich fühlte mich wie eine Zeitreisende und genau das waren die Momente, die das alles zu etwas Besonderem gemacht haben.
Die Einheimischen Sansibars leben nach dem Motto »Pole pole«, was so viel bedeutet wie »langsam«. Ihre Mentalität ist es, das Leben in ebendiesem Tempo zu genießen: langsam. Für mich war genau das eine Herausforderung. Ich genoss die kurzen Arbeitstage und unsere freien, spontanen Nachmittage und Abende zwar sehr, aber mit meiner andauernden »Hummeln im Hintern«-Mentalität musste ich mich erst einmal wieder daran gewöhnen, meinen Alltag mit Langsamkeit zu genießen. Zu Hause waren meine Tage meistens vollgepackt und verplant mit Arbeit, meinen Freunden oder irgendwelchen anderen Verpflichtungen. Von Zeit zu Zeit fing ich an, zu hinterfragen, was ich mir von meinem Leben wünschte und wie ich es zukünftig weiterführen wollte. Schon jetzt war ich dankbar für jeden neuen Blickwinkel, den ich in den wenigen Tagen mitnehmen durfte. Am Ende der vier Wochen verewigte einer von uns »Pole pole« auf seiner Haut mit einem Tattoo. Anscheinend hatten diese zwei Wörter nicht nur für mich eine tiefere Bedeutung.
Plötzlich erwartete mich die Nachricht, dass ich für einen Stipendienplatz an einer Hochschule in Deutschland angenommen worden war. Damit hatte ich so gar nicht gerechnet. Mittlerweile war ich gedanklich so weit weg von zu Hause, dass ich die Bewerbung ganz vergessen hatte. Einige Monate bevor ich auf Weltreise ging, hatte ich meine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau mit der Fachrichtung als Einrichtungsberaterin beendet. Obwohl ich während der Schulzeit nicht die besten Noten hatte, lag mir die Arbeit im Verkauf so sehr, dass ich die Ausbildung nach zweieinhalb Jahren, statt der vorgeschriebenen drei, und mit einem Notendurchschnitt von 1,1 abgeschlossen hatte. Noch während meiner Ausbildung erhielt ich eine Stelle als jüngste stellvertretende Abteilungsleiterin und wurde sogar von der IHK als eine der besten Auszubildenden in Köln ausgezeichnet. Nach all dem Lob war ich hochmotiviert, meine berufliche Laufbahn in diesem Bereich weiter in Angriff zu nehmen. Also entschied ich mich dafür, mich für ein Studium im Bereich Business Administration zu bewerben, um mein Wissen rund um Organisation, Zahlen und die Führung von Unternehmen noch weiter auszubauen. Da das Studium von einer privaten Hochschule angeboten wurde und somit kostenpflichtig war, versuchte ich mein Glück mit einer Bewerbung für ein Stipendium, das mir einige der Kosten ersparen würde. Die Nachricht, dass ich angenommen wurde, verschlug mir die Sprache. Ich ging in eine Bar mit Internet, nahm mein Handy und rief meine Mama per FaceTime an. Zum ersten Mal, seitdem ich weg war, sah ich ein vertrautes Gesicht. Es tat gut, mir alles von der Seele reden zu können und ihr von meinen Erlebnissen zu erzählen. Was dabei fast unterging, war die Nachricht über den zugesagten Stipendienplatz. Ich wollte ihn unbedingt annehmen und nach meiner Weltreise studieren, aber vorerst machte ich mir keine weiteren Gedanken darüber.
»Ich vermisse dich!«, sagte sie mir mehr als einmal. »Du siehst glücklich aus.«
Das war ich. Endlich.
Je besser ich die Kinder kennenlernte, umso mehr freute ich mich am Morgen darauf, sie zu sehen. Einer, auf den ich mich ganz besonders freute, war Nurdin. Er war der aufgedrehteste und lustigste Junge im ganzen Kindergarten und hatte das bezauberndste Lächeln von allen. Und so war es kein Wunder, dass ich mich sofort in ihn verliebt hatte. Mich steckte nicht nur seine gute Laune an, sondern auch die Tatsache, dass uns etwas verband: die Angst vor dem Meer. Jeden Freitag, wenn wir an den Strand gingen, war er der Einzige, der bloß zuschaute, wie die anderen im Wasser spielten. Schließlich nahm ich ihn auf den Arm, versuchte ihm, so gut ich konnte, zu erklären, dass auch ich Angst vor dem Wasser hatte, und schlug ihm vor, mit ihm gemeinsam diese Angst zu überwinden. Schritt für Schritt gingen wir langsam hinein, während er sich an mir festkrallte. Keinen Moment ließ ich ihn allein. Nach kurzer Zeit war er sogar bereit, an meiner Hand selbst zu laufen. Was für ein besonderer Moment!
Nach wenigen Wochen beschloss ich, Nurdin etwas Gutes zu tun: Ich übernahm seine Patenschaft. Durch sie kann ich noch heute mit 25 Euro im Monat seine Schulbildung finanzieren. Bezahlt werden Schuluniform, Zahnbürsten, Bücher, Stifte und alles, was Kinder in der Schule eben brauchen. 25 Euro, die ihm ein Recht auf Bildung geben. Nachdem ich die Patenschaft abgeschlossen hatte, besuchte ich Nurdin zu Hause, um seine Eltern kennenzulernen. Sie lebten in einem Haus mit vier Familien zusammen. Ein Haus, in dem in Deutschland rein größentechnisch vermutlich nur eine Familie leben würde.
Als ich hineintrat, zeigten sie mir ihr Zimmer. Es war ein kleiner Raum, in dem sich nur ein Spiegel, eine Kleiderstange und eine 1,40 Meter große Matratze auf dem Boden befanden, auf der sie zu dritt schliefen. Die Wände und der Boden waren nur verputzt, alles war grau und ungemütlich. Das Bad und die Küche teilten sie sich mit den anderen Familien. Seine Eltern sprachen kein Englisch, daher stieß nach kurzer Zeit die Schulleiterin hinzu, um für uns ein wenig zu übersetzen. Wir saßen auf dem Boden, tranken Tee und redeten eher wenig. Ich hatte Nurdin einen Ball mitgebracht, mit dem wir spielten. Das Treffen brachte mich zum Nachdenken. Konnte ich tatsächlich unter solchen privilegierten Umständen aufgewachsen sein, während ein anderes Kind noch nicht mal ein eigenes Bett hatte? Ich war dankbar, ihm die Möglichkeit geben zu können, seine Zukunftschancen zu verbessern. Noch heute denke ich jedes Mal an ihn, wenn ich das Bild von ihm und mir als Hintergrund auf meinem Handy sehe, und freue mich über die 25 Euro im Monat, die vermutlich meine beste Investition sind.
Als ich am Wochenende beschloss, früh aufzustehen, um in einem Restaurant mit Internet meine Reise weiterzuplanen, merkte ich schnell, dass ich nicht weiterkam. Ich war überfordert. Eine Reise einige Monate im Voraus zu organisieren, war fast unmöglich. Außerdem konnte ich mich kaum konzentrieren. Das erste Mal hatte ich Heimweh. Der Kontakt nach Hause war seit ein paar Tagen abgeschwächt und mir wurde bewusst, wie weit ich eigentlich von meiner Familie und meinen Freunden entfernt war. Es fühlte sich schon fast danach an, als hätte sich meine Familie daran gewöhnt, dass ich nicht mehr da war. Immer wieder liefen mir Tränen über mein Gesicht. Ich musste mich damit abfinden, dass ich in dem kommenden Jahr weniger von ihnen mitbekommen würde als sonst und dass es neben den schönen Tagen auch Tage der Einsamkeit geben würde. Etwas, das die Entscheidung, für längere Zeit (allein) ins Ausland zu gehen, mit sich bringt.
Ich hatte schon lange davon geträumt, irgendwann einmal auf Weltreise zu gehen, und hatte dafür einige Jahre gespart. Ein Spruch, den ich zufällig gelesen hatte, überzeugte mich dann davon, einfach loszugehen: »Stelle deine Träume über deine Ängste.« Ganz offensichtlich musste ich genau diese Worte hören. Auf der einen Seite stand mein Traum und auf der anderen die Angst, die mich zurückgehalten hatte, genau die Dinge zu tun, die ich liebte. Denn Ängste hatte ich genug: Ich hatte Angst, im Meer zu schwimmen, Angst davor, dass ich ohne perfektes Englisch verloren war, Angst, als blonde Frau in der weiten Welt nicht genügend respektiert zu werden, Angst in der Dunkelheit und schreckliche Panik vor kleinen Krabbeltierchen. Ängste, die mich seit meiner Ankunft immer wieder auf die Probe gestellt hatten. Die Kommunikation war nicht immer leicht und die Unterkunft voll von Insekten. Eine circa vier Zentimeter große Kakerlake hatte sich an einem Tag in meiner Hose versteckt und ein paar Tage später hatte ich anstelle einer Zucchini ein von Maden übersätes Etwas in der Hand gehalten. Obwohl mir solche Momente lieber erspart geblieben wären, merkte ich, dass ich sie überwinden konnte.
»Two o’ clock in the morning, something’s on my mind. Can’t get no rest, keep walking around.« Den ganzen Abend hörte ich »Happy Ending« von Mika und sang mit den anderen dazu, so laut wir konnten. Seine Worte sprachen mir aus der Seele. Sie beschreiben die endlos langen Nächte vor meiner Reise, in denen mir der Gedanke daran, ein Jahr um die Welt zu reisen, mehrfach den Schlaf geraubt hatte. Nächte voller Planung, Nächte voller Angst. Ich hatte mir alles ganz genau ausgemalt. Meine Reise war weder ein zufälliges Drauflosziehen noch ein spontanes »Ich bin dann mal weg«. Zwar hatte ich meinen ersten Flug erst neun Wochen vor der Abreise gebucht, jedoch hatte ich diese kurze Zeit gründlich genutzt. Routenplanung, Impfungen, Rucksacksuche und so weiter. Ich wollte möglichst viel erleben. Mein Ziel: ein Jahr Sommer. Danach hatte ich alles organisiert. Und nun war ich da – auf Sansibar in einem Mehrbettzimmer mit Insekten und Kakerlaken. Mit im Gepäck die Vision, meine Träume über meine Ängste zu stellen. Mein nächstes Ziel war der Krüger Nationalpark in Südafrika.
So langsam brachen meine letzten Tage an, vor allem aber mein letzter Arbeitstag. Zum Ende meiner Zeit auf Sansibar fiel mir auf, dass mir die Arbeit im Kindergarten mehr abverlangte als gedacht. Obwohl die Arbeitstage kurz waren und wir viel Freizeit hatten, wird Kinderbetreuung meiner Meinung nach ziemlich unterschätzt – es ist ein harter Job, der mehr Anerkennung verdient. Dennoch war ich traurig, mich verabschieden zu müssen. Ich hatte die Kinder, vor allem aber Nurdin, wirklich lieb gewonnen und war noch immer stolz wie Bolle, dass ich seine Patenschaft übernommen hatte. Was mich aber noch stolzer machte: Im Laufe der Zeit hatte ich noch ein paar weitere Sponsoren gefunden, die bereit waren, einigen Kindern finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Zum Dank übergab mir die Schulleiterin zum Abschied ein Geschenk. Auch wir hatten den Kindern etwas mitgebracht. Die Lollis, die wir ihnen einen Tag vorher gekauft hatten, ließen sie wild durch die Gegend tanzen und bis über beide Ohren strahlen.
An diesem letzten Wochenende wollten wir noch mal so richtig was erleben. Also mieteten wir uns zwei Jeeps und besichtigten damit die Insel. Da ich in Deutschland kurz vor meiner Reise meinen Führerschein hatte abgeben müssen, weil ich meinen Bleifuß mal wieder auf dem Gaspedal stehen hatte, freute ich mich sehr darüber, nach längerer Zeit endlich mal wieder (unerlaubterweise!) hinterm Steuer zu sitzen. Meinen Führerschein hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurück, aber auf Sansibar interessierte das niemanden. Mit lauter Musik im Hintergrund erkundeten wir die Insel entlang der Küste. Wir fuhren in den Jozani Forest, in dem wir ein Babyäffchen gesehen haben, und sind über Holzstege durch Mangroven und den Regenwald gelaufen. Nachdem wir die Autos zurückgebracht hatten, stiegen wir am Abend auf ein Boot für einen Sunset-Cruise. Wir gondelten direkt in die untergehende Sonne, sprangen ins Wasser, hörten Musik und aßen frisches Obst, während wir gemeinsam die letzten Wochen Revue passieren ließen.
An meinem offiziell letzten Tag fing ich, organisiert, wie ich bin, zeitnah an zu packen. Während ich packte, stürmten die anderen in mein Zimmer. »Raus mit dir!«, riefen sie. »Die Zeit ist zu kostbar, um zu packen.« Also unterbrach ich meine Packaktion und ging mit ihnen ein allerletztes Mal an meinen Lieblingsstrand nach Kendwa. Dort war kaum etwas los und das Meer wirkte noch paradiesischer als an allen anderen Stränden. Wir hatten einen unserer klassischen und entspannten Sansibar-Tage, kochten gemeinsam am Abend und machten danach ein Lagerfeuer mit Stockbrot, was ich für uns alle zum Abschied vorbereitet hatte. Vor mir das Meer, der klare Sternenhimmel und Menschen, die mir bis vor Kurzem noch so fremd waren, doch meine ersten vier Wochen zu einer ganz besonderen Erinnerung gemacht hatten. Es war ein Tag ähnlich wie jeder andere auf Sansibar und dennoch hätte ich ihn mir nicht besser vorstellen können.
Ich wachte auf. Meine Rucksäcke fertig gepackt vor mir auf dem Boden. Rastas binden, die ich mir zum Abschied noch hatte machen lassen, Zähne putzen, fertig. Alle standen mit mir gemeinsam auf, obwohl es viel früher war als sonst. Sie wollten es sich nicht nehmen lassen, mich richtig zu verabschieden. Ich hatte einen Kloß im Hals; war gerührt von der schönen Zeit und traurig, mich von ihnen verabschieden zu müssen. Doch am stärksten war die Aufregung darüber, was als Nächstes auf mich zukommen würde. Denn das Beste war: Meine Reise fing gerade erst an.
Südafrika
»
Excuse me?« Im Flugzeug informierte ich mich bei meinem Sitznachbarn, einem älteren afrikanischen Mann, wie icham sichersten vom Flughafen zum Hotel kommen würde. Bis zu meinem dritten und letzten Flug zum Krüger Nationalpark nach Hoedspruit hatte ich 15 Stunden Zeit. 15 Stunden Aufenthalt in der gefährlichsten Stadt Südafrikas – Johannesburg. Da ich diesen nächtlichen Zwischenstopp nicht am Flughafen verbringen wollte, hatte ich ein Hotel in der Nähe gebucht.
»Do you know if it’s safe to take a taxi from the airport to my hotel? It’s just a five minute drive«, fragte ich ihn. Auf meine Frage reagierte er mit weit aufgerissenen Augen: »No, no, no!«, riet er mir von meinem Vorhaben ab. »Don’t take one of them! They aren’t safe! Not for you.« Mit einem scharfen Unterton machte er mir verständlich, wie gefährlich es für mich, als europäische Frau, in Johannesburg sei und dass ich daher auf keinen Fall in eines der Taxis steigen sollte. Einige von ihnen seien fake, würden utopisch hohe Preise verlangen oder ihre Fahrgäste sogar überfallen und ausrauben.
Während er mir die verschiedensten Horrorgeschichten erzählte, die mich davon abhalten sollten, in eines der Taxis zu steigen, machte er mir ein Angebot: »My wife will pick me up at the airport. We can drive you to your hotel. I think this would be the safest way.« Für einen kurzen Moment stutzte ich. Zuerst gab er mir zu verstehen, wie unsicher es in Johannesburg sei, mit jemand Fremdem mitzufahren, und jetzt wollte er mich mitnehmen? »Well … Okay.« Nachdem ich für einen kurzen Moment nachgedacht hatte, nahm ich sein Angebot zögernd an. Während wir gemeinsam am Gepäckband warteten, kramte ich in meiner Tasche nach meinem Handy, suchte nach der Nummer meiner Mutter und hielt mir den Hörer ans Ohr. »Mama? Ich bin gut angekommen und sende dir jeden Moment meinen Live-Standort. Ein Mann aus dem Flugzeug und seine Frau fahren mich zum Hotel. Ich habe ein gutes Gefühl, aber bitte behalt im Auge, wo ich bin! Nur für den Notfall.« Dies war einer von vielen Anrufen oder Nachrichten an meine Familie, wenn ich in einer solchen Situation auf mich allein gestellt war. Sollte ich sonst wo landen, wussten sie sofort, was los war, und könnten hoffentlich irgendwie reagieren. »Das mache ich. Pass auf dich auf!«, antwortete sie.
Als wir aus dem Flughafengebäude traten, wartete draußen bereits seine Frau. »This is Jil«, stellte mein Sitznachbar mich vor. Eine kleine, freundlich aussehende Frau in afrikanischem Gewand nahm mir mein Gepäck ab und begrüßte mich: »Hi Jil, I’m Kenisha.« Kenisha war bemüht, mir in dieser befremdlichen Situation ein gutes Gefühl zu geben; das merkte ich an ihrer herzlichen, liebevollen Art. Froh, dass sie mich mitnahmen, aber gleichzeitig skeptisch, ob meine Entscheidung wirklich die cleverste gewesen war, stieg ich in den Wagen. Mehrfach versicherten mir die beiden, dass es nur eine kurze Strecke wäre und ihnen der Weg daher keinerlei Umstände bereitete. Bei der Fahrt erzählte ich dann in Kurzfassung und gebrochenem Englisch meine Geschichte.
»A young woman like you, alone in the big wide world …«, wiederholte Kenisha nachdenklich das Gesagte und fasste sich dabei besorgt an die Stirn. Abgesehen von meiner Verwunderung darüber, dass sie mich und mein Englisch ganz offensichtlich verstanden hatte, glich ihre Reaktion jener der meisten Menschen, denen ich von meiner Reiseplanung erzählt hatte. Doch ähnlich wie in dieser Situation, in der ich bei wildfremden Menschen in der gefährlichsten Stadt Südafrikas im Auto gelandet war, hatte ich auch damals auf mein laut »JA!« rufendes Bauchgefühl gehört – »JA, du sollst diese Reise antreten.« Vier Wochen später bereute ich keinenAugenblick lang, meine vertraute Heimat verlassen zu haben. Immer wieder, wenn ich zwischen zwei Entscheidungen stehe und unsicher darüber bin, in welche Richtung ich abbiegen soll, horcheich für einen kurzen Moment in mich hinein und versuche, all die Pros und Kontras, die ich mir vorher mühselig zusammengesucht habe, zu ignorieren und nur mein Bauchgefühl entscheiden zu lassen. Wie so oft half es mir auch dieses Mal – völlig unversehrt kam ich in meinem Hotel an. Ich bedankte mich mehrfach für diese alles andere als selbstverständliche Geste und stieg aus dem Wagen, während die beiden mir nachriefen: »Take care, Jil!«
Die Zeit im Hotel nutzte ich, um aufzutanken. Ich hatte ein richtiges Bett, Strom, WLAN, warmes Wasser und freute mich über jeden noch so kleinen Luxus, den ich die letzten vier Wochen vermisst hatte. Wie verrückt tanzte ich durch das Zimmer, gönnte mir ein leckeres Abendessen im Hotelrestaurant, ging ausgiebig baden und lud alle meine Elektroartikel auf 100 Prozent auf. Dann rief ich kurz vorm Zubettgehen meine Familie über FaceTime an. Es war Opas Geburtstag und sie feierten gemeinsam – das erste Mal ohne mich.
Zugegebenermaßen genoss ich die wenigen Stunden, die ich im Hotel verbrachte, sehr. Ich musste mir keine Gedanken über nächtliche Kleintierbesuche machen und hatte vor allem meine Ruhe, ohne all die Hintergrundgeräusche meiner Zimmernachbarn. An das Leben in Mehrbettzimmern musste ich mich erst noch gewöhnen. Doch obwohl mir die Nacht im Hotel deutlich vor Augen führte, auf was ich die nächste Zeit verzichten würde, reizte mich das kommende Kontrastprogramm umso mehr. Ich hatte Bock auf diesen Lifestyle. Bock auf das Low-Budget-Reisen, Bock auf das Hostelleben und Bock darauf, eine richtige Backpackerin zu sein. Was mich in Hoedspruit erwartete, war besonders. Ähnlich und doch ganz anders als das, was ich auf Sansibar erlebt hatte. Es wartete ein weiterer Freiwilligenjob auf mich. Ein Wildlife-Projekt mitten in der Wildnis. Zwei Wochen lang sollte mein Zuhause das größte Natur- und Wildschutzgebiet Südafrikas sein – der Krüger Nationalpark. Mittendrin und voll dabei.
Nachdem ich beim Frühstücksbuffet noch mal ordentlich reingehauen hatte, packte ich meinen Kram zusammen und stieg in einen, vom Hotel organisierten, sicheren Shuttle zum Flughafen. Während ich in der kleinen Maschine auf den Start des Fluges wartete, dachte ich nach. Keine Frage: Das Leben in der Wildnis würde mich mehr an meine Grenzen bringen als das Leben auf einer Insel ohne Strom und Wasser. Die Zeit auf Sansibar war der entspannte Anfang gewesen, Südafrika die abenteuerliche Fortsetzung. Die lauten Propeller des Flugzeugs rissen mich aus meinen Gedanken. Das Abenteuer sollte beginnen.
Ein Wildlife-Projekt in Südafrika. Ein Projekt, bei dem es nicht einfach nur darum ging, dass ich die Big Five, Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard, zu sehen bekam. Hauptsächlich ging es um den Tierschutz. Die Organisation, für die ich tätig sein sollte, sorgt dafür, den Artenbestand der Tiere im Nationalpark zu erforschen und bedrohte und seltene Tierarten zu schützen. Jeden Tag werden sie im ganzen Park gesucht und dokumentiert. Genau das sollte unsere Aufgabe werden. Adieu, Pole pole – hallo, Work-Life.
Insgesamt wohnten zehn Freiwillige in dem Haus, alle stammten aus Deutschland. In einer kleinen Hütte gegenüber unserem Haus lebte die Rangerin Lozanne; eine Frau mittleren Alters mit langen blonden Haaren und breiten dominanten Schultern. Sie war für die Freiwilligen zuständig, fuhr täglich mit uns durch den Park und sorgte dafür, dass uns nichts passierte. Sie klärte uns über Ernstfälle auf und wusste sofort, was zu tun war, wenn wir in eine gefährliche Situation gerieten. Durch die Arbeit mit wilden (Raub-)Tieren war es wichtig, dass jeder von uns Tarnkleidung trug, die nur beige oder grün sein durfte. Mit jeder anderen Farbe wären wir den Tieren zu sehr aufgefallen.