Wie der Tod dem Leben dient - Thomas Schäfer - E-Book

Wie der Tod dem Leben dient E-Book

Thomas Schäfer

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Tod kann dem Leben dienen, wenn man ihn wirklich achtet. In der Aufstellungsarbeit wird sichtbar, wie das Thema Sterben und Tod tatsächlich auf uns Zurückbleibende wirken und das Leben beeinflussen kann. Aus seiner Erfahrung mit Klienten und mit Familienaufstellungen beschreibt Thomas Schäfer, wie man richtig trauert und wie ein gutes Weiterleben für die noch Lebenden möglich wird. Auch Urbilder von Märchen können zuweilen wertvolle Aufschlüsse über den Tod geben. Sie tragen maßgeblich zum Durchbrechen alter Verhaltensmuster bei, wenn sie bewusst erkannt werden. Neu sind auch Tabuthemen rund um den Tod wie z.B. Sterbehilfe, Versprechen am Sterbebett oder Organtransplantationen, die in der Aufstellungsarbeit immer häufiger vorkommen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 263

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Schäfer

Wie der Tod dem Leben dient

Abschied und Sterben im Familien-Stellen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Du musst das Leben [...]DankVorwortWie Märchen unsere Sicht über den Tod vertiefenEinführung in das Familien-StellenOrdnungen der LiebeDas Achten und Ehren im Kind-Eltern- und im Mann-Frau-VerhältnisEin Beispiel aus der Einzelarbeit mit PlatzhalternWenn der Tod alles überschattet: EstherWenn viele in der Familie tot sind»Die schöne junge Frau und der Wanderer«Fallgeschichten zum MärchenWenn Geschwister sterben»Der Bruder beim Bruder im Jenseits«Fallgeschichten zum MärchenWenn ein Kind stirbt»Das Totenhemdchen«Daniel, Downsyndrom und körperliche Schwäche, starb mit vier Jahren: FelicitasDer vergessene tote Sohn: Ruth und KarlWenn die Eltern todkrank sind oder sterben wollen»Die Lebensbäume«»Mein Kind sieht die Toten«: RenateDas Ehren von alten und verstorbenen Eltern»Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen«Der verachtete Vater: VaclavWenn der Sohn-Vater-Hass zum Lindwurm wird: RainerAlkoholismus als Ausdruck von Vaterverachtung: Hilmar»Der alte Großvater und der Enkel«Fallgeschichten zum MärchenDer Tod zwischen Mann und Frau»Die Ehegatten«»Bin ich mitschuldig am Tod meines Mannes?«: MartinaFünfzehn Jahre ohne Partner: Klara»Die drei Schlangenblätter«»Mein Schwesterherz«: VerenaDer Tod des Schwiegervaters: Renate und Franz»Stein und Bambus«Der verweigerte Kinderwunsch: Tatjana und BertholdDer Liebhaber als »Tod«: Die Geschichten von Sandy und ArletteDer vergessene Dank für Heilung und das gerettete Leben»Wie das Leben durch die Welt wanderte«Scheintot: John»Ich und mein Sohn wären fast gestorben«: YvonneUnheilbare Krankheit: MaggieAngeborene Behinderung: Ulrike»Der überlistete Tod« oder Sich einmischen ins menschliche Schicksal»Der Reiche, der tausend Jahre alt werden wollte«Anmerkungen zum Märchen»Fern in Bagdad«»Ich nehme das Leben, solange ich darf!«: Wiebke»Der Gevatter Tod«»Aber wir wollen doch unbedingt ein Kind!«: Bärbel und HeinzOrgantransplantationenFallgeschichten zum ThemaSterbehilfeFallgeschichte zum ThemaAnhang: Über das Trauern und den Umgang mit dem Tod in unserer KulturVerweigerte TrauerVersprechen am SterbebettFallgeschichten zum ThemaDer Umgang mit dem Sterben von Angehörigen und dem eigenen TodFallgeschichten zum ThemaKontrollierte Trauer als gesellschaftliche ErscheinungDas Empfinden der Zeit im Mittelalter und in der GegenwartModerne Medizin als Herr über Leben und Tod?Literatur

Du musst das Leben nicht verstehen,

dann wird es werden wie ein Fest.

Und lass dir jeden Tag geschehen,

so wie ein Kind im Weitergehen

von jedem Wehen

sich viele Blüten schenken lässt.

 

Sie aufzusammeln und zu sparen,

das kommt dem Kind nicht in den Sinn.

Es löst sie leise aus den Haaren,

drin sie so gern gefangen waren,

und hält den lieben jungen Jahren

nach neuen seine Hände hin.

Rainer Maria Rilke

[home]

Dank

Herzlichen Dank allen Klienten, die mir ihre Geschichte anvertrauten und damit zum Gelingen dieses Buches entscheidend beigetragen haben,

meiner verstorbenen Frau Elisabeth, die ebenfalls psychotherapeutisch tätig war, für die damalige kritische Durchsicht des Erstmanuskripts im Jahr 1998,

meiner Frau Christine für ihre Rückmeldungen zum gänzlich neu überarbeiteten und erweiterten Manuskript im Jahr 2008,

Claus Caspers für seinen kollegialen Rat,

Bert Hellinger, der mich 1998 ermutigte, das Thema »Leben und Tod« in Buchform aufzugreifen (Der Mann, der tausend Jahre alt werden wollte),

Albrecht Mahr für seine wichtigen Anmerkungen zum Märchen »Die Ehegatten«.

[home]

Vorwort

»Ohne den Tod wäre das Leben nicht gut!«, schließt ein afrikanisches Märchen nach langem Grübeln und Leiden des Helden. Tod und Leben gehören zusammen; und wenn man richtig mit dem Tod umgeht, dient er sogar dem Leben. Wer Furcht vor dem Sterben hat, der hat meist auch Furcht vor dem Leben. Wer dem Leben mit seinen Höhen und Tiefen in ganzer Seele zustimmt, der stimmt auch dem Tod in Frieden zu. Dies berichten nicht nur die Märchen, es wird auch durch die Erfahrung bestätigt.

Dennoch hat der Mensch schon immer davon geträumt, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Mit viel Humor, aber auch Ernst berichten die Märchen von Helden, die den Tod – zumindest für eine bestimmte Zeit – überlistet haben. Diese Märchen beschäftigen sich mit der Frage, wie das menschliche Leben aussehen würde, wenn die Zeit stehen bliebe und man ewig leben könnte. Wäre das wirklich erstrebenswert?

Auch in Familienaufstellungen geht es oft um Leben und Tod, beispielsweise bei Organtransplantationen oder wenn jemand an Krebs erkrankt ist. Deswegen finden sich in diesem Buch viele Geschichten schwerer menschlicher Schicksale, die oft auf merkwürdige Weise in vielem den vorangestellten Märchen ähneln. Die Märchen helfen uns, dem Tabuthema Tod näherzukommen und es besser zu erfassen.

Wenn man Märchen über Leben und Tod liest, erfährt man oft Ungewohntes. Der Tod begegnet den Menschen als konkrete Person, in den Märchen dieses Buchs zum Beispiel als Liebhaber, als Bettler, als Kranker, als Bruder, als ein Greis mit feurigen Augen oder als Taufpate. Zu oft vergessen wir, dass der Tod nichts Abstraktes, sondern dass er persönlich ist. Er begleitet unser Leben wie eine Person. Das gilt, selbst wenn wir von dieser Begleitung zumeist nichts spüren. Auch in Aufstellungen stelle ich den Tod zuweilen als Person auf. Die Art und Weise, wie diese Person spricht, kann durchaus der Figur des Todes im Märchen ähneln!

Im Märchen kommt der Tod als etwas Gewöhnliches daher. Seine »Verkleidungen« sind für die Märchengestalten, die ihn treffen, stets Gewänder, die sie aus ihrem Alltag kennen. Sie sprechen mit ihm »von Mensch zu Mensch«. Dass der Tod im Märchen für den Menschen etwas völlig Normales ist, hat mit der Zeit zu tun, in der die Geschichten entstanden sind. Der Mensch des Mittelalters und der einfachen bäuerlichen Kultur fühlte sich vom Tod als etwas Selbstverständlichem begleitet und ging dementsprechend ungezwungen mit dem Thema um.

Von einer solchen Haltung kann heute keine Rede mehr sein. Historiker und Soziologen sprechen nicht nur von der Tabuisierung des Todes, sondern sogar vom Tod als der eigentlichen »Pornographie« des zwanzigsten Jahrhunderts (Geoffrey Gorer). In keiner Weise hat er noch etwas von dem Natürlichen an sich, von dem die Märchen erzählen. Unsere Gesellschaft hat das Trauern verlernt.

Im Anhang dieses Buches – »Über das Trauern und den Umgang mit dem Tod in unserer Kultur« – wird näher auf praktische Fragen des Trauerns eingegangen. Hier findet man auch Hinweise darauf, wie es einzuschätzen ist, wenn man Sterbenden ein Versprechen macht, und wie man Sterbenden hilft, das Leben in Frieden loszulassen.

Vor dem Hintergrund der Familienaufstellungen wirken bestimmte Märchen wie verdichtete Familiengeschichten, die man nicht selten sogar wörtlich nehmen kann. Wenn zum Beispiel in einem der folgenden Märchen der »Bruder dem Bruder ins Grab folgt«, sollte man die Tragweite eines Geschwistertodes nicht mit Symboldeutungen wieder zudecken. Beispiele aus meiner Praxis und aus Familienaufstellungen zeigen vielmehr, wie die schlichte Märchensprache den Nagel oft auf den Kopf trifft.

Weitere Kapitel gehen ein auf den Tod in der Mann-Frau-Beziehung, in der Kind-Eltern-Beziehung und auch auf den Umgang mit dem Tod, wenn wir ihm wie durch ein Wunder einmal entkommen sind.

Für Leser, welche die Familienaufstellungen noch nicht kennen, habe ich das Einführungskapitel geschrieben.

 

Der Vorläufer dieses Buchs – Der Mann, der tausend Jahre alt werden wollte – erschien 1999 zum ersten Mal. Er wurde 2008 für diese Ausgabe inhaltlich und formal vollständig überarbeitet und erhielt deshalb auch einen neuen Titel. Gleich geblieben sind aber vor allem die Märchen als Ausgangstexte. Es wurden jedoch viele Fallgeschichten und auch einzelne Unterkapitel, wie zum Beispiel jenes über die Sterbehilfe, neu aufgenommen.

Nach Erscheinen der Erstausgabe dieses Buches wurde ich oft von Lesern gefragt, wie »real« denn die Toten in Aufstellungen sind: ob das alles nur »psychologisch« zu verstehen sei oder ob die Aufstellungen auch auf die Toten zurückwirkten? Letztlich muss sich jeder eine eigene Meinung dazu bilden. Nach fünfzehn Jahren Praxis des Familien-Stellens kann ich jedoch sehr gut nachvollziehen, was Martha mir nach einer Aufstellung, in der ihr verstorbener Onkel eine zentrale Rolle spielte, in einem Brief schrieb. Ich bin davon überzeugt, dass die Aufstellungsarbeit auch auf die Seelenwelt der Verstorbenen zurückwirkt.

Martha hat eine elfjährige Tochter, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist. Die Mutter kam zur Familienaufstellung in eine Gruppe, weil sie etwas für ihr Kind tun wollte. Bei der Frage, was denn Besonderes in der Familie passiert sei, erzählte sie von einem Bruder des Vaters, der nach der Geburt an Schwäche gestorben war. Da die Großmutter schon mehrere Söhne hatte, sehnte sie sich nach einer Tochter. Sie war sichtlich froh, als der Junge so schnell nach der Geburt starb … Die Aufstellung zeigte, dass die Großmutter dabei irgendwie nachgeholfen haben musste. Vermutlich ließ sie ihn verhungern oder hygienisch verwahrlosen. Traurige Tatsache ist jedenfalls, dass sie nach der Geburt ausgerufen hatte: »Nehmt dieses Kind von mir weg und schmeißt es auf den nächsten Misthaufen!«

In der Aufstellung flüchtete die Großmutter vor den anderen Familienmitgliedern, insbesondere vor ihrem toten Sohn. Sie verging vor Scham und Schuld. Der Onkel aber wurde von allen liebevoll aufgenommen. Marthas Tochter sagte spontan: »Ich kenne ihn. Er war immer an meiner Seite!« Das Kind fühlte stets mit dem Schicksal seines Onkels. In Wirklichkeit hatte Martha ihrer Tochter allerdings nie etwas von der Existenz des Onkels berichtet.

In einem Brief einige Tage nach der Aufstellung schrieb mir Martha: »Als ich später an meinen eigenen Platz in die Aufstellung kam, musste ich weinend lange meinen Onkel umarmen. Ich hätte das noch lange tun können, aber der Onkel sagte, ich sollte ins Leben zurückgehen. So habe ich ihn dann ganz bewusst in Liebe losgelassen, um ins Leben zurückzukehren. Als die Aufstellung beendet war und ich wieder auf meinem Stuhl saß, konnte ich spüren, dass er immer noch hinter mir stand. Er strich mir liebevoll über die Arme. Vermutlich erlebt man so etwas normalerweise nach Aufstellungen nicht, ich selber habe so etwas auch noch nie erlebt, und für Jenseitiges habe ich mich nie interessiert! Aber für mich war das alles real und auch völlig natürlich. In keiner Sekunde war ich verängstigt. Ich denke, Sie sollten wissen, dass man ausnahmsweise einmal solche Wahrnehmungen haben kann.

Ich habe ganz deutlich gespürt, wie mein Onkel mich fühlen lassen wollte, dass er sich über die gefundene Lösung freute – für sich und für mich. Und mich freute es natürlich auch! Beim Abschlussgespräch der Gruppe fragte dann jemand, wie das denn möglich sei, dass die Stellvertreter so stark wahrnehmen können, was mit den Familienmitgliedern geschehen ist und wie sie sich fühlen. Eigentlich hätte ich mich gern gemeldet und gesagt, dass die Toten bei den Aufstellungen anwesend sein können und mitfühlen. Aber da hätten mich vielleicht einige seltsam angeschaut. Ich habe mich nicht getraut … Nach der Aufstellung habe ich nun das Gefühl, unendlich befreit zu sein. Das Leben kann jetzt richtig losgehen, und ich bin zuversichtlich, dass es auch mit meiner Tochter gut weitergeht.«

[home]

Wie Märchen unsere Sicht über den Tod vertiefen

Wenn wir in unserer Begegnung mit dem Tod die Weisheit der Märchen mit einbeziehen, erweitert sich unser Blickwinkel. Wir können noch tiefer in die Welt des Sterbens und des Todes eindringen. In früheren Zeiten, aus denen die Märchen stammen, ging man wie gesagt wesentlich unverkrampfter mit dem Thema um. Deswegen sollen uns die Märchen in diesem Buch immer wieder an die Hand nehmen, um uns verschiedene innere Haltungen dem Tod gegenüber bewusst zu machen.

An dieser Stelle wollen wir nicht der Versuchung erliegen, Märchen psychologisch zu deuten, sondern wir wollen uns ihnen unmittelbar aussetzen und prüfen, was sie uns mitzuteilen haben. Damit soll die Arbeit der tiefenpsychologischen Märchendeutung nicht in Frage gestellt werden: Autoren wie Bruno Bettelheim, Eugen Drewermann, Marie-Louise von Franz und Verena Kast haben sich viele Verdienste um diese Methode [1] erworben. Auch ich selbst habe mich in früheren Veröffentlichungen tiefenpsychologisch (nach C. G. Jung) mit Märchen auseinandergesetzt.[2]

Eine Alternative zum Analysieren, Deuten und Interpretieren ist jedoch ein unmittelbares Sich-dem-Text-Aussetzen. Die Vorgangsweise ist ähnlich wie beim Familien-Stellen: Der Therapeut setzt sich vorurteilsfrei dem aus, was sich zeigt, und zieht sich von allen Vorstellungen und Gedanken zurück, die er über eine Sache oder eine Person hat. Man »vergisst« alles, was man darüber weiß. Aus dieser leeren Mitte, wie es beispielsweise im Zen-Buddhismus beschrieben wird, kann dann plötzlich etwas aufsteigen: ein Wort, ein Bild oder eine Einsicht. Dies geschieht unmittelbar.

Das, was sich dann zeigt, wird zugleich eine Handlungsanweisung, der sich der Therapeut überlässt, ohne dass er sie unbedingt immer versteht. Wohin sie führt, ist oft erst am Ende einzuschätzen. Dazu gehört, dass man das in psychotherapeutischen Methoden verbreitete Sicherheitsdenken loslässt. Sicherheit im Ablauf und Anspruch auf Wiederholbarkeit ist typisch für die Naturwissenschaft, nicht jedoch für eine seelisch verstandene Psychotherapie. Wer sich gesammelt im Familien-Stellen dem Prozess öffnet, kann auch als Beobachter an gefundenen Lösungen teilhaben und für sich selbst etwas daraus »nehmen«.

Wenn ich mich einem Märchen unmittelbar aussetze, kann ich innerlich betroffen sein oder etwas Bestimmtes spüren, was sich vielleicht zunächst noch nicht klar ausdrücken lässt. Bei diesem neuen Umgang mit Märchen war ich erstaunt, wie buchstäblich sich manche von ihnen verstehen lassen und wie klar sie die Lebensgeschichte von bestimmten Klienten darstellen können. In einem der Märchen dieses Bandes sagt zum Beispiel ein junger Mann zu seinem verstorbenen Bruder: »Lass mich, Bruder, wieder zu dir, denn auf dieser Welt ist (für mich) kein Platz mehr.« Inhaltlich Ähnliches kann man bei Familienaufstellungen hören, wenn jemand sein Geschwister durch den Tod verloren hat. Für mich jedenfalls bedarf es hier keiner tiefenpsychologischen Deutung.

Mancher Leser wird von der Kürze meiner Darstellungen überrascht sein. Meiner Ansicht nach sprechen die hier ausgesuchten Märchen in weiten Teilen für sich selbst, und so gehe ich mit den Fallgeschichten nur auf die zentralen Punkte ein. Wesentliche Einsichten bedürfen meist nur sparsamer Worte.

 

Beim Familien-Stellen hat sich gezeigt, dass Märchen die Lebensskripte[3] von Menschen aufzeigen können. Man kann beispielsweise jemanden nach seinem wichtigen Märchen aus der Kindheit fragen. Es mag ein geliebtes oder auch ein verhasstes sein. Nach einiger Erfahrung mit dieser Arbeit kann man herausfinden, nach welchen Gesetzmäßigkeiten es im Familiensystem zur Verbindung mit früheren Schicksalen und Ereignissen kommt. Die Praxis zeigt, dass weit mehr als die Hälfte aller Probleme, mit denen Menschen in die Psychotherapie kommen, nicht entwicklungspsychologisch, sondern systemisch bedingt sind. Viele Probleme gehen somit nicht zurück auf Erlebnisse aus der Kindheit, sondern auf die Wiederholung von Schicksalen der Familienangehörigen.[4]

Hier nun einige Beispiele für Skriptgeschichten: Im Märchen »Der Wolf und die sieben Geißlein« sagt die Mutter zu den Kindern: »Hütet euch vor dem bösen Wolf.« Der Wolf jedoch ist in der Praxis der ausgeschlossene Papa. Die Mutter sammelt die Kinder um sich und verbietet ihnen den Umgang mit dem Vater. Dem Vater bleibt nichts weiter übrig, als sich zu verstellen beziehungsweise »Kreide zu fressen« und sich zu verkleiden. Für den so erzwungenen Zutritt zu den Kindern muss er allerdings büßen.

Im Märchen vom »Rotkäppchen« geht es um die Verführung durch den Großvater mütterlicherseits. In der Wirklichkeit kann es sich auch um einen anderen Verwandten handeln. Während »Der fliegende Robert« und »Sterntaler« häufig die Skriptgeschichten von Magersüchtigen sind, findet man »Dornröschen« oft bei Neurodermitispatienten: Die vom König nicht eingeladene Fee ist eine von ihm nicht gewürdigte frühere Frau, die vom Kind vertreten wird.

Das »Rumpelstilzchen« ist die Geschichte über ein weggegebenes Kind: Hier wird die Erfahrung geschildert, keine Mutter zu haben und vom Vater fortgegeben worden zu sein. In der nächsten Generation gibt dann oft die Tochter ihren Sohn ab. Wenn jemand dieses Skript nennt, kann man ihn fragen, ob er oder ein anderes Kind in der Familie weggegeben worden ist. Nicht selten kommt dann heraus, dass er sich fühlt wie dieses verlassene Kind.

Darüber hinaus geht es beim »Rumpelstilzchen« zuweilen um Abtreibungen, Fehl-, Totgeburten und besonders um missgebildete Kinder im Mutterleib. In mehreren Fällen habe ich auch feststellen können, dass noch tiefer liegende Tabus in Frage kommen. In der Familie eines Mannes, dessen Märchen das »Rumpelstilzchen« war, war das »Ach, wie gut, dass niemand weiß …« zum geflügelten Wort geworden. Sein Vater war während des Zweiten Weltkriegs für die Nationalsozialisten Leiter einer Fabrik für Waffen und andere Rüstungsgüter gewesen. Des Öfteren wollte die Mutter Näheres über die Zustände dort und die Art der Arbeit erfahren. Bei diesen Gelegenheiten weigerte sich der Vater stets, Auskunft zu geben. Er sagte ihr immer: »Gut, dass du das nicht weißt. Wenn du wüsstest, was dort geschieht, könntest du vielleicht ins KZ kommen.« In der Familie einer anderen Frau, deren Vater im Dritten Reich beim Geheimdienst arbeitete, lag der Fall ähnlich.

Ausführlicher auf die Skriptbezüge zahlreicher bekannter Volksmärchen bin ich in meinem Buch Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht eingegangen. Bei den in diesem Band vorgestellten Märchen handelt es sich dagegen um weniger bekannte Märchen zum Thema »Leben und Tod«. Ich habe sie vor dem Hintergrund meiner praktischen Arbeit mit Familienaufstellungen einfach auf mich wirken lassen und sie in Beziehung gesetzt zu den Schicksalen jener Menschen, die als Ratsuchende zu mir kamen. Alle hier erzählten Geschichten der Klienten haben das Leben, den Tod beziehungsweise das Sterben und Abschiednehmen im Mittelpunkt.

[home]

Einführung in das Familien-Stellen

Einem Buch wie diesem müsste eigentlich ein umfangreiches Kapitel über die systemische Aufstellungsarbeit vorangestellt werden. Angesichts der weiten Verbreitung dieser ursprünglich von Bert Hellinger entwickelten Methode kann hier aber auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden. Als einführende Lektüre sei auf mein Buch Was die Seele krank macht und was sie heilt verwiesen. An dieser Stelle sollen nur die wesentlichen Aspekte zur Vorgehensweise aufgezeigt werden.

Zwar lassen sich Aufstellungen auch mit Hilfe von Papierscheiben und Holzfiguren[5] in der Einzeltherapie durchführen, doch die wesentlich kraftvollere Möglichkeit ist das Aufstellen in der Gemeinschaft.

Nachdem der Ratsuchende vor dem therapeutischen Begleiter und der Gruppe kurz sein Anliegen geschildert hat, entscheidet der Therapeut, auf welche Weise die Aufstellung durchgeführt werden kann. Nicht immer wird die ganze Familie aufgestellt. Falls einzelne ihrer Mitglieder in Frage kommen, wählt der Betreffende sowohl für seine Verwandten als auch für sich selbst Stellvertreter aus der Gruppe aus und stellt sie nach seinem inneren Bild auf.

Anschließend setzt er sich. Immer wieder zeigt sich dann, dass völlig Fremde genau darstellen können, wie sich das jeweilige Familienmitglied in der Tiefe fühlt. Was häufig sichtbar wird, ist die bislang verborgene seelische Dynamik hinter einer Krankheit, einem Paarproblem, einer beruflichen Krise oder einer psychischen Störung.

Nachdem der Seminarleiter durch verschiedene Schritte eine Lösung gefunden hat, kann der Ratsuchende sich meist selbst an seine Position stellen. Am Schluss ist es für ihn zuweilen notwendig, bestimmten Personen noch etwas Wichtiges mitzuteilen.

Sofern es nicht ausdrücklich anders gesagt wird, ist in den Aufstellungsbeschreibungen mit Bezeichnungen wie »Partner«, »Ehefrau« oder dem Namen des Aufstellenden immer der betreffende Stellvertreter gemeint. Wenn ein Ratsuchender selbst in die Aufstellung tritt und damit seinen eigenen Platz einnimmt, wird besonders darauf hingewiesen.

 

Das Familien-Stellen hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt zu den »Bewegungen der Seele«. Wer innerlich gesammelt in Kontakt mit der Person geht, die er darstellt, kommt in eine sehr langsame, aber dennoch intensive Bewegung. Wenn der Therapeut diesen Bewegungen der Stellvertreter Raum gibt, kann er zeitweise auf Interventionen verzichten, auch auf sprachliche. Dennoch muss der Therapeut gesammelt bleiben, um an kritischen Punkten der Aufstellung eingreifen zu können.

Aus den Bewegungen der Stellvertreter ergeben sich Lösungen, die oft überraschend und für niemanden vorhersehbar sind. Auch in Aufstellungen, die in diesem Buch dargestellt sind, überließen sich die Stellvertreter stumm gänzlich ihren von innen kommenden Bewegungen.

In allerjüngster Zeit wurden von Bert Hellinger die »Bewegungen des Geistes« entwickelt, die jedoch in meiner Arbeit keinerlei Anwendung finden und deswegen hier auch nicht dargestellt werden.

Trotz all dieser neuen methodischen Formen besitzen die »klassischen« Familienaufstellungen nach wie vor ihre Berechtigung. Denn wenn man beispielsweise eine Patchworkfamilie mit Halbgeschwistern, Stiefeltern und weiteren Personen aufstellt, besteht oft so viel Verwirrung, dass zur Strukturierung bestimmte Dinge ausgesprochen werden müssen. Hier liegt der Vorteil der Familienaufstellungen. Doch insbesondere wenn es um Täter und Opfer in einer Familie geht, sind die »Bewegungen der Seele« sehr wirksam, weil Familienaufstellungen das Geschehen in seiner ganzen Tiefe nur teilweise erfassen; die »Bewegungen der Seele« aber gehen über die Ordnungen der Familie weit hinaus und deuten hin auf unser Eingebundensein in das größere Ganze der Welt. Dazu gehört auch, dass die Klassifizierung in »Gut« und »Böse« in einem anderen Licht betrachtet werden muss, genauso wie die Unterscheidung zwischen Schuld und Unschuld, die im Hinblick auf das persönliche Gewissen wichtig ist. Jeder Einzelne ist nicht nur in seine Familie eingebunden, sondern auch in größere Gruppen, deren Schicksal uns mitbestimmt. Was in diesen letzten Bereichen des Seins gilt, liegt jenseits von traditionellen Wertvorstellungen.

 

Neben den Familienaufstellungen in der Gruppe und den »Bewegungen der Seele«, die ebenfalls in der Gemeinschaft stattfinden, arbeite ich in der Einzeltherapie auch mit Papierscheiben und den bereits genannten Holzfiguren. Diese Figuren sind für die Geschlechter unterschiedlich geschnitzt und mit Auskerbungen für die Blickrichtung versehen. Sowohl der Ratsuchende als auch der therapeutische Begleiter stellen sich nacheinander über jene Figuren. Auf diese Weise lässt sich körperlich wahrnehmen, wie sich das Familienmitglied innerlich fühlt. Wie schon erwähnt, hat diese Form des Familien-Stellens nicht dieselbe Intensität wie die in einer Gruppe, doch lässt sich auch auf solche Weise Heilsames erfahren. Voraussetzung dafür ist aber, dass man sämtliche Vorannahmen aufgibt und sich innerlich sammelt. Mit der angemessenen Aufmerksamkeit kann man dann sehr schnell eine körperliche Wahrnehmung erleben, die wichtige Hinweise für den weiteren therapeutischen Weg gibt.

 

Die Leser meiner Bücher haben in der Vergangenheit immer wieder gefragt, ob es sich bei den Teilnehmern meiner Seminare um Menschen handelt, die schon jahrelange »therapeutische Vorarbeit« geleistet hätten. Wie ließe sich sonst erklären, dass die Aufstellungen so erstaunlich positive Wirkungen zeitigten, wurde oft vermutet.

Viele sind verwundert, wenn ich diese Fragen mit Nein beantworte. Die meisten Teilnehmer meiner Gruppen hatten keine längere Psychotherapie hinter sich, und nicht wenige hatten noch nie eine solche in Anspruch genommen.

Bei zahlreichen Aufstellungen in diesem Buch wird anschließend dargestellt, wie es im Leben des Ratsuchenden weiterging. Dies ist aber nicht bei allen Fällen so, weil sich nicht jeder später noch einmal meldet. Um den seelischen Prozess nicht zu unterbrechen, denn Aufstellungen wirken oft über Jahre, würde ich nie aus Neugier oder »wissenschaftlichem Überprüfungsdrang« nachfragen.

Nicht selten erhalte ich aber Rückmeldungen durch »Zufall« oder erst Jahre später, wenn sich die Betreffenden wegen eines ganz anderen Themas bei mir melden, zum Beispiel wegen einer beruflichen oder gesundheitlichen Frage.

 

Es sei hier auch noch ein Hinweis über den Umgang mit Aufstellungsbildern gegeben. Allen, die zu mir kommen, rate ich, das Aufstellungsbild in der Zeit nach dem Seminar nicht mit dem Kopf verstehen zu wollen. Es handelt sich ja ohnehin nicht um eine »reale« Abbildung der Wirklichkeit, sondern um ein »Bild der Seele«. Dieses Seelenbild benötigt Ruhe, damit es sich in der Stille entfalten kann. In keiner Weise stellt es eine Handlungsanweisung dar, man solle, um ein Beispiel aus einer Paaraufstellung zu nehmen, nun auch direkt beispielsweise einen Partner verlassen oder sich zu einem anderen bekennen. Erst wenn man nach einer längeren Zeit im Herzen eine Übereinstimmung mit dem Aufstellungsbild spürt, darf man sich in seinen Lebensentscheidungen davon leiten lassen. Es erübrigt sich wohl der Hinweis, dass es nie gut sein kann, wider besseres Wissen, gutgläubig beziehungsweise ohne eigene Prüfung dem Wort oder dem Rat eines Therapeuten zu folgen, gleich, nach welcher Methode er auch arbeitet.

Ordnungen der Liebe

In Urliebe ist jeder Mensch auf tiefste Weise mit seinen Eltern und Geschwistern, aber auch mit allen anderen Mitgliedern seines Familiensystems verbunden. Die später geborenen Familienmitglieder sind durch eine »primäre Liebe« an die früher geborenen gebunden. Dies gilt selbst dann, wenn diese anderen Familienmitglieder unbekannt oder tabuisiert sind, wie zum Beispiel verheimlichte Halbgeschwister. Durch diese unbewusste Loyalität mit der Herkunftsfamilie nehmen wir Schuld und Unschuld von früher Geborenen auf uns. So entsteht stellvertretendes Leid, auch zuweilen eine Krankheit dadurch, dass man den tiefen unbewussten Wunsch in sich trägt, das Leid eines Früheren nachzuahmen. Dieses Bedürfnis hängt damit zusammen, dass es ein unbewusstes Familiengewissen gibt. Die Lösung wird möglich durch die liebende Achtung jener Familienmitglieder, die ein schweres Schicksal hatten.

Durch die Bindung an einen Partner entsteht dann später ein zweites Familiensystem: die gegenwärtige Familie. Sowohl hier als auch in der Herkunftsfamilie existiert eine natürliche Ordnung, deren Kenntnis für alle Beteiligten segensreich ist.

Das Achten und Ehren im Kind-Eltern- und im Mann-Frau-Verhältnis

In Familienaufstellungen schaut der Therapeut auf die innere Einstellung, die der Ratsuchende gegenüber seinen Eltern zeigt. Wer seine Eltern massiv verachtet oder hasst, für den kann und darf der Therapeut in den meisten Fällen nichts tun, außer ihn mit der Reue in Kontakt zu bringen. Zu den problematischen Themen des Stammbaums darf man nur jene Klienten hinführen, die ihren Eltern ein Mindestmaß an Mitgefühl und Achtung entgegenbringen. In den hier vorgestellten Märchen »Der alte Großvater und der Enkel« und »Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen« werden wir ausführlicher darauf eingehen, dass auch die Achtung sterbender und verstorbener Eltern von großer Wirkung ist.

Das Achten und Ehren der Eltern ist wichtig, da wir von ihnen nehmen und sie uns alles geben. Insbesondere haben sie uns das Leben geschenkt. Wenn wir sie verachten, verachten wir uns damit selbst. In letzter Konsequenz sind wir nämlich unsere Eltern, da wir durch sie entstanden sind; welchen Sinn macht es, wenn der Apfel den Baum ablehnt, von dem er abstammt? Mann und Frau dagegen befinden sich auf der gleichen Stufe, jeder gibt und nimmt, aber auch hier hat die Verachtung problematische Folgen. Im Übrigen zeigt die Erfahrung, dass der, der den Partner verachtet, damit eigentlich meist einen Elternteil meint!

Auch im Verhältnis von Mann und Frau ist eine Herabsetzung und Verachtung von Übel. Wie tiefgreifend und schnell eine eigene Haltungsänderung positive Konsequenzen haben kann, zeigt folgendes Beispiel: Eine geschiedene Frau rief mich an und beklagte sich darüber, dass sich ihr Mann in allen Fragen, die das gemeinsame Kind beträfen, nur feindselig und unkooperativ verhielte. Bei Treffen im Jugendamt gebe dieser ihr noch nicht einmal die Hand. Das ginge nun schon seit längerer Zeit so, und insbesondere seine Aggression halte sie einfach nicht mehr aus.

Unterschwellig war deutlich zu hören, dass sie den Mann verachtete. Ich gab ihr den Rat, eine Übung in der Stille zu machen: sich vor dem Mann tief zu verneigen und ihm als Vater des Kindes einen Platz im Herzen zu geben. Auch wenn eine Ehe geschieden ist, so bleibt doch die Elternschaft bestehen.

Die Frau folgte meinem Rat und schrieb mir schon nach wenigen Tagen in einem Brief, dass die Übung sogleich gewirkt habe. Beim nächsten Treffen im Jugendamt habe der Mann sie freundlich angeblickt und ihr zum ersten Mal wieder die Hand gereicht. Nach langer Zeit konnte sie in harmonischer Atmosphäre mit ihm über die Belange des Kindes reden. Das Verhalten des Mannes ihr gegenüber war in kürzester Zeit zum Guten verändert – und dies, obwohl die Frau doch nur in aller Stille ihre Haltung ihm gegenüber korrigiert hatte und nicht mit ihm in Kontakt getreten war! Doch die Änderung in der Einstellung hat oft erstaunliche Folgen. Und davon profitiert in diesem Fall vor allem das Kind.

Ein Beispiel aus der Einzelarbeit mit Platzhaltern

In meiner praktischen Arbeit bediene mich wie gesagt auch der Hilfe von Platzhaltern: Ich gebe dem Ratsuchenden mit Pfeilen (für die Blickrichtung) markierte bunte Papierscheiben oder Holzfiguren, die die Familienmitglieder darstellen. Diese Platzhalter legt er anschließend nach seinem inneren Bild auf den Boden und stellt sich nacheinander in die Positionen. Auch ich als Therapeut gehe auf diese Hilfsmittel und fühle mich ein, bis ich ein »Körperbild« erhalte. Genau wie in der Gruppe suche ich dann nach Lösungen. Wenn der Ratsuchende diese Form von Arbeit ernst nimmt, kann sie eine heilende Wirkung haben, wie etwa bei Esther.

Wenn der Tod alles überschattet: Esther

Esther hatte starkes Übergewicht und Lebensangst. Sie kam zu zwei Sitzungen und klagte auch über mangelnde Energie, um ihren Alltag zu bewältigen. Außerdem sorgte sie sich um ihren Sohn, der ebenfalls stark übergewichtig war und mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte.

Als Esther die Papierscheiben auf den Boden legt, verwechselt sie mehrmals die Scheibe für den Sohn mit der ihren. Dieser steht neben ihr, und es geht ihnen beiden sehr schlecht. Der Vater befindet sich im Abseits. Es ist wahrzunehmen, dass der Sohn etwas Schweres für die Mutter trägt.

Esthers Mutter hat ihren jüdischen Vater und andere Verwandte im Konzentrationslager verloren. Als diese dazugestellt wird, ist zwar eine tiefe Schwere zu spüren, doch alle Familienmitglieder fühlen sich besser.

Nach verschiedenen Umstellungen sagt Esther ihrer Mutter: »Es war so schlimm für dich, den Vater zu verlieren! Ich fühle deinen Schmerz! Ich leide für dich!«

Sie umarmt (in der Vorstellung) ihre Mutter und weint gemeinsam mit ihr. Der Sohn wiederum sagt seiner Mutter, dass er seinerseits ihr das Schwere nicht zumuten wolle. Sein guter Platz ist deshalb neben dem Vater, der aus einem weniger stark belasteten Familiensystem stammt.

Der nächste Schritt besteht darin, sich dem jüdischen Großvater zu nähern. Esther stellt sich neben ihre Mutter, so dass sie sich beide unmittelbar vor dem Großvater befinden. Sie verzieht das Gesicht und schaut in eine andere Richtung: »Da will ich nicht hinschauen. Das ist furchtbar. Ich will weg von hier!« Ich ermuntere sie, dem Großvater, dessen Foto sie noch besitzt, ins Gesicht zu sehen.

Erst als Esther dem Großvater und der Mutter sagt: »Auch in mir fließt jüdisches Blut«, löst sich ein tiefer Schmerz. Sie spürt, dass dieser Schmerz heilend ist. Anschließend verbeugt sie sich mit der Mutter vor dem Großvater und drei weiteren, entfernteren jüdischen Familienmitgliedern. Sie zeigt ihnen ihren Mann und den Sohn und sagt ihnen: »Euch zur Freude bleibe ich. Im Jüdischen schöpfe ich Kraft. Bitte schaut freundlich auf mich und meinen Sohn.«

Während sie auf den Platzhaltern der Toten steht, kann sie wahrnehmen, dass diese ihr, der Mutter und ihrer Familie wohlgesinnt sind und sich tatsächlich freuen, wenn sie bleiben. Im Lösungsbild für diese Familie haben die jüdischen Verwandten einen guten Platz. Ohne sie ist ein gutes Weiterleben für alle Beteiligten nicht möglich.

Wie Esther erst nach der Aufstellung erzählt, hat sie schon vor drei oder vier Jahrzehnten als Jugendliche immer die Sehnsucht gehabt, in einem Kibbuz zu arbeiten. Den Zusammenhang mit dem jüdischen Großvater hatte sie dabei nicht gesehen. Ähnlich ging es ihr mit dem schon seit langem existierenden Wunsch, irgendwann einmal gemeinsam mit der Mutter nach Israel zu fahren.

Zuweilen allerdings wird gehasst, was verdient, geliebt zu werden, damit man sich ihm nicht zu nähern braucht. Ein Neffe dieser Frau war zeitweise Sympathisant der Neonazis und hasste die Juden. Glücklicherweise fand er noch den Weg zurück.

In wenigen Wochen nach der Aufstellung nahm Esther zwanzig Pfund ab. Sie erzählte, dass sie nicht mehr so viel Schlaf brauche, mehr Kraft für die Arbeit habe und neue Aktivitäten entwickle. Auch der Sohn nahm in der gleichen Zeit zwanzig Pfund ab.

An dieser Stelle eine kurze Randbemerkung über starkes Übergewicht: Jemand, der gleichzeitig sterben und auch leben will, der kann beispielsweise Nahrung »hamstern«: Aus Vorsicht isst er etwas mehr, als sein Körper benötigt, denn Essen bedeutet »Ich bleibe«. Wenn man sich aber bewusst macht, dass man tatsächlich bleiben darf, dann kann man wieder auf normale Weise essen. Wie in dem obigen Beispiel gelingt dies, wenn man die ausgeklammerten Personen in sein Herz nimmt und den Familienmitgliedern mit Überzeugung sagt, dass man bleibt.