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Was läuft im Kopf eines Serienmörders ab? Wie kann sich ein freundlicher, harmlos wirkender Mensch von einem auf den anderen Moment in ein abscheuliches Monster verwandeln, das bestialisch foltert und mordet, und sich danach verhalten, als wäre nichts geschehen? Der weltbekannte Kriminologe Christopher Berry-Dee hat zehn inhaftierte Serienmörder zu ihren Motiven befragt. Herausgekommen sind dabei mörderische Berichte, die uns den Atem stocken lassen.
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Seitenzahl: 550
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Christopher Berry-Dee
Wie Serienmörder denken
Christopher Berry-Dee
Ein schockierender Blick in die Abgründe des Bösen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Wichtiger Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
6. Auflage 2025
© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Die englische Originalausgabe erschien 2003 bei John Blake Publishing unter dem Titel Talking with Serial Killers. © 2003 by Christopher Berry-Dee. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Egbert Baqué
Redaktion: Caroline Kazianka
Umschlaggestaltung: Manuela Amode in Anlehnung an das Original
Umschlagabbildung: © shutterstock.com/Africa Studio
Abbildungen im Bildteil: © shutterstock.com/Sonya illustration, shutterstock.com/Flas100 (Layoutelemente) sowie Alamy.de/World History Archive (Seite 2) und Popperfoto; The Democrat and Chronicle, Rochester, NY; Daytona Beach News Journal
Satz: Carsten Klein, Torgau
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-7423-1545-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1221-8
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
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Wie Serienmörder denken
Dank
Harvey Louis Carignan
Arthur John Shawcross
John Martin Scripps
Michael Bruce Ross
Ronald Joseph »Butch« DeFeo jr.
Aileen Carol Wuornos
Kenneth Allen McDuff
Douglas Daniel Clark & Carol Mary Bundy
Henry Lee Lucas
CHRISTOPHER BERRY-DEE
Damit wir das Leid nicht vergessen, das diese brutalen Menschen anrichten, widme ich dieses Buch der Erinnerung an:
Leanna Williams (gestorben am 23. August 1994)
Santiago Margarito Rangel Varelas (Gefangener-Nr. 999159), der im Todestrakt der Ellis-Haftanstalt in Texas sitzt, ist selbst im Vergleich mit anderen Kindermördern und ihren abstoßenden Taten ein besonders widerliches Monster. Sein Opfer war Leanna Williams, seine zwei Jahre alte Stieftochter. Als das Kind starb, war Varelas noch nicht einmal vier Monate mit Leannas Mutter verheiratet. Doch in dieser kurzen Zeit hatte er die Kleine erbarmungslos mit Gewalt traktiert und sie sexuell missbraucht; die Gewalt, die er ihr angetan hat und die gleich nach der Heirat einsetzte, hätte allein schon gereicht, um sogar einen gesunden Erwachsenen umzubringen.
Nach wiederholten Tritten gegen ihren Kopf starb das Mädchen an Gehirnblutungen. Die meisten ihrer Rippen waren gebrochen und sie war anal missbraucht worden. Varelas erzählte der Polizei, das Kind sei in ihrem Haus in der 4415 2nd Street in Bacliff, Texas, gestürzt. Ebenso erschreckend und unvorstellbar ist, dass Leannas Mutter den geschockten Ermittlern gegenüber erklärte, sie habe von all dem nichts gewusst, und dies, obwohl Varelas auch noch wegen unsittlicher Handlungen gegenüber Leannas beiden Schwestern, fünf und neun Jahre alt, angeklagt wurde.
Wie Professor Elliott Layton, ein international häufig konsultierter Experte für Serienmorde, und Robert Ressler, früherer Spezialagent des FBI und renommierter Fallanalytiker, bestätigen, ist es, wenn man kein Polizeibeamter oder Psychiater ist und damit einen besonderen Zugang zum Strafvollzug hat, nahezu unmöglich, auch nur einen einzigen Serienmörder für eine Befragung aufzusuchen, schon gar nicht zwei solcher Kreaturen. Ich habe im Laufe der Zeit mehr als 30 befragt.
Abgesehen vom finanziellen Aufwand, der sich auf viele Tausend Dollar belaufen kann – kaum ist man vor dem Gefängnistor angekommen, da überlegt es sich der Straftäter oder die Straftäterin in letzter Minute anders –, muss man eine Beziehung zu Mördern erst einmal über viele Jahre der Korrespondenz aufbauen, bevor sie einem langsam Vertrauen entgegenbringen. Aber das ist nur ein Bruchteil des nötigen Arbeitsaufwands.
Um den Betroffenen verstehen zu können, muss man von Anfang an dessen Geschichte bis zu seiner Geburt zurückverfolgen. Sich mit seinen Eltern, Verwandten, Freunden, Lehrern oder Arbeitskollegen treffen, mit den nächsten Angehörigen des Opfers, der Polizei, Anwälten, Richtern, Psychiatern und Psychologen, selbst mit den Justizbeamten, die sich um das Wohlergehen des Straftäters in Haft – oft im Todestrakt – kümmern. Sodann muss man sich einen Weg durch all die Vorschriften bahnen, die die Mörder wie der Stacheldraht um das Gefängnis herum als nahezu undurchdringliche Barriere abschotten. Ohne die Genehmigung der Gefängnisbehörde erhält man nirgendwo Zutritt. Erst wenn alle genannten Punkte »abgehakt« sind, bekommt man die Gelegenheit, sie zu treffen – die gefährlichsten menschlichen Raubtiere auf Erden.
Wie Sondra London in ihrem vorzüglichen Buch Knockin’ on Joe bemerkt, ist es »eine gefährliche Angelegenheit, sich auf solche Leute einzulassen, denn konzentriert man sich über einen längeren Zeitraum intensiv auf eine Persönlichkeit, wird man unweigerlich selbst in deren Welt hineingezogen … Und während man in ihren Käfigen sitzt und sie beobachtet, beobachten sie einen selbst.«
Oft habe ich an die Worte von Friedrich Nietzsche denken müssen: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«
Ohne die gemeinsamen Anstrengungen vieler Menschen ist ein Sachbuch nicht möglich, und die Untersuchung von Gewaltverbrechen auf der Basis von Informationen aus erster Hand kann lohnend, aufregend und quälend zugleich sein. Doch am Ende des Weges ist es an der Zeit, über die zurückgelegte Strecke nachzudenken und sich all jener Personen und Organisationen zu erinnern, die auf ganz unterschiedliche Weise dabei halfen, dieses Buch möglich zu machen und, wie ich hoffe, lesenswert zu gestalten.
Viele ihrer Namen werden im Text genannt. Andere jedoch nicht, doch waren sie für die Ausarbeitung, die Recherche und das Verfassen von Wie Serienmörder denken genauso wichtig.
Mein Dank gilt da, wo es angemessen ist, insbesondere den nächsten Angehörigen der Opfer. Die in diesem Buch vorgestellten Mörder haben ihre Rache an der Gesellschaft genommen und die Qualen, die sie verursacht haben, lassen sich in keiner Weise ermessen. Der Tod ist greifbar, die Trauer weniger. Die Hinterbliebenen haben trotz der tragischen Verluste von geliebten Menschen auch Mitgefühl für die Mörder ihrer Kinder gezeigt. Ohne ihre Hilfe, ohne ihren Kummer und ohne ihren unauslöschlichen Schmerz hätte diesem Buch der wichtige emotionale Ausgleich gefehlt, den es zur umfassenden Darstellung gebraucht hat.
Ich danke auch den Gefängnisbehörden für die Erlaubnis eines uneingeschränkten Zugangs zu ihren jeweiligen Vollzugsanstalten und zu den befragten Straftätern. Und den vielen Polizeibeamten, Anwälten und Richtern, die in anerkennenswerter Weise ihre beruflichen Pflichten erfüllt haben, indem sie die Straftäter der Justiz zugeführt haben, aber auch, wo es ihnen möglich war, bei den eingehenden Recherchen für dieses Buch geholfen haben. Schließlich gilt, so seltsam das klingen mag, mein Dank auch den Serienmördern und Massenmördern, die mir Einblick in ihre dunkle Welt gewährten. Denn wenn die Gesellschaft wissen will, wie diese Bestien ticken, müssen wir, so abstoßend das auch sein mag, dem zuhören, was sie zu sagen haben, ihren Wahrheiten und Lügen.
Wie stets bin ich meinem engen Freund Robin Odell zu Dank verpflichtet. Robin, ein wunderbarer Autor und Lektor, ist mit diesem Thema besser vertraut als viele andere.
Er hat sich einen großen Teil meines Rohmanuskripts vorgenommen und es zu dem nun vorliegenden fertigen Werk ausgefeilt.
Hier ist auch der richtige Ort, um einigen wenigen für ihre persönliche Unterstützung zu danken, jenen, die die Geduld aufbrachten, sich monatelang meine Gedanken über Serienmorde anzuhören. Großen Dank schulde ich dafür meinem Vater und meiner Mutter, Patrick und May. Guten Freunden wie Jackie Clay, Graham Williams, David »Elvis« Murphy, Ace Francis, Bob Noyce, Phil Simpson, Barbara Pearman und Tony Brown, die mich ermutigt haben, wenn ich niedergeschlagen war. Meinem Fernsehproduzenten Frazer Ashford und meinen Mitarbeitern bei The New Criminologist. Kollegen wie Elliott Leyton (Professor für Anthropologie an der Memorial University of Newfoundland, der immer kritisch ist und sich mit dem Rätsel der XYY-Chromosomenstörung auseinandersetzen muss) und David Canter (Professor für angewandte Psychologie). Mein Dank gilt auch Adam Parfitt und John Blake vom Verlag Blake Publishing, die den Mut aufbrachten, dieses Buch zu veröffentlichen.
Zum Schluss noch ein mit viel Zuneigung verbundener, ganz besonderer Dank an meine Studenten im praktischen Jahr – letztlich ist es für Sie ja gut gelaufen –, ich werde Ihre Gesellschaft sehr vermissen, und an Alyona Minenok aus Nowosibirsk. Die spätabendlichen Gespräche mit Ihnen haben mir enorm geholfen.
Christopher Berry-Dee
Direktor des Criminology Research Center
Southsea, 2001
»Dieser Kerl ist der Teufel in Person. Sie hätten ihn schon vor Jahren grillen sollen, Punkt, und sie hätten Schlange stehen müssen, um den Schalter zu betätigen. Wenn er dann tot gewesen wäre, hätten sie ihm einen Pfahl durchs Herz treiben, ihn begraben und eine Woche später wieder ausgraben sollen, um einen weiteren Pfahl hineinzurammen, nur um sicherzugehen, dass er wirklich tot ist.«
RUSSELL J. KRUGER, CHEFERMITTLER, MINNEAPOLIS POLICE DEPARTMENT
Der 24. September 1974, frühmorgens in Minneapolis: Die Sonne war bereits aufgegangen und die Streifenpolizisten Robert Nelson und Robert Thompson fuhren die 1841 E 38th Street entlang, als sie einen verdreckten erbsengrünen 1968er Chevrolet Caprice erblickten. Der Wagen war auf der anderen Seite der Straße gegenüber einem Diner abgestellt. Thompson fuhr einmal langsam um den Block herum, während sein Partner die Angaben des Polizeiberichts überprüfte, der am Vortag herausgegeben worden war.
»Das könnte er sein«, sagte Nelson, »der sieht aus wie der gesuchte Wagen. Jetzt müssen wir nur noch den Fahrer finden. Das ist ein groß gewachsener Typ und, nach dem, was hier steht, hat er eine Figur wie ein Gorilla.«
Die beiden Polizisten blickten durch das Fenster des Caprice und schauten sich das Wageninnere genau an. Und tatsächlich waren da eine rot karierte Decke, Pornozeitschriften und eine Bibel zu sehen. Neben dem Schaltknüppel bemerkten sie mehrere Schachteln Marlboro-Zigaretten. All diese Dinge hatte ein Vergewaltigungsopfer im Zusammenhang mit dem Mann erwähnt, den die Polizei suchte.
Während Nelson mit seiner Wache telefonierte und Verstärkung anforderte, betrat Thompson den Diner und fragte den Inhaber, ob er wisse, wer der Fahrer des Wagens sei.
»Ja klar«, antwortete der misstrauisch, »aber als er euch Polizisten gesehen hat, ist er auf und davon.«
Ein paar Minuten später wurde Harvey Louis Carignan gestellt, kurz befragt und dann festgenommen. Er wurde in die Stadt gebracht, über sein Recht der Aussageverweigerung belehrt und des Mordes und der Vergewaltigung angeklagt.
Nach bis zu 50 Tötungsdelikten konnte nun einer der grausamsten Serienmörder Amerikas nie wieder seinen Hammer einsetzen.
* * *
»Selbst jetzt kommt es mir manchmal so vor, als wäre meine Kindheit kurz gewesen und hätte nur ein paar Tage gedauert. Es gibt nichts, an dem ich mich festhalten, und nichts, auf das ich mit Freude zurückblicken kann. Von meiner damaligen und heutigen Situation aus betrachtet, war und ist sie eine einzige große Verzweiflung.«
CARIGNAN, IN EINEM BRIEF AN DEN AUTOR, 14. APRIL 1993
Harvey, am 18. Mai 1927 im Armeleuteviertel von Fargo, North Dakota, geboren, war wie viele Serienmörder ein uneheliches Kind, das seinen leiblichen Vater nie kennenlernte. Seine 20 Jahre alte Mutter Mary tat sich schwer mit dem kränklichen Jungen, der einfach nicht gedeihen wollte. 1930, als die Große Depression ihre schlimmste Phase erreicht hatte, begann sie, das Kind jedem anzuvertrauen, der es irgendwie versorgen konnte. So wuchs der Junge bei unterschiedlichen Personen auf, wechselte von einer Schule zur nächsten und war außerstande, familiäre Bindungen zu entwickeln oder eine solide Ausbildung zu absolvieren.
Schon sehr früh in diesen prägenden Jahren litt Harvey unter Zuckungen im Gesicht und bis zu seinem 13. Lebensjahr war er Bettnässer. Auch erkrankte er an Chorea Huntington – auch Veitstanz genannt – einer Erbkrankheit, die sich durch unkontrollierbare spasmische Ruckbewegungen äußert.
Mit zwölf Jahren wurde er in einer Erziehungsanstalt in Mandan, North Dakota, untergebracht, in der er – so steht es in seinem »Vorstrafenregister« des FBI – sieben Jahre lang blieb. Während dieser Zeit wurde er nach eigenen Aussagen von einer Lehrerin ständig sexuell belästigt und missbraucht. In einem Brief vom 12. Juni 1993 schreibt er:
»... Ich hatte eine Lehrerin, die sich immer an meinen Schreibtisch setzte, und dann schrieben wir obszöne Bemerkungen auf und tauschten sie aus. Damals war ich 13 oder 14 – und man zeige mir doch mal einen 14-jährigen Jungen, der nicht bereitwillig und mit Vergnügen in einem Schulzimmer sitzen und pornografische Notizen mit seiner Lehrerin austauschen würde. Ich habe sie nie berührt, ohne eine gewischt zu bekommen, doch nach der Schule behielt sie mich da, und dann musste ich mich vor sie stellen, während sie masturbierte, mich beschimpfte und mir sagte, wozu sie mich zwingen würde. Aber verdammt, keine ihrer Drohungen hat sie je wahrgemacht. Das Weibsstück ließ mich nicht mal gemeinsam mit ihr masturbieren! Wenn ich meinen Penis herausholte, hat sie mich grün und blau geprügelt! Sie hatte ungeheuer große Brüste. Sie war wirklich eine grausame Frau …«
Während seiner Teenagerjahre blieb Harvey Carignan in der Erziehungsanstalt in Mandan. Dann, 1948, im Alter von 21 Jahren, ging er zur Armee, die ihn mit offenen Armen willkommen hieß.
Harvey war nun nicht mehr der schmächtige kleine Wicht, der seit seinem vierten Lebensjahr unter seelischem und sexuellem Missbrauch zu leiden hatte. Die kohlenhydratreiche und ausgewogene Ernährung in Mandan hatte dazu beigetragen, dass er mittlerweile zu einem bärenstarken, gut genährten und enorm muskulösen jungen Mann herangewachsen war.
Seine mörderische Karriere begann Carignan 1949, als er am frühen Sonntagabend des 31. Juli die 57 Jahre alte Laura Showalter tötete, nachdem er zuvor in einem kleinen Park in Anchorage, Alaska, versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Der Tod trat rasch ein, nachdem er ihren Kopf zertrümmert hatte, was zu schrecklichen Hirnverletzungen geführt hatte. Das Gesicht des Opfers war vom Kinn bis zur Stirn zerstört, Knochen und Gewebe wurden unter den Hieben seiner wuchtigen Fäuste zu Brei zermalmt.
»Dieser Mörder war so stark«, sagte ein Polizeibeamter, »dass er mit einem Schlag wie eine Rakete, die in einen Panzer kracht, ein Loch in ihren Schädel hieb.«
Am Freitag, dem 16. September 1949, versuchte Carignan eine junge Frau namens Dorcas Callen zu vergewaltigen, doch sie entkam seinem Angriff. Der Soldat, augenscheinlich betrunken, obwohl es erst elf Uhr vormittags war, stellte sich ihr in der Nähe einer Kneipe in der Anchorage Street in den Weg. Als er Dorcas aufforderte, mit ihm mitzufahren, lehnte sie ab und wandte sich um.
»Hey«, rief er, »ich glaube, ich kenne dich … vielleicht.«
»Bitte gehen Sie«, flehte Dorcas. »Sie kennen mich nicht.«
Sie hatte große Angst, denn sie wusste, dass in dieser Gegend erst vor ein paar Wochen eine Frau totgeprügelt worden war. Der groß gewachsene Soldat, der da vor ihr stand, war über ihre Ablehnung verärgert, und sie schaffte es nicht, davonzulaufen. Bevor sie auch nur einen Schritt tun konnte, packte der Mann sie und zog sie von der Straße. Sie fielen in einen Graben neben der Straße und er lag mit seinem ganzen Körper auf ihr. Er fing an, ihr die Kleidung vom Leib zu reißen, berührte mit seinen Händen ihre Brüste und griff ihr zwischen die Beine. Er war kurz davor, sie zu vergewaltigen.
Dorcas wehrte sich verbissen und versuchte verzweifelt, sich auf der lockeren Erde des Grabens abzustützen. Er war sehr kräftig, fast unmenschlich stark. Doch irgendwie schaffte sie es, schreiend aus dem Graben zu klettern und über die Straße in die Kneipe zu rennen, von der aus sie die Polizei anrief.
Im Krankenhaus durchlebte sie mit ihrem zerschrammten und blutverschmierten Gesicht den Schrecken dieses Überfalls noch einmal in allen Einzelheiten. »Er verwandelte sich schlagartig in ein Wesen aus der Hölle. Seine Wut kam aus dem Nichts, als ob jemand plötzlich das Böse in ihm angeschaltet hätte«, erzählte sie mit geschwollenen Lippen.
Dank ihrer Beschreibung des Mannes, der sie angegriffen hatte, konnte Carignan noch am gleichen Tag festgenommen werden. 1950 musste er sich vor dem Bundesbezirksgericht für das Territorium von Alaska, dritte Abteilung, unter dem Vorsitz von Richter George W. Folta wegen vorsätzlichen Mordes an Laura Showalter verantworten. Als Ass hatte die Staatsanwaltschaft ein Mordgeständnis im Ärmel, das der Angeklagte gegenüber Marshal Herring abgegeben hatte. Harvey Carignan wurde schuldig gesprochen und zum Tod durch den Strick verurteilt. Bei der folgenden Revision vor dem Obersten Gerichtshof befanden die Richter Reed, Douglas, Black und Frankfurter einstimmig, dass Harvey Carignans Verurteilung der McNabb-Regel widerspreche. Die besagt, dass Geständnisse nicht anerkannt werden können, wenn sie während eines illegalen Gewahrsams erwirkt wurden, weil der Gefangene nicht sofort einem Haftrichter vorgeführt wurde. Weil diese Regel verletzt worden war, stuften die Richter das Geständnis als unzulässig ein. So kam es, dass Harvey dem Tod entkam, jedoch zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Der Gefangene Nr. 22072 wurde vom Seward-Gefängnis in Alaska auf die Gefängnisinsel McNeil Island im Bundesstaat Washington gebracht.
Während seines Gesprächs mit dem Autor bemerkte Carignan: »Laura Showalter … Dorcas Callen? Diese Namen sagen mir nichts.«
* * *
Am 13. September 1951 wurde Carignan in das Staatsgefängnis von Alcatraz, Kalifornien, verlegt, wo er die nächsten neun Jahre verbrachte. Mit 32 Jahren wurde er dann am 2. April 1960 auf Bewährung entlassen. Mit Ausnahme der wenigen Jahre bei der Armee und seiner ersten elf Kindheitsjahre war er nicht mehr in Freiheit gewesen.
Nachdem er in seinem billigen, vom Gefängnis gestellten Anzug und mit einer Tasche mit seinen Habseligkeiten an der Mole von San Francisco angekommen war, blickte er der kleinen Gefängnisbarkasse hinterher, die nun wieder zurück zum »Felsen«, wie Alcatraz auch genannt wurde, tuckerte, dann stieg er in einen Zug nach Duluth, Minnesota. Dort zog er bei einem seiner drei Halbbrüder ein, wurde jedoch am 4. August 1960, nur vier Monate nach seiner Freilassung, wegen Einbruchs dritten Grades und Körperverletzung mit der Absicht der Vergewaltigung erneut festgenommen.
Carignan hatte Glück, dass eine Anklage wegen Vergewaltigung aus Mangel an Beweisen fallen gelassen wurde. Hätte ihm die Vergewaltigungsabsicht nachgewiesen werden können, wäre er sofort wieder im Gefängnis gelandet und nie wieder freigekommen. Allerdings hatte er seine Bewährungsauflagen verletzt und so wurde er zu 2086 Tagen Haft im Bundesgefängnis von Leavenworth, Kansas, verurteilt.
1964 kehrte Carignan zurück in die Gesellschaft und zog schnell nach Seattle um, wo er sich am 2. März als zur Bewährung Verurteilter C-5073 anmeldete. Am 22. November jenes Jahres nahm ihn der Sheriff aus King County wegen Landstreicherei und Einbruchs zweiten Grades fest.
Am 20. April 1965 saß er wieder auf der Anklagebank und wurde zu 15 Jahren in der Strafanstalt des Staates Washington in Walla Walla verurteilt, einer der Städte im Dreistaateneck, zu denen auch Richland und Kennewick gehören, an der südöstlichen Grenze zwischen Washington und Oregon.
Nun, da er in einer der ältesten und berüchtigtsten Strafanstalten der Vereinigten Staaten saß, versuchte er, seinen Mangel an Bildung auszugleichen. Er erlangte einen Highschool-Abschluss, belegte viele College-Kurse in Soziologie und Psychologie und verfasste schriftliche Arbeiten über sexuelle Psychopathie, über paranoide Persönlichkeiten und das gut angepasste Individuum. Er las ständig, erhielt Bestnoten und studierte Journalismus – all dies beeindruckte seine Betreuer. Doch es gab da eine dunklere Seite, die sich zeigte, sobald er allein war. Wenn er sich mit seinen Mitgefangenen unterhielt, fantasierte Harvey von hübschen jungen Mädchen, er war ganz auf »junges Fleisch« fixiert. Er hat oft und bis ins hohe Alter erklärt, dass seine Wahl letztlich immer auf junge Mädchen fallen würde, was gerade für einen alten Mann doch ein ziemlich ungesundes Verlangen ist.
* * *
Als Mann mittleren Alters und Ex-Häftling mit einer wenig attraktiven Erscheinung waren Harveys Chancen, nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis mit einem Teenager anbandeln zu können, alles andere als groß. Als er Sheila Moran kennenlernte, eine geschiedene Frau mit drei Kindern, heiratete er sie. Sie hatte ihr eigenes Haus in Ballard, dem skandinavischen Viertel von Seattle, in dem sie gemeinsam lebten. Sheila, die eine ordentliche Erziehung genossen hatte, machte sich schon bald keinerlei Illusionen mehr über die Persönlichkeit ihres Ehemanns, der sich mit einem Haufen unangenehmer Menschen umgab. Dauernd war er bis spätabends unterwegs und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in seinem Auto durch die Gegend. Nachdem Carignan ihren betagten Onkel böse angegriffen hatte, beschloss sie, ihre Sachen zu packen und ihn mit den Kindern zu verlassen. Sie lief einfach weg. Harvey wollte sie daraufhin töten und wartete vergeblich eine Nacht lang mit einem Hammer in der Hand auf sie, doch glücklicherweise kehrte Sheila nicht nach Hause zurück.
Am 14. April 1972 heiratete Harvey erneut. Alice Johnson, eine geistig etwas eingeschränkte, schlichte Frau über 30 verliebte sich in ihn. Die naive und gutgläubige Putzfrau, die nur wenige Freunde hatte, dachte, sie hätte einen hart arbeitenden, anständigen Mann kennengelernt. Alice war schon einmal verheiratet gewesen und hatte einen elfjährigen Sohn, Billy, und eine hübsche Tochter, Georgia, die 14 Jahre alt war und nach der Harvey bald schon gierte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Harvey es geschafft, von der Time Oil Company eine Tankstelle zu pachten. Alice fiel auf, dass stets junge Mädchen die Zapfsäulen bedienten. Doch kaum hatte eines der Mädchen bei ihm angefangen, war es bald auch schon wieder weg und wurde durch ein anderes ersetzt, das genauso jung und hübsch war. Diese Vorgänge weckten in ihr einen Verdacht, den sie von Gerüchten, dass ihr Mann von Mädchen im Teenageralter besessen war, bestätigt sah. Jedem Mädchen, dem er begegnete, näherte er sich mit obszönen Angeboten und Bemerkungen, und als Alice ihm deshalb Vorhaltungen machte, brüllte er sie an, schlug ihren Sohn und machte sich davon, nicht ohne lüsterne Blicke auf Georgia zu werfen, die seiner Stieftochter ausgesprochen unangenehm waren. Wenig überraschend brach die Ehe kurz darauf auseinander.
Am 15. Oktober 1972 vergewaltigte und tötete Carignan einen Teenager namens Laura Brock in der Nähe von Mount Vernon im Bundesstaat Washington.
* * *
Eine Suchanzeige in der Seattle Times vom 1. Mai 1973 war der Beginn einer Kette von grauenvollen Ereignissen. In der Anzeige, die die 15-jährige Kathy Sue Miller las, wurde für eine örtliche Tankstelle eine Hilfskraft gesucht. Kathy brauchte eigentlich keinen Job für sich selbst, sondern für ihren Freund Mark Walker. Als sie jedoch am nächsten Morgen unter der angegebenen Kontaktnummer anrief, erklärte ihr der Mann am Telefon zu ihrer Überraschung, dass er Mädchen suche. Sie gab ihm ihre Adresse und Telefonnummer und willigte ein, sich nach der Schule mit ihm zu treffen. Sie vereinbarten, dass er sie vor dem Sears Building in Seattle mit seinem Auto abholen und dann zur Tankstelle bringen würde, um einen Bewerbungsbogen auszufüllen.
Kathys Mutter Mary machte sich Sorgen. Dass ihre Tochter einem Fremden ihre Nummer gegeben hatte, gefiel ihr nicht, und sie war auch beunruhigt von der Art und Weise, wie das Vorstellungsgespräch ablaufen sollte. Insbesondere missfiel ihr, dass Kathy zu jemandem in ein Auto steigen wollte, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dabei dachte sie auch an einen kürzlich veröffentlichten Zeitungsartikel über Laura Brock, die beim Trampen vergewaltigt und ermordet worden war.
»Ich meine es ernst, Kathy«, warnte Mary ihre Tochter, »ich möchte nicht, dass du diesen Mann triffst.«
Ungeduldig versprach Kathy, es nicht zu tun, und machte sich mit einem Stapel Schulbücher unter dem Arm auf den Weg zum Unterricht.
Mutter und Tochter nahmen an jenem Morgen den gleichen Bus, und in der Nähe der Roosevelt High School stieg Kathy als Erste aus. Mary sah durch das schmutzige Fenster, wie ihre hübsche Tochter davoneilte, sich noch einmal umdrehte und ihr lächelnd zuwinkte.
An jenem Nachmittag gehorchte Kathy ihrer Mutter nicht und traf sich, wie verabredet, mit Carignan. Er hatte schon mit wachsender Ungeduld auf sie gewartet, und als er ein groß gewachsenes, kräftiges, athletisches Mädchen auf sich zukommen sah, schlug sein Herz höher. Ihr von Haus aus blondes Haar war in einem glänzenden Karamellton gefärbt und fiel in dichten Wellen bis auf die Mitte ihres Rückens. Kathy hatte grüne Augen und auf ihrer hellen Haut waren ganz zart Sommersprossen zu entdecken. Gegenüber Carignans Wagen blieb sie kurz stehen, um dann die Straße zu überqueren. Carignan sah, wie ihm das junge Mädchen in ihrem blauweißen Trägerkleid, mit einer marineblauen Bluse und bläulichen Nylonstrümpfen zuwinkte.
Carignan neigte sich über den Beifahrersitz und drückte die Tür auf. Doch Kathy ging zur Fahrerseite und sprach ihn durchs Fenster an. Als sie Carignan nun zum ersten Mal sah, fand sie den Anblick nicht besonders erfreulich. Er war ein unattraktiver Mann mit einer eigentümlich gewölbten Stirn. Er hatte ein fliehendes Kinn und über einem Auge eine tiefe Narbe. Mit seiner zerfurchten Haut und den Tränensäcken und Falten unter den Augen sah Carignan um Jahre älter aus als 46, sein wirkliches Alter. Normalerweise machte er ein finsteres Gesicht und runzelte die Stirn. Wollte er lächeln, kostete ihn das einige Anstrengung. Doch diesmal brachte er all seinen Charme auf, über den er verfügte.
»Hi, du bist bestimmt Kathy«, fragte er mit einem breiten Lächeln.
Kathy bemerkte ein Grübchen auf seinem Kinn, dann lächelte sie zurück. »Na klar, bin ich.«
Um sie dazu zu bewegen, ins Auto einzusteigen, sagte er: »Wir müssen die Bewerbungsformulare ausfüllen, und die liegen in meinem Büro. Spring einfach rein. Wenn wir damit fertig sind, bring ich dich noch nach Hause.«
Kathy war unbehaglich zumute. »Meine Mutter ist davon nicht gerade begeistert«, erklärte sie, und Harvey schaltete einen Gang höher.
»Das kann ich wirklich verstehen. Ich habe selbst Kinder. Bin auch verheiratet. Hübsches Haus, reizende Frau. Echt, wir können deiner Mutter keine Vorwürfe machen, dass sie vorsichtig ist.«
Die beruhigenden Worte des Mannes hatten Kathy fast überzeugt. »Sind Sie sicher, dass es okay ist?«
»Absolut. Ich werd dir was sagen: Wenn ich dich nach Hause bringe, werde ich mich deiner Mutter sogar vorstellen. Dann ist sicher alles gut.«
Kathy Sue Miller wurde nie wieder lebend gesehen. Carignan, dessen Gewaltbilanz der Polizei bekannt war, wurde ausführlich verhört und seine Aktivitäten wurden 24 Stunden überwacht, doch es gab nicht genügend Beweise, um ihn wegen Entführung oder gar Mord anzuklagen. Dann entdeckten zwei 16-jährige Jungs, die am Sonntag, dem 3. Juni, mit ihren Motorrädern durch die Tulalip Reservation nördlich von Everett kurvten, Kathys Leiche. Sie war in schwarzes Plastik eingewickelt und nackt. Der Körper war bereits so stark verwest, dass zunächst nicht einmal das Geschlecht der Leiche festgestellt werden konnte. Mit Abschluss der Autopsie war klar, dass die Zähne mit Kathys zahnärztlichen Unterlagen übereinstimmten. Die Beschädigungen des Schädels ließen darauf schließen, dass der Tod durch schwere Schläge verursacht worden war.
Selbst nach Entdeckung der Leiche schaffte »Harvey, der Hammer« es noch, sich dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Zuerst zog er nach Colorado und später nach Minneapolis, Minnesota, wo er am 4. August 1974 Eileen Hunley ermordete. Ihre Leiche wurde am 18. September im Sherburne County gefunden. Als Reaktion auf diesen Mord kommentierte Carignan: »Sie war meine Lebensgefährtin, und ich dachte, sie hätte sich mit einem Schwarzen eingelassen, deshalb habe ich sie auf der Straße angehalten … Ich habe ihren Kopf gegen einen Laternenmast geknallt und ihr Gesicht auf einen Kanaldeckel geschlagen, bis sie tot war. Dann wollte ich sie an ein paar Schweine verfüttern.«
* * *
Eine Serie von sexuellen Übergriffen gegenüber Tramperinnen in den Bundesstaaten Colorado und Minnesota in den letzten Monaten des Jahres 1974 ließen Carignans Handschrift erkennen. Sie waren meist von einem großen Mann begangen worden, der einen Hammer als Waffe schwang. Die Beschreibung des Täters traf weitgehend auf ihn zu. Mindestens sieben der Mädchen starben und die übrigen waren für den Rest ihres Lebens geistig und körperlich gezeichnet.
Am 8. September 1974 ließ Carignan eine Tramperin bei sich einsteigen, fuhr mit ihr in eine ländliche Gegend in der Nähe von Mora und missbrauchte sie sexuell. Dann schlug er ihr mit dem Hammer auf den Kopf und missbrauchte sie zudem mit dem Hammerstiel. Das Opfer ließ er auf einem Feld zum Sterben liegen, doch es überlebte. Anschließend konnte die Frau eine Beschreibung des Angreifers und des Wagens, den er fuhr, liefern.
Am 14. September 1974 nahm Carignan eine Frau namens Roxanne Wesley mit, die auf einem Parkplatz im Süden von Minneapolis Probleme mit ihrem Auto hatte. Unter dem Vorwand, sie an einen Ort zu bringen, an dem sie Hilfe bekommen konnte, fuhr er mit ihr in eine ländliche Gegend im Carver County, missbrauchte sie mehrfach sexuell, trieb ihr dabei auch den Hammerstiel in die Vagina, schlug ihr mit dem Hammer auf den Kopf und ließ sie dann wieder zum Sterben auf einem Feld liegen. Auch dieses Opfer überlebte und schaffte es, bis zur Straße zu kriechen. Diese Frau konnte den Angreifer und sein Auto ebenfalls beschreiben, dazu andere auffallende Dinge, die im Wagen herumlagen.
Zwei trampende Teenager berichteten am 19. September 1974, dass ein Mann sie mitgenommen habe und mit ihnen aufs Land gefahren sei, um sie zu vergewaltigen und zu töten. Einem der Mädchen hatte Carignan einen Fausthieb verpasst und ihm dabei einen Vorderzahn ausgeschlagen. Als er an einer Straßenkreuzung gehalten hatte, waren beide Mädchen aus dem Auto gesprungen und geflohen. Auch in diesem Fall stimmten die Beschreibungen des Mannes und seines Fahrzeugs mit denen der vorherigen Opfer überein.
Am nächsten Tag wurde bei der Polizei von Minneapolis von zwei weiteren Teenagern eine Anzeige erstattet. Sie erklärten, ein Mann habe sie angesprochen und jeder von ihnen 25 Dollar geboten, wenn sie mit ihm im Norden von Minnesota ein Auto abholten und es für ihn nach Minneapolis fuhren. Die beiden Mädchen gaben an, dass er mit ihnen in eine ländliche bewaldete Gegend gefahren sei, wo er dann eine der beiden gebeten habe, ihm in den Wald zu folgen, angeblich um dort das Fahrzeug zu holen, von dem er gesprochen hatte. Er hatte einen Benzinkanister und einen Schraubenzieher mitgenommen. Kurz danach hatte das im Auto gebliebene Mädchen Schreie gehört und war zu einem Haus in der Nähe gerannt, um die Polizei anzurufen. Das andere Mädchen wurde später bewusstlos und mit schweren Kopfverletzungen, die offensichtlich von Hammerschlägen herrührten, aufgefunden. Ihre Beschreibung des Angreifers passte in jeder Hinsicht zu Carignan.
Am 21. September wurde ein weiterer Bericht eines ähnlichen Angriffs aufgenommen, bei dem das Opfer überlebte. Ein paar Tage später wurde Carignan festgenommen.
* * *
Das Folgende ist Teil einer Klageschrift, die sich auf fünf Anklagepunkte zu Straftaten bezieht, die an einem 13-jährigen Mädchen begangen wurden. Der Name des Mädchens wurde entfernt, um die Identität des Opfers zu schützen. Das Originaldokument wurde freundlicherweise von den Staatsanwaltschaften in Minneapolis und Hennepin County zur Verfügung gestellt. Es ist zuvor noch nie publiziert worden.
Schwere Körperverletzung. Schwere Unzucht. Unsittliches Gebaren. Sodomie an oder mit einem Kind. Schwere Sodomie.
»Die besagte –––––––––––– trampte in Minneapolis, als der Beschuldigte, der einen Truck Camper fuhr, anhielt, sie einsteigen ließ, in ein Gespräch verwickelte, wohin sie denn wolle, bemerkte, dass er sie zu ihrem Ziel bringen werde, sie dann unter Androhung von Schlägen mit einem Hammer, den er einem Fach zwischen den Sitzen seines Campers entnahm, zu oraler Unzucht mit ihm zwang, sie unter der Drohung ihr ›den Kopf mit dem Hammer einzuschlagen‹ nötigte, sich auszuziehen, versuchte, den Stiel des Hammers in ihre Vagina zu schieben, sie mehrfach mit dem Hammer im Bereich ihres Gesäßes schlug, als sie gegen die Annäherungen des Beschuldigten Widerstand leistete, sie dann ein weiteres Mal zu oraler Unzucht mit ihm nötigte, mit ihr anschließend zu einem Kornfeld fuhr, wo er sie zwang, sich auf den Bauch zu legen und Geschlechtsverkehr mit ihrem Rektum versuchte, sie dann zum dritten Mal erneut nötigte, orale Unzucht mit ihm zu treiben. Dann erlaubte der Beschuldigte dem Opfer, sich anzuziehen, und fuhr die Betroffene zum Haus einer Freundin an der 5644 Lakeland Avenue, Chrystal, Hennepin County, (Minnesota), wo er dem Opfer gestattete, aus dem Camper auszusteigen; zusätzlich zu den vorgehenden Ausführungen erzählte der Beschuldigte dem Opfer, sein Vorname sei ›Paul‹ und sein Nachname ›Harvey‹.«
In getrennten, 1975 und 1976 geführten Prozessen wurde Carignan nur für zwei der Morde und für eine Reihe anderer Vergehen belangt. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt 100 Jahren plus lebenslänglich verurteilt.
* * *
»Ich weiß, wo Ihr Haus liegt. Ich weiß, dass Sie eine junge, hübsche dunkelhaarige Frau und zwei Kinder haben. Sie haben einen silbernen Mercedes. Aber ich will dafür sorgen, dass nichts und niemand Ihnen und Ihrer Familie Schaden zufügt, denn ich habe Freunde in Ihrem Land, die auf mich aufpassen.«
HARVEY CARIGNANS BEUNRUHIGENDER WILLKOMMENSGRUSS, ALS DER AUTOR, CHRISTOPHER BERRY-DEE, IHN IM GEFÄNGNIS BESUCHTE.
Harvey Louis Carignan, bekannt als »Harv’, der Hammer« oder auch als »Suchanzeigen-Killer«, lebte zur Zeit unseres Gesprächs hinter den trostlosen Mauern der Justizvollzugsanstalt von Minnesota in Stillwater, an der Grenze von Minnesota und Wisconsin. Dieses Gefängnis war die größte Hochsicherheitsanstalt der Sicherheitsstufe 5 für erwachsene Schwerverbrecher und mit rund 1320 Insassen belegt.
Fünf Jahre lang habe ich mit Harvey korrespondiert und ihn schließlich im März 1995, bei einem »Vollkontakt-Besuch«, befragt. Dies war das erste und einzige Interview, das »Der Hammer« gewährt hat, seit er am 24. September 1974 wegen mehrfacher Vergewaltigung und Mord verhaftet worden ist.
Weil Individuen wie Harvey so extreme Situationen durchlebt haben, haben sich ihre Seelen zu verschlossenen Räumen entwickelt, in denen sich mysteriöse Geheimnisse verbergen. Daher braucht es etwas Einfühlungsvermögen, um sie aus der Reserve zu locken. Jeden Fall gehe ich gründlich an und verbringe enorm viel Zeit damit, die typischen Eigenschaften jedes dieser Individuen kennenzulernen, statt sie mit auf ihren Verbrechen basierenden Allgemeinheiten zu entpersonalisieren. Während ich für meine Zielperson ein gewisses Maß an Mitgefühl entwickele, achte ich stets darauf, dass mein Verständnis keinesfalls so weit geht, dass ihre Dramen sich auch in meinem Kopf abspielen. Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen Identifikation und Analyse.
Um einen Menschen kennenzulernen, muss man sich in seine Lage versetzen, seinen Gedankengängen folgen und seine Gefühle nachempfinden. Während man dem oft dysfunktionalen Denken seiner Zielperson bis zu einem gewissen Grade folgt, wird man allerdings selbst nie wie sie. Man bleibt man selbst. Für eine Zeit lang mag man sich ihr nähern, nah genug, um ein Gefühl für diese oft fremdartigen Vorstellungen und Emotionen zu bekommen, doch muss man sich immer wieder zurückziehen, um die eigenen Moralvorstellungen und die mentalen Grenzen wiederherzustellen.
Und was hatte Carignans Psychiater gesagt? Ja, das war’s: »Sie werden Harvey interviewen oder etwas, das in seinem Kopf lebt. Sie werden ihn interviewen, und das Böse wird Sie interviewen.«
Harvey wurde über sein persönliches Funkgerät zu unserem Gespräch gerufen, und dem ersten Eindruck nach handelte es sich bei diesem mörderischen Irren um einen deutlich über 1,80 Meter großen, schwerfälligen Kerl, der gebaut war wie ein Kleiderschrank. Er wog mehr als 114 Kilo und erinnerte ein bisschen an einen Affen. Er hatte einen massigen Körperbau, einen kahlen Schädel wie ein Neandertaler und riesige Hände an überlangen schlaksigen Armen, die von breiten hängenden Schultern baumelten. Carignan hatte stechend blaue Augen und sprach mit einer tiefen, heiseren Stimme. Im Gesamteindruck wirkte er wie ein sanfter, ja sogar vernünftiger Riese. Allerdings wissen wir alle, dass der äußere Schein trügen kann. »Der Hammer« war in Wahrheit einer der bösartigsten und berüchtigtsten Serienmörder, der sogar im Alter von 74 Jahren noch 15 Minuten lang ohne Unterlass Klimmzüge mit einem Arm machen konnte, ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Es vergingen fünf quälend lange Minuten, ohne dass einer von uns beiden ein Wort sprach. Dabei starrte er mich die ganze Zeit mit seinen gefährlichen Augen an. Es war, als würde ein fremdartiges Wesen, ja eine heimtückische Macht mit den langen, sich windenden Tentakeln fragender Gedanken sanft in meinen Kopf eindringen, ihn erkunden, ertasten, ihn schmeckend und riechend erfühlen. Dann umspielte ein verstohlenes, aber falsches Lächeln Harveys Mund. Seine von Speichel feuchten Lippen waren leicht geöffnet, doch ansonsten blieb sein Gesicht ausdruckslos.
Es war faszinierend, diesen eiskalten Serienmörder aus der Nähe zu betrachten, denn er war der Wolf im Schafspelz, halb Mensch, halb Antichrist und der Stoff für die übelsten Albträume unserer Kinder. Dann sprach er zum ersten Mal.
»Wissen Sie, Chris, ich habe nie wirklich ein Verbrechen begangen und dann ein zweites, um das erste geheim zu halten. Ich habe Morde begangen, um nicht fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigt zu werden.«
Das Eis war gebrochen und meine Überzeugung, dass Harvey in einem fortwährenden Zustand der Verleugnung lebte – in einer Welt, in der er einige Schuld zugab, aber nicht die völlige Verantwortung für seine brutalen, abscheulichen Verbrechen übernahm –, wurde bestätigt.
Als er im Verlauf des Gesprächs eingestand, eine junge Frau vergewaltigt und getötet zu haben, führte er das aus seiner Sicht darauf zurück, dass sie ihn provoziert hatte. Er sagte, dass es immer das Opfer gewesen war, das das Thema Sex angesprochen habe, wenn er jemanden mitgenommen hatte.
Dies lässt sich gut an seinem Bericht über ein Mitfahrangebot veranschaulichen, das er einer absolut seriösen 20-jährigen Krankenschwester gemacht hatte, deren Auto eine Panne hatte.
Er hatte ihr angeboten, ihr Auto zu reparieren, vorab aber erklärt, dass er erst noch sein Werkzeug holen müsse. Dann hatte er sie dazu gebracht, in seinen Wagen einzusteigen, und war mit ihr aufs Land gefahren, wo er sie brutal vergewaltigt hatte und versucht hatte, sie zu töten, indem er ein Radkreuz auf ihren Kopf geschlagen hatte.
Carignans Bericht hört sich natürlich ganz anders an, denn er behauptete, sie sei aus freien Stücken bei ihm eingestiegen. Seine Geschichte enthält einen Hauch von Wahrheit und einen Haufen Lügen. Sie ist verstörend und abstoßend zugleich, zeigt jedoch auch auf faszinierende Weise die Denkweise eines mörderischen Sexualpsychopathen und ausgewachsenen Serienmörders, der vermutlich bis zu 50 Frauen abgeschlachtet hat. Das Folgende ist nichts für Zartbesaitete:
»Sie stieg ein und war vielleicht etwas nervös, aber Angst schien sie nicht zu haben. Während der Fahrt sprachen wir über ein anderes Mädchen, mit dem ich öfter zusammen war, eine, die gegangen war, weil ich ihr nicht die 30 Dollar gegeben habe, die ich ihr Woche für Woche in die Hand gedrückt hatte. Das war keine Bezahlung für irgendwas, sondern ein Geschenk. Das Mädchen, das bei mir im Auto saß, sagte, sie würde sich nie für 30 Dollar auf Sex einlassen – das wirkte so, als ob sie glaubte, dass die andere Frau das getan hatte und dass sie die Erstgenannte dafür verachtete. Ich habe versucht, ihr das Ganze zu erklären, doch sie blieb stur dabei, dass sie sich für 30 Dollar auf keinen Sex einlassen würde. Das waren ihre Worte und nicht, dass sie das prinzipiell nicht für Geld tun würde, das ging mir damals durch den Kopf.
Dann habe ich verstanden, was sie meinte; sie dachte wohl, ich würde ihr für Sex den gleichen Betrag anbieten, und das lehnte sie ab – aber ich behaupte nicht, dass sie unbedingt Geld für Sex wollte. So wie sich das Gespräch entwickelte, konnte es entweder bedeuten, dass ihr 30 Dollar für Sex zu wenig waren oder dass sie sich für überhaupt keinen Geldbetrag zu Sex überreden lassen würde. Damals war das für mich keine große Sache, das Gespräch hatte für mich erst viel später eine besondere Bedeutung, als ich versuchte, mich an all das zu erinnern, worüber wir gesprochen hatten und wie das Gespräch gelaufen war.
Als wir am Haus meines Freundes ankamen, wo das Werkzeug war, hielt ich den Wagen an, drehte um und fuhr sofort wieder weiter. Mein Freund hatte mir gesagt, wenn sein Pick-up, ein Chevrolet, nicht im Hof stehe, solle ich nicht bleiben, weil seine Söhne mich nicht leiden konnten. Das hat mich überrascht, denn ich kannte seine Söhne nicht. Ich war keinem von ihnen je begegnet. [Carignan hatte überhaupt keine sogenannten Freunde.] Wie auch immer, ich fuhr los und hielt, bevor ich auf die Hauptstraße einbog, kurz an. Ich legte meinen Arm um sie, sie zögerte zwar, rutschte dann aber näher zu mir heran, als ich es ihr mit dem Druck meines Arms signalisierte. Der Druck war nicht so groß, dass sie zu ihrer Bewegung gezwungen war, es war kein Griff, der sie gegen ihren Willen bewegt hätte. Es war eher ein Hinweis auf das, was ich mir von ihr wünschte, und sie kam dem entgegen. Ich kann mich an das, was mir durch den Kopf ging, so klar erinnern, als wäre es gestern gewesen: ›Sie will es!‹ Und das, obwohl ich mich gefragt habe, warum sie so darauf beharrt hatte, sich nicht für 30 Dollar auf Sex einzulassen, wobei es meiner Meinung nach damals jeder beliebige Betrag hätte sein können. Ich schob meinen Arm hinter ihren Kopf, übte leichten, fast sanften Druck auf ihren Nacken aus und sie beugte sich nieder – nicht aufgrund meines Drucks, sondern aus eigener Kraft –, knöpfte meine Hose auf, nahm meinen Penis hervor und streichelt ihn, während wir uns küssten, bis ich ihr mit der gleichen Art von Druck bedeutete, dass sie mir einen blasen sollte. Was sie dann auch tat.
Als sie damit fertig war und ich sie mit dem Samen im Mund da sitzen sah, sagte ich zu ihr: ›Spuck das verdammte Zeug aus.‹ Das tat sie – aber ich hielt sie, für den Fall, dass sie herausspringen und davonlaufen wollte, dabei fest. Mir gefiel es nicht, dass sie nicht sagte, ich hätte sie zu dem, was sie getan hatte, gezwungen. Mit einem seltsamen Lächeln sah sie mich an – als ob ich ein Trottel wäre, zu denken, sie würde davonlaufen – schloss die Tür und dann fuhr ich weiter.
Auf der Fahrt sagte ich zu ihr: ›Ich will dich ficken. Und ich kenne einen Ort, an den wir fahren können!‹
Sie fragte. ›Wie lange wird das dauern? Ich muss gegen ein Uhr zurück sein.‹ Da war es ungefähr 10.30 Uhr.
Ich hatte einen Ort im Kopf, der aber ein paar Kilometer entfernt war. Also fuhr ich weiter und bog in der Nähe eines Sees ab. Als ich anhielt, sah ich ein von Bäumen umgebenes Haus und einen Mann, der aus einer anderen Richtung auf uns zukam. Ich wendete und fuhr weiter. Währenddessen machte das Mädchen nicht den geringsten Versuch, die Wagentür zu öffnen und auszusteigen.
Direkt gegenüber der Straße, die vom See wegführte, lief eine andere zu einer Schlucht. Wir waren 150 bis 200 Meter von der Hauptstraße entfernt. Als wir dort angekommen waren, ging ich zum Kofferraum und holte eine [später von der Polizei sichergestellte] blaue Decke heraus, warf sie auf den Boden und sagte: ›Mach dich bereit!‹ Aus irgendeinem Grund war ich mit ihr nicht so ganz glücklich, doch sie war eine sehr attraktive Frau um die 20 Jahre, und ich wollte Sex mit ihr haben, vor allem weil wir schon so viel darüber geredet hatten. Sie zog mir die Jeans und sich den Schlüpfer aus und legte sich mit den Füßen in meine Richtung auf den Rücken. Ihre Vulva zeigte in ihrer ganzen Schönheit zu mir – sie war hübsch anzusehen, so wie sie selbst, eine sehr hübsche Frau. Nun weiß ich nicht, worauf andere Männer achten oder wie sie sich verhalten, aber ich schaue mir die Vulva meist genau an und spiele mit ihr. Je hübscher der Genitalbereich einer Frau aussieht, desto mehr macht mich das an.
Eigentlich hatte ich ja nur angehalten, um dem Mädchen zu helfen, ihren Wagen wieder in Gang zu bringen. Als sie einstieg, hatte ich nur vor, Werkzeug zu holen, um das Auto zu reparieren. Sex hatte ich nicht im Kopf, und ich habe sie nicht verschleppt. Alle gehen immer davon aus, dass diese Frauen und Mädchen unschuldig sind. Das sind sie aber nicht. Jede Einzelne von ihnen wollte etwas von mir, entweder Geld oder mein Auto fahren oder etwas, das sie nicht preisgaben. Ich habe nie eine von ihnen entführt oder gezwungen, mit mir zu kommen. Und die war auch nicht anders als die übrigen. Ich bin kein Vergewaltiger, schon allein dieses Wort ist so abstoßend, dass sich mir der Magen umdreht.
Ungeachtet dessen, was wer auch immer dazu sagt, verbrachten wir auf dieser Lichtung eine wunderbare Zeit, bis sie mich beschuldigte, Geld aus ihrem Portemonnaie genommen zu haben, und da dachte ich: ›Jetzt geht das schon wieder los!‹ Das machte mich wütender, als es in diesem Moment nötig gewesen wäre, und ich handelte aus Zorn, statt mich einfach gegen die Anschuldigung zur Wehr zu setzen, indem ich ihr erklärte, dass ich ihr Geld nicht genommen hatte. Das rechte Hinterrad meines Autos hatte einen Platten und ich wechselte es gerade aus, als sie mich anschrie. Sie schrie weiter, das sei nicht ihr Geld, und verlangte wie eine Wahnsinnige von mir, es zurückzugeben. Dann änderte sie abrupt ihren Ton und erzählte mir, dass sie ihr Auto gegen ein anderes tauschen wollte. Dass ich ihr dafür 200 Dollar geben solle oder sie würde erzählen, ich hätte sie vergewaltigt. Ich hatte währenddessen meine Arbeit fortgesetzt und begonnen, die Schrauben festzuziehen. In dem Augenblick, als sie diese Drohung aussprach, packte mich eine so große, unkontrollierbare Wut, dass ich mit dem Radkreuz auf sie einschlug – und nicht, wie sie später aussagte und wie allgemein angenommen wird, mit dem Hammer. Sie war voll angezogen und ich kann es jetzt so klar vor mir sehen, als wäre es gerade erst geschehen. Sie fiel wie von einer Axt gefällt auf den Boden und rutschte langsam, mit den Füßen voran, eine drei bis vier Meter lange Schräge hinunter in einen Graben. Dabei rollte sich ihr brauner Pullover bis unter die Achseln auf. In Panik geriet ich nicht, aber ich legte den Kreuzschlüssel in den Kofferraum, steckte die übrig gebliebene Radschraube in meine Tasche, stieg in mein Auto und fuhr davon. Als ich ungefähr 15 bis 20 Minuten, vielleicht 25 bis 30 Kilometer weit gefahren war, wurde mir klar, dass ich die Frau dort nicht sterben lassen konnte, wenn sie nur verwundet war, und das musste ich wissen. Also wendete ich und fuhr zurück. Als ich die Stelle erreichte, standen da am Straßenrand mehrere Autos und ein Traktor mit einem Anhänger, und all die Leute beugten sich über jemanden, von dem ich wusste, dass sie es war. Also fuhr ich weiter.«
Als Harvey mit dem Erzählen seiner Version fertig war, konfrontierte ich ihn damit, wie sich der Angriff in Wirklichkeit abgespielt hatte. Ich erinnerte ihn daran, dass er die junge Krankenschwester tatsächlich in diesem Graben dem Tod überlassen hatte. Einige Stunden später hatte sie wieder das Bewusstsein erlangt und sich mit gravierenden Kopfverletzungen in einer Blutlache liegend wiedergefunden. Die Nacht war bereits angebrochen, doch unter furchtbaren Schmerzen war sie über 1,5 Kilometer über leere Felder zu einer Straße gekrochen, an der sie dann am Morgen ein Farmer gefunden und daraufhin Hilfe geholt hatte.
Carignan war später, als er sich erneut zum Tatort begeben hatte – nicht etwa, um das Leben seines Opfers zu retten, sondern in Sorge, dass es überleben und ihn und sein Auto beschreiben könnte – am Rettungswagen vorbeigefahren. Er war in der Absicht zurückgekehrt, die Frau zu erledigen, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich bereits in Sicherheit gebracht. Das Einzige, was die junge Frau am Leben gehalten hatte, war die Nachricht, die ihr ihre Schwester am Tag zuvor verkündet hatte – dass sie ein Kind erwartete, und dieses Baby wollte sie unbedingt sehen.
Harvey behauptete, er sei von fast jeder Frau, der er begegnet ist, sexuell missbraucht worden, auch von Bezugspersonen, von Babysittern und von der Lehrerin in der Erziehungsanstalt. Im Laufe der letzten Jahrzehnte ist Kindesmissbrauch als gesellschaftlicher Schandfleck zwar immer wieder aufgedeckt worden, doch gibt es nicht die Spur eines ernst zu nehmenden Beweises dafür, dass Harvey in dem Maße missbraucht wurde, wie er fortwährend angegeben hat.
Was wir mit einer gewissen Sicherheit sagen können, ist, dass er mit einem Groll gegen Frauen im Allgemeinen aufgewachsen ist, einem Groll, der sich vielleicht gegen seine ihn vernachlässigende Mutter und ihre Familie und Freunde gerichtet hat. Möglicherweise ist das also die Erklärung, die wir brauchen, denn Menschen wachsen ja normalerweise nicht damit auf, dass sie ohne jeden Grund Frauen oder Männer hassen. Vielleicht erzählte Carignan also doch die Wahrheit.
Carignan sagte einmal: »Ich hasse Frauen aus ganzem Herzen … Sie haben mit meinem Kopf immer psychologische Spielchen getrieben.« Auf jeden Fall kann sein Bericht über sexuellen Missbrauch uns etwas anderes Wertvolles liefern, wenn wir in seine Vergangenheit blicken. Die wenigen Zeilen in seinen Briefen sind voller Widersprüche und können zweifellos seiner Fantasie entsprungen sein. Es sind aber Aussagen, die genau auf ihn zugeschnitten sind – eine dominante, »wirklich grausame Frau«, die ihn missbraucht hat, während er, der arme junge Bursche, hilflos war und doch gleichzeitig die Situation, in die er geraten war, genoss.
Von Geburt an hatte Harvey wie so viele Mörder mit Problemen zu kämpfen. Ihm haftete das Stigma an, ein uneheliches Kind zu sein, er war ein schwaches, nervöses Kind, ein Bettnässer, der an Zuckungen litt, und er wurde wie der britische Serienmörder Peter Sutcliffe während seiner prägenden Jahre ständig gemobbt.
Er behauptete, Frauen hätten ihn schon als Kind sexuell missbraucht, obwohl diese Anschuldigungen von keinerlei Fakten belegt sind. Allerdings ist kaum zu bezweifeln, dass ihn seine Mutter und andere weibliche Verwandte wie seine Tanten und seine Großmutter nicht besonders gut behandelt haben. Der psychologische Schaden, der dadurch angerichtet wurde, mag den leidenschaftlichen Hass, den Harvey gegen Frauen hegte, zum großen Teil erklären. Er glaubte, sie alle hätten mit seinem Kopf »psychologische Spielchen« getrieben, was vielleicht der Grund dafür ist, dass er stumpfes Werkzeug dazu benutzt hat, die Köpfe seiner Opfer zu verstümmeln und zu zerstören. Sein Zorn war dabei so stark, dass er nicht nur ein- oder zweimal zuschlug. In den meisten Fällen zertrümmerte er die Schädel mit einer dämonischen und unmenschlichen Gewalt zu einem undefinierbaren Brei.
Rache – genauer: die Rache an Frauen – war ein entscheidendes Motiv für sein Handeln, und seine Vorgehensweise war immer dieselbe. Doch die Taten dieses Mörders weisen noch eine andere Seite auf, die erstaunlich ist. Während er ältere Frauen (mit wenigen Ausnahmen) vielleicht als Sinnbild für seine Mutter, Tanten und Großmutter abschlachtete, ließ er jüngere Opfer trotz der gravierenden Verletzungen, die er ihnen beibrachte, oft am Leben. In wenigen Fällen fuhr er sie sogar nach Hause oder verarztete ihre Verletzungen. Der Grund für dieses widersprüchliche Verhalten mag der eindeutige sexuelle Reiz sein, den jüngere Mädchen auf ihn ausübten. In dieser Hinsicht gibt es keinen Zweifel, dass Carignan Fantasien hatte. Diese Fantasien von Sex mit jungen Mädchen bereiteten ihm großes Vergnügen, während Gedanken an ältere Frauen intensiven Hass auslösten.
Während der gesamten Zeit meiner Korrespondenz mit Harvey machte er viel Aufhebens um etwas, das er als »Perlenkette« bezeichnete. Er deutete an, dass diese »Perlen der Weisheit« wertvolle Details seien, die er nur dann preisgeben würde, wenn er die Zeit für gekommen halte.
»Die Wahrheit ist in meinen Perlen der Weisheit verborgen«, verkündete er. »In den nächsten Jahren werde ich die Perlen dieses Teils der Wahrheit nicht preisgeben«, fügte er hinzu. Dann sagte er kein Wort mehr und weigerte sich, noch irgendwelche Fragen zu seinen Verbrechen zu beantworten.
Harvey »Der Hammer« Carignan widmete den Rest unserer Gesprächszeit seinem Bemühen, sich als Mann mit viel Gefühl darzustellen. Als Mann mit großem Wissen und einer, der, da er ja Philosophie studiere, es wert sei, dass seine Worte und Gedanken von anderen beachtet würden. Doch »Der Hammer« hatte tief in seinem Inneren noch immer eine fatale Schwäche.
Obwohl er den größten Teil seines wertlosen Lebens hinter Gittern verbracht hat, war dieses Monster absolut nicht imstande, seine Schuld zu erkennen und zuzugeben. Dies ist ein Charakterzug, den er mit vielen anderen Serienmördern gemein hat. Obgleich die Beweislage in jedem der Fälle eines sexuellen Angriffs, einer Vergewaltigung oder eines Mordes eindeutig und erdrückend war, war Carignans Psyche so ausgebildet, dass er den größten Teil der Schuld an den Verbrechen seinen unglücklichen Opfern zuweisen musste.
Wurde er entlarvt und lagen all seine Ausreden als völlige Unwahrheiten auf der Hand, zog er sich zurück. Dann flüchtete er sich in die von vielen Straftätern benutzte Anklage, die dem gesamten Strafverfolgungs- und Justizsystem die Schuld zuwiest, ihm etwas anhängen zu wollen.
Wären seine Straftaten nicht so schwerwiegend und zahlreich, könnte man seine Ausreden einfach als lächerlich abtun. Manche mögen einwenden, seine Briefe seien das Geschwafel eines Verrückten und hätten deswegen zurückgewiesen oder am besten ignoriert werden sollen. Allerdings ist Harvey keinesfalls verrückt. Was er nicht sagen wollte, zwischen den Zeilen verbarg oder aus irgendwelchen Beweggründen zu sagen vergaß, kann letztlich von großem Interesse sein, denn in seiner pathologischen Selbstverleugnung liegt die wahre Natur der Bestie verborgen.
Dieses Kapitel basiert auf exklusiven, 1996 auf Tonband aufgenommenen Gesprächen zwischen Christopher Berry-Dee und Harvey Louis Carignan in der Justizvollzugsanstalt von Minnesota und auf einer langjährigen Korrespondenz.
Einen Moment lang erstarrten seine Augen. Kurz zuvor hatte ein seltenes Lächeln Shawcross’ schwelende Wut überdeckt; nun war die Maske der Vernunft zum ersten Mal verrutscht, und das Feuer des gemeingefährlichen Wahnsinns flackerte in seinen Augen auf, als er sich bemühte, die mörderischen Emotionen zu überwinden, die in ihm brodelten. Im Gesprächszimmer wurde es nun ruhig, gefährlich ruhig.
SHAWCROSS’ REAKTION, ALS ER VON CHRISTOPHER BERRY-DEE ZUM MORD AN DEM ZEHN JAHRE ALTEN JACK BLAKE BEFRAGT WURDE.
Im Verborgenen der Sullivan-Justizvollzugsanstalt in Fallsburg, New York, lebte lange Zeit der berüchtigtste Serienmörder des Bundesstaates, sein Name war Arthur John Shawcross. Da ihn die Medien »Das Monster der Flüsse« nannten, fragte ich ihn, wie er zu dieser Bezeichnung gekommen sei.
»Weil ich sie da getötet habe«, entgegnete er. »Dort hat sich das Monster, das in mir verborgen ist, gezeigt und es hat sich ziemlich oft am Ufer eines Flusses gezeigt.«
Der Name »Shawcross« ist vom Altenglischen crede cruci abgeleitet, was frei als »Glaube an das Kreuz« übersetzt werden kann. Frühe Variationen der Schreibweise waren »Shawcruce« und »Shawcrosse«. Aktuell leben in den Vereinigten Staaten rund 5000 Shawcrosses, im Vereinigten Königreich sind es sogar noch mehr, und nach übereinstimmenden Berichten war Sir Hartley Shawcross, einstiger Generalstaatsanwalt von Großbritannien und britischer Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, ein entfernter Cousin unseres besagten Serienmörders.
»Art« war ein kleines Baby und wog nur 2,3 Kilogramm. Das Kind wurde am Mittwoch, dem 6. Juni 1945, um 4.14 Uhr im US-Marine-Hospital in Kittery geboren, einem Ort, der von Portsmouth, Maine, aus gesehen auf der anderen Seite des Piscataqua-Flusses liegt.
In der Geburtsurkunde des Babys ist als Vater der 21-jährige Korporal Arthur Roy Shawcross und als Mutter die 18-jährige Bessie Yerakes Shawcross verzeichnet. Seine Eltern lebten im Apartment 5, 28 Chapel Street, in Portsmouth, Maine.
Auch sein Vater war für die Polizei kein Unbekannter, da er als Bigamist aktenkundig war. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er im amerikanischen Marinecorps gedient und war mit einem Artillerieregiment der 1. Marinedivision an der Landung auf Guadalcanal beteiligt. Dabei verdiente er sich einige Auszeichnungen und Medaillen. Im Februar 1943, nach Abschluss der Aktion, wurden er und seine Kollegen von der Marine zum Fronturlaub nach Australien geschickt, wo er bei einer Tanzveranstaltung Thelma June kennenlernte. Am Montag, dem 14. Juni, heirateten die beiden in Melby, Australien, und Thelma brachte später einen Sohn zur Welt, den sie – nach dem berühmten britischen Namensvetter – Hartley nannten.
Im Juli 1944 wurde Arthur Roy Shawcross Heimaturlaub gewährt, und so kehrte er in die USA zurück, wo er am Donnerstag, dem 23. November, in einer zweiten Ehe seine mittlerweile schwangere Sandkastenliebe Bessie Yerakes heiratete. Bessie, allgemein »Betty« genannt, war die Tochter von Fabrikarbeitern, die in Somersworth, New Hampshire, lebten. Ihr Vater, James Yerakes, wurde in Griechenland geboren und ihre Mutter, Violet Libby, war von unbekannter mediterraner Abstammung. Eine Woche nachdem Bessie mit Baby Arthur aus dem Krankenhaus entlassen worden war, schickte ihr Mann die beiden nach Watertown im Hinterland von New York, wo sie bei seiner Schwester wohnten, während er seinem Dienst in der Marine nachkam. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst fand das Paar eine eigene kleine Unterkunft in der schönen Stadt Brownville. Hier lebten, nur einen Steinwurf von der kanadischen Grenze und vom Ontario-See entfernt, 1200 Bürger, die der unteren Mittelklasse angehörten.
Der junge Arthur war das Älteste von vier Kindern. Seine Geschwister waren Jean, Donna und James und man kann sagen, dass Arthur sich als der einzige verfaulte Apfel in einem Korb ansonsten guter Früchte erwies. Seine Ausbildung begann er eigentlich ganz normal an der Brownville-Glen Park Central School, doch bald schon zeigten sich Probleme. Er mochte seine Geschwister nicht, nur mit Jean konnte er sich vorstellen, Sex zu haben.
Mit fünf Jahren hatte sich Arthur zwei imaginäre Freunde geschaffen. Der eine hieß Paul und war offenbar ein Junge in Arthurs Alter; der andere war ein etwas jüngeres, blondes Mädchen, das keinen Namen hatte. Während der folgenden Monate führte er mit diesen imaginären Freunden lange Gespräche in Babysprache, was seinen Mitschülern und den Lehrern den Eindruck vermittelte, dass er mit sich selbst sprach.
»Ich brauchte diese Freunde«, erzählte er dem Autor, »weil ich jemanden zum Spielen haben wollte. Mich mochte ja sonst keiner.«
Seine Klassenkameraden nannten ihn nun »Oddie«, und der kleine Arthur wurde zur Zielscheibe von Spott und Mobbing. Er zog sich in seine eigene Welt zurück und wanderte oft wie im Traum von Klassenzimmer zu Klassenzimmer. Für stärkere Kinder war er ein gefundenes Fressen und sie schikanierten ihn bei jeder Gelegenheit. Wenn das wieder einmal geschehen war, schrie er und schüttelte seine Fäuste oder ging schmollend nach Hause, um dann aus Rache seinen jüngeren Bruder und die Schwestern zu peinigen.
Als den Sozialarbeitern der Schule klar wurde, dass sie es mit einem Problemkind zu tun hatten, zogen sie Erkundigungen ein und fanden schnell heraus, dass die Eltern Arthur verzogen. Benahm er sich schlecht, schlug ihn seine Mutter leicht oder sperrte ihn in sein Zimmer. Die Betreuer kamen auch zu dem Schluss, dass Arthurs Vater seinem Sohn gegenüber viel zu nachsichtig war.
Die Ereignisse nahmen eine ernstere Wendung, als Arthur von zu Hause weglief. Er wurde zwar schnell wieder zurückgebracht, doch von da an nahm er für die Busfahrt zur Schule ein Montiereisen mit, mit dem er die anderen Kinder schlagen wollte, falls sie ihn belästigten. Der junge Shawcross hatte gelernt, dass er das, was er mit seinen Fäusten nicht schaffen konnte, durch den Gebrauch einer Waffe erreichen konnte. Kurz vor seinem achten Geburtstag ordnete die Schule eine Untersuchung der psychischen Gesundheit Arthurs an. Psychologen der Jefferson-County-Mental-Health-Klinik stellten fest, dass Frau Shawcross ihrem »hübschen, ordentlich gekleideten, gepflegten« Kind verstörende emotionale Botschaften vermittelte. Offenbar war die Mutter-Sohn-Beziehung sehr komplex, denn während sie ihren Sohn einerseits wie ein kleines Püppchen behandelte, bestrafte sie ihn plötzlich ohne ersichtlichen Grund. Und das verwirrte den Jungen sehr.
Frau Shawcross brachte ihrem Sohn Sauberkeit und Ordnung bei, und sie und ihr Mann, der einst bei der Marine gedient hatte, legten Wert auf altmodische Werte, die zum Teil von militärischer Disziplin geprägt waren. Arthur musste sein Zimmer makellos sauber halten, seine Kleidung musste stets ordentlich gefaltet sein, und für die kleinste Zuwiderhandlung wurde er geschlagen oder in sein Zimmer verbannt. Im Gegenzug und im Bestreben, die Gunst seiner Eltern zu erhalten, überhäufte Arthur sie mit Geschenken, nie vergaß er einen Geburtstag oder einen Jahrestag. Doch noch immer war er verwirrt. Er entwickelte eine Angst vor ungewöhnlichen Geräuschen, und langsam verwandelte sich die Verwirrung in Wut. Er stahl seiner Mutter Geld, um seine Peiniger an der Schule zufriedenzustellen. Er hatte keine Freunde, war gemein zu seinem jüngeren Bruder, und es war sehr schwer, ihm die Wahrheit zu entlocken, da er immer Angst zu haben schien. Die Psychiater waren zudem der Ansicht, dass in Arthurs Wahrnehmung sein Vater die anderen Kinder bevorzugte und seine Mutter ihn zurückwies.
Arthurs Interesse an der Schule schwand zunehmend, seine Leistungen ließen nach, er machte keine Fortschritte mehr und war bald einer der Schlechtesten in seiner Klasse. Die Lehrer führten das nicht etwa auf mangelnde Intelligenz zurück, sondern auf eine mangelhafte Einstellung. Die größeren Jungs mobbten und piesackten ihn nach wie vor. Um diese Zeit entwickelte er ein charakteristisches Blinzeln, das er sein Leben lang behielt. Außerdem begann er, wie ein Lamm zu meckern, und verfiel oft in Babysprache. Er litt unter Albträumen und entwickelte sich zum Bettnässer, was bis in seine frühen Teenagerjahre andauerte. Dann lief er erneut von zu Hause weg und wurde unter Geschrei und Protesten wieder zurückgebracht. Das genaue Datum ist nicht bekannt, doch es gab im Hause Shawcross ein einschneidendes Ereignis, das mit bleibenden Folgen alles auf den Kopf stellte.
Arthur war neun Jahre alt, als seine Großmutter mütterlicherseits einen Brief aus Australien von Thelma June erhielt. In ihm behauptete Thelma – zu Recht –, dass Arthur Roy Shawcross ihr Ehemann sei und sie einen gemeinsamen mittlerweile zehnjährigen Sohn hätten. Als Bessie Shawcross den Brief las, war sie schockiert vom Geheimnis ihres Mannes und hasste von da an jeden Moment, den sie in seiner Gegenwart verbringen musste. Sie beschloss, ihm das Leben zur Qual zu machen. Arthur, ohnehin schon ein überempfindlicher und verwirrter Junge, blieb fortan so oft wie möglich von zu Hause fern. Er schämte sich für seinen Vater und konnte die ständigen Streitereien, die nun zum festen Bestandteil des Lebens seiner Eltern wurden, nicht ertragen.
